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Stefan Bachmann

Die Seltsamen

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Hannes Riffel

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2012 bei

HarperCollins, Publishers Inc,

New York, erschienenen Originalausgabe:

›The Peculiar‹

Copyright © 2012 by Stefan Bachmann

Mit freundlicher Genehmigung

von HarperCollins Children’s Books,

a division of HarperCollins

Publishers, New York

Die deutsche Erstausgabe erschien

2014 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration von Thierry Lafontaine

Copyright © 2012 Thierry Lafontaine/Imaginism Studios

 

 

Der Übersetzer dankt Laura Gutmann und Simon Weinert

für die tatkräftige Unterstützung.

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24331 4 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60424 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

 

[5] Für meine Mutter und meine Schwester, meine ersten Leser

[7] Inhalt

Prolog  [11]

ERSTES KAPITEL

So etwas Hübsches…  [19]

ZWEITES KAPITEL

Der Rat wird getäuscht  [35]

DRITTES KAPITEL

Schwarze Flügel, schwarzer Wind  [53]

VIERTES KAPITEL

Nonsuch House  [65]

FÜNFTES KAPITEL

Eine Einladung an eine Fee  [82]

[8] SECHSTES KAPITEL

Melusine  [99]

SIEBENTES KAPITEL

Ist er böse?  [117]

ACHTES KAPITEL

Wie man Vögel fängt  [132]

NEUNTES KAPITEL

In Asche  [149]

ZEHNTES KAPITEL

Der Mechalchimist  [163]

ELFTES KAPITEL

Kind Nummer zehn  [183]

ZWÖLFTES KAPITEL

Das Haus und der Zorn  [199]

DREIZEHNTES KAPITEL

Jenseits der Gasse  [219]

[9] VIERZEHNTES KAPITEL

So etwas Hässliches…  [243]

FÜNFZEHNTES KAPITEL

Feenmarkt  [261]

SECHZEHNTES KAPITEL

Die Grünhexe  [279]

SIEBZEHNTES KAPITEL

Die Wolke, die den Mond verbirgt  [301]

ACHTZEHNTES KAPITEL

Der Seltsame  [326]

[11] Prolog

 

Federn fielen vom Himmel.

Gleich schwarzem Schnee schwebten sie auf eine alte Stadt namens Bath herab, taumelten über Dächer und sammelten sich in den Ecken und Winkeln der Gassen, bis alles dunkel und still war wie ein Wintertag.

Die Einwohner der Stadt wunderten sich sehr. Manche schlossen sich in ihrem Keller ein. Andere eilten in die Kirche. Die meisten jedoch spannten ihre Regenschirme auf und widmeten sich weiter ihrem Tagewerk. Um vier Uhr nachmittags machte sich eine Gruppe von Vogelfängern, die ihre Käfige auf einem Karren hinter sich herzogen, auf den Weg nach Kentish Town. Sie waren die Letzten, die Bath so sahen, wie es gewesen war, die Letzten, die es verließen. Irgendwann in der Nacht des 23. September erhob sich ein gewaltiger Lärm wie von Flügeln und Stimmen, von knarrenden Ästen und heulenden Winden, und dann, einen Herzschlag später, war Bath verschwunden. Zurück blieben, einsam und verlassen unter den Sternen, nur Ruinen.

[12] Gebrannt hatte nichts. Auch geschrien hatte niemand. Im Umkreis von fünf Wegstunden war alles wie ausgestorben, sodass niemand mit dem Gerichtsdiener sprechen konnte, der am nächsten Morgen auf seinem krummbeinigen Pferd angeritten kam. Jedenfalls kein Mensch.

Ein Bauer fand ihn Stunden später – der Gerichtsdiener stand mitten auf einem zertrampelten Acker. Sein Pferd war fort, und seine Stiefel waren so abgetreten, als wäre er viele Tage lang zu Fuß unterwegs gewesen. »Kalt«, sagte er und starrte gedankenverloren ins Nichts. »Kalte Lippen und kalte Hände und so seltsam.«

Damit nahmen die Gerüchte ihren Anfang. Ungeheuer krochen aus den Ruinen von Bath, so wurde geflüstert, knochendürre Unholde und hügelgroße Riesen. Auf den Bauernhöfen in der Umgebung nagelten die Leute Knoblauch an ihre Türpfosten und banden ihre geschlossenen Fensterläden mit roten Schleifen fest. Drei Tage nach der Zerstörung der Stadt kam eine Gruppe Wissenschaftler aus London herüber, um sich anzuschauen, was von Bath übrig war, und als Nächstes wurden sie in der Krone einer knorrigen Eiche aufgefunden, ihre Leichen weiß und blutleer und ihre Jacken voller Löcher, über und über von Zweigen durchbohrt. Daraufhin verbarrikadierten sich die Menschen hinter ihren Türen.

Wochen verstrichen, und inzwischen rankten sich die [13] Gerüchte um weit schlimmere Dinge: Kinder verschwanden aus ihren Betten, Hunde und Schafe wurden urplötzlich lahm, und in Wales gingen Leute in den Wald und kehrten nicht mehr zurück. In Swainswick hörte man eines Nachts eine Geige, und alle Frauen der Gemeinde verließen in ihren Nachthemden die Häuser und folgten ihrem Klang; keine von ihnen wurde je wiedergesehen.

Im Parlament setzte sich die Meinung durch, hier könnte einer von Englands zahlreichen Feinden am Werk sein, und so wurde unverzüglich eine Abteilung Soldaten nach Bath entsandt. Die Brigade traf vor Ort ein, und wenngleich sie zwischen den umgestürzten Steinen weder Rebellen noch Franzosen fand, entdeckten die Männer schließlich ein abgewetztes Notizbuch, das einem der Wissenschaftler gehörte, die in der Eiche den Tod gefunden hatten. Nur wenige Seiten davon waren beschrieben, in offensichtlicher Eile, denn sie waren mit Tintenklecksen übersät, aber sie erregten Aufsehen im ganzen Land. Ihr Inhalt wurde in Form von Flugschriften veröffentlicht und war, etwas beschönigt, alsbald auch an den Zeitungsständen erhältlich. Fleischer lasen den Text, und Seidenweber lasen ihn; Schulkinder und Advokaten und Herzöge lasen ihn, und diejenigen, die nicht lesen konnten, ließen ihn sich vorlesen, während sie sich in kleinen und großen Gruppen zusammendrängten.

