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Petros Markaris

Live!

Ein Fall für
Kostas Charitos

Roman

Aus dem
Neugriechischen von
Michaela Prinzinger

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2003 bei

Samuel Gavrielides Editions, Athen,

erschienenen Originalausgabe:

›O Tσέ αυτσκτόνησε‹

Copyright © 2003 by Petros Markaris

und Samuel Gavrielides Editions

Der Text wurde für die 2004 im Diogenes Verlag

erschienene deutsche Erstausgabe

in Zusammenarbeit mit dem Autor

nochmals durchgesehen

Umschlagfoto: ›Woman Looking Out from Strips of Film‹

Copyright © Corbis/Dukas

 

 

Zum Gedenken an Frau Tasoula

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23474 9 (11. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60429 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Alles, was im Subjekt ist, ist im Objekt,

und noch etwas mehr;

Alles, was im Objekt ist, ist im Subjekt,

und noch etwas mehr.

Johann Wolfgang von Goethe

[7] 1

Die Katze sitzt mir gegenüber auf der Parkbank. Jeden Nachmittag finde ich sie hier vor – auf der breiten Rückenlehne hockend. Die ersten Tage blickte sie mich mißtrauisch an, jederzeit bereit, die Flucht zu ergreifen, falls ich mich ihr nähern sollte. Als sie schließlich sicher war, daß ich mich nicht für sie interessierte, behandelte sie mich wie Luft und fühlte sich nicht länger genötigt, ihre Pose meinetwegen zu verändern. So hat sich eine gutnachbarliche Beziehung zwischen uns entwickelt. Sie besetzt nie meine Parkbank, und die wenigen Male, die ich vor ihr eintreffe, lasse ich ihr angestammtes Plätzchen frei. Sie ist eine Herumtreiberin, doch ihr Fell ist nicht rötlich wie das der meisten streunenden Katzen. Es ist schwarzgrau gemustert, ganz so wie die Anzüge, die wir am Polizeiball oder bei Begräbnissen tragen.

Adriani sitzt an meiner Seite und strickt. Seit jenem schicksalhaften Abend, als ich die glorreiche Idee hatte, mich in die Bresche zu werfen, um Elena Kousta vor der Kugel ihres Stiefsohnes zu retten, hat sich mein Leben von Grund auf verändert. Zunächst verbrachte ich acht Stunden im Operationssaal, anschließend anderthalb Monate im Krankenhaus und nun liegen noch zwei Drittel meines dreimonatigen Genesungsurlaubs vor mir. Meine Beziehungen zur Mordkommission sind bis auf weiteres [8] unterbrochen. Ich bin auch kein einziges Mal dort gewesen, seit ich entlassen wurde. Meine beiden Assistenten, Vlassopoulos und Dermitsakis, kamen anfänglich jeden zweiten Tag vorbei, dann stellten sie die Besuche ein und beschränkten sich auf Telefonanrufe, bis sie schließlich jeden Kontakt abbrachen. Gikas war nur ein einziges Mal ins Krankenhaus gekommen, zusammen mit dem Ministerialdirektor, der mich partout nicht leiden kann. Doch an diesem Tag war er voll des freundlichen Lobs für meine mutige Tat. Schließlich hat dann Adriani den Oberbefehl über mein Dasein übernommen, und ich beschränke mich darauf, mich von zu Hause in den Park und vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer zu schleppen. Ich fühle mich wie ein Palästinenser, über den die Israelis eine Ausgangssperre verhängt haben.

»Was gibt’s denn heute zu essen?«

Nicht, daß mich das sonderlich kümmert. Mein Appetit hat sich noch nicht wieder eingestellt, und jeder Bissen bleibt mir im Hals stecken. Aber ich spreche das Thema an, weil es mich aus meiner Lethargie reißt.

»Ich habe dir ein Hühnchen gekocht und dir daraus ein Süppchen mit Teigsternchen zubereitet.«

Seit ich wieder zu Hause bin, spricht sie nur mehr in der Verniedlichungsform, als trüge auch das zu meiner Genesung bei.

»Schon wieder Huhn? Ich habe doch erst vorgestern Huhn gegessen.«

»Es tut dir aber gut.«

»Was soll mir denn daran guttun, Mensch, Adriani? Ich hatte einen Lungendurchschuß, kein Magengeschwür.«

»Das stärkt, überlaß das ruhig mir«, erklärt Adriani [9] abschließend, ohne auch nur den Blick von ihrem Strickzeug zu heben.

Ich stöhne auf und erinnere mich sehnsüchtig an die Tage in der Intensivstation, als meine Angehörigen mir nur einmal am Morgen und einmal am Abend die Aufwartung machen durften und mich zwischendurch in Ruhe ließen. Während der neun Tage, die ich dort verbrachte, abgeschirmt von einer weißen Trennwand und zwei weißen Vorhängen, durchlebte ich zweimal pro Tag dieselbe Zeremonie: Zunächst trat Adriani ein.

Dann fragte sie mit einem Lächeln, so schwach wie eine flackernde Kerze kurz vor dem Erlöschen: »Wie geht es dir heute, mein lieber Kostas?«

Diesem immensen Leidensdruck begegnete ich, indem ich so tat, als fühlte ich mich blendend. »Prima, ich weiß gar nicht, weshalb ich hier rumliege, mir fehlt nichts«, antwortete ich, obwohl ich mich in der Intensivstation gut aufgehoben fühlte.

Ein reserviertes, trauriges Lächeln und ein unmerkliches Kopfschütteln bestätigten mir: Deinem Schicksal kannst du nicht entrinnen. Dann setzte sie sich auf den einzigen Besucherstuhl, ergriff meine Hand, und ihr Blick saugte sich an mir fest. Immer wenn sie nach einer halben Stunde ging, ließ sie mich aufgrund der langen Bewegungslosigkeit mit einer eingeschlafenen Hand und der Gewißheit zurück, daß ich innerhalb der nächsten zwölf Stunden abtreten würde.

Wenn Adriani mich dazu brachte, meinen Zustand als prima zu bezeichnen, so trieb mich Katerina, meine Tochter, zum anderen Extrem. Sie trat stets beschwingt und mit [10] einem breiten Lächeln ein. »Bravo, du bist ein Kraftprotz«, sagte sie. »Du siehst von Tag zu Tag besser aus.«

»Woraus schließt du das denn?« entgegnete ich ärgerlich. »Mir geht’s hundeelend. Ich habe Schmerzen, bin völlig erschöpft und will nichts als schlafen.«

Statt einer Antwort drückte sie mir einen innigen Kuß auf die Backe und umarmte mich so fest, daß meine Wunde noch mehr schmerzte als vorher.

Zuletzt kam stets meine Schwägerin Eleni herein. Sobald Adriani sie benachrichtigt hatte, daß man mich halbtot ins Krankenhaus gebracht hatte, war sie von der Insel, auf der sie wohnt, herbeigeeilt.

