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Castel

›Castel del Monte, Gesamtansicht‹, Fotografie von Arthur Haseloff (1908)

Christoph Poschenrieder

Das Sandkorn

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe

erschien 2014 im Diogenes Verlag

Abbildung: Arthur Haseloff,

›Castel del Monte, Gesamtansicht‹, Herbst 1908 (Ausschnitt)

Copyright © Kunsthistorisches Institut der

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Covermotiv: Gemälde von

Luigi Lucioni, ›Paul Cadmus‹, 1928

Öl auf Leinwand, 40,6 x 30,8 cm,

Brooklyn Museum, New York, Dick S. Ramsay Fund

Foto: 2007.28, Brooklyn Museum photograph, 2009

 

 

Meinen Eltern

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2020

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24325 3

ISBN E-Book 978 3 257 60417 7

 

 

 

 

 

 

[5] And the wild regrets, and the bloody sweats,

 None knew so well as I:

 For he who lives more lives than one

More deaths than one must die.

Oscar Wilde,
The Ballad of Reading Gaol

 

Und die heifle Scham, und den kalten Schweifl,

Besser als ich kannte keiner diese beiden:

Denn jener, der mehr als nur ein Leben lebt,

Der muss auch mehr als einen Tod erleiden.

Das Lied vom Gefängnis in Reading

[11] Der Duft der Kaiserinnen

[13] Der Sandmann

Berlin, zwischen Tiergarten und Landwehrkanal, 6. Juni 1915, früher Nachmittag

Ein Mann geht durch Berlin, und bald hat er einen ganzen Schwarm von Verfolgern.

Der erste, ein Junge, beobachtet ihn schon, als er, nicht weit von der Tür, aus der er herausgekommen ist, das erste Säckchen ausleert. Aber das stört ihn nicht. Dort, wo das Trottoir aufgerissen ist, wegen irgendwelcher Arbeiten, mischt er den herausrieselnden Sand in aufgeschaufelten Berliner Sand, den grauen in den gelben, mit der Stiefelspitze, in ein paar kreisenden Bewegungen, und sagt: »Gioia del Colle.«

Der durchaus gut gekleidete Herr verstaut das leere Säckchen in seiner linken Manteltasche und holt, im Weitergehen, ein zweites aus der rechten. Der Straßenjunge pfeift einen Freund heran. Sie folgen dem Mann in einem Sicherheitsabstand von vielleicht zehn Metern. Denn das ist wohl mehr als seltsam, was hier zu sehen ist, wenn auch nicht übermäßig gefährlich, bis jetzt zumindest.

Wieder scharrt der Herr, um die dreißig wird er sein, mit der Stiefelspitze in einem staubigen Riss im Pflaster, löst die Verschnürung eines dieser Säckchen und lässt es ausrieseln. Die Jungs rücken näher.

[14] »Lucera«, sagt er.

So geht das weiter; wo der Grund, auf dem die Stadt gebaut ist, bloßliegt, mischt der Mann in aller Ruhe seinen Sand unter.

»Troia«, »Melfi«, »Bitonto«.

Sein Weg hat Methode, zweimal ist er ohne Zögern links gegangen. Ist er ein Schlafwandler? Aber es ist heller Nachmittag. Er kennt seine Wege. Die Stellen findet er mit sicherem Auge. Einmal hebelt er mithilfe eines Stockes, den er sich höflich von einem Passanten ausborgt, sogar eine Gehwegplatte aus. Fügt sie jedoch sorgfältig wieder ein. Der Mann ist kein Vandale.

»Foggia«, »Bari«, »Montecorvino«.

Nach »Castel Fiorentino« traben schon zwei oder drei Dutzend Leute, Kinder und Erwachsene, hinter ihm, dicht dran, Angst hat niemand mehr. Das ist ein Narr, aber ein harmloser. Macht Löcher, verstreut Sand, brabbelt Zaubersprüche oder so etwas. Vielleicht wird noch ein richtiges Spektakel daraus, wenn erst einmal die Staatsmacht aufmerksam wird.

»Matera«, »Barletta«, »Trani«.

Es ist nicht immer der gleiche Sand, das kann man sehen. Mal ist er heller, mal ist er dunkler. Ein roter ist dabei. Viele gelbe. Einer glitzert. Jede Stelle, an der der Mann Sand ausgestreut hat, wird anschließend genau untersucht. Man diskutiert und mutmaßt.

Menschenmengen in ungeordneter Verfassung sind verdächtig, in diesen Zeiten mehr denn je, und deshalb tritt, als der Mann mit dem Verfolgerschwarm sich dem Haus nähert, aus dem er vor vielleicht dreißig Minuten herausgekommen [15] ist – deshalb tritt nun also ein Schutzmann energisch ausschreitend näher, zum Zugriff bereit. Zwei der Entleerungen von Sandsäckchen hat er selbst beobachtet, über die anderen Fälle nebst genauen Ortsangaben wurde ihm bereitwilligst von den Neugierigen berichtet. Nicht, dass der Verdächtige noch flugs durch einen Hinterhof verschwindet. Denn verdächtig ist er durch das, was er tut; selbst wenn es nicht verboten sein sollte.

Da bleibt der Mann erneut stehen. Der Schwarm erstarrt. Niemand spricht mehr. Der Schutzmann stoppt seinen Anmarsch. Man wartet. Es ist ein angenehmer Kitzel, der sich in der Menge ausbreitet, denn mit unmittelbarer Gefahr rechnet nun keiner mehr; nun da die Staatsmacht in Form eines Schupos anwesend ist.

Suchend verharrt der Mann, suchend die Hand in der rechten Manteltasche. Er findet eine schiefe Litfaßsäule und am sacht aus dem Boden gehobenen Sockel eine Handbreit Sand, in die er den Inhalt eines weiteren Säckchens rührt, mit der Hand diesmal. Nur wenige, unter ihnen der Schutzmann, hören, was er sagt:

»Castel del Monte.«

Der Schutzpolizist hat rein gar nichts verstanden von all dem, aber genug gehört, denn eines zumindest scheint ihm klar geworden zu sein:

»Wie kommen Sie dazu, hier Säckchen fremdländischen, um nicht zu sagen feindlichen Inhalts auszuleeren?«

Jetzt wendet sich der Mann zum ersten Mal all seinen Verfolgern zu. Er nimmt die kleine runde Brille ab, reibt die Augen, fühlt und betrachtet ein Körnchen Sand zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann wird ihm wohl ein [16] wenig schwindlig, denn er gerät leicht ins Schwanken, als er sagt:

»Ja, wie komme ich dazu?«

Am Ende seiner Worte tanzt das Fragezeichen wie eine Kobra auf dem Punkt, sie züngelt drohend, steht da und wehrt all die Antworten und die Namen ab, die sich allzu leicht einstellen wollen.

[17] C und y

Berlin, 6. Juni 1915, Polizeipräsidium am Alexanderplatz, 15.15 Uhr

So wie sie eben aussehen, die Verhörzimmer: Nichts, woran das Auge Abwechslung findet, abgesehen von dem Photo des Kaisers; aber der blickt so hochmütig, dass der Delinquent sich gar nicht wahrgenommen fühlt. Kein Kreuz hängt hier, es soll niemand Halt im Jenseits und Trost fürs Diesseits finden. Die Wände auf halbe Höhe grau gekachelt, das Fenster geht hinaus auf eine Brandmauer.