[14] Der erste Teil bestand lediglich aus Formeln und Diagrammen, und dazwischen eingestreut war sentimentales Geschwafel über jemanden namens Lizzy. Weiter hinten wurden die Beobachtungen des Wissenschaftlers jedoch immer interessanter. Er schrieb von den Federn, die auf Bath herabgefallen waren, und Vogelfedern seien das keine gewesen. Er schrieb von geheimnisvollen Fußspuren, geheimnisvollen Kratzern in der Erde. Schließlich schrieb er von einer langen, schemenhaften Landstraße, die sich in einer Wolke aus Schwefeldampf auflöste, und von Geschöpfen, wie sie bisher nur in Märchen vorgekommen waren. In dem Moment wussten alle mit Bestimmtheit, was sie schon die ganze Zeit befürchtet hatten: Die Kleinen Leute, das Verborgene Volk, die Sídhe, waren aus ihrer Welt in die unsere gelangt. Die Feen suchten England heim.

Sie kamen des Nachts über die Soldaten – Kobolde und Satyre, Gnome, Irrwische und jene anmutigen, spindeldürren weißen Geschöpfe mit den schwarzen, schwarzen Augen. Der befehlshabende Offizier der Engländer, ein steifnackiger Mann namens Briggs, erklärte ihnen geradeheraus, sie stünden unter dem Verdacht, ein schweres Verbrechen begangen zu haben, weshalb sie ihm auf der Stelle nach London zu folgen hätten, um dort verhört zu werden. Natürlich war das furchtbar albern – ebenso gut hätte er [15] dem Meer erklären können, es würde zur Rechenschaft gezogen, weil es so viele Schiffe verschlungen hatte. Die Feenwesen dachten gar nicht daran, diesen tollpatschigen, rot uniformierten Männern länger zuzuhören. Sie fauchten spöttisch und tanzten wild um sie herum. Eine blasse Hand streckte sich aus und zupfte an einem roten Ärmel. In der Finsternis wurde ein Schuss abgefeuert. Damit nahm der Krieg seinen Anfang.

Der »Heitere Krieg« wurde er genannt, weil auf den Schlachtfeldern so viele weiße, grinsende Schädel zurückblieben. Dabei kam es nur selten zu echten Gefechten. Gewaltmärsche und Sturmangriffe, über die man später hätte Gedichte schreiben können, blieben aus. Denn die Feen waren nicht wie die Menschen. Weder folgten sie Regeln, noch stellten sie sich in einer Reihe auf wie Zinnsoldaten.

Stattdessen riefen sie die Vögel vom Himmel herab, damit sie den Soldaten die Augen auspickten. Sie riefen den Regen herbei, sodass das Schießpulver nass wurde, und baten die Wälder, ihre Wurzeln aus der Erde zu ziehen und durch die Lande zu streifen, um die Karten der Engländer durcheinanderzubringen. Letztlich war die Magie der Feen den Kanonen und der Kavallerie aber nicht gewachsen, und die allem Anschein nach unerschöpfliche Flut von Rotjacken brandete über sie hinweg. Auf einer kleinen Anhöhe mit dem Namen Tar Hill griff die britische Armee die Elfen [16] von allen Seiten an und schlug sie vernichtend. Wer sein Heil in der Flucht suchte, wurde erschossen. Die Übrigen (und das waren viele) wurden zusammengetrieben, gezählt, getauft und zur Arbeit in den Fabriken gezwungen.

Bath wurde zu ihrer Heimat in diesem neuen Land. Es wurde eine finstere Wohnstätte, die dort aus den Trümmern emporwuchs. Wo die Landstraße aus dem Nichts aufgetaucht, wo alles völlig zerstört worden war, entstand New Bath, ein Knäuel von Straßen und Häusern weit über einhundert Meter hoch, nichts als schwarze Schornsteine und schmale Brücken, zu einem Klumpen aus stinkender, blakender Schlacke zusammengerollt.

Und was war mit der Magie, welche die Feenwesen mitgebracht hatten? Das Parlament erklärte sie zu einem Geschwür, das unter Salben und Bandagen versteckt werden musste. Ein Milchmädchen in Trowbridge stellte fest, dass jedes Mal, wenn eine Glocke läutete, jeglicher Zauber um sie herum verflog – die Hecken hielten in ihrem Flüstern inne, und die Straßen führten wieder zu ihrem angestammten Ziel. Also wurde ein Gesetz erlassen, das verfügte, sämtliche Kirchenglocken im ganzen Land müssten alle fünf Minuten schlagen anstatt jede Viertelstunde. Eisen war schon lange als sicherer Schutz gegen Zaubersprüche bekannt, und jetzt wurden winzige Stückchen in schlichtweg alles hineingetan, von Knöpfen bis hin zu Brotkrumen. In [17] den größeren Städten wurden Wiesen umgepflügt und Bäume gefällt, weil es hieß, die Elfen könnten aus den Blättern und Tautropfen Magie gewinnen. Abraham Darby wagte in seiner Dissertation Die Eigenschaften der Luft die berühmte Hypothese, Federwerke seien ein verlässliches Mittel gegen das widerborstige Wesen der Feen, und so stellten Professoren und Ärzte und alle großen Gelehrten ihre Fähigkeiten in den Dienst von Handwerk und Industrie. Das Qualmzeitalter war angebrochen.

Und nach einer gewissen Zeit waren die Elfen zu einem ebenso festen Bestandteil von England geworden wie das Heidekraut in der trostlosen grauen Moorlandschaft, wie die Galgen auf den Hügelkämmen. Die Kobolde und Gnome und die wilderen Feenwesen gewöhnten sich rasch an die englische Lebensart. Sie hausten in englischen Städten und husteten englischen Qualm, und dabei erging es ihnen nicht schlechter als den Tausenden von elenden Menschen, die sich an ihrer Seite abplagten. Die Hochelfen jedoch – die blassen, schweigsamen Sídhe mit ihren feinen Wämsern und ihrem verschlagenen Blick – gaben nicht so leicht auf. Sie konnten nicht vergessen, dass sie einst mächtige und vornehme Damen und Herren gewesen waren, mit eigenen Palästen und eigenen Gemächern. Sie würden niemals verzeihen. Die Engländer mochten den »Heiteren Krieg« gewonnen haben, aber es gab noch andere Möglichkeiten [18] zu kämpfen. Ein Wort konnte einen Aufstand auslösen, Tinte den Tod eines Menschen bedeuten, und die Sídhe waren mit all diesen Waffen mehr als vertraut. O ja, das waren sie!