Eleni gehört zu den Menschen, die einen mit der Misere der anderen trösten wollen. So begann sie mir nacheinander alle Krankheitsfälle in ihrer Familie aufzuzählen. Von ihrer Tochter, die als Allergikerin so gut wie nichts essen und keine normale Kleidung tragen darf, über ihren Mann, der an Bluthochdruck leidet und mit Adalat in der Hosentasche herumläuft, und ihre Schwiegermutter, die aufgrund eines Beckenbruchs bettlägerig ist und abwechselnd von ihr und der anderen Schwiegertochter gewindelt werden muß, bis zu einem entfernten Cousin, der mit dem Motorrad gestürzt ist und nunmehr seit drei Monaten im Krankenhaus liegt, wobei ungewiß ist, ob er jemals wieder wird gehen können. Bevor sie ging, warf sie mir noch den moralischen Lehrsatz »Du kannst Gott auf Knien danken« an den Kopf.

Danach hatte ich bis zum Nachmittag Zeit für mich selbst. Im Krankenzimmer herrschte vollkommene Ruhe, die Schwestern waren außerordentlich diskret, und überhaupt ließ man mich in Frieden.

[11] Die Katze reißt ihr Maul sperrangelweit auf und gähnt majestätisch. Ganz so, als wäre sie meiner überdrüssig. Ich trage es ihr nicht nach, denn ich bin meiner selbst noch viel überdrüssiger als sie.

»Wollen wir nicht langsam gehen?« meine ich zu Adriani, frage mich aber gleichzeitig, warum ich denn gehen sollte, wo mich doch zu Hause die gleiche Tristesse erwartet.

»Bleib noch ein wenig sitzen. Die frische Luft tut dir gut.«

»Vielleicht kommt ja Fanis…«

»Damit würde ich nicht rechnen. Soviel ich weiß, hat er heute Dienst.«

Nicht daß ich darauf brenne, von einem Arzt untersucht zu werden. Ich komme einfach gut aus mit Fanis Ousounidis, dem Freund meiner Tochter. Mein Verhältnis zu Fanis steht ganz im Gegensatz zur Entwicklung der Athener Börse. Die erlebte nämlich zuerst ihren Höhenflug und begann dann zu kollabieren, während unser Verhältnis zunächst einmal am Boden zerstört war und sich dann langsam erholte. Ich habe ihn als diensthabenden Kardiologen kennengelernt, als ich eines Abends wegen drohendem Herzinfarkt ins Allgemeine Staatliche Krankenhaus eingeliefert wurde. Ich mochte ihn, weil er immer gutgelaunt war, immer einen Scherz parat hatte. Bis ich erfuhr, daß er mit meiner Tochter angebändelt hatte. Da verdüsterte sich meine Laune, und ein heftiges Gewitter zog auf. Schließlich habe ich mich, Katerina zuliebe, mit dem Gedanken abgefunden, daß er ihr Freund war. Ihm persönlich konnte ich allerdings nur wenig abgewinnen. Ich hatte den Eindruck, daß er mein Vertrauen mißbraucht hatte. Wenn man durch die Polizeischule gegangen ist, dann bleibt der [12] Gedanke des Verrats wie ein Blutegel an einem haften. In der Intensivstation kamen wir uns zum ersten Mal näher, und das hatte nichts mit der medizinischen Betreuung zu tun. Gegen zwölf, kurz vor dem Mittagessen, tauchte sein lachendes Gesicht in der Tür auf. Jedesmal rief er mir etwas anderes zu. Von »Wie geht’s uns denn, Herr Kommissar?« über »Was treibt mein zukünftiger Schwiegervater?« bis zum ironisch überbetonten »Papa!« Das wiederholte sich drei-, viermal täglich, aber auch nachts, wenn er Dienst hatte, verknüpft mit diskreten Fragen nach meinem Befinden und ob es mir an nichts fehle. Das erfuhr ich indirekt von den Krankenschwestern, die mir dann und wann zuwarfen: »Wir müssen gut auf Sie aufpassen, sonst schimpft Herr Doktor Ousounidis mit uns!«

Die Sache begann mir zu stinken, als ich aus der Intensivstation verlegt wurde. Noch am selben Tag richtete sich Adriani häuslich in meinem Zimmer ein und riß die Kontrolle an sich. Das wurde geduldet, weil ich als Kommissar im Dienst verwundet worden war, andererseits wegen der Beziehung meiner Tochter zu Fanis. Die Ärzte fühlten sich verpflichtet, Adriani tagtäglich Bericht zu erstatten, über meine Fortschritte, über die Medikamente, die sie mir verabreichten, über die kleinsten Komplikationen, die mein postoperativer Zustand nach sich zog. Vom dritten Tag an blieb sie auch zur Visite und verwickelte die Ärzte in langwierige Diskussionen. Wagte ich auch nur einmal eine Meinung zu äußern, wie etwa, daß ich Schmerzen hätte oder ein Ziehen an der Wunde bemerkte, schnitt sie mir das Wort ab: »Überlaß das ruhig mir, Kostas. Du verstehst nichts davon.« Die Ärzte gaben klein bei, schon Fanis’ wegen, während ich [13] zu schwach war, um Kontra zu geben. Den Krankenschwestern ging sie auf die Nerven, aber sie trauten sich nicht, es offen zu zeigen. Schließlich entschloß sich Katerina dazu, mit ihr zu reden. Adriani brach in herzzerreißendes Schluchzen aus. »Schon gut, Katerina«, sagte sie unter Tränen, »wenn ihr mir die Betreuung meines Mannes nicht zutraut, dann laßt ihn doch rund um die Uhr von einer Privatkrankenschwester pflegen, und ich geh nach Hause.« Ihr Weinen entwaffnete Katerina und besiegelte meine Geiselhaft.

»Es ist kühl, zieh deine Weste an.« Sie zieht die selbstgestrickte Weste aus ihrer Tasche und überreicht sie mir.

»Laß mal, mir ist nicht kalt.«

»Doch, dir ist kalt, lieber Kostas. Überlaß das ruhig mir.«

Die Katze erhebt sich von ihrem Platz, streckt sich und springt mit einem lautlosen Satz herunter. Sie wirft mir einen letzten Blick zu, dann wendet sie sich um und entfernt sich mit hocherhobenem Schwanz, der an die Antenne eines Streifenwagens erinnert.

Tiere rufen weder freundschaftliche noch feindselige Gefühle in mir wach. Ich habe schlicht keinerlei Bezug zu Tieren. Aber die Arroganz dieser Katze geht mir auf den Geist.

Schließlich packe ich die Weste und ziehe sie über.

[14] 2

Fanis straft Adriani Lügen. Er taucht um sieben auf, als ich gerade die Mittagszeitung lese. Das ist noch eine Neuerung in meinem Leben nach dem Krankenhaus: Früher waren die Wörterbücher mein einziger Lesestoff. Nun habe ich als Gegengift für meine Langeweile mein Interesse auch auf Zeitungen ausgeweitet. Ich fange mit der Morgenzeitung an, die mir Adriani mitbringt, wenn sie vom Einkaufen zurückkommt. Anschließend blättere ich meine Wörterbücher durch. Nach meinem Spaziergang kaufe ich das Mittagsblatt und lese haargenau dieselben Nachrichten wie am Morgen, und schließlich sehe ich dieselben Nachrichten zum dritten Mal im Fernsehen und kann sicher sein, daß mir nichts entgeht. Die Ärzte reden dauernd von postoperativen Komplikationen, doch die sind angesichts der Nebenwirkungen, die eine Krankschreibung zeitigt – unerträgliche Langeweile und gräßliche Trägheit –, einfach lachhaft.