Der Stuhl, auf den sie ihn gesetzt haben, ist unbequem und knarzt, als wolle er seinen jederzeit zusammenbrechenden Widerstand ankündigen, zum nachahmenswerten Beispiel. Die Kanten des Tisches glänzen, speckig poliert von den Tausenden schwitzenden Händen, die nervös darübergeglitten sind.

Den Mantel hat er anbehalten dürfen, denn es ist kühl hier; die Taschen sind freilich durchsucht worden.

Der Kommissar steckt seine Taschenuhr weg und beschäftigt sich damit, die leeren Leinensäckchen aufzureihen, er weitet bei jedem den blauweißen Kordelzug und dreht das angehängte Papierfähnchen so, dass die Beschriftung lesbar ist. Nach minutenlangem Herumgeschiebe entscheidet er sich [18] für eine alphabetische Reihung, denn irgendeine Ordnung muss sein: A wie Altamura links, V wie Venosa rechts.

Der Mann wartet. Er sieht zu, wie der andere die Säckchen aufreiht. Er weiß nicht, warum er hier ist. Er weiß es wirklich nicht. Aber hier ist so gut wie dort.

»Sind Sie noch ganz bei Verstand?«, fragt der Kommissar beiläufig. Er überblickt die Reihe der Säckchen, von links nach rechts und zurück, wie einer, der beim Tennis zuschaut. Hat er es mit einem armen Irren zu tun, dann hat das hier bald ein Ende; es wäre nicht die schlechteste Lösung des Falles. Wenn es überhaupt einer ist.

Verstand ist das richtige Stichwort, denkt der Delinquent, aber er erkennt den rhetorischen Charakter der Frage und antwortet nicht.

»Name und Vorname?«

»Jacob Tolmeyn.«

»Jakob mit k und Tolmein mit i?«

»Mit c und y.«

Das hohe, kostbare c. Wann immer er diesen Ton anschlägt, hört er seine Mutter singen: Das c habe ich deinem Vater mühsam abgerungen, wenn er schon auf diesem alttestamentarischen Namen beharren musste, der sture Teufel, dabei sind wir gar nicht von dem Stamme. Sie nannte ihn Schacób – mit weichem sch vorn und Betonung auf der zweiten Silbe. Sie hielt es für elegant, aber ihm graute davor wie vor einem nassen Kuss oder der vollbusigen Überwältigung durch die Tante Josephine. Schosephine, nach Mamá.

»Familienstand?«

»Ledig.«

»Beruf?«

[19] »Kunsthistoriker.«

Kratzen der Feder. Stille. Bis auf leises Stuhlknarzen. Bin ich das?, denkt Tolmeyn.

»Kunsthistoriker. Was macht man so als Kunsthistoriker?«

Na was, denkt Tolmeyn, man versucht die Menschen aus dem zu verstehen, was sie an Schönem erschaffen haben, und das Schöne aus dem zu verstehen, was die Menschen gedacht, getan und geschrieben haben.

Der Kommissar, der seinen Namen nicht gesagt hat, lässt ein wenig Zeit verstreichen. Er ruft einen Boten herein und schickt ihn mit dem ausgefüllten Formular weg. Dann fragt er:

»Andria zum Beispiel. Was ist das?«

Der Kommissar schiebt das Säckchen, an dem der Zettel »Andria« hängt, mit dem Zeigefinger nach vorne, schweigend auf seiner Frage beharrend. Tolmeyn streckt die Hand aus, zieht sie wieder zurück.

Andria? Andria ist der balsamische Duft, der aus dem Grab einer Kaiserin aufsteigt. Tolmeyn denkt an den Duft Letizias, und an den Beats. Sofern man Gerüche überhaupt denkend herholen kann; denn eigentlich denken die Gerüche uns: Wenn sie wiederkehren, erzwingen sie Erinnerungen und Bilder.

[20] Treptows Manuskript (1):
Begegnung

Aus dem Manuskript der Lebenserinnerungen eines Kriminalers von Franz von Treptow, 1903 bis 1919 leitender Kommissar im Erpresserdezernat des Polizeipräsidiums Berlin Alexanderplatz. Das Manuskript entstand etwa Mitte der 1920er Jahre. Der Verlag verzichtete jedoch aus Angst vor Verleumdungsprozessen auf die Veröffentlichung.

Seltsame Fälle hatte ich genug in meiner fast dreißig Jahre andauernden Laufbahn. Einer davon war jener des jungen Mannes, der mir, im Frühsommer 1915, im Verhörzimmer 2/Flügelbau A gegenübersaß. Viel schien ihm vorderhand nicht vorwerfbar: Er hatte auf den Straßen Berlins Sand ausgestreut, oder besser: auf dem Trottoir. Aus kleinen Säckchen ausgestreut und dazu irgendetwas gemurmelt. Womit er in Berlin, in anderen Zeiten, nicht weiter aufgefallen wäre. Aber auch diese, die jetzt alle die »gute alte Zeit« nennen, hatte ihre Monstrositäten, Absurditäten, Bizarrerien, Verirrungen und Bestialitäten. Man vergisst das nur allzu leicht

Es war das erste Kriegsjahr noch nicht vollendet und die Öffentlichkeit sowie die Obrigkeit nervös. Immer noch glaubte man überall Spione und Saboteure zu sehen; das hatte sich seit dem Ausbruch des Krieges kaum gebessert. [21] »Verdächtige« fingen schnell eine Tracht Prügel oder Schlimmeres ein. Der Mob fragt nicht, er handelt. Insofern hatte der junge Mann Glück gehabt. Nebst Ruhe hieß man Wachsamkeit die erste Bürgerpflicht. Für uns als Polizei war es nicht einfach, einerseits diese Wachsamkeit zu fördern und andererseits ihre Folgen abzuarbeiten, darunter vornehmlich Wichtigtuerei und Denunziation, selten jedoch Handfestes, Verwertbares.

Jourdienst hatte ich in meiner Rangstufe eigentlich nicht zu tun, ich war nur kurzfristig für einen erkrankten Kollegen eingesprungen. Dass der Verdächtigte durchaus in mein Dezernat fiel, merkte ich erst im späteren Verlauf der Vernehmung. Dieser Mann, Jacob Tolmeyn, ist der Einzige in meiner ganzen – und im gleichwohl schmerzlichen Rückblick höchst erfolgreichen – Laufbahn gewesen, den ich selbst verurteilte. Nicht als Richter, das hatte und habe ich mir nicht anzumaßen – nur mit einem Federstrich und dem Versprechen, das ich ihm gab.

Doch wenn ich länger darüber nachdenke (und dazu habe ich viel Zeit, denn ich sitze hier in einem Garten vor Berlin und habe nichts zu tun, als Rosen zu schneiden, Holz zu hacken und gelegentlich einen Kopfsalat zu ernten), ist das so wohl nicht richtig. Er wählte sein – nennen wir es ruhig Schicksal – aus freien Stücken. So frei, wie einer eben ist.

[22] Der Auftrag

Rom, Königlich Preußisches Historisches Institut, Mai 1914

Es ist kein großartiger, doch immerhin: es ist ein Posten in Rom, der schönsten Stadt auf Erden; in der man dem Himmel am nächsten ist, was ein jeder spürt, der einmal unter der Kuppel, dieser mächtigen Saugglocke, gestanden und himmelwärts geschaut und das Gefühl gehabt hat, nach oben zu schweben: So ergeht es jedenfalls Jacob Tolmeyn jedes Mal, wenn er den Petersdom besucht.