[19] ERSTES KAPITEL

So etwas Hübsches…

Bartholomew Kettle sah sie in dem Moment, als sie mit den Schatten in der Krähengasse verschmolz – eine vornehme Dame, die ganz in pflaumenfarbenen Samt gekleidet war und mit der Haltung einer Königin die schlammige Straße entlangstolzierte. Er fragte sich, ob sie diesen Ort jemals wieder verlassen würde. Auf der Karre des Leichenbestatters vielleicht oder in einem Sack, aber wahrscheinlich nicht aus eigener Kraft.

In den Elendsvierteln der Feenwesen in Bath war man Fremden nicht besonders gewogen. Gerade mochte man noch eine breite Straße entlangschreiten, auf der geschäftiges Treiben herrschte und wo man Tramrädern und Kothaufen ausweichen und darauf achten musste, nicht von den Wölfen gefressen zu werden, die vor die Kutschen gespannt waren. Doch im nächsten Moment hatte man sich vielleicht schon hoffnungslos im Labyrinth der Nebenstraßen verirrt, über die sich hagere alte Häuser neigten und [20] den Himmel verdeckten. Falls man das Pech hatte, jemandem zu begegnen, handelte es sich sehr wahrscheinlich um einen Dieb. Und so ein Dieb gehörte meist nicht zu der zierlichen Sorte wie die schmalfingrigen Schornsteinirrwische von London; vielmehr hatten sie Dreck unter den Fingernägeln und Blätter im Haar und würden, wenn sie es für lohnenswert erachteten, nicht zögern, einem die Kehle durchzuschneiden.

Diese Dame sah äußerst lohnenswert aus, fand Bartholomew. Er wusste, dass manche Leute schon für weniger getötet hatten. Für weit weniger, wenn man sich so anschaute, was für ausgehungerte Leichen aus dem Rinnstein gezogen wurden.

Er klappte sein Buch zu, drückte sich die Nase an dem schmutzigen Fenster platt und blickte ihr nach, wie sie die Gasse entlangschritt. Sie war hochgewachsen und hätte, herausgeputzt, wie sie war, in dieser Umgebung nicht fremdartiger wirken können; dabei schien sie den finsteren Durchgang ganz und gar auszufüllen. Die mitternachtsfarbenen Handschuhe reichten ihr bis über die Ellenbogen. Edelsteine funkelten an ihrem Hals. Auf dem Kopf trug sie einen kleinen Zylinder mit einer riesigen violetten Blume. Er saß ein wenig schief, sodass er ihre Augen verdeckte.

»Hettie«, zischte Bartholomew, ohne sich vom Fenster abzuwenden. »Hettie, komm, schau mal!«

[21] Füße trippelten durch das dunkle Zimmer. Neben ihm tauchte ein kleines Mädchen auf. Sie war schrecklich dünn, und ihr Gesicht bestand nur aus kantigen Knochen und blasser Haut, die einen Stich ins Bläuliche hatte, weil sie nicht genug in die Sonne kam. Das Mädchen war genauso hässlich wie er. Ihre Augen waren groß und rund: schwarzes Wasser, das sich in den Vertiefungen ihres Schädels gesammelt hatte. Ihre Ohren liefen spitz zu. Bartholomew mochte zur Not noch als Menschenkind durchgehen, aber Hettie auf gar keinen Fall. Es war nicht zu übersehen, dass sie Feenblut in den Adern hatte. Denn wo Bartholomew wirres kastanienbraunes Haar aus der Kopfhaut spross, wuchsen Hettie wie bei einem jungen Baum glatte, kahle Äste.

Sie schob sich einen widerspenstigen Zweig aus der Stirn und stieß ein leises Keuchen aus.

»O Barthy«, hauchte sie und umfasste seine Hand. »So etwas Hübsches habe ich ja in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!« Er kniete sich neben sie, sodass sie beide gerade noch über den von Holzwürmern zerfressenen Fenstersims linsten.

Hübsch war sie wirklich, die vornehme Dame, aber sie hatte etwas Merkwürdiges an sich. Etwas Düsteres und Unberechenbares. Sie trug weder Gepäck bei sich noch einen Mantel – nicht einmal einen Schirm, um sich gegen die spätsommerliche Sonne zu schützen. War sie aus der [22] schattigen Stille eines Salons direkt in das Feenviertel von Bath hinausgetreten? Ihre Bewegungen waren steif und fahrig, als wäre sie nicht ganz Herrin ihrer Gliedmaßen.

»Was meinst du, was will sie hier?«, fragte Bartholomew und begann, langsam auf seinem Daumennagel herumzukauen.

Hettie runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Vielleicht ist sie eine Diebin. Mama hat gesagt, die ziehen sich fein an. Aber ist sie dafür nicht viel zu schön? Sieht sie nicht eher so aus, als…« Hettie blickte ihn an, und ganz kurz flackerte Furcht in ihren Augen auf. »Als würde sie nach etwas suchen?«

Bartholomew ließ von seinem Daumennagel ab und sah seine Schwester an. Dann drückte er ihre Hand. »Sie sucht nicht nach uns, Hettie.«

Doch noch während er das sagte, spürte er, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Natürlich suchte sie nach etwas. Oder nach jemandem. Unter der Krempe ihres Hutes hervor glitt ihr Blick von einem Haus zum nächsten. Als sie an dem Haus vorbeikam, in dem sie wohnten, duckte sich Bartholomew unter den Fenstersims. Hettie war ihm bereits zuvorgekommen. Gib acht, dass dich niemand bemerkt, dann landest du auch nicht am Galgen. Für Mischlinge gab es möglicherweise keine wichtigere Regel. Es war eine gute Regel.

[23] Die Dame in dem pflaumenfarbenen Kleid schritt weiter, bis sie die Ecke erreichte, wo die Krähengasse in den Schwarzkerzenweg mündete. Ihr Rock schleifte über das Pflaster und wurde ganz schwer von der öligen Schmiere, die alles bedeckte, aber das schien ihr nichts auszumachen. Sie drehte sich einfach ganz langsam um und ging wieder zurück, wobei sie dieses Mal die Häuser auf der anderen Seite in Augenschein nahm.

Erst nachdem sie die Krähengasse bestimmt sechs oder sieben Mal auf und ab gelaufen war, blieb sie stehen, und zwar vor einem Haus, das dem Fenster, durch das Bartholomew und Hettie sie beobachteten, direkt gegenüberlag. Es war ein schiefes Haus mit spitzem Dach und mit Schornsteinen und Türen, die an den seltsamsten Stellen aus dem Gemäuer hervorlugten. Rechts und links davon erhoben sich zwei größere Häuser und zwängten es ein. Außerdem war es ein wenig von der Gasse zurückgesetzt und hinter einer hohen Steinmauer verborgen. In der Mitte der Mauer öffnete sich ein Torbogen, und dort lagen die verbogenen Überreste eines eisernen Gatters. Die Dame machte einen Schritt darüber hinweg und betrat den Vorgarten.