Fanis findet mich also vor, wie ich – mit der Hingabe eines autistischen Kindes – das Kleingedruckte des Wirtschaftsteils verschlinge. Ich trage immer noch die Weste, die mir Adriani im Park aufgedrängt hat, nicht etwa, weil ich friere, sondern weil ich einen derartigen Grad an Apathie erreicht habe, daß ich nicht mehr zwischen Kälte und Wärme unterscheiden kann. Ich bin imstande, mit der [15] Weste ins Bett zu gehen, wenn Adriani sie mir nicht vorsorglich auszieht.

Fanis steht vor mir und lächelt mich an. »Wie wär’s mit einer Spazierfahrt?«

»Hast du denn keinen Dienst?« frage ich, während ich den Blick von der Zeitung hebe.

»Ich habe mit einem Kollegen getauscht. Dem hat meine Schicht besser gepaßt.«

Ich lasse die Zeitung sinken und stehe auf.

»Aber nicht, daß ihr euch zum Abendessen verspätet«, ruft Adriani aus der Küche. »Kostas muß um neun essen.«

»Wieso? Was ist denn dabei, wenn er um zehn ißt?« lacht Fanis.

Adriani steckt die Nase aus der Küche. »Mein lieber Fanis, du bist doch Arzt. Findest du es richtig, wenn er mit vollem Magen ins Bett geht? Jetzt, wo er sich erholen soll?«

»So, wie du ihn ernährst, kann er auch um Mitternacht essen und gleich anschließend in die Heia.«

»Laß uns gehen, sonst kommen wir hier gar nicht mehr weg«, sage ich zu Fanis, denn ich sehe, wie sie zu ihrer Verteidigung verschiedene erprobte Argumente in Stellung bringt. Wenn sie loslegt, kann ich die Spazierfahrt abschreiben.

Früher hat sie bei Fanis’ Anblick alles stehen- und liegenlassen, um ihm Gesellschaft zu leisten. Heute öffnet sie kurz die Wohnungstür und verschwindet dann gleich in die Küche. Generell sieht sie Besucher nicht gern, da sie mich ihrer absoluten Herrschaft entreißen könnten. Fanis gegenüber ist sie zurückhaltend und mißtrauisch, denn er ist Arzt und könnte sie mit seinem Wissen übertrumpfen.

[16] »Warum trägst du eine Weste? Ist dir kalt?« fragt Fanis.

»Nein.«

»Dann zieh sie aus, draußen ist es warm. Sonst kommst du ins Schwitzen.«

Ich ziehe sie aus. Meine Frau zieht mir die Weste an, mein Arzt zieht sie mir wieder aus, und ich tue, was man von mir verlangt.

»Fahren wir die Küstenstraße entlang und lassen uns ein wenig Seeluft um die Nase wehen«, meint Fanis und biegt in den Vouliagmenis-Boulevard ein.

Es herrscht nur wenig Verkehr, und die Fahrzeuge rollen gemächlich dahin. Seitdem der Flughafen nach Spata verlegt wurde, kann der Vouliagmenis-Boulevard aufatmen. Fanis fährt die Alimou-Straße hinunter und gelangt auf den Possidonos-Boulevard. Spaziergänger drängeln sich die Küste entlang, auf dem eineinhalb Meter breiten Gehweg bis zur steinernen Befestigung vor dem Meer. Den übrigen Gehsteig haben Inder, Pakistani, Ägypter und Sudanesen besetzt, die auf Tischtüchern Damenhandtaschen, Handyhüllen, Euro-Umrechner, Feldstecher, Uhren, Wecker, Plastikblumen und kleine Geldbörsen für Cent- und Euromünzen feilbieten. Sie hocken auf Zehenspitzen hinter ihren Ständen und plaudern miteinander, da die Spaziergänger achtlos an ihren Waren vorübergehen.

Es ist Juni, die große Hitze ist noch nicht hereingebrochen, und vom Saronischen Golf her weht mir eine milde Brise ins Gesicht. Viele plantschen noch im Meer oder spielen Federball am Strand, während einige Surfer in der Bucht von Faliro hin- und hergleiten, alle naselang umkippen und sich wieder hochrappeln.

[17] Ich schließe die Augen und fühle mich ganz leer. Ich versuche an nichts zu denken, weder an die Hühnersuppe mit den Teigsternchen, die mir wieder hochkommen wird, noch an die restlichen zwei Monate Dasein als autistisches Kind – Krankschreibung genannt – noch an die Katze, die mich morgen nachmittag wie üblich im Park erwartet. Ich versuche an etwas anderes zu denken, doch es fällt mir nichts ein.

»Du mußt die Apathie überwinden, in die du durch den Genesungsurlaub verfallen bist.«

Fanis’ Stimme weckt mich, und ich schlage die Augen auf. Wir haben Kalamaki hinter uns gelassen und fahren in Richtung Elliniko. Fanis fährt, mit dem Blick auf die Straße gerichtet, fort: »Wie du weißt, konnten wir uns anfänglich nicht ausstehen. Du hast mich für einen kaltschnäuzigen, hochnäsigen Quacksalber gehalten, und ich dich für einen ungehobelten Bullen, einen Fiesling, der meinte, ich hätte seine Tochter verführt. Aber selbst da warst du mir lieber als jetzt, in dieser abgrundtiefen Schlaffheit.«

In seinem Bemühen, mich zur Räson zu bringen, hat er sich ablenken lassen und muß das Lenkrad herumreißen, um einem Pärchen in einem Ford Cabriolet auszuweichen. Dem Lenker stehen – wie es die neueste Mode vorschreibt – die Haare zu Berge, als hätte er gerade Graf Dracula erblickt. Die Kleine trägt einen Nasenring.

Der Typ mit den zu Berge stehenden Haaren erwischt uns an der roten Ampel. Er kommt herangeprescht, um Fanis eine Standpauke zu halten, da fällt sein Blick auf das Emblem des Ärzteverbandes an der Windschutzscheibe. »Arzt, was? Hätte ich mir denken können!« ruft er [18] triumphierend. »So eine Fahrweise läßt nur auf einen Arzt schließen oder auf eine Frau am Steuer.«

»Wieso? Was hast du gegen Frauen am Steuer, Jannakis?« fährt die Kleine an seiner Seite dazwischen.

»Gar nichts, mein Engel. Aber am Steuer gilt: ›Frau am Steuer, Ungeheuer.‹«

»Aha, also ist deine Mama ein Ungeheuer, das du fünfmal am Tag anrufst, weil du ohne seine Stimme nicht leben kannst?«

Die Kleine ist dermaßen außer sich, daß selbst ihr Nasenring zittert. Sie reißt die Tür des Cabriolets auf, steigt aus und schlägt sie hinter sich zu.

»Komm her, Maggy, he! Wo willst du denn hin, verdammte Kacke noch mal!«

Die Kleine hört ihn gar nicht mehr. Sie geht zwischen den Autos hindurch und tritt auf den gegenüberliegenden Gehsteig.

»Du bist schuld, du Kurpfuscher!« schleudert der Typ Fanis entgegen.