Dass er ganz unten anfängt, als Dritter Sekretär (auf Probe) am Königlich Preußischen Historischen Institut, merkt Tolmeyn schon bei der Zuteilung seines Arbeitsraums. Dieser liegt im Souterrain günstig zum Handarchiv; weniger vornehm ausgedrückt: ein Kellerloch. Was zwar Wege erspart (ständig hat er Dokumente hin und her zu tragen), ihm aber das Gefühl der Abgeschiedenheit, sogar Gefangenschaft vermittelt; obwohl durch das hoch in der Wand eingesetzte, in einen Schacht versenkte Fenster ab und zu eine Lichtspiegelung, ein Luftstoß und ein Klang von der Straße hereinfällt; eher zufällig, wie kleine Pelztiere, die in eine Falle getappt sind und noch ein Weilchen zappeln, bis die Ruhe wieder einkehrt.

Es hätte ihn nicht gewundert, wenn seine Uhr jeden [23] Morgen um acht Uhr stehengeblieben wäre, denn wenn er am Ende seines Arbeitstages aus dem Keller aufsteigt, zeigt sie wieder, oder immer noch, auf die acht. Tolmeyn gleicht die Zeitangabe kurz mit der Wanduhr über dem Portal des Palazzo Giustiniani ab, bevor er die von der Gegenwart bestimmte Hälfte seines Lebens in der vis-à-vis gelegenen Kneipe mit einem Aperitivo und einer Gier und Leidenschaft beginnt, für die ihn seine Jahre in Berlin gut vorbereitet haben.

Die andere Hälfte besteht aus Mittelalter, leider viel zu selten dem leuchtenden, dem bunten Mittelalter, wie man es aus farbig ausgemalten Handschriften kennt. Meistens handelt es sich um staubige Abschriften von Urkunden, die man oben, im zweiten Stockwerk, für wichtig hält.

Institutsdirektor Professor Stammschröer ist besessen von Diplomatik, der Urkundenlehre. In allen bedeutenden Archiven der italienischen Halbinsel lässt er nach »Kaiserurkunden und Reichssachen» fischen. Wobei es ihm um deutsche Kaiser und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation geht; nichts sonst; jeglicher Beifang wird wieder in den Ozean gekippt. Es ist die Aufgabe Tolmeyns, die reichlich hereinströmenden Erkenntnisse zusammenzufassen, nach vorgegebenem Stichwortraster aufzubereiten und nach oben zu reichen. Zurück erhält er in der Regel bloß dürre Zettelchen der Belobigung, des Tadels und der weitergehenden Instruktion.

Deshalb wundert er sich, als Anfang Mai Professor Stammschröer höchstpersönlich erscheint. Umstandslos räumt dieser ein paar Dokumentenbündel von dem für Besucher vorgesehenen Stuhl. Er setzt sich aber nicht, als er die Staubwolken aufsteigen sieht, und sagt im Ton einer Feststellung:

[24] »Tolmeyn, können Sie umgehend reisefertig sein?«

»Wohin, Herr Professor?«, fragt Tolmeyn.

Umgehende Reisefertigkeit scheint doch vom Reiseziel abzuhängen. Einen Spaziergang nach Ostia, den bewerkstelligt er natürlich aus dem Stand, mit einem Griff nach dem Hut.

Stammschröer lockert seinen Zwicker mit einem Nasenkräuseln und lässt ihn – am Faden gesichert – abstürzen. Gegenfragen hat er gar nicht gern. Wenn er seinen Dritten Sekretär auf die Suche nach Livingstone hätte schicken wollen, hätte er ihm sicher eine längere Vorwarnung gegeben.

»Gehen Sie sofort nach Hause packen, dann erreichen Sie noch den Express nach Neapel. Umsteigen in Caserta, Foggia, Barletta. Dort die Dampf-Tramway. Morgen Vormittag spätestens müssen Sie in Andria sein. Unser rasches Eingreifen ist erfordert.« Zum letzten Satz schießt der Zeigefinger in die Höhe.

Professor Fridolin Stammschröer: ein Mann so groß wie breit wie imposant. Gegen Selbstzweifel imprägniert wie der Kleppermantel gegen Regen. Tolmeyn hat ihn nur drei- oder viermal gesehen in den sieben Wochen, die er nun in Rom arbeitet, aber schon zu Berliner Zeiten von ihm gehört. Der Mann ist eine Koryphäe. Er zählte zwar nicht zu den ersten Gelehrten, die nach der Öffnung des vatikanischen Geheimarchivs 1881 aus aller Welt herangetappt kamen wie die Bären, um endlich, endlich, ihre Pratzen bis zu den Schultern in dem so entsetzlich lange unerreichbaren Honigtopf zu versenken. Aber Stammschröer, kurz danach erstmals in Rom gewesen, hatte sich verliebt (in die Stadt ein wenig und geradezu närrisch in ihre unerschöpflichen Vorräte an Urkunden) und geschworen, wiederzukommen. Zur [25] Ausbeutung des vatikanischen Archivs war das Institut gegründet worden. Zur Gelehrtheit kam bei Stammschröer noch ein Quantum Raffinesse: Er verhalf zunächst einem befreundeten Professor in den Sattel des Institutsdirektors, nur um diesen alsbald zu beerben. So hat es Tolmeyn jedenfalls erzählt bekommen von seinem Schweizer Kollegen, der im benachbarten Kellerkabuff schon eine Weile länger Urkunden sortiert.

Nun umzirkelt ihn der Professor, als wolle er ihn sogleich mit seiner breiten weißen Hemdbrust aus dem Raum drücken, derselben strahlenden Hemdbrust, mit der er, wie mit einem Keil, jeden Morgen die Menschenmengen in Gassen und auf Plätzen teilt, wenn er sich in kerzengerader Haltung bei akkurat gezieltem Stockeinsatz (die stählerne Spitze bohrt er gerne in Papiere, Essensreste und anderen Unrat) auf den Palazzo Giustiniani zubewegt: ein schneidiger Kürassier des Geistes, Ulan der Forschung, Dragoner der Neugier. Tolmeyns Kollege hatte ihm bald geflüstert, was die Straßenkinder dem Professor nachrufen; frech und ordinär und anspielend auf einen zweiten Stock, den man dem Professor, nun – von unten her eingeschoben hat, zwecks Erzielung dieser makellos gereckten Statur. Tolmeyn denkt gerade daran, behält aber den ernst-beflissenen Gesichtsausdruck und tritt zur Seite.

Stammschröer schiebt ein paar Urkunden auf dem Schreibtisch zusammen.

»Das hat sechshundert Jahre ungelesen herumgelegen, da kommt es auf fünf Tage auch nicht an. Nur zu, Doktor Tolmeyn, ich setze Sie auf dem Weg nach oben ins Bild.«

Das Bild gleicht einer Klage.

[26] Ach!, die Kollegen vom sehr verehrten Kulturgüterministerium dort unten. Allzu schnell bei Spitzhacke und Schaufel, wo es der Pinzette und eines feinmaschigen Siebes bedürfe. Beste Absichten, aber es fehle ihnen an Geduld, Information und – nun ja: Anleitung.

»Aber sprechen Sie das um Gottes willen nicht aus: Wir helfen, natürlich. Und das gerne.«

Er habe, sagt Stammschröer auf der Treppe, Witterung bekommen von einer unmittelbar bevorstehenden Aktion des Bürgermeisters von Andria, Vito Sgarra, der die Krypta des Doms zu Andria ausräumen lassen wolle.

