Apollon und Mercury -

Wahre Träume leben

 

von

 

Manuel Sandrino

 

 

 

 

 

 

Von Manuel Sandrino bisher erschienen:

„Selbstverständlich schwul!“ ISBN print: 978-3-940818-01-0

Auch als E-book

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

 

www.himmelstuermer.de

E-mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, März 2014 

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

 

Coverfoto: shutterstock. 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

 

 

ISBN print 978-3-86361-379-2
ISBN epub 978-3-86361-380-8

ISBN pdf:  978-3-86361-381-5

 

 

 

 

Für alle, die den Mut aufbringen, ihre Flügel zu öffnen.

Wahre Träume zu leben erfordert Mut, Abenteuerlust und Neugier, doch vor allem erfordert es eine Liebe dem Leben und seinen Überraschungen gegenüber offen zu bleiben.

 

 

 

Vorwort

 

 

Was wäre, wenn die Götter der Antike etwas vollkommen anderes wären, als man gängig annimmt?

Wie würde sich das eigene Leben verändern, würden diese antiken Götter Talente oder archetypische Fähigkeiten darstellen, die jeder im eigenen Leben verwirklichen kann?

Was wäre, wenn du auserwählt würdest, dir Flügel wachsen zu lassen, um in Regionen deines Bewusstseins aufzusteigen, die du bisher nur als Mythologie abgetan hast?

„Wisse: es sind der Seele die Flügel gewachsen, damit sie das Schwere zum Himmel emporhebe, dorthin, wo das Geschlecht der seligen Götter wohnt. Denn nur fliegend, nur im Fluge haben wir Anteil am Göttlichen. Alles Göttliche ist schön und weise und gut; vom Schönen und Weisen und Guten nähren sich und an diesem wachsen die Flügel der Seele; am Hässlichen und Bösen welken sie und fallen ab.“ –Platon (aus Phaidros, den Dialogen von Sokrates mit seinen Freunden). 

Die beiden Buchhelden Apollon und Mercury erfahren bald, wie schwer dieses Schwere, von dem Sokrates spricht, zu tragen ist.

Jeder Held muss – ob er will oder nicht – lernen, seine Flügel zu entfalten. Kein Talent und keine Fähigkeit ist leicht zu erringen; sich die göttlichen Eigenschaften einzuverleiben, ist ein Lebenswerk.

 

Apollon: Schweiß, Tränen und Träume

 

Mein neuer Anzug sitzt nicht perfekt. Die Wolle kratzt am Hals. Ich hätte auf den dunkelblauen bestehen müssen; Trauerfarben stehen mir nicht. Zum hundertsten Mal richte ich meine schwarze Krawatte. Trotz der Hitze trage ich mein Jackett auch in der Kirche, nur in Hemd sieht einfach nicht chic aus. Ich schwitze. Es ist viel zu heiß für Anfang Juni. Selbst die Nächte bringen keine Kühlung. Sonderberichte warnen vor dem heißesten Sommer seit Menschengedenken. Seit den seltsamen Blitzen im April fällt kein Regen mehr. Sonnenstürme, Klimawandel, Erdachse Verschiebung, Gletscherschmelzung, Umweltverschmutzung und hundert andere Gründe werden als Ursache genannt, doch niemand weiß, was wirklich passiert, noch warum es nicht mehr regnet.

Opa wüsste es, doch Opa ist tot.

„… Nichts wird unseren Verlust mindern können. Nichts wird uns Trost spenden können, bis auf die Worte des Herrn, die da lauten…“

Bla-bla-bla.

Seit einer halben Ewigkeit schwafelt der Priester vom jüngsten Tag. Was soll das bringen? Opa bestand darauf, dass der jüngste Tag jeder Tag sei, an dem man über sich selbst hinauswächst. Darin stimme ich Opa voll zu. Bei seinen letzten Worten an mich jedoch ganz und gar nicht. Erneut schaudert es mich bei der Erinnerung daran:

Einige deiner Talente sind sehr gefährlich. Sie zu entfalten, fordert den Tod hinaus. Falls du der bist, für den ich dich halte, bleibt dir aber keine Wahl.  