»Ich bin kein Kurpfuscher«, entgegnet Fanis lachend, »sondern Kardiologe. Und wenn du so weitermachst, dann kriegst du gleich einen Herzinfarkt.«

Der Typ hört aber nicht auf ihn. Nachdem es grün geworden ist, rollt er im Schneckentempo voran und hupt wie verrückt, damit sich die Kleine umwendet. Zugleich attackieren ihn die Wagen hinter ihm ebenfalls mit der Hupe, damit er endlich Gas gibt und alle losfahren können.

Fanis krümmt sich vor Lachen. Ich verfolge die Szene fast teilnahmslos, und Fanis entgeht das nicht. »Siehst du, früher wärst du ausgeflippt, sowohl wegen des Typen als [19] auch wegen meines Gelächters. Jetzt prallt alles an dir ab. Glückwunsch an Frau Adriani. Hätte ich ihr nicht zugetraut, daß sie dich so zurechtstutzt.«

Er bleibt vor den Sportanlagen in Ajios Kosmas stehen. Bis er eingeparkt hat, ist sein Lächeln verschwunden. Er wendet sich zu mir und blickt mich an. Die Nacht ist hereingebrochen, und wir können einander im Wagen kaum noch erkennen.

»Katerina denkt daran, ihre Doktorarbeit zu unterbrechen und nach Athen zu kommen«, meint er dann.

»Wieso?«

»Um dich wieder aufzupäppeln. Sie befürchtet, daß du uns völlig vom Fleisch fällst.« Er macht eine kurze Pause, während er mir weiterhin sein Gesicht zuwendet. »Ich habe ihr gesagt, das sei nicht nötig. Du wärst gut bei Kräften, nur müßtest du dich entschließen, deine Selbstheilungskräfte zu aktivieren.«

»Deswegen wolltest du mit mir spazierenfahren? Um mir von Katerina zu erzählen?«

»Auch deswegen, aber auch um dir klarzumachen, daß es keinen Sinn hat, den Babysitter zu wechseln und die Mutter gegen die Tochter auszutauschen. Du mußt dich endlich aufraffen.« Er schweigt einen Augenblick, als wolle er seine Worte abwägen. »Wenn du so weitermachst, dann wirst du nicht in die Dienststelle zurückkehren können. Dann muß ich dich weiterhin krank schreiben!«

»Bloß nicht!« Zum ersten Mal klingt meine Stimme nicht wie erstorben.

»Katerina steht am entscheidenden Punkt ihrer Doktorarbeit.« Wiederum hält er inne. Er fürchtet, ihm könne [20] etwas herausrutschen, das ich ihm krummnehme. »Sie sollte sie gerade jetzt nicht auf Eis legen. Aber ich kann sie nicht aufhalten. Nur du…«

Er sieht, daß er keine Antwort erhält, und will schon den Motor anlassen, um zurückzufahren.

»Ihr seid alle sehr gut zu mir«, sage ich, und er bleibt mit der Hand am Wagenschlüssel sitzen. «Meine Frau läßt mich nicht aus den Augen, du stärkst mir den Rücken, und meine Tochter will ihre Doktorarbeit liegenlassen, um mich zu verhätscheln. Aber warum fühle ich mich trotz alledem so mies?«

»Wieso schickst du uns nicht zum Teufel und setzt deinen Kopf durch? Das versuche ich dir die ganze Zeit klarzumachen.«

Jetzt dreht er den Wagenschlüssel im Schloß um, und der Motor springt an. Vor dem Eingang des Wohnhauses verabschiedet er sich von mir. Ich lade ihn nicht nach oben ein, da ich weiß, daß es jetzt Zeit ist für sein allabendliches Telefonat mit Katerina.

Mich erwartet ein gedeckter Küchentisch.

»Wie war die Spazierfahrt?« fragt Adriani.

»Schön. Wir sind die Küste entlang bis Ajios Kosmas gefahren.«

»Im Sommer ist die Küstenstraße sehr belebt. Sobald du ein wenig besser beisammen bist, fahren wir morgens dort raus.«

Die Botschaft ist eindeutig. Sie entscheidet, wann ich besser beisammen bin, und sie führt mich spazieren.

»Setz dich, damit ich dir dein Süppchen bringen kann.«

»Ich will keine Suppe. Draußen zergehen die Leute vor [21] Hitze und springen ins Meer, und ich esse Suppe mit Teigsternchen.«

»Weil du gesund werden mußt, lieber Kostas. Das ist deiner Genesung förderlich.«

»Welcher Quacksalber hat dir denn das gesagt?« Ich weiß, daß kein Arzt so etwas sagt, die Therapie hat einzig und allein sie mir verordnet.

Statt einer Antwort nimmt Adriani den tiefen Teller, füllt ihn mit Suppe und plaziert auch eine Hühnerkeule darin.

»Iß, wenn du willst. Laß es stehen, wenn du willst. Ich habe meine Pflicht getan«, meint sie und läßt mich allein in der Küche sitzen.

Ich stütze mich auf die beiden Tischecken, um aufzustehen und laut zu fluchen, doch plötzlich versagen mir die Beine den Dienst. Meine Wut verpufft wie die Luft aus einem Luftballon, die Kräfte verlassen mich, und ich merke, wie ich innerlich zusammensacke. Ich setze mich an den Tisch, greife nach einer Scheibe Brot, zupfe kleine Bissen heraus und werfe sie in die Suppe. Dann beginne ich sie zu essen, wie es alte Männer tun – mit eingetunkten Brotstücken. Nach dem dritten Bissen lasse ich den Löffel in den Teller sinken und verlasse die Küche.

[22] 3

Ich sitze auf dem Sofa neben Adriani und sehe mir das Aquarium an. Nicht eines mit Zierfischen, sondern die Sendung der bekannten Fernsehmoderatorin Aspasia Komi, zu der verschiedene Politiker und Unternehmer, ab und zu auch ein Sportler – ein Fußballer oder Gewichtheber etwa – geladen sind. Darin erhebt die Moderatorin demonstrativ Anklage und deckt Skandale auf, doch beim Abschied sind alle wieder ein Herz und eine Seele. Früher habe ich solche Sendungen verabscheut und meinen Platz vorm Fernseher geräumt. Ich verabscheue sie zwar noch immer, bleibe aber vor der Glotze sitzen, so wie neun von zehn Griechen.

Die Komi sitzt in einem Polstersessel, ihr Gegenüber ist Jason Favieros, ein gut erhaltener Fünfzigjähriger, der im zweiten Fauteuil Platz genommen hat. Wer nicht weiß, daß er die letzten zwanzig Jahre eine Menge Geld gescheffelt hat, könnte ihn für einen Rocker aus den Siebzigern halten, der vergessen hat, sich zu rasieren und eine frische Hose anzuziehen. Obwohl er der Inhaber einer großen Baufirma ist, die auf dem gesamten Balkan agiert und einen Großteil der Arbeiten für die bevorstehende Olympiade ausführt, trägt er verwaschene Jeans und ein zerknittertes Sakko.

Die Komi will wissen, was dran ist an den Vorwürfen, die Bauarbeiten für die Olympiade würden nicht termingerecht fertig sein. Favieros zeigt sich ungerührt.