»Sie wissen doch, was man dort vermutet«, sagt Stammschröer wieder im Ton der Feststellung.

»Andria, ah ja –«, sagt Tolmeyn, nur ungefähr über diesen kunstgeschichtlich eher zweitrangigen Dom unterrichtet, aber auf das mitteilende Naturell des Professors vertrauend.

»Ganz genau, die Kaiserinnengräber. Bitte, von mir aus. Aber dann lassen sie einen Trupp Steineklopfer ran, die pulverisieren, was sogar Generationen von Grabräubern pietätvoll übersehen haben.«

Stammschröer stoppt in der Halle des Palazzo, vor dem Tor, und drückt Tolmeyn einen Umschlag in die Hand.

»Geld, Namen, Adressen sowie Don d’Ursos Aufsatz von 1842, zu Ihrer ersten Orientierung.«

Dann baut er sich vor Tolmeyn auf. Dass dieser glatt die Augen zusammenkneifen muss, so sehr gleißt die breite, weiße Hemdbrust in dem einen Strahl der Sonne, den die Toröffnung passieren lässt und in den der Professor sich platziert hat, als gebe es gar keinen anderen Ort für einen wie [27] ihn, als beanspruche er wie der gegenwärtige Kaiser seinen Platz an der Sonne. Er tippt Tolmeyn an die Schulter:

»Es sind die Gemahlinnen von Friedrich II. Falls sie es sind«, sagt er, »Friedrich zwo dem Staufer

Natürlich dieser Friedrich, denkt Tolmeyn, nur der hat Spuren in Unteritalien hinterlassen, und sagt: »Sie können sich wie stets auf mich verlassen, Herr Professor.«

Stammschröer nickt würdig, will nun abdrehen und hinauf in sein Direktorium. Aber er bremst sich: »Es wartet vielleicht noch eine andere Aufgabe auf Sie, Tolmeyn. Eine richtig große Aufgabe.«

»Ja?«, sagt Tolmeyn, für den Moment durchaus bedient. Er versucht interessiert, aber nicht allzu eilfertig zu klingen. Er muss doch erst einmal Andria auf der Landkarte finden.

Stammschröer schwankt, winkt ab.

»Na. Kommen Sie erst mal erfolgreich zurück. Dann werden wir sehen. Und: Denken Sie an Deutschland – und in großen Zusammenhängen.«

In seiner Unterkunft, nur ein paar Minuten vom Institut, packt Tolmeyn Wäsche, Hemden und Hosen, einen Zeichenblock, ein paar mehr oder weniger unverzichtbare kunsthistorische Bücher (um sich noch im Zug auf den Stand der Forschung zu bringen), Schreibsachen, ein kleines Hämmerchen, Meterstab, Winkelmaß, Taschenlampe, ein Klappmesser und was sonst noch in der Wildnis nützlich sein könnte. Ist das ein Malariagebiet? Er holt den Baedeker für Unteritalien aus dem Regal und faltet die beigefügte Karte aus. Andria, hier: unterhalb des Stiefelsporns, am südlichen Golf von Manfredonia, ein paar Kilometer landeinwärts. Das sieht [28] schon im bräunlich-gelben Kartenbild nach einer heißen und staubigen Gegend aus.

Dennoch: Endlich wieder hinaus. Kein Pergament mehr, kein Papier, keine Stockflecken, kein Geruch staubiger Akten. Sondern: die Hand auf den Stein legen, die verwitterten, verschliffenen, zertrümmerten Formen abtasten, vertraute Muster und Bilder aufspüren, Verstreutes zu einem Ganzen fügen und aus den Sprachen der alten Zeiten übersetzen.

Auf dem Weg zum Bahnhof kauft er ein paar Gramm Chinin gegen Malariafieber und einen breitkrempigen Hut (denn er ist blass geworden als Stammschröers urkundenfressende Kellerassel – von der römischen Frühjahrssonne hat er nicht viel gesehen).

Als der Zug anrollt, schaut Tolmeyn auf seine Uhr. Sie ist heute Morgen nicht stehengeblieben. Sie zeigt halb zwei. Er summt vergnügt, die Lokomotive macht den Takt dazu.

[29] Fast glückliches Andria

Andria, Apulien, 8. Mai 1914

Gasthäuser: Vittoria, an der Piazza Vittorio Emanuele, Stella, nahebei, beide mit Trattoria und ganz gut. Stadt von 49 967 Einwohnern. (Aus Baedekers Unteritalien, Leipzig 1911)

Die Dampftramvia von Barletta, ein schlotterndes Schächtelchen, liefert ihn über ansteigende Trasse und unter hektischem Hecheln am nächsten Tag kurz nach halb zwölf Uhr vormittags am Zielort Andria ab. Die entstiegenen Ortskundigen verschwinden blitzschnell vom Bahnsteig, so wie Wassertropfen von einem durchgeglühten Stein hüpfen. Zurück bleibt allein Tolmeyn, abwartend blinzelnd in der Sonne, um zu sehen, ob man ihm vielleicht ein Empfangskomitee geschickt hat. Aber nichts dergleichen.

Keine Standmusik, kein Blumenschmuck, kein Mädchen, das Gedichte aufsagt; Gott sei Dank. Aus dem Stationsgebäude tritt nach angemessener Wartezeit ein Herr von Statur und Bedeutung und verharrt im Schatten des Vordachs, bis Tolmeyn näher kommt.

»Habe ich es mit Doktor Tolmeyn zu tun, nach Andria entsandt, um die deutschen Kaiserinnen vor dem Zugriff der Italiener zu retten?«, fragt der Herr.

»Oh«, macht Tolmeyn, erstaunt über diese wenig elegant vorgetragene Ansprache: das konnte wohl heiter werden. [30] »Ganz genau. Obwohl – die eine stammte aus England und die andere aus Palästina.«

»Ich bin Sindaco Vito Sgarra, willkommen in Andria«, sagt der Bürgermeister, vielleicht von seiner eigenen Schroffheit erschreckt und nun erleichtert, bloß einen blassen jungen Mann im hellen Anzug vor sich zu sehen, ohne Monokel, ohne Krawatte, ohne Stock. Eine schmale Hand wird ihm entgegengestreckt; nicht die schrundige Hand eines erfahrenen Ausgräbers, eher die eines Umblätterers.

»Nach Professor Stammschröers Telegramm hatten wir…«, sagt Sgarra.

Tolmeyn denkt sich den Satz weiter: …einen kleinen Stammschröer erwartet. Und das hatte, nicht zu Unrecht, schlimmste Befürchtungen geweckt. Nicht nur bei dem Bürgermeister, der wie alle Würdenträger der Stadt allergrößte Hoffnungen in die Kaiserinnengräber setzte. Sgarra fragt: »Es ist heiß für die Jahreszeit. Sofort ins Haus Gottes oder lieber ins Haus des Bacchus?«

»Bacchus«, sagt Tolmeyn, »unbedingt!«

Etwas Restauration nach der langen Anreise wird wohl in Ordnung sein. Viermal hat er umsteigen müssen, und schon beim ersten Mal hat er sich auf die erste Klasse verbessert; das scheint im Reisebudget drin zu sein. Tolmeyn reist nun einmal nicht gerne mit Hühnern und Bauern.