Bartholomew wusste, wer in dem Haus wohnte: eine Mischlingsfamilie. Die Mutter war eine Fee, und der Vater schuftete in der Kanonengießerei an der Heilkundlerstraße am Blasebalg. Er hatte gehört, dass sie Buddelbinster [24] hießen. Früher hatten sie sieben halbblütige Kinder gehabt, die Bartholomew oft hinter den Fenstern und Türen hatte spielen sehen. Aber auch andere Leute hatten sie gesehen, und eines Nachts war eine aufgebrachte Menschenmenge gekommen und hatte die Kinder fortgeschleppt. Jetzt war nur noch eines übrig, ein schwächlich wirkender Junge. Bartholomew und er waren Freunde. Wenigstens wollte Bartholomew das gerne glauben. Hin und wieder, wenn die Krähengasse besonders still dalag, schlich sich der Junge hinaus aufs Pflaster und kämpfte mit einem Stock in der Hand gegen unsichtbare Straßenräuber. Meist bemerkte er dann, wie Bartholomew ihn durchs Fenster hindurch anstarrte, und winkte ihm. Und Bartholomew winkte zurück. Das war streng verboten, aber es machte einen solchen Spaß, dass Bartholomew dies manchmal vergaß.

Die Dame in dem pflaumenfarbenen Kleid stolzierte über den mit losem Gestein übersäten Vorgarten und klopfte an der Tür, die dem Boden am nächsten war. Eine halbe Ewigkeit verstrich, und nichts geschah. Dann wurde die Tür aufgerissen, soweit die vorgelegte Kette das zuließ, und eine griesgrämig dreinblickende Frau steckte den Kopf durch den Spalt – die Schwester des Vaters, die Tante des Jungen und eine alte Jungfer. Sie lebte bei den Buddelbinsters und kümmerte sich um deren Haushaltung. Dazu gehörte auch, die Tür aufzumachen, wenn jemand [25] anklopfte. Bartholomew entging nicht, dass ihre Augen so rund wurden wie Untertassen, während sie die vornehme Dame anstarrte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Dann schien sie es sich anders zu überlegen, denn sie knallte der Dame die Tür vor der Nase zu.

Die Dame in dem pflaumenfarbenen Kleid stand einen Moment lang völlig reglos da, als könnte sie nicht ganz begreifen, was geschehen war. Dann klopfte sie wieder gegen die Tür, und zwar so laut, dass es durch den Vorgarten und über die ganze Krähengasse hallte. Ein paar Häuser weiter zuckte ein Vorhang.

Bevor Bartholomew und Hettie sehen konnten, was als Nächstes passierte, knarrten die Stufen vor der Tür zu ihrer Wohnung. Jemand kam die Treppe heraufgehastet. Dann platzte eine rotwangige Frau herein, schnaufte laut und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie war klein und ärmlich gekleidet, und mit genug zu essen hätte sie hübsch sein können, aber es gab nie genug zu essen, und so sah sie aus, als wäre ihre Haut ihr zu groß. Als sie die beiden Geschwister am Fenster entdeckte, schlug sie die Hände vor den Mund und kreischte los.

»Kinder, geht sofort vom Fenster weg!« Mit drei Schritten hatte sie das Zimmer durchquert und packte sie an den Armen. »Bartholomew, ihre Zweige waren direkt vor der Scheibe! Möchtest du, dass euch jemand sieht?«

[26] Sie scheuchte sie in den hinteren Teil des Zimmers zurück und verriegelte die Tür zum Hausflur. Schließlich wandte sie sich um, und ihr Blick fiel auf den Kanonenofen; durch die Schlitze in der Ofenklappe rieselte Asche.

»Schau dir das an!«, sagte sie. »Barthy, ich hatte dich gebeten, die Asche fortzubringen. Und außerdem solltest du auf deine Schwester aufpassen und die Wäschemangel aufziehen. Aber du hast nichts davon getan…«

Augenblicklich hatte Bartholomew die pflaumenfarbene Dame vergessen. »Mutter, es tut mir leid, dass ich nicht an Hetties Äste gedacht habe, aber ich habe eine wirklich gute Idee, die ich dir erklären muss.«

»Davon möchte ich nichts hören«, antwortete sie erschöpft. »Ich möchte, dass du tust, was ich dir sage.«

»Aber genau darum geht es ja!« Er räusperte sich, richtete sich zu seiner ganzen Größe auf – immerhin gut ein Meter – und sagte: »Mutter, darf ich bitte, bitte, bitte einen zahmen Hausgeist heraufbeschwören?«

»Einen zahmen was? Was redest du da, Kind? Wer ist das da drüben im Garten der Buddelbinsters?«

»Einen Hausgeist. Der bei uns wohnt. Ich möchte einen Feendiener zu uns einladen.« Bartholomew zog drei alte Bücher hinter dem Ofen hervor und hielt sie der Mutter unter die Nase. »Hier und hier habe ich etwas darüber gelesen, und hier steht, wie man es macht. Bitte, Mutter.«

[27] »Beim Lichte der leuchtenden Linse, schaut euch dieses Kleid an. Barthy, leg die Bücher weg, ich kann das Weib ja gar nicht richtig sehen.«

»Mutter, ein Hausgeist!«

»Hat bestimmt zwanzig Pfund gekostet, und was macht die alberne Gans? Marschiert damit durch den ganzen Matsch. Ich fass’ es nicht! Außer rostigen Zahnrädern hat die bestimmt nichts im Kopf.«

»Und wenn ich einen guten Hausgeist heraufbeschwöre und nett zu ihm bin, kümmert er sich hier um alles Mögliche, hilft uns Wasser pumpen…« Seine Mutter schaute nicht mehr zum Fenster hinaus. Ihre Augen waren völlig ausdruckslos geworden, und sie starrte Bartholomew an. »…und die Wäschemangel aufziehen«, schloss er leise.