[23] »All das sind Gerüchte, die jeder Grundlage entbehren, Frau Komi«, meint er. »Bei solchen Aufträgen geht es um viel Geld, das Interesse ist groß und Griechenland, aus unternehmerischer Sicht, ein kleines Land. Natürlich verfolgt ein Konkurrent des öfteren das Ziel, seinen Gegenspieler zu verunglimpfen, um ihn aus dem Rennen zu werfen.«

»Sie behaupten also, daß die Bauarbeiten rechtzeitig für die Olympischen Spiele fertig sein werden?«

»Nein«, entgegnet Favieros mit einem selbstbewußten Lächeln. »Sie werden wesentlich früher fertig sein.«

»Jetzt haben Sie sich unseren Zusehern gegenüber festgelegt, Herr Favieros.« Die Komi wendet sich der Kamera zu, und ihr Gesicht leuchtet vor Genugtuung.

»Gewiß«, antwortet Favieros lässig.

»Na schön, wir sprechen uns wieder, wenn wir uns vor den Gästen aus aller Welt blamieren«, bemerkt Adriani, die Beteuerungen jeglicher Art für Schwindel hält.

Vielleicht hat sie recht, aber Favieros hat mit seiner terminlichen Festlegung die Diskussion beendet, und die Komi sucht nach einem neuen Angriffspunkt.

»Dennoch gibt es eine offene Frage in Unternehmerkreisen, Herr Favieros«, sagt sie. »Wie ist es Ihnen gelungen, innerhalb von nur fünfzehn Jahren dieses – wenn auch nur für griechische Verhältnisse – riesige Imperium aus dem Boden zu stampfen?«

»Weil ich mir sehr früh zwei Erkenntnisse zunutze gemacht habe. Erstens, daß meine Unternehmen bei einer Beschränkung auf Griechenland zu einem Schattendasein verurteilt wären. So habe ich meine Tätigkeit auf den Balkanraum ausgedehnt. Heute kümmere ich mich um [24] Baustellen entweder direkt oder über Tochtergesellschaften auf dem ganzen Balkan, selbst im Kosovo. Außerdem habe ich die traditionell freundschaftlichen Beziehungen Griechenlands zu einer Reihe von arabischen Ländern ausgenützt.«

»Und die zweite Erkenntnis?«

»Daß ein Unternehmer niemals Minderwertigkeitskomplexe haben darf. Ein Großteil unserer Baustellen läuft über die Kooperation mit anderen europäischen Firmen, die viel größer sind als wir. Ich versichere Ihnen, Frau Komi, daß meine Firma nie befürchtet hat, geschluckt zu werden.«

»Scheinbar haben Sie, Herr Favieros, sehr früh die Geheimnisse der Globalisierung entdeckt.«

Favieros bricht in Gelächter aus. »Die kannte ich schon lange, bevor der Begriff Globalisierung in Mode kam.«

»Was Sie nicht sagen! Eine Vorreiterrolle! Und wie sind Sie darauf gekommen?« Die Komi lächelt bezaubernd.

»Durch den linken Internationalismus, Frau Komi. Die Globalisierung ist das Endstadium des Internationalismus. Lesen Sie das Kommunistische Manifest.«

Bislang hatte er sich vollkommen locker gegeben, doch nun erkenne ich plötzlich eine Spur herausfordernden Hochmuts in seiner Stimme. Das Lächeln auf Komis Lippen ist zu einer verlegenen Maske geronnen. Sie hat keine Ahnung, was Internationalismus bedeutet, noch was das Kommunistische Manifest ist. Doch die Komi ist erfahren und hat sich rasch wieder in der Gewalt. Sie beugt sich nach vorne, um ihn mit ihrem Blick festzunageln.

»Sie nennen das vielleicht Internationalismus und Kommunistisches Manifest, andere jedoch nennen das Vetternwirtschaft mit der Regierungspartei, Herr Favieros«, sagt [25] sie sanft. »Und sie beziehen sich dabei auf Ihre Beziehungen zu bestimmten Ministern.«

»Das ist ihre Rache dafür, daß er sie bloßgestellt hat«, meint Adriani, doch Favieros zeigt sich nicht verärgert.

»Nicht nur mit der Regierungspartei, sondern mit allen Parteien. Kennen Sie irgendeinen Unternehmer, der keine Kontakte zu politischen Parteien pflegt, Frau Komi?«

»Aber wir sprechen hier nicht von Kontakten. Wir sprechen von sehr engen, persönlichen Beziehungen. Vorgestern wurden Sie gesehen, wie Sie mit einem Minister in einem allseits bekannten Restaurant, das zur Zeit sehr in Mode ist, beim Essen saßen.«

»Was wollen Sie damit sagen? Daß ich mich in aller Öffentlichkeit mit dem Minister verschworen habe, und noch dazu in einem In-Lokal?« lacht Favieros. Mit einem Schlag jedoch wird er ernst. »Vergessen Sie nicht, daß ich mit vielen der Minister aus der jetzigen Regierung seit der Junta, seit unserer Studienzeit bekannt bin.«

»Nicht wenige behaupten jedenfalls, der sprunghafte Anstieg Ihrer Geschäfte liege an der… Sympathie, die Ihnen die Regierung entgegenbringt«, sagt die Komi. »Möglicherweise weil Sie politische Kampfgenossen waren«, fügt sie bissig hinzu.

»Der Erfolg meiner Unternehmen beruht auf gelungener Planung, richtigen Investitionen und auf unermüdlicher Arbeit, Frau Komi«, sagt Favieros betont ernst. »Damit sind wir über jeden Zweifel erhaben, was sich in nächster Zukunft auch herausstellen wird.« Letzteres unterstreicht er, als stünde der Augenblick der Wahrheit tatsächlich kurz bevor.

[26] Die Komi schlägt ein Dossier auf ihren Knien auf, zieht ein Blatt heraus und überreicht es Favieros. »Kennen Sie diesen Brief, Herr Favieros?« fragt sie. »Es handelt sich um ein Protestschreiben von fünf Baukonsortien an das Ministerium für Umwelt, Raumplanung und Bauwesen. Sie protestieren dagegen, daß bei der Ausschreibung für den Ausbau dreier Autobahnkreuze kein Zuschlag erfolgt ist und sie wiederholt wird, einzig und allein, damit Ihre Firma, die nicht zeitgerecht einreichen konnte, Gelegenheit zur Teilnahme erhält.«

Favieros hebt langsam den Kopf. »Ja, ich hatte etwas von diesem Schreiben gehört, es lag mir aber noch nicht vor.«

»Wie Sie sehen, haben wir es hier mit sehr konkreten Vorwürfen zu tun. Sind diese Anschuldigungen gerechtfertigt?«

»Hier meine Antwort«, sagt Favieros ruhig.

Langsam fährt seine Hand in die Innentasche seines Jacketts. Die Komi klammert sich an ihren Sessel, heftet den Blick auf Favieros und wartet ab. Mit ihrer Körperhaltung versucht sie, die spannungsgeladene Stimmung an die Zuschauer weiterzugeben, doch es riecht von Mesojia, wo der Sender sitzt, bis hier nach abgekartetem Spiel.

Favieros’ Hand schlüpft aus der Tasche, doch er hält kein Blatt Papier in Händen, und auch kein Taschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Favieros hält einen kleinen Revolver der Marke Beretta in der Hand, den er auf die Komi richtet.

»Heilige Jungfrau, er wird sie umbringen!« schreit Adriani und springt auf.