Sgarra geleitet den Gast durch mittäglich leere Gassen zum Albergo Vittorio am Domplatz, das sich als seine Schlafstätte der nächsten Tage herausstellt. Im Baedeker liest er nach, dass dieses Etablissement in dem schwer durchschaubaren Bewertungsgefüge von gelobt /ordentlich /dürftig /ganz gut /mäßig /einfach /neu /schlecht /neu und gut / leidlich /[31] erträglich immerhin ein ganz gut erhalten hat. Besser geht es nicht, in Andria; außer, man vereinbart, wie Tolmeyn es mit dem Wirt tut, allabendliche heiße Wannenbäder, um sich vom Grabungsstaub reinigen zu können, sowie tägliche Wäschewechsel. Und mietet auch noch die Zimmer links und rechts dazu, um nicht vom Schnarchen und Getrampel unmittelbarer Nachbarn gestört zu sein. Wenn er hier ganze Arbeit leisten soll, muss er gut, lang und tief schlafen können. Das wird der Professor wohl einsehen.

In der dazugehörigen Trattoria lässt Sgarra erst einmal auftischen und einschenken, und zwar reichlich. Der Gesandte Preußens soll sich rundum wohl fühlen. Vielleicht ist noch etwas zu machen. Zwei weitere Gäste stellen sich ein und machen hoffungsfrohe Gesichter.

»Alle fahren sie an Andria vorbei, so schnell wie möglich zum Castel del Monte«, klagt Raffaele Sgarra, Bruder des Bürgermeisters, ein studierter Arzt, der auch das Amt eines Provinzialrats versieht.

»Dabei ist Andria die Stadt, in der Federico seine glücklichsten Stunden zugebracht hat«, sagt der Kunstschriftsteller und Architekt Ettore Bernich, den die Sgarras, wie sie sagen, als Fachmann beigezogen haben. Tolmeyn hat noch nie von ihm gehört.

»Iolanthe von Jerusalem brachte einen Sohn Friedrichs in Andria zur Welt«, sagt Vito.

»Andria felix«, zitiert Tolmeyn, was er im Bahn-Coupé gelesen und memoriert hat, und schwenkt freundschaftlich seinen Becher Rotwein, »das glückliche Andria. Aber ob er – der Kaiser – einmal länger hier verweilt hat, das ist doch sehr umstritten –«

[32] »Du lieber Gott, lassen Sie uns wenigstens die kaiserliche Inschrift an der Porta Sant’Andrea«, murrt Raffaele Sgarra leise, »wenn Sie uns schon die Kaiserinnen rauben wollen.«

»Ksss«, macht Vito. Es hat doch keinen Sinn, dem Preußen Vorhaltungen zu machen, eingesponnen muss er werden, mit zartem, aber unzerreißbarem Faden, bis seine Überzeugungen denen der hier anwesenden Herren entsprechen, welche wiederum nur die Haltung der Stadt und der ganzen Region vertreten.

Tolmeyn versteht ihn schon: Es ist im Interesse Italiens wie auch des Deutschen Reichs, dass aus dem Geröll der Andrieser Domkrypta zwei Kaiserinnen geborgen werden und dass sie künftig ihre ewige Ruhe in gebührender Würde genießen. Das diente nicht nur der letzthin immer wieder gespannten Atmosphäre im Dreibund – das Verteidigungsbündnis von Deutschem Reich, Italien und Österreich –, sondern auch, wer wollte es leugnen, der Andrieser Stadtschatulle. Man hat den Hohenstaufer – den Schwaben, wie sie ihn immer noch nennen, Federico svevo –, in bester Erinnerung hier, in Apulien. Für ein paar Jahre ist dieser Landstrich, die Capitanata und die Terra di Bari, der Machtmittelpunkt Europas gewesen, und danach ist es eigentlich immer nur bergab gegangen, bis auf den heutigen Tag. Nur der Schwabe hat seinen Glanz behalten, und noch dazubekommen.

Nun sehen die drei Herren den Gesandten Tolmeyn in einer Mischung aus hoher Erwartung und Resignation an. Hätte gerade noch gefehlt, dass sie die Hände gefaltet hätten. Ohne die Beglaubigung des Königlich Preußischen Historischen Instituts würde, was auch immer sie dort unten [33] finden würden, stets im Dämmerlicht der Zweifelhaftigkeit stehen.

»Ich bin Kunstgeschichtler und Gelehrter«, sagt Tolmeyn, »nicht Romanschriftsteller, ich muss mich an die wahren Gegebenheiten halten. An die Fakten.«

Das Wort Fakten wirkt auf die Herren wie die Probiernadel im Soufflé. Sie fallen in sich zusammen, und ihre Gesichter werden grau.

»Aber«, sagt Vito Sgarra, »Geschichte braucht Phantasie, und ist die Phantasie nicht die mehr oder weniger gespannte, mehr oder weniger rosige Haut über einem mehr oder weniger klapprigen Faktengerippe? Ist nicht, in unserer und in Ihrer Sprache, Doktor Tolmeyn, nur ein Wort für beides? Storia sagen wir und Sie Geschichte.«

Tolmeyn leert den Becher und stopft noch zwei oder drei der delikaten stuzzichini in die Backen. Was auch immer er genau sagen will, Sgarra hat natürlich recht.

»Also gut: Gehen wir zum Dom«, sagt er.

Es sind nur wenige Schritte über den Platz. Auf den Stufen zum Hauptportal liegt eine Planke, ein Arbeiter balanciert einen Schubkarren darüber und kippt die Ladung auf einem ansehnlichen Haufen Schutt aus. Tolmeyn bleibt stehen und sieht seine Begleiter an, fast vorwurfsvoll.

»Natürlich haben wir bereits angefangen«, sagt der Provinzialrat Sgarra mit einer gewissen Angriffslust im Ton, »das ist das Geröll aus Jahrhunderten. Es ist ja auch Ihre Zeit kostbar, Herr Doktor Tolmeyn.«

Tolmeyn erwidert nichts. Er steigt vorsichtig auf den Schutthaufen, um eine Perspektive wie aus dem Sattel eines Pferdes zu bekommen. Friedrichs Pferd. Er kneift die Augen [34] etwas zusammen, damit die vor der Domfassade hängenden Telegraphenkabel und die eine Gaslaterne aus dem Bild verschwinden:

Es ist April 1228. Iolanthe, meine zweite Frau, ist vor ein paar Tagen gestorben. Viel hat sie nicht mitgebracht in die Ehe, rein materiell gesehen. Nur etwas Mittelmeerstrand und Hinterland in der Levante. Aber den Titel, den sie als Erbin des Königreichs Jerusalem führte, diesen Titel musste ich unbedingt haben. Nicht nur um den verdammten Papst zu ärgern. Aber auch. Ein Kind habe ich geheiratet, als Kind ist Iolanthe gestorben. Hat sie mir etwas bedeutet? Nein, das war eine politische Sache. Habe ich sie besucht, als sie hier in Wehen lag, oder danach, als das Kindbett ihr Totenbett wurde? Nein, ich hatte einen Kreuzzug vorzubereiten, der verdammte Papst hörte ja gar nicht mehr auf, mich zu bedrängen. Dabei bin ich doch schon exkommuniziert. Soll ich sie wirklich hier, in Andria, begraben lassen? In dieser wahrhaft nicht prächtigen Kirche? Eine Kaiserin? Meine Kaiserin?