»Und was ist, wenn du einen bösen heraufbeschwörst.« Es war keine Frage. »Hör mir jetzt gut zu, Bartholomew Kettle. Wenn wir Glück haben, sorgt er nur dafür, dass die Milch sauer wird, frisst uns den Küchenschrank leer und stiehlt sich mit allem davon, was glänzt. Wenn wir Pech haben, erwürgt er uns im Schlaf. Nein, Kind. Nein. Wage es niemals, durch diese Tür irgendwelche Feenwesen einzuladen. Sie wohnen über uns und unter uns und auf der anderen Seite dieser Wand. Sie sind überall um uns herum, und zwar meilenweit in jeder Richtung. Aber nicht hier. Nicht noch einmal, hast du verstanden?«

[28] Urplötzlich wirkte sie furchtbar alt. Ihre Hände, die sich in die Schürze gekrallt hatten, zitterten, und Tränen standen ihr in den Augen. Hettie zog sich, mit ernster Miene und so leise wie ein Geist, zu ihrem Schrankbett zurück, kletterte hinein und schloss mit vorwurfsvollem Blick die Tür. Bartholomew starrte seine Mutter an. Sie starrte zurück. Dann drehte er sich um und rannte auf den Treppenflur hinaus.

Er hörte, wie sie ihm etwas nachrief, blieb jedoch nicht stehen. Gib acht, dass dich niemand bemerkt! Seine bloßen Füße glitten lautlos über die Holzdielen, während er durch das Haus rannte, weiter und immer weiter hinauf. Am liebsten hätte er jedoch geschrien und auf den Boden gestampft. Er wollte unbedingt einen Hausgeist haben. Mehr als irgendetwas sonst auf der Welt.

Er hatte sich schon ganz genau ausgemalt, wie sich das abspielen würde. Er würde die Einladung aufsetzen, und am nächsten Tag würde ein Hausgeist mit durchscheinenden Flügeln und langen Ohren auf seinem Bettpfosten sitzen und ihn dümmlich angrinsen. Den Hausgeist würde es überhaupt nicht kümmern, dass Bartholomew klein und hässlich war und anders als die anderen.

Aber nein. Mutter musste ihm alles verderben.

Über dem obersten Stockwerk des Hauses, in dem die Kettles zusammen mit allerlei Dieben, Mördern und Feen [29] wohnten, befand sich ein weitläufiger Dachboden, ein wahres Labyrinth, das sich unter den morschen Balken hierhin und dorthin schlängelte. Als Bartholomew noch klein gewesen war, hatte es hier mehr kaputte Möbel und interessanten und aufregenden Unrat gegeben, als er sich hätte wünschen können. Alles Interessante und Aufregende war inzwischen abhandengekommen und während des bitterkalten Winters als Feuerholz verwendet oder bei den fahrenden Feenhändlern gegen wertlosen Plunder eingetauscht worden. Manchmal schlichen sich die Frauen hier herauf, um ihre Wäsche aufzuhängen, ohne dass sie gestohlen wurde, doch darüber hinaus blieb der Dachboden dem Staub und den Drosseln überlassen.

Und Bartholomew. Es gab eine Stelle, da konnte er sich, wenn er ganz vorsichtig war und sich ganz dünn machte, durch einen Spalt zwischen einem Balken und dem rauhen Mauerwerk eines Schornsteins hindurchquetschen. Dahinter befand sich, direkt unter dem Dachgiebel, eine geheime Kammer, die vor Jahren zugemauert worden war. Wenn es dafür jemals einen Grund gegeben hatte, dann kannte Bartholomew ihn nicht. Auf jeden Fall war er froh darüber, dass es diese Kammer gab, denn sie war jetzt sein Reich.

Er hatte sie mit allem möglichen Krimskrams ausstaffiert, den er irgendwo aufgetrieben hatte – einer Strohmatte, einigen trockenen Zweigen und Efeuranken und einer [30] Reihe von zerbrochenen Flaschen, die er an einer Schnur aufgehängt hatte – der jämmerliche Abklatsch einer Julzeit-Girlande, von der er gelesen hatte. Am besten gefiel ihm an seiner Kammer jedoch das kleine runde Fenster, das, wie in einem Boot, auf die Krähengasse und ein Meer von Dächern hinausging. Er wurde nie müde, dort hinauszuschauen. Von hier oben im Verborgenen konnte er die ganze Welt beobachten.

Bartholomew zwängte sich durch den Spalt und blieb, heftig nach Luft schnappend, auf dem Boden liegen. Unter den Schieferschindeln war es heiß und stickig. Draußen brannte die Sonne herab und ließ alles spröde und scharfkantig erscheinen, und nachdem er die neunundsiebzig ausgetretenen Stufen hinaufgerannt war, kam er sich unter dem spitzen Dachgiebel vor wie ein Brotlaib in einem Ofen.

Sobald er wieder einigermaßen ruhig atmete, kroch er zum Fenster. Er konnte über die Krähengasse hinwegschauen und über die hohe Mauer – direkt in den Vorgarten des Hauses, in dem die Buddelbinsters wohnten. Die Dame war noch immer dort, ein leuchtend violetter Fleck zwischen den braunen Dächern und dem vertrockneten Unkraut. Die griesgrämige Frau hatte wieder die Tür geöffnet. Sie schien der Dame argwöhnisch zuzuhören, wobei sie die Spange an dem grauen Zopf, der ihr über die [31] Schulter hing, in einem fort löste und wieder festmachte. Dann drückte ihr die pflaumenfarbene Dame etwas in die Hand. Einen kleinen Beutel? Er konnte es nicht genau erkennen. Die griesgrämige Frau duckte sich ins Haus zurück wie eine Ratte, die einen Fleischfetzen gefunden hat und fest entschlossen ist, ihn mit niemandem zu teilen.

Kaum hatte sich die Tür geschlossen, wurde die Dame plötzlich sehr geschäftig. Sie kniete sich hin, wobei sich ihr Rock um sie herum aufbauschte, und zog etwas aus ihrem Hut. Das Sonnenlicht fing sich in einer kleinen Flasche, die sie in der Hand hielt. Sie biss das Siegel ab, entkorkte sie und träufelte den Inhalt in einem Kreis auf den Boden.

Bartholomew beugte sich vor und spähte durch das dicke Fensterglas. Wahrscheinlich, so dachte er bei sich, war er der Einzige, der sie in diesem Moment sah. Andere Augen waren ihr gefolgt, seit sie die Gasse betreten hatte, das wusste er. Aber jetzt befand sich die Dame hinter einer hohen Mauer, die sie vor fremden Blicken schützte. Die pflaumenfarbene Frau hatte sich das Haus der Buddelbinsters mit Absicht ausgesucht. Sie wollte nicht gesehen werden!

Als das Fläschchen leer war, hielt sie es hoch, zerdrückte es zwischen den Fingern und ließ die Scherben ins Gras rieseln. Dann erhob sie sich unvermittelt und wandte sich dem Haus zu, wobei sie so selbstsicher und elegant wirkte wie eh und je.