Echt, wer will so etwas schon hören?

Ich besuchte Opa und Oma vor zehn Tagen zum Mittagessen. Opa konnte unheimlich sein. Wen glaubte Opa, in mir zu erkennen? Würde Opa noch leben, wäre ich zum Dessert geblieben? Die Nachmittagsvorlesung fiel aus. Dennoch verdrückte ich mich wie ein Feigling, mit der Lüge, dass ich zurück zur Uni müsste.  

Erneut zupfe ich an meiner Krawatte. Diese verdammte Hitze!

„… auch wenn ich schon wandelte im finsteren Tal …“

Bla-bla-bla.

Opa wandelt bestimmt nicht in einem finsteren Tal. Er wird zusammen mit seiner geliebten Aphrodite die Elysischen Felder erkunden und jetzt ihr und den alten Göttern auf die Nerven fallen. Opa liebte die Götter der Antike. Bei unserer schwedischen Herkunft eigentlich verwunderlich. Aber Odin, Thor, die Wanen und die Asen ließen Opa kalt. Für ihn verkörperten die griechischen Götter die Stärken und die Schwächen der Menschheit. Sie repräsentierten für ihn den Anfang und das Ende von allem. Sie waren sein Sinnbild für die lebendige Wahrheit mit tausend Gesichtern. Schlummernde Talentpakete, war einer der Begriffe, den er oft für die Götter benutzte.  

Welche meiner Talente muss ich unbedingt unterdrücken? Tickt in mir eine archaische Zeitbombe?

Opa war ein glücklicher Mensch. Verstohlen wische ich mir Tränen aus den Augen, was Dominique, einer meiner Cousins, der in der Kirche neben mir sitzt, sofort bemerkt und mich angafft. Für den Zwölfjährigen war Opa ein alter Kauz mit komischen Geschichten, das zumindest verriet mir Dominique bevor die Abdankung begann. Ich vermisse Opa. Seit ich denken kann, hing ich an seinen Lippen, wenn er von seinen Freunden und Kumpels auf dem Olymp erzählte. Als ich klein war, glaubte ich ihm jedes einzelne Wort, doch das ist heute natürlich anders. Immerhin bin ich jetzt achtzehn und weiß, wie die Welt funktioniert. Alte Götter spielen darin keine Rolle.

Oma erzählte meinen Eltern, dass Opa nach meinem plötzlichen Aufbruch an jenem Tag, einen kurzen Mittagsschlaf hielt und danach mit einer fremden, dunkelhaarigen Frau, die beim Gartenzaun auftauchte, intensiv diskutierte. Als Oma ihn laut sprechen hörte, es klang bedrohlich, wollte sie nachsehen, doch da habe Opa schon wieder schallend gelacht. Er drehte sich Oma lachend zu, fiel um und war auf der Stelle tot. Einfach so.

Erneut kullern mir Tränen über meine Wangen. Da mich Dominique beobachtet, tue ich so, als ob ich niesen müsste und wische mir mit meinen Händen das Gesicht trocken. Ich will nicht heulen – nicht vor Zeugen.

Opa habe ich viel zu verdanken. Einiges davon macht mich stolz, anderes nicht so. Auch meinen Namen habe ich Opa zu verdanken. Ich sei genauso schön, so eingebildet und so eigenbrötlerisch wie mein Namensgeber, betonte er oft. Da ich auf den Tag neun Jahre jünger als meine ältere Schwester bin, überredete Opa meine Eltern dazu, mich nach dem Sonnengott der Antike zu benennen. Auch den echten Apollon trennten neun Tage – bei mir sind es allerdings neun Jahre!  – von seiner Zwillingsschwester Artemis. Als Kind wurde ich wegen meinem Namen gehänselt. Natürlich nie im Zusammenhang mit einem geheimnisvollen Sonnengott, sondern immer wegen den Mondmissionen – von wegen hinter dem Mond und so!  