Tolmeyn, wieder als Tolmeyn, denkt: Richard von San Germano hat es so aufgeschrieben, und den hält man unter Historikern für eine verlässliche Quelle: Iolanthe sei in der Gegend von Andria gestorben. Genauer weiß es Wilhelm von Tyrus: In der Erde Andrias hat man die Iolanthe unter höchsten Ehren begraben, in der Kirche der Stadt, eben wie es einer römischen Kaiserin und Königin von Jerusalem gebührt. Eine würdigere Begräbnisstätte als den Dom hatte Andria nie zu bieten. Und, denkt sich Tolmeyn wieder als Friedrich, wenn die eine Gemahlin hier ruht, dann soll dies auch die nächste, die wunderschöne Isabella Plantagenêt von [35] England, die 1241 in Foggia gestorben ist. Angeblich, setzt Tolmeyn als Kunsthistoriker hinzu.

»Kommen Sie nun, Doktor Tolmeyn?«, ruft einer der Sgarras vom Portal her. Tolmeyn macht ein Zeichen, bittet um eine weitere Minute auf dem Schutthaufen.

Was habe ich vor mir? Nicht das, was Friedrich gesehen hätte – wenn er hier gewesen wäre. Ein romanisches Bauwerk, erbaut, vergrößert, angebaut, eingestürzt, wieder aufgebaut, umgebaut und erweitert. Der Stauferkaiser war nicht immer so modern wie jetzt, wo sich sogar einer wie Wilhelm II., ein Hohenzollern, auf ihn beruft. Irgendwann erinnerte sich einer dessen, was inzwischen Legende war: Der Andrieser Historiker Don Riccardo d’Urso nahm Mitte des 19. Jahrhunderts seinen ganzen Mut zusammen, kroch zwischen Schutt und den Gebeinen aus sechshundert Jahren herum, welche die Krypta ausfüllten – das kalte Grausen in den eigenen Knochen, im zitternden Schein der Fackel beobachtet von munteren, leeren Augenhöhlen, beargwöhnt von den Asseln, Spinnen, Ratten und all den anderen namenlosen Kindern des Staubs und des Schattens, die über die Kaiserinnen wachten. Schön, d’Urso hatte dick aufgetragen in seinem Bericht… ich ließ mich herab in den Schlund der Gruft… trotz allem, Skulpturreste glaubte er erkannt zu haben, und vier kleine Säulen, nur wo genau, das schrieb er nicht auf, aber er hielt diese Säulen und ein paar andere Fundstücke für die Reste der tief verschütteten Grabmäler der Kaiserinnen.

»Warum hat d’Urso eigentlich nicht selbst gegraben?«, fragt Tolmeyn im Innern der Kirche, der er nur einen oberflächlichen Rundblick widmet.

»Der war froh, als er wieder an der Sonne war«, sagt Vito [36] Sgarra, »er hatte gesehen, was er sehen wollte. Bitte, hier entlang, am Ende der Kapelle.«

Sechzehn Stufen – Tolmeyn zählt sie – folgt er den Sgarras und Bernich hinab in die Krypta. Eine Weile wartet er. Still ist es und warm, dumpf greifbar die staubige Luft. Rechts sieht Tolmeyn, mäßig erhellt von ein paar Glühbirnen, die alte zweischiffige Unterkirche, am Ende die halbkugelige Höhlung einer leergeräumten Apsis. Der Untergrund ist teilweise ausgeräumt, nicht überall kann man aufrecht stehen. Baumaterial? Kalkstein aus der Gegend wohl. Verstreut hier und dort: Säulenstümpfe, Kapitelle, zerbrochene Skulpturen. Und ein paar Jutesäcke, an den Mittelpfeiler gelehnt. Aus einem ragen Knochen.

»Die Gräber, Doktor Tolmeyn, haben wir so weit freigelegt, dass wir sie jederzeit öffnen können«, sagt Bernich so, als wolle er es auf der Stelle tun.

Bernich und die Sgarras gehen voran in die Vorhalle der Krypta. Tolmeyn notiert: Rechteckiger Grundriss, das Gewölbe gestützt auf fünf Säulen, und jede sieht anders aus. Die Wände aus behauenen Steinen unregelmäßig gesetzt, in schmalen und breiten Lagen.

Tolmeyn lässt sich von Ettore Bernich einweisen: Neben dem Treppenabgang, zwischen Säule und Eckpilaster, längs der Wand befindet sich das mit der Nummer 1 bezeichnete Grab, das Grab Nummer 2 schräg gegenüber. Beide im natürlichen, gestampften und sauber freigekehrten Erdboden, mit niedrigen gemauerten Einfassungen, beide von Steinplatten gedeckt, jene von Nummer 2 angebrochen. Jetzt sieht Tolmeyn auch die vier Arbeiter, die Holzlatten, die eisernen Hebel.

[37] »Halt, halt«, sagt er, »nicht so schnell.«

Wenn es beliebt, fügt er an, schließlich ist er hier der Gast. Das ging doch nicht: Nach sechzehn Stunden aus dem Zug fallen, drei Becher Wein trinken und vor dem Aperitif noch schnell die Gräber von Kaiser Friedrichs Gattinnen aufhebeln. Er sieht zwar die Enttäuschung bei den Sgarras und bei Bernich, aber er argumentiert dennoch mit seiner kürzlichen Ankunft und schließt:

»Lassen Sie uns den Moment in würdiger Vorbereitung angehen, meine Herren. Geben Sie mir etwas Zeit, die Zeichen dieser Krypta zu lesen.«

»Also morgen kurz vor Mittag?«, fragt Vito Sgarra. »Nun gut, dann haben wir auch den Mann vom Corriere delle Puglie hier.«

Aber richtig glücklich sieht er nicht aus.

[38] Veilchen, Rosenwasser und Harz

Andria, Domkrypta, 9. Mai 1914

Es sind Kerzen aufgestellt. Der Korrespondent vom Corriere kratzt artig in den Block, was Raffaele Sgarra, der Provinzialrat, ihm flüsternd eingibt. Der Dompfarrer, Stirn in Falten, denkt vielleicht an den zweifach exkommunizierten Kaiser Friedrich, und ob das kirchenrechtliche Auswirkungen auf dessen Frauen gehabt haben könnte, und ob ihm ein Wallfahrtsort mittelalterlicher Gottlosigkeit unter die Füße geschoben werden soll. Bernich behängt die Mittelsäule der Vorhalle mit allen Glühbirnen, die er hat auftreiben können. So hell sieht der Raum noch schäbiger, improvisierter aus. Vor allem aber: geheimnislos. Eine Rumpelkammer der Hoffnungen.

Tolmeyn kommt aus dem hinteren Bereich der Krypta, wo er diverse Bruchstücke von Ornamenten untersucht hat. Früh am Morgen ist er schon zurückgekehrt, nach einer kurzen Nacht, einem in redseliger Sattheit und Trunkenheit aufgegangenen Mahl in der Trattoria, dem ein langer Nachmittag des Suchens, Skizzierens und Messens in der Krypta vorausgegangen war. Da war schon noch allerlei von Interesse aufgetaucht (und vorsichtshalber hatte er sich den Schutthaufen draußen vor den Kirchenstufen auffächern [39] lassen) – doch kaum etwas, das kaiserlichen Grabesmonumenten würdig gewesen wäre.

Die Sgarras, denen er nun dies auseinandersetzt, durchleiden jäh abwechselnde Erschütterungen der Freude und der Niedergeschlagenheit. Ein Säulenkapitell, das in die Zeit um den Tod der Iolanthe gepasst hätte (Na also!, ruft Vito), und in das schon d’Urso große Hoffnung gesetzt hatte – eben dieses Kapitell müsse er, Tolmeyn, aufgrund von Stilerwägungen ausscheiden. »Was bitte sind Stilerwägungen?«, fragt Raffaele entgeistert.