Die Komi starrt wie gebannt auf den Revolver. Ich weiß [27] nicht, ob es die Angst ist, die sie lähmt, oder die Faszination, die eine Mordwaffe auf das Opfer ausübt. Dieses Phänomen habe ich nämlich unzählige Male beobachtet. Nachdem sie sich aus der momentanen Erstarrung gelöst hat, versucht sie, steif vor Schreck, aufzustehen. Doch ihre Knie knicken ein und sie sinkt wieder in den Sessel zurück. Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Doch ihre Zunge tut es ihren Beinen gleich und verweigert den Gehorsam.

»Herr Favieros«, ist eine Stimme aus dem Off zu hören, die besänftigend klingen will, aber vor Furcht zittert. »Herr Favieros, stecken Sie die Waffe in die Tasche zurück… Ich bitte Sie… Wir sind auf Sendung, Herr Favieros.«

Favieros hört nicht auf sie. Er hält den Revolver immer noch in der Hand und blickt die Komi an.

»Schnell einen Werbespot, schnell einen Werbespot!« ruft dieselbe Stimme aus dem Off.

»Keine Werbung!« Die Stimme, die sich nun einschaltet, klingt entschlossen, duldet keinen Widerspruch. »Wir bleiben auf Sendung. Ich übernehme das Kommando!«

»Herr Valsamakis!« ruft der erste. »Wir landen noch im Gefängnis!«

»Wie oft bietet sich dir solch eine Gelegenheit, Schwachkopf! Willst du ein Leben lang bei den Nachrichten und den Quizshows bleiben, oder willst du, daß CNN vor dir in die Knie geht, um dich einzustellen? Sag, was willst du?« Schließlich ruft der selbsternannte Kommandant: »Patroklos, Nahaufnahme von Favieros! Ich will eine Nahaufnahme von Favieros!«

»Aspasia, sprich mit ihm! Du bist auf Sendung, sprich mit ihm!« ist erneut die Stimme des Regisseurs zu hören.

[28] Die Komi versucht nicht einmal, ihre Panik zu verbergen. »Herr Favieros«, stottert sie. »Nicht… Ich bitte Sie…«

Sobald Patroklos die Nahaufnahme im Kasten hat, macht Favieros drei blitzschnell aufeinanderfolgende Bewegungen: Er richtet die Waffe gegen sich selbst, steckt sich den Lauf in den Mund und drückt den Abzug. Der Knall ist zeitgleich mit Komis Aufschrei zu hören. Eine rote Fontäne schießt von Favieros’ Kopf in die Höhe, während sein Hirn in die Kulissen spritzt, ein riesiges Aquarium mit verschiedenfarbigen kleinen Fischen. Favieros’ Körper sinkt vornüber, als hätte ihn im Polstersessel schlagartig der Schlaf übermannt.

Die Komi ist aufgesprungen und weicht unwillkürlich in Richtung Ausgang zurück, doch die Stimme des Regisseurs schneidet ihr den Weg ab.

»Bleib an deinem Platz, Aspasia!« schreit er. »Denk daran, daß wir in diesem Augenblick Geschichte schreiben! Der erste Selbstmord live im Fernsehen!« Die Komi schwankt einen Moment, dann wendet sie ihr Gesicht der Kameralinse zu, sowohl um eine Großaufnahme zu ermöglichen als auch um Favieros nicht mehr sehen zu müssen, und hält inne.

Neben mir hat Adriani die Hände vors Gesicht geschlagen, wiegt sich hin und her wie die Frauen bei den traditionellen Totenklagen und flüstert: »O mein Gott, nein… o mein Gott, nein…«

»Aspasia, sprich in die Kamera!« ist wieder die Stimme des selbsternannten Kommandanten zu hören. Und danach sein Einwurf: »Miltos, den Zoom auf Aspasia!«

»Sehr geehrte Fernsehzuschauer«, ist Aspasias Stimme zu vernehmen, doch anstelle ihres Abbilds kommt eine trübe Einstellung ins Bild, voller Blutspritzer und Flecke.

[29] »Miltos, mach doch deine Linse sauber! Ich hab kein Bild!« ruft der Regisseur.

»Womit soll ich sie denn abwischen?«

»Mit deinem Hemdsärmel, ist mir doch egal. Ich will ein Bild.«

»Welcher Arsch hat bloß die interne Leitung angelassen? Schnell ein Insert.«

Die Stimmen und der Ton sind unterbrochen, und unten rechts auf dem Bildschirm erscheint die Aufschrift »ungekürztes Bildmaterial«.

»Schalte doch ab!« ruft Adriani erbost. »Ungekürztes Bildmaterial – pah! So eine gewissenlose Meute!«

»Ich schalte ab«, sage ich, »aber bereite dich darauf vor, daß du den Selbstmord in allen Nachrichtensendungen mindestens eine Woche lang sehen wirst.«

»Aber wie ist ihm bloß eingefallen, sich vor laufender Kamera umzubringen?«

»Die Seele des Menschen ist ein weites Land.« Ich flüchte mich in diese unbestimmte Antwort, weil wir, wenn wir diese Frage vertieften, uns über kurz oder lang in unsinnigen Vermutungen ergehen würden.

»Jedenfalls ist alles zu einer bloßen Pose verkommen. Sogar die Selbstmorde.«

Manchmal trifft Adriani genau ins Schwarze, ohne es zu merken. Was für einen Grund hatte ein erfolgreicher Geschäftsmann wie Jason Favieros, seinen Selbstmord öffentlich zu inszenieren? Oder hatte er vielleicht etwas anderes vorgehabt und im Verlauf des Abends umdisponiert und den Selbstmord vorgezogen? Aber was hätte er vorhaben sollen? Wollte er die Komi umbringen? Ich kann diese [30] aufgetakelte Blondine zwar auf den Tod nicht ausstehen, aber daß jemand sie aus dem Grund umlegen könnte, scheint mir doch an den Haaren herbeigezogen.

Eine andere Auffassung wäre, daß er seine Feinde und Konkurrenten bedrohen wollte. Doch wozu diente ihm der Revolver? Wollte er seine Konkurrenten via Kamera mit der Waffe einschüchtern? Ich bin, was Nachforschungen betrifft, außer Übung und reime mir lauter Unsinn zusammen.

[31] 4

Ich habe eine weitere schlaflose Nacht hinter mir. Meine Schlafstörungen sind eine große Marter. Jeden Abend zittere ich vor dem Ausknipsen der Nachttischlampe. Fanis erklärt, das sei ein häufiger Begleitumstand der Genesung, und empfiehlt mir eine halbe Schlaftablette eine Stunde vor dem Zubettgehen. Ich verweigere aber selbst eine viertel Tablette, da man sich die Schlafmittel, wenn sie einmal zur Selbstverständlichkeit geworden sind, schwer wieder abgewöhnen kann. So bleibe ich bis in die Puppen hellwach und wälze mich im Bett hin und her.