[32] Mehrere Minuten verstrichen. Schließlich öffnete sich die Tür wieder, ein wenig zögerlich dieses Mal. Ein Kind streckte den Kopf heraus. Es war der Mischlingsjunge, Bartholomews Freund. Genauso wie bei Hettie schien auch ihm das Feenblut so hell wie der Mond durch die weiße, weiße Haut hindurch. Auf seinem Kopf wuchs ein Dornengestrüpp. Seine Ohren waren lang und spitz. Jemand hatte ihm offenbar einen Schubs versetzt, denn er taumelte zur Tür hinaus und landete direkt vor den Füßen der Dame. Und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu ihr hoch.

Die Dame hatte Bartholomew den Rücken zugekehrt, aber an der Art und Weise, wie der Junge ängstlich den Kopf schüttelte, erkannte er, dass sie auf ihn einredete. Der Junge warf einen scheuen Blick zur Tür. Die Dame trat einen Schritt auf ihn zu.

Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Bartholomew, ganz gebannt von dem, was er sah, beugte sich noch ein Stück weiter vor, bis seine Nase die Fensterscheibe berührte. In dem Moment griff sich die Dame unten im Vorgarten ruckartig an den Hinterkopf und schob die Locken auseinander. Bartholomew gefror das Blut in den Adern. Ein Gesicht starrte von dort zu ihm hoch, ein kleines, braunes, verwachsenes Gesicht, das nur aus Falten und spitzen Zähnen zu bestehen schien.

Mit einem gedämpften Aufschrei hechtete er vom [33] Fenster weg. Holzsplitter bohrten sich ihm in die Handflächen. Es hat mich nicht gesehen, es hat mich nicht gesehen. Woher sollte es überhaupt wissen, dass ich hier war?

Aber es wusste, dass er hier war. Die feuchten schwarzen Augen hatten ihn direkt angeblickt. Für Sekunden hatte wilder Zorn in ihnen gefunkelt. Und dann hatten sich die Lippen des Unholds geschürzt, und er hatte gelächelt.

Bartholomew lag um Atem ringend auf den Dielenbrettern; das Herz hämmerte ihm im Schädel. Sie würde ihn umbringen. Ganz bestimmt. Aber er sah doch überhaupt nicht aus wie ein Mischling, oder? Von unten im Vorgarten sah er doch bestimmt wie ein ganz normaler Junge aus! Verzweifelt schloss er die Augen. Ein ganz normaler Junge, der ihr nachspionierte.

Sehr, sehr langsam hob er den Kopf und spähte hinaus, wobei er sich dieses Mal wohlweislich im Schatten hielt. Die pflaumenfarbene Frau war ein Stück von dem Jungen in dem Vorgarten zurückgewichen. Ihr anderes, fratzenhaftes Gesicht war fort, es verbarg sich wieder unter ihrem Haar. Eine ihrer langen, in Samthandschuhe gehüllten Hände hatte sie nach Bartholomews Freund ausgestreckt und winkte ihn zu sich heran.

Der Junge sah sie an und schaute dann wieder zum Haus zurück. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte Bartholomew, in einem der oberen Fenster jemanden zu [34] sehen, einen gebückten Schatten, eine zum Abschied vor der Scheibe erhobene Hand. Einen Herzschlag später war die Erscheinung jedoch wieder fort, das Fenster leer.

Der Junge im Vorgarten zitterte. Wandte sich wieder der Dame zu. Sie nickte. Da stand er auf und nahm ihre ausgestreckte Hand. Daraufhin zog sie ihn an sich, und urplötzlich waren sie beide von Finsternis eingehüllt, vom Schlagen einer Vielzahl schwarzer Flügel, die mit schrillem Kreischen um sie herum und zum Himmel emporstoben. Die Luft kräuselte sich. Dann waren sie fort, und die Krähengasse verfiel wieder in tiefen Schlaf.

[35] ZWEITES KAPITEL

Der Rat wird getäuscht

Arthur Jelliby war ein ausgesprochen netter junger Mann, was vielleicht erklärt, weshalb er es als Politiker nie weit gebracht hatte. Er war nicht etwa deswegen Parlamentsabgeordneter, weil er besonders klug gewesen wäre oder sonst über irgendwelche Talente verfügt hätte, sondern weil seine Mutter eine hessische Prinzessin mit guten Verbindungen war und mit dem Herzog von Norfolk Krocket gespielt hatte. Während sich also andere Amtsinhaber abmühten, bis ihnen vor Ehrgeiz fast die Seidenwämser platzten, während sie über Austernsoupers den Sturz ihrer Rivalen planten oder sich wenigstens über Staatsangelegenheiten auf dem Laufenden hielten, war Mr. Jelliby weit mehr daran interessiert, lange Nachmittage in seinem Club in Mayfair zuzubringen, seiner hübschen Gattin Pralinen zu kaufen oder einfach nur bis mittags zu schlafen.

Und genau das tat er auch an einem gewissen Tag im [36] August, und deshalb traf ihn die Aufforderung, bei einem Treffen des Staatsrats im Parlamentsgebäude zu erscheinen, völlig unvorbereitet.

Während er die Treppe seines Hauses am Belgrave Square hinunterstolperte, versuchte er mit einer Hand, sein wirres Haar in Ordnung zu bringen, und mit der anderen, die winzigen Knöpfe an seinem kirschroten Wams zu schließen.

»Ophelia!«, rief er bemüht fröhlich.

Seine Gattin erschien in der Tür des Frühstückssalons, und er deutete entschuldigend auf die schwarze Seidenkrawatte, die ihm schlaff unterm Kragen hing. »Der Kammerdiener hat frei, und Brahms weiß nicht, wie das geht, und ich krieg es selbst einfach nicht hin! Knote sie mir, mein Schatz, sei so lieb, und schenk mir ein Lächeln, ja?«

»Arthur, du darfst einfach nicht so lange schlafen«, sagte Ophelia streng und ging ihm entgegen, um ihm die Krawatte zu binden. Mr. Jelliby war ein großer, breitschultriger Mann, und da sie eher klein war, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen.

»Ach, aber ich muss doch mit gutem Beispiel vorangehen. Denk doch nur an die Schlagzeilen: ›Krieg abgewendet! Tausende von Leben gerettet! Das englische Parlament hat seine Sitzung verschlafen.‹ Glaub mir, die Welt wäre ein weit besserer Ort.«

Das klang nicht halb so geistreich, wie es sich in seinem [37] Kopf angehört hatte, aber Ophelia lachte trotzdem, und Mr. Jelliby, der sich ausgesprochen amüsant vorkam, stürzte hinaus ins Großstadtgetümmel.