Dann: Einige in der Krypta gefundene Fragmente, die sich, wiewohl lückenhaft, zu einem Baldachin – ein auf Säulen gestütztes Dach über einem Grabmal – zusammenfügen ließen. Allein, der Baldachin, wie Tolmeyn ihn rekonstruierte, war zu klein und überdies quadratisch – nichts für ein längliches Grab. Aber, aber, wendet Vito Sgarra hier ein, die Rose auf dem Ornamentfries, wenn das nicht das englische Wappen sei! The rose of England! Und dann diese Rose im Kreisgeflecht des anderen Fragments, wenn das nicht gar die Rose im Liebesknoten darstelle, zum Zeichen der Trauer um die schöne Isabella Plantagenêt? Und der Adler, der den anderen Baldachinbogen schmücke? Doch nur der staufische Adler! Was sonst?

Nichts Besonderes, muss Tolmeyn sagen, weder das eine noch das andere. Siebenblättrige, fünfblättrige Rosen, Rosetten aller Art finde man allerorten, seit den Zeiten der Seitenportale des Doms zu Bari. Und der Adler, der habe auch in der kirchlichen Symbolik seinen Platz, man denke an den Adler, der für den Evangelisten Johannes stehe.

»Aber der Liebesknoten…«

[40] Raffaele flüstert dies fast, und Tolmeyn setzt bruchlos fort: » …zwei in einen Kreis gespannte Viereck-Rahmen gehören zu den Flechtwerk-Motiven, welche, aus dem Ornamentenschatz der byzantinisch-langobardischen Periode stammend, in die romanische Plastik Apuliens häufiger und länger übernommen worden sind als irgendwo sonst.«

Es sei nun einmal so, dass über die Jahrhunderte ausrangiertes Kirchenmobiliar von oben nach unten wandere und durcheinandergemischt werde. Natürlich sind die Sgarras enttäuscht, und Tolmeyn fühlt mit ihnen. Aber wie soll er hier helfen?

»Lassen Sie uns jetzt die Gräber öffnen«, sagt Vito Sgarra.

Die Gruppe stellt sich um das Grab mit der gebrochenen Deckplatte auf. Sgarra hält die Nase dicht über den Riss. Eine Weile hört man nichts als das Schnüffeln des Bürgermeisters von Andria.

»Hmm«, macht er und gibt den Arbeitern ein Zeichen. Niemand spricht. Die Werkzeuge werden angesetzt, man hört das Schleifen von Stein auf Stein. Ouvertüre zu Ende, denkt Tolmeyn, der Vorhang geht auf.

Da liegt ein Skelett, zumindest fällt sofort ein Schädel auf, aber zu diesem zerkrümelten Schädel hat man überschüssige Knochen aller Art und Herkunft geworfen, dazwischen Schutt eingestreut. Ein einköpfiges, aber vielleibiges Wesen muss das gewesen sein.

»Bollito misto«, entfährt es dem Vito Sgarra in Erinnerung an den abends zuvor genossenen Eintopf von gekochtem Fleisch und Gemüse.

Tolmeyn rückt näher. Nichts, keine Beigaben, weder Schmuck noch Reste von Kleidung. Das Ensemble macht [41] alles in allem einen sehr unkaiserlichen Eindruck. Nicht dass er überrascht gewesen wäre. Er sieht den Bürgermeister an und hebt die Schultern.

»Na gut«, sagt Vito Sgarra eilig, »das zweite Grab sieht mir doch wesentlich erfolgversprechender aus.«

Raffaele Sgarra bekreuzigt sich und kniet neben seinem Bruder am Rand der anderen Grabeinfassung nieder. Ebenso tut es Ettore Bernich, der allerdings von oben, aus der Kirche, das Polster eines Kniebänkchens mitgebracht hat. Das kommt Tolmeyn nun doch ein wenig übertrieben vor.

»Schließen Sie die Türe zum Aufgang. Wir müssen Zugluft auf jeden Fall vermeiden«, ordnet Vito an und winkt Tolmeyn herbei: »Jetzt kommt es auf die Nase an. – Bereit, Signori?«

Kaum ist die Platte von den Arbeitern ein wenig gelüftet, beugen sich die drei wie ein einziger Torso vor, dicht an die Ritze, und saugen heftig Luft durch ihre Nasen ein. Tolmeyn folgt dem Beispiel, jedoch vorsichtiger und mit Verzögerung. Nur der Domherr schnüffelt nicht, vielleicht ist seine Nase vom Weihrauch verdorben. Die Herren richten sich auf, sehen einander an.

Endlich spricht Vito Sgarra: »Für mich roch das doch sehr aromatisch.«

Raffaele Sgarra: »Veilchen und etwas Harz, nicht?«

Und Ettore Bernich: »Meines Erachtens eine dezente Rosenwassernote.«

Wieder Vito Sgarra: »Ich fühlte mich erinnert an den Jasminstrauch unter meinem Balkon.«

Raffaele: »Unbedingt.«

[42] Ettore Bernich: »Rosenwasser. Nun bin ich sicher. Rosenwasser.«

Vito: »Insgesamt – kaiserlich. Keine Frage.«

Daher weht der Wind, denkt Tolmeyn und: Wenn überhaupt etwas, dann ungewaschene Füße, Moder, Kalkstaub, Erde hunderttausendfach von Würmern verdaut. Er sagt:

»Die Legende von angenehm duftenden Aromen, welche bei Graböffnungen aufsteigen und die von der Einbalsamierung hochstehender Verstorbener herrühren, ist kaum belegt und wahrscheinlich nur dort anzutreffen, wo es sich um dicht schließende Steinsarkophage handelt, die erstmals geöffnet werden. Zudem sollten die Leichen noch gut in ihre Bandagen gewickelt sein. Dann – vielleicht.«

O je, denkt er, als er in die Gesichter sieht. Im Namen der Wissenschaft, ich, Tolmeyn, der große preußische Spielverderber, Zertrümmerer Andrieser Träume.

Die Deckplatte ist nun ganz entfernt. Auf seine Einwände sind die drei Herren gar nicht eingegangen. Kein Duft? Bitte. Dann nicht. Es gibt weitere Merkmale. Raffaele Sgarra, der lange als Arzt und Chirurg praktiziert hat, inspiziert das – überraschend, wie auch Tolmeyn feststellt – gut erhaltene Skelett, das da, schön aufgeräumt und vollständig, die Unterarme über dem Brustbein gekreuzt, vor ihnen liegt. Er springt um das Grab herum, brabbelt vor sich hin und beginnt zu schwitzen, als er den Schädel betastet wie den eines geliebten Menschen.