Meine gestrige Schlaflosigkeit hatte jedoch nicht die üblichen Begleiterscheinungen: weder entnervtes Stöhnen noch Schäfchenzählen, noch den nachmitternächtlichen Rundgang Küche–Wohnzimmer–Balkon. Ganz im Gegenteil, jedesmal, wenn mich Schläfrigkeit übermannen wollte, spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, um wieder aufzuwachen. Mir ließ die Frage keine Ruhe, was Jason Favieros zum öffentlichen Selbstmord getrieben haben könnte. Den privaten Selbstmord, im Büro oder zu Hause, hätte ich nachvollziehen können. Seine Geschäfte gingen vielleicht nicht gut, er hatte möglicherweise psychische Probleme, seine Frau betrog ihn, ein großer Skandal stand vor der Enthüllung, und er zog den Tod der Schande vor. Der »öffentliche« Aspekt paßte aber nicht ins Bild. Warum in aller [32] Öffentlichkeit? Wieso sollte Jason Favieros seinen Tod zu einem Schauspiel gestalten? Favieros’ gesellschaftliche Klasse, die einer verschworenen Gemeinschaft gleicht, scheut vor lautem Trommelwirbel zurück, sie bewegt sich fern der Öffentlichkeit, in Büros mit dicken Spannteppichen, die jeden Laut ersticken. Und mit einem Mal sollte ein solcher Mensch die Einschaltquote mit seinem Tod in die Höhe schnellen lassen wollen? Ausgeschlossen, daß er plötzlich durchgedreht war. Er war vorbereitet in die Sendung gegangen, mit dem Revolver gleich neben seiner Brieftasche. Somit verfolgte der öffentliche Selbstmord einen anderen Zweck, wollte auf irgend etwas hinweisen.

Adriani schlummert an meiner Seite mit ihrem steten, gedämpften Schnarchen – wie ein Spülkasten, der sich die ganze Nacht hindurch füllt. Sonst beiße ich vor Wut in die Kissen, doch gestern nacht habe ich es fast nicht gehört. Es war die erste durchwachte Nacht seit Monaten, die ich in vollen Zügen genoß und deren Ende ich nicht herbeisehnte.

Seit einem Monat will mir das morgendliche Aufstehen jedesmal wie der Beginn einer Odyssee erscheinen. Ich male mir den Tag aus, der mich erwartet, das strenge Programm, ohne Neuerungen oder Abweichungen, und meine Füße weigern sich, den Bettvorleger zu berühren. Heute mache ich es mir, aus eigener freier Entscheidung, auf dem Bett genußvoll gemütlich. Ich habe die Wörterbücher um mich herum ausgebreitet und springe von einem zum nächsten. Die besten Erklärungen zum gesuchten Lemma finde ich bei Dimitrakos.

[33] Selbstmord = Selbsttötung, Suizid, Freitod, vorsätzliche Auslöschung des eigenen Lebens.

Selbstmord begehen = sich entleiben, sich dem irdischen Richter entziehen, sich selbst richten, aus dem Leben flüchten, die Waffe gegen sich selbst kehren, sein Leben mit dem Tod sühnen. Nach christlicher Auffassung verwerflich und mit unehrenhaftem Begräbnis bestraft, nicht so bei Griechen, Römern, Japanern. Sepukku bzw. Harakiri, die in Japan unter den Samurai übl. Selbsttötung, war zugleich Beweis für Mut, Selbstbeherrschung und Reinheit der Gesinnung.

»Fehlt dir was?« Adriani steckt ihren Kopf durch den Türspalt, und ihr Blick heftet sich beunruhigt auf mich.

»Nein, mir geht’s prima.«

»Warum stehst du nicht auf?«

»Ich mache es mir eben gemütlich…«

»Du fühlst dich nicht schlapp, oder?«

»Nein. Weder schlapp noch überanstrengt von der vielen Arbeit.«

Sie blickt mich an, überrascht von meinem leicht ironischen Tonfall, der in der letzten Zeit zugunsten der postoperativen Symptome verschwunden war. In Wahrheit frage auch ich mich, welcher Tatsache sich die unerwartete Trendwende, meine Gesundheit betreffend, verdankt. Der Gehirnwäsche, der mich Ousounidis gestern unterzogen hat? Oder Favieros’ öffentlichem Selbstmord? Eher dem letzteren. An diesem Selbstmord geht mir irgend etwas gegen den Strich, etwas juckt mich seit dem Anblick der Blutspritzer auf der riesigen Aquarienkulisse. Der Polizist in [34] mir ist wieder zu sich gekommen, ist um Atem ringend vom Meeresgrund wieder an die Oberfläche emporgetaucht. »Blödsinn«, sage ich jedesmal zu mir selbst, wenn mein Grübeln an dieser Stelle in eine Sackgasse gerät. »Ich versuche nur ein Rätsel zu lösen, um die Zeit totzuschlagen.« Dennoch ist mir klar, daß das nicht wirklich zutrifft. Die Theatralik von Favieros’ Selbstmord macht mich einfach stutzig.

Es ist mir nicht wohl dabei, wenn ich faul im Bett rumliege. Früher hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen, weil ich meinte, ich sollte diese Stunden besser im Dienst verbringen. In meinem jetzigen Zustand fühle ich mich dabei noch mieser. Ich stehe auf und beginne mich anzuziehen, während ich die ganze Zeit an Favieros denke. Erst als ich fertig bin, wird mir bewußt, daß ich zum ersten Mal seit Monaten zu Anzug und Krawatte gegriffen habe. Ich erblicke mich im Spiegel, der – wie bei alten Modellen üblich – an der Innenseite der Schranktür angebracht ist. Zumindest von der äußeren Erscheinung her erkenne ich den Polizisten wieder, und diese Selbstbestätigung tut mir gut. Nur mein unrasiertes Gesicht paßt nicht ins Bild. Die morgendliche Rasur ist eine Art Ausweis. Sie bescheinigt, daß man ein leistungsfähiger Arbeitnehmer ist. Ein unrasiertes Gesicht hingegen läßt auf Krankheit, Rentnerdasein oder Arbeitslosigkeit schließen. In den beiden letzten Monaten gehörte ich zur zweiten Kategorie und rasierte mich nur alle drei Tage. Heute mache ich den ersten zögernden Versuch, in die erste Kategorie überzuwechseln. Deshalb ziehe ich mein Jackett aus und gehe ins Bad. Als ich fertig rasiert bin, ziehe ich das Jackett wieder an und lasse die [35] Wörterbücher auf dem Bett verstreut liegen. Das ist eines der wenigen Privilegien, die mir Adriani nach meiner Verwundung zugestanden hat. Daß ich nichts aufräumen muß, selbst meine Lexika nicht, die sie haßt und über die sie sonst immer schimpfte, wenn ich sie einfach herumliegen ließ. Nun hält sie still, weil ich mich, ihrer Meinung nach, während meiner Genesung nicht überanstrengen darf. Trotzdem räume ich sie üblicherweise selbst beiseite, da Adriani sie völlig falsch ins Regal zurückstellt, als wolle sie sich auf ihre Art an den Büchern rächen.

Sie sitzt am Küchentisch und putzt Zucchini. Mechanisch hebt sie den Kopf, in der Gewißheit, mich im Pyjama zu erblicken. Das Messer verharrt in der Luft und mit weit aufgerissenen Augen starrt sie auf die Erscheinung im Anzug, als sähe sie einen Geist aus der Vergangenheit.

»Wo gehst du hin?«

»Zeitungen holen.«

»Und dafür hast du dich in den Anzug geworfen?«

»Eigentlich müßte ich meine Paradeuniform anziehen, aber ich wollte nicht gleich übertreiben.«

Sie versteht die Welt nicht mehr und wirft die Zucchini in den Mülleimer statt in die mit Wasser gefüllte Schüssel. Ich werfe rasch die Tür hinter mir ins Schloß, damit sie erst zu sich kommt, wenn ich schon draußen bin.