Für Londoner Verhältnisse war es ein schöner Tag. Was bedeutete, dass es ein bisschen weniger wahrscheinlich war, dass man erstickte oder an Lungenvergiftung starb. Der schwarze Rauchvorhang aus den Millionen von Schornsteinen war vergangene Nacht vom Regen fortgespült worden. Die Luft schmeckte noch immer nach Kohle, aber immerhin, zwischen den Wolken blitzte hin und wieder die Sonne hervor. Staatseigene Automaten knarrten auf rostigen Gelenken durch die Straßen, kehrten den Dreck vor sich her und ließen Öllachen zurück. Eine Gruppe von Laternenanzündern war damit beschäftigt, die kleinen Flammenfeen, die hinter Glas in den Straßenlaternen kauerten, mit Wespen und Libellen zu füttern. Bis zum Einbruch der Dunkelheit verbreiteten die mürrischen Geschöpfe jedoch nur mattes Licht.

Mr. Jelliby bog in die Chapel Street und winkte mit der Hand nach einer Droschke. Hoch über ihm erstreckte sich eine gewaltige Eisenbrücke; sie ächzte und stöhnte, während eine Dampflokomotive darüber hinwegrumpelte, und Funken regneten herab. An einem normalen Tag hätte Mr. Jelliby genau diesen Zug genommen, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt und müßig auf die Stadt [38] hinausgeschaut. Oder er hätte seinen Leibdiener Brahms angewiesen, ihn auf sein neumodisches Fahrrad zu hieven und ihn ordentlich anzuschieben, damit er übers Pflaster davonstrampeln konnte. Aber heute war kein normaler Tag. Heute hatte er nicht einmal gefrühstückt, sondern war völlig überstürzt aufgebrochen, was seine Laune nicht gerade hob.

Die Kutsche, die vor ihm hielt, wurde von einem Gnom gelenkt. Er war alt, hatte spitze Zähne und graugrüne Haut wie ein glitschiger Fels. Außerdem trieb er seine Pferde an, als wären es ein Paar Riesenschnecken, und als Mr. Jelliby mit seinem Spazierstock gegen das Kutschdach klopfte und mit lauter Stimme um etwas mehr Tempo bat, wurde er von einigen saftigen Flüchen auf seinen Sitz zurückgeworfen. Mr. Jelliby runzelte die Stirn, und ihm fielen eine ganze Reihe guter Gründe ein, warum er sich das eigentlich nicht gefallen lassen musste, aber bis er an sein Ziel gelangte, machte er den Mund nicht mehr auf.

Der große neue Glockenturm der Westminster Abbey schlug fünf nach halb, als er an der York Road ausstieg. Verflixt! Er kam zu spät. Ganze fünf Minuten zu spät. Er rannte die Treppe zur St. Stephen’s Porch hinauf und stürzte an dem Pförtner vorbei in die riesige Haupthalle. Überall standen in kleinen Grüppchen Gentlemen beieinander, und ihre Stimmen hallten von den Dachbalken hoch [39] oben wider. Es stank nach Kalk und frischer Farbe. Mancherorts schmiegten sich Baugerüste an die Wände, und auch die Fliesen waren noch nicht überall zu Ende verlegt. Der neue Palace of Westminster war erst vor weniger als drei Monaten für die Abgeordneten freigegeben worden. Der alte Palast war zu einem Häufchen Asche niedergebrannt, nachdem ein verärgerter Feuergeist sich im Keller in die Luft gesprengt hatte.

Mr. Jelliby eilte die Treppe hinauf und einen hallenden, von Lampen gesäumten Korridor entlang. Mit einer gewissen Befriedigung stellte er fest, dass er nicht als Einziger zu spät kam. John Wednesday Lickerish, Justizminister und der erste Sídhe, der in die britische Regierung berufen worden war, hastete ebenfalls den rasch tickenden Zeigern seines Chronometers hinterher. Er bog aus einer Richtung um die Ecke, Mr. Jelliby aus einer anderen, und so rannten sie mit ziemlicher Wucht ineinander hinein.

»Ach! Mr. Lickerish! Bitte verzeihen Sie mir.« Mit einem Lachen half Jelliby dem Gentleman auf die Beine und klopfte ihm einige unsichtbare Staubpartikel vom Revers. »Ich fürchte, ich bin heute Morgen ein wenig ungeschickt. Alles in Ordnung?«

Mr. Lickerish warf Mr. Jelliby einen vernichtenden Blick zu und löste sich aus seinem Griff. Wie immer war er makellos gekleidet, jeder Knopf an seinem Platz, jedes [40] Stofffitzchen wunderschön und neu. Sein Wams war aus schwarzem Samt, seine Krawatte aus silbernem Tuch und einwandfrei gebunden, und außerdem gab es aufgestickte Blätter zu bewundern, Seidenstrümpfe und so steif gestärkte Baumwolle, dass man sie mit einem Hammer hätte zerschlagen müssen. Dadurch fällt nur der Dreck mehr auf, dachte Mr. Jelliby bei sich. Er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu lächeln. Unter den Fingernägeln des Herrn Ministers zeichneten sich braune Halbmonde ab, als hätte er in der kalten Erde gewühlt.

»Morgen?«, sagte Mr. Lickerish. Seine Stimme war dünn, nur ein Rascheln wie ein Windstoß, der durch kahle Äste fährt. »Junger Mann, der Morgen ist längst vorbei. Es ist nicht einmal mehr Mittag. Es ist fast Nacht.«

Mr. Jelliby sah ihn unsicher an. Er wusste nicht genau, was Lickerish damit meinte, aber es war bestimmt nicht höflich, als jung bezeichnet zu werden. Soweit er wusste, war der Herr Minister nicht einen Tag älter als er. Aber das war schwer zu sagen. Mr. Lickerish gehörte zu den Hochelfen, und wie alle Hochelfen war er so groß wie ein kleiner Junge, hatte keine Haare, und seine Haut war so weiß und glatt wie der Marmor unter seinen Schuhen.

»Na schön«, sagte Mr. Jelliby fröhlich. »Auf jeden Fall sind wir spät dran.« Und sehr zum Ärger des Herrn Ministers schritt er bis zum Kabinettszimmer neben ihm her und [41] plauderte über das Wetter, die Weinhändler und sein Ferienhaus, das es in Cardiff fast ins Meer geweht hätte.