»Dieses hier«, erklärt Raffaele Sgarra nach einer Minute vertiefter Forschungsarbeit, und er streicht mit dem Zeigefinger über die Kurvatur des linken Beckenknochens, »dieses sind eindeutig die Gebeine einer jungen Frau. Das zu sagen [43] erlaubt uns die zarte Ausbildung der Substanz um die Gelenke, die delikate Schmalheit dieser Rippenbögen. Und –«, Sgarra nimmt Tolmeyn fest in den Blick, denn das Folgende wird er nur einmal sagen, das gebietet der Glaube an seine eigene Autorität:

»– und, verehrter Dr. Tolmeyn, als ergebener Student der Gall’schen Schädellehre, aber auch ermächtigt durch eigene kraniometrische Forschungen, wage ich eine wohlbegründete Vermutung auszusprechen: Die Dame, welche vor uns ruht, und fast siebenhundert Jahre so geruht hat, war, der spezifischen Form des Schädels nach, eine Engländerin.«

Der Korrespondent des Corriere delle Puglie schreibt fieberhaft. Wenn sich hier eine Sensation anbahnt, dann will er sie wortwörtlich. Na vielleicht, denkt Tolmeyn und geht in die Hocke, zartgliedrige junge Männer habe ich allerdings auch schon gesehen, Berlin ist voll von solchen Figuren, und gehst du in einschlägige Kneipen, weißt du auch nicht gleich, wen oder was du vor dir hast, Frau, Mann, was immer. Dabei sind die dort alles andere als tot und verwest. Aber hier, hier müsste man eine Autorität auf anthropologischem Gebiet heranziehen, um Sicherheit zu erlangen. Die Wissenschaft ist schon weiter als Dr. Sgarra und seine verehrten Schädelvermesser aus dem 18. Jahrhundert, auch weiter als die sich jüngst so modern gerierenden Rassenhygieniker.

Der Korrespondent tippt mit dem Bleistiftende auf seinem Block herum, was Tolmeyn gewahr werden lässt, dass man nur noch auf ihn wartet.

»Gut, nun«, sagt er und saugt viel Luft ein, denn er hat einen langen Satz aufzustellen, »fehlende Inschriften oder [44] monumentale Grabaufbauten sind – nun, es ist so: Der Luxus, den man von sizilianischen Grabstätten kennt, verbreitet sich im übrigen Italien erst im 13. Jahrhundert…«

»Na also«, sagt Vito Sgarra. Unterdrückt der Sindaco da ein Lächeln des Triumphs?

»…und weil die trapezförmige Ausbildung der Gräber, fußwärts schmal, in Schulterhöhe breiter, nicht vor dem und auch nicht nach dem 12. Jahrhundert nachgewiesen ist… –«, dieser Bernich, ballt der schon verhohlen die Faust des Siegers? »–… könnte man, auch weil es eben nur diese beiden Gräber in der Krypta gibt und die Tradition es nun einmal für gegeben nimmt, dass –«

Tolmeyn bricht ab. Was soll’s. Lass ihnen die Kaiserinnen. Sie gehören zu ihrer Geschichte. Zur »Tradition«, wie man die Stille Post über die Jahrhunderte, den über die Generationen hinweggeschleppten Tratsch, auf gut Deutsch, in meinen Kreisen nennt. Die ganzen kleinlichen wissenschaftlichen Wenn und Aber lagere ich in meinen Bericht für Stammschröer ein.

»Ausschließen kann man es jedenfalls nicht«, sagt er schwach.

Traurig, aber auf diese Erkenntnis schrumpft alles zusammen. Mehr lässt ihm die unerbittliche Logik von den dürftigen Prämissen nicht übrig: Aus nichts folgt auch nichts. Vito Sgarra jedoch folgt seiner eigenen Logik, als er sich vornüberlehnt, die Arme ausstreckt und Tolmeyn an seine Brust zieht. Schweigend verharren sie ein paar bewegte (Vito) und peinliche (Tolmeyn) Sekunden, über den sterblichen Überresten der Kaisergattin Isabella Plantagenêt von England, die recht unverschämt von unten nach oben lacht, so [45] laut, dass die Krypta widerhallt: Aber das tun sie alle, die Toten, gleich welchen Ranges: die Lebenden auslachen; sie haben es ja hinter sich.

Drei Tage noch verbrachte er in der Krypta des Andrieser Doms, in denen er den einen oder anderen bemerkenswerten Fund aus verschütteten Tiefen holte. Er maß und wog und fühlte, skizzierte und notierte. Und wenn er allein war, und das war er meistens, führte er lange Gespräche mit Iolanthe und Isabella. Er hörte einiges über die Demütigung, jahrhundertelang in einer zweitrangigen Kirche unter den Knochen gewöhnlicher Menschen liegen zu müssen, hörte ihr Lamento über den dauernd abwesenden Ehegemahl, der nach der ersten erfolgreichen Schwängerung jedes Interesse an ihnen verloren hatte. Sonst hatten sie kaum gemeinsame Themen, und was Tolmeyn aus Berlin erzählte, schien sie wenig zu interessieren und gar nicht zu schockieren: Sie hatten auch in einer rauhen Zeit gelebt, waren herumgeschoben, benutzt, allein gelassen und schließlich hier abgeladen worden. Zwischendrin schwiegen sie stundenlang, verbittert wohl, da Tolmeyn ihnen erzählte, er könne sich nach den vorliegenden Indizien nicht auf die Piazza stellen und zweifelsfrei verkünden, da unten lägen in der Tat die beiden Gemahlinnen Kaiser Friedrichs. Wie kann der Pöbel da oben das vergessen haben, zischte Isabella von England, wir waren der Mittelpunkt der Welt, sie haben im Staub gekniet und uns gehuldigt, sie haben Blumen geworfen und in dieser Kirche für unser Seelenheil gebetet. Aber Tolmeyn hob nur die Schultern: Wohl nicht genug. Treuloses Pack, der Friedrich war ein harter Mann und wohl doch [46] noch zu weich, sagte die Iolanthe noch und dann nichts mehr.

Wenn Tolmeyn aus dem Halbdunkel auftauchte, wartete stets einer der Herren, oder alle drei, sie fütterten und tränkten ihn großzügig in der Trattoria Vittorio, ließen sämtliche Honoratioren, die Andria anzubieten hatte, an seinem Tisch vorbeipassieren, von den altehrwürdigen Edelleuten bis zum Amtstierarzt, vom Bibliothekar zum Abdecker, die allesamt immer noch mehr Dankbarkeit auf den ohnehin schon großen Haufen häuften; und Tolmeyn sparte auch nicht an Großzügigkeit, lud einen jeden ein, mit ihm zu tafeln.

Am Morgen des sechsten Tages treffen die beiden Sgarras vor dem Domportal ein, um Tolmeyn zum Bahnhof zu geleiten. Er war noch einmal kurz durch die Krypta gegangen, getrieben von der Sorge, etwas übersehen zu haben, und kommt doch beruhigt zurück ins Licht. Am Fuß des großen Schutthaufens auf dem Vorplatz greift er, einem unbefragten Impuls gehorchend, in den nach unten durchgesickerten Sand, nimmt eine Handvoll und versenkt sie in der Tasche seiner Anzugjacke, bevor er zu den Sgarras in den Zweispänner steigt.

[47] Strategie

Berlin, 6. Juni 1915, Kommissariat, 16.05 Uhr

»Und wie hat es wirklich gerochen?«, fragt der Kommissar.

Vielleicht denkt er an die Exhumierungen, denen er beigewohnt hat. Scheinen keine Kaiserinnen dabei gewesen zu sein. Dieser leicht heruntergezogene Mundwinkel ist die erste Gesichtsregung, die sich der Kommissar bisher erlaubt hat. Tolmeyn sieht es wohl, und er sieht, dass es auch dem Kommissar aufgefallen ist, der nun unvermittelt wieder alle seine Gesichtsmuskeln entspannt, auf den Ausdruck, den er vermutlich für ausdruckslos hält.