Sowie ich aus dem Fahrstuhl trete, laufe ich Frau Prelati in die Arme. »Toi, toi, toi, Herr Charitos«, ruft sie begeistert. »Endlich sind Sie wieder der Polizeibeamte, den wir kennen.«

Ich bin drauf und dran, ihr um den Hals zu fallen, mit allen absehbaren und unabsehbaren Folgen. Doch dann fällt [36] mir ein, daß sich Adriani und die Prelati gegenseitig nicht leiden können. Daher könnte sie Adriani, die mich so lange nicht mehr allein außer Haus gehen ließ, meine Geste unter die Nase reiben.

Mein Mißtrauen schmilzt dahin, als auch der Kioskbesitzer die Begeisterung der Prelati teilt. »Prächtig sehen Sie aus, Herr Kommissar, prächtig!« ruft er. »Zum ersten Mal seit langem machen Sie einen wirklich frischen Eindruck. Womit kann ich dienen?«

»Mit Zeitungen.«

»Welche ist denn heute dran?«

Er fragt danach, weil ich jeden Tag eine andere kaufe, um Abwechslung zu haben und um mir selbst zu bestätigen, daß sie alle gleich langweilig sind. Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig.

»Alle, mit Ausnahme der Sportzeitungen.«

Er starrt mich sprachlos an, doch sogleich hellt sich sein Gesicht auf. »Der Selbstmord, was?« meint er – hocherfreut, des Rätsels Lösung gefunden zu haben.

»Ja. Wieso fragen Sie? Wissen Sie etwas darüber?«

»Um Himmels willen, nein!« antwortet er mit dem ängstlichen Instinkt des Durchschnittsbürgers, der Scherereien aus dem Weg gehen möchte. »Aber aus dem zu schließen, was ich überflogen habe, haben auch die Zeitungen keinen Schimmer.«

Er wünscht mir nochmals gute Besserung und stopft die Zeitungen in eine riesige Plastiktüte. Ich gehe die Aroni-Straße hinunter und gelange auf den kleinen Platz vor der Lazarus-Kirche. Dort liegt eine Kaffeestube, die zu einem Café umgestaltet wurde. Ich suche mir ein schattiges [37] Tischchen aus und ziehe den Stapel Zeitungen aus der Plastiktüte. Der Kellner ist ein verdrießlich dreinblickender Fünfzigjähriger, der sich mit einem trockenen »Ich höre!« vor mir aufbaut. Ich bestelle einen süßen griechischen Mokka und handle mir dafür einen scheelen Blick ein, der einer stummen Beschimpfung gleichkommt, da ich das Café durch meine Bestellung wieder zu einer Kaffeestube degradiert habe.

Alle Zeitungen bringen Favieros’ Selbstmord auf der Titelseite. Nur die Schlagzeilen unterscheiden sich. »Jason Favieros’ tragischer Freitod« und »Mysteriöser Selbstmord vor laufender Kamera« titeln die seriösen Blätter. Danach setzt der schrittweise Abstieg in die Gosse ein: von »Favieros’ spektakulärer Selbstmord« über »Exklusiv-Selbstmord« bis zu »Big brother live«. Alle Blätter haben seine Fotografie in den Mittelpunkt der Titelseite gerückt, doch auch hier zeichnet sich eine ähnliche geschmackliche Talfahrt ab. Die angesehenste Zeitung zeigt ein neutrales Bild: Favieros beim Shakehands mit dem Premierminister. Zwei weitere zeigen Favieros mit dem Revolverlauf im Mund. Die ruchlosesten haben Favieros’ Leiche vor dem Hintergrund des blutbesudelten Aquariums den Vorzug gegeben.

Ich trinke den süßen, in Wahrheit aber verwässerten Mokka und lese einen Artikel nach dem anderen. Sie sind voller Fragezeichen und Vermutungen, was bedeutet, daß keiner etwas weiß und alle im trüben fischen. Die eine behauptet, Favieros habe mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten gekämpft und knapp vor dem finanziellen Ruin gestanden. Eine andere meint, er habe an einer unheilbaren Krankheit gelitten und sich entschlossen, auf diese [38] spektakuläre Weise seinem Leben ein Ende zu setzen. Ein Blatt aus dem linken politischen Spektrum analysiert ausführlich die schwerwiegenden psychischen Probleme, die Favieros nach seiner Folterhaft bei der Griechischen Militärpolizei zu schaffen machten. Es gibt auch ein Interview mit einem Psychiater, der in Fällen, wo es um tiefsinnige psychologische Porträts des Täters oder des Opfers geht, stets die Nase vorn hat. Seine Analysen lassen das FBI vor Neid erblassen. Eine andere Zeitung – die mit der Schlagzeile »Big brother live« – wirft den Gedanken in den Raum, Favieros könnte aufgrund seiner unheilbaren Krankheit eine Vereinbarung mit dem Fernsehsender getroffen haben, sich öffentlich umzubringen, um eine große Geldsumme einzustreichen und sie seiner Familie zu hinterlassen. Schließlich formuliert eines der Käseblätter mit den riesigen Bildmontagen scheinheilig die Ansicht, Favieros sei homosexuell gewesen, erpreßt worden und habe den Freitod vorgezogen, um den Lästermäulern den Mund zu stopfen.

Die wissen auch nicht mehr als ich, sage ich mir. Ergo gar nichts. Ich blicke auf die Uhr. Über zwei Stunden habe ich mich in die Zeitungen vertieft, und die Essenszeit in meiner Privatklinik ist schon lange überschritten. Ich lasse zweieinhalb Euro auf dem Tisch liegen und schlage den Heimweg ein. Ich bin gerade die Aroni-Straße zur Hälfte wieder zurückgegangen, als mir plötzlich die Idee durch den Kopf schießt, Sotiropoulos anzurufen, einen Journalisten, mit dem mich eine Haßliebe verbindet – wobei der Haß allerdings überwiegt. Am Kiosk kaufe ich eine Telefonkarte, und die Auskunft teilt mir die Nummer von Sotiropoulos’ Fernsehsender mit.

[39] »Was für eine Überraschung, Kommissar!« Die Anrede »Herr« hat er schon vor Jahren ad acta gelegt. »Sind Sie wieder auf der Höhe?«

»Sozusagen. Alles ist relativ.«

»Wann sind Sie wieder im Dienst?«

»Ich bin noch zwei Monate krank geschrieben.«

»Sie sind mein Ruin!« stößt er enttäuscht hervor. »Dieser Janoutsos, der Sie vertritt, treibt uns noch zum Wahnsinn. Dem muß man alles aus der Nase ziehen!«

Ich breche in zufriedenes Gelächter aus. »Das geschieht euch recht. Und mich habt ihr beschuldigt, ich würde euch Erkenntnisse vorenthalten.«

»Na, der macht das weniger, um seine Karten nicht aufzudecken, als deswegen, weil er keine zwei Sätze am Stück herausbringt. Er notiert sich die Presseverlautbarung auf einem kleinen Block und rattert sie ohne Punkt und Komma runter.«