Ich gähne und strecke meine Arme so, dass ich mit den Ärmeln neue Tränen wegwischen kann. Warum beobachtet Dominique mich und nicht, wie alle anderen auch, den Priester hinter dem offenen Sarg?  

In einer Predigerpause bekommen wir Familienmitglieder und Opas Freunde die Gelegenheit ein paar Abschiedsworte zu sprechen. Oma ist zu schwach dazu, meine Eltern zu feige und ich habe nichts vorbereitet. Da erhebt sich als erster ein hellblonder Riese einige Reihen vor mir. Weil ich erneut mit allen möglichen Tricks beschäftigt bin, meine Trauer vor meinem Beobachter zu verbergen, sehe ich erst auf, als der Mann zu reden beginnt.  

„Opa nannte mich seinen Helden“, eröffnet der Typ seine Laudatio.

„Wer ist das?“, flüstere ich zu Dominique.

„Das?“, sieht er mich verwundert an. „Das ist der verrückte Martin aus Hollywood“, tuschelt er mit verdrehten Augen und tippt sich dabei, alles andere als verstohlen, mit seinem rechten Zeigefinger an die Schläfe. „Der tickt nicht ganz richtig! Den solltest du meiden! Echt, er ist der totale Versager!“

„Das ist Cousin Martin?“ Sofort fasziniert mich dieser Typ. Natürlich hörte ich schon Geschichten über ihn. Er ist der Exote der Familie. Martin wanderte mit achtzehn aus. Das war vor knapp zwölf Jahren. Er trägt einen Maßanzug. Alles an ihm wirkt elegant und strahlt diesen bescheidenen Luxus aus, den sich nur Leute leisten können, die Geschmack und Geld haben. Das soll ein Versager sein? Martin ist ein Riese. Vielleicht trägt Martin auch nur sein Haupt stolz dem Himmel zugewandt, statt sich zum Staub und der Asche hinunter zu beugen, von der der Priester predigte. Martin gefällt mir sofort. 

„Ohne Opa hätte ich niemals den Schritt über den Ozean gewagt, um meine Träume zu verwirklichen“, fährt Cousin Martin fort und sieht dabei so zärtlich auf Opas totes Gesicht, dass ich mich einmal mehr gähnend strecken muss.

„Leider verpasste mir Opa keinen so exotischen Namen, wie     einigen meiner jüngeren Cousins“, dabei sieht Martin erst mich an, dann die kleine Selene, ihre Schwester Eos und zum Schluss noch   Helena. Wer denkt bei Selene schon an eine Mondgöttin, bei Eos an  die Morgenröte oder bei Helena an die Frau, die den Trojanischen Krieg auslöste?

„Für Opa war jeder ein Held, der nicht dem gängigen Durchschnitt entsprach oder Dinge tat, die nicht den üblichen Gepflogenheiten entsprachen“, fährt Cousin Martin fort.

Da bei seinen Worten viele zu tuscheln beginnen, kickt mich auch Dominique an und wiederholt seine Geste von vorhin.

„Junger Held, fingen meist Opas Geschichten an“, sieht sich Cousin Martin unter unseren Verwandten um.

Ich folge seinen Blicken. Nur wenige nicken wissend.

„Götter tauchen in Verkleidung auf! Das lehrte mich Opa. Aber Opa“, spricht Martin die letzten Worte mit Kinderstimme, „Götter sind doch nichts weiter als Fantasiegespinste.“ Martin lacht. „Dieser Trick funktionierte immer und Opa holte zu seinen Monologen über die Götter aus. Er war ein wanderndes Lexikon.“

Erneut nicken nur ganz wenige. Ich bin einer davon.