Der Raum, in dem der Staatsrat tagte, war klein, mit dunklem Holz vertäfelt und befand sich im Herzen des Gebäudes; die diamantverglasten Fenster gingen auf den Innenhof hinaus, in dem ein Weißdornbaum stand. Reihen von Stühlen mit hoher Rückenlehne drängten sich aneinander, und bis auf zwei waren alle besetzt. Der Ratsvorsitzende, ein gewisser Lord Horace V. Soundso (Mr. Jelliby konnte sich seinen Namen einfach nicht merken), hatte sich in der Mitte an einer Art Podium niedergelassen, das kunstvoll mit Schnitzereien verziert war: Faune und pralle Weintrauben. Offenbar hatte er gedöst, denn er setzte sich erschrocken auf, als die beiden Nachzügler eintraten.

»Ah«, sagte er, faltete die Hände über seinem mächtigen Bauch und runzelte die Stirn. »Mr. Jelliby und der Herr Justizminister haben also doch beschlossen, uns mit ihrer Anwesenheit zu beehren.« Er musterte sie mürrisch. »Bitte setzen Sie sich. Dann können wir nun endlich anfangen.«

Ein allgemeines Grummeln wurde laut, Füße scharrten und Beine wurden angezogen, während Mr. Jelliby sich seinen Weg zu einem freien Stuhl suchte. Der Hochelf entschied sich für einen Stuhl auf der anderen Seite des Raumes. Nachdem sie sich beide gesetzt hatten, räusperte sich der Vorsitzende.

[42] »Hoch geschätzte Ratsherren«, begann er, »ich wünsche Ihnen allen einen guten Morgen.«

Eine der anwesenden Feen zog die millimeterdünnen Augenbrauen hoch, und Mr. Jelliby musste grinsen. (Schließlich war es nicht Morgen, sondern Nacht.)

»Wir haben uns heute versammelt, um uns mit einer sehr ernsten, ja beunruhigenden Angelegenheit zu befassen.«

Noch mal verflixt. Mr. Jelliby seufzte und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Mit ernsten, ja beunruhigenden Angelegenheiten befasste er sich nur sehr ungern. Das überließ er nach Möglichkeit Ophelia.

»Kann ich davon ausgehen, dass die meisten von Ihnen die heutigen Schlagzeilen gesehen haben?«, fragte der Vorsitzende mit schleppender Stimme. »Über den erneuten Mord an einem Mischling?«

Ein Murmeln ging durch die Anwesenden. Mr. Jelliby wand sich innerlich. Ach, bitte kein Mord. Warum konnten die Menschen nicht einfach nett zueinander sein?

»Für alle anderen erlaube ich mir, die Ereignisse kurz zusammenzufassen.«

Mr. Jelliby zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Die Mühe müssen Sie sich nicht machen, dachte er halb verzweifelt. Allmählich wurde es unerträglich heiß. Die Fenster waren geschlossen, und die Luft in dem Raum schien stillzustehen.

[43] »Allein im vergangenen Monat hat es fünf Todesfälle gegeben«, sagte der Vorsitzende. »Insgesamt also bisher neun. Die meisten Opfer scheinen aus Bath zu stammen, was allerdings nur schwer festzustellen ist, da sich niemand gemeldet hat, um Anspruch auf die Leichen zu erheben. Wie dem auch sei, die Opfer wurden alle in London gefunden. In der Themse.«

Ein kleiner, ernst dreinblickender Gentleman in der ersten Reihe rümpfte die Nase und hob wütend die Hand.

Der Vorsitzende musterte ihn missmutig und erteilte ihm mit einem Kopfnicken die Erlaubnis zu sprechen.

»Das sind doch Bagatelldelikte, Euer Gnaden. Ich bin sicher, dass Scotland Yard sein Möglichstes tut. Hat der Staatsrat nichts Wichtigeres zu besprechen?«

»Lord Harkness, wir leben in komplizierten Zeiten. Diese ›Bagatelldelikte‹, wie Sie es zu nennen belieben, könnten nur allzu bald schwerwiegende Folgen haben.«

»Dann werden wir über sie hinwegsteigen, wenn sie uns im Weg liegen. Mischlinge waren noch nie besonders beliebt. Nicht bei ihresgleichen, nicht bei unseresgleichen. Es wird immer wieder zu Übergriffen gegen sie kommen. Ich sehe keinen Grund, weshalb diese jüngsten Vorfälle außergewöhnlich sein sollten.«

»Sir, Sie wissen noch nicht alles. Die zuständigen Behörden glauben, dass zwischen den einzelnen Morden ein [44] Zusammenhang besteht. Sie vermuten, dass sie mit böswilliger Absicht geplant und ausgeführt wurden.«

»Tatsächlich? Nun, ich nehme an, diese Leute müssen irgendwie ihr Geld verdienen.«

»Lord Harkness, dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt!« In das schläfrige Auftreten des Vorsitzenden hatte sich ein gewisses Unbehagen eingeschlichen. »Die Opfer sind alle…« Er zögerte. »Es sind alles Kinder.«

Lord Harkness wäre fast ein »Na und« herausgerutscht, aber das wäre wohl unpassend gewesen. Stattdessen sagte er: »Meines Wissens gibt es nur ganz wenige Mischlinge, die keine Kinder sind. Im Allgemeinen leben sie nicht lange.«

»Auch die Art und Weise, wie sie ermordet wurden, ist immer die gleiche.«

»Und die wäre?« Lord Harkness schien fest entschlossen zu beweisen, dass dieses Treffen von Anfang bis Ende Zeitverschwendung war. Niemand wollte irgendetwas über Mischlinge hören. Niemand wollte sich mit Mischlingen beschäftigen oder auch nur über sie nachdenken. Allerdings wollte auch niemand wissen, wie genau sie zu Tode gekommen waren, und so erntete Lord Harkness für seine Bemühungen nur finstere Blicke. Mr. Jelliby war versucht, sich die Ohren zuzuhalten.

Die Nase des Vorsitzenden zuckte. »Die Behörden sind sich da nicht ganz sicher.«

[45] Ah. Gott sei Dank.

»Wie können Sie dann überhaupt behaupten, dass ein Zusammenhang zwischen den Morden besteht?«, fragte Lord Harkness in bissigem Tonfall. Er hielt sein Taschentuch in der Hand und sah aus, als würde er den Vorsitzenden am liebsten damit erwürgen.

»Nun ja, die Leichen! Sie sind…«

»Heraus mit der Sprache! Was ist mit ihnen?«

Der Vorsitzende blickte starr vor sich hin und sagte: »Lord Harkness, sie sind hohl.«