„Fantasie ist unser größtes Göttergeschenk. Junger Held“, spricht Martin jetzt mit tieferer Stimme und mit starkem, schwedischen Akzent, um Opa zu mimen. „Deine eigenen Erfahrungen werden dich zu dem machen, was du sein könntest. Nutze deine Fantasie, um Weisheit zu finden. Benutze die Weisheit, um dir die Tore zur Liebe zu öffnen. Liebe lässt den Gott in dir erwachen. Opa ist immer der Liebe gefolgt. Jetzt ist er bei seinen Göttern. Gute Weiterreise, Opa!“ Damit beendet Cousin Martin seine Abschiedsworte.   

Zwei von Opas Freunden loben danach die Geselligkeit des Verstorbenen und sein ansteckendes Lachen. Immer wieder muss ich gähnen und würde gerne den Platz wechseln, weil Dominique einfach nicht aufhören kann, mich anzustarren. Die nächsten drei Laudatio sind langweilig, deshalb schließe ich meine Augen um zu träumen.

Erst das Klackern von Stöckelschuhen weckt wieder meine Aufmerksamkeit. Drei Frauen, jede von ihnen in auffälliger Trauerkleidung, stolzieren nach vorne zum Sarg. Aller Blicke haften an ihnen. Jede der Frauen könnte Dreißig, Sechzig aber auch ohne weiteres tausend Jahre alt sein. Jede ist irgendwie vermummt. Die erste trägt eine Ledermaske, die nur ihren Mund frei lässt, die zweite eine Augenbinde, wie sie an ausgefallenen Maskenbällen beliebt sind und die dritte ist vollkommen verschleiert. Bis auf ihre Lippen in unterschiedlichen Rottönen, sind alle drei vollkommen in Schwarz.

Es ist totenstill in der Kirche. Selbst Dominique verzichtet auf eine Bemerkung und gafft mit offenem Mund. Als die Frauen den Sarg erreichen, beugen sie sich nacheinander über Opas Gesicht, um mit einem Kuss auf seine Stirn Abschied von ihm zu nehmen.

„Er war Zeit seines Lebens…“, beginnt die erste der drei Frauen, die größte unter ihnen, zu sprechen. Die Ledermaske wirkt wie ein echtes Gesicht, nur dass es starr bleibt.

„… unserem Geheimnis auf der Spur …“, führt die zweite mit auffallend dichter Lockenpracht den Satz fort und das, ohne sich ihrem Publikum zuzudrehen.

„Die Götter sind nicht das …“, spricht jetzt die dritte der Geheimnisvollen. Reihe für Reihe fokussiert sie die Trauergäste. Nur ihre Lippen bewegen sich, als sie endlich den Satz beendet „… was die meisten glauben. Sein Verhängnis“, deutet die Sprecherin auf die Leiche im Sarg, „war, dass er ihr auf die Schliche kam.“ 

Mir läuft es eiskalt über den Rücken, als die Verschleierte meinen Blick kreuzt. „Atropos“, hauche ich ihren Namen.

„Kennst du das Weib?“, boxt mich Dominique in die Seite. Da er ziemlich bleich wirkt, muss auch er es spüren. Etwas Unheimliches passiert hier.

„Nein!“, gebe ich zu.

„Aber du nennst sie beim Namen?“

„Habe ich nicht!“, behaupte ich und kann mich nicht erinnern, vorhin laut gesprochen zu haben.

„Trotzdem!“, sieht diesmal die erste der drei Frauen mich an. „Er ist nah!“

„Wer ist nah?“, frage ich und halte mir sofort meinen Mund zu, als sich einige der Verwandten mir zudrehen.  

„Er hat dich gefunden! Er hat dich erwählt!“, fokussiert mich diesmal die Frau mit den Locken und der schwarzen Halbmaske.

Mich? Wieso mich? Da mich alle angaffen, meine Mutter ziemlich erschreckt und mein Vater offensichtlich wütend, spreche ich meine Fragen diesmal nicht laut aus. 

„Er wird dich in Dimensionen führen, die dich in Angst und Schrecken versetzen werden.“ Als die dritte Frau bei ihrer Prognose sogar lächelt, packt mich die Panik.

Was geht hier vor?

Ich höre wieder diese Absätze auf dem Steinboden klackern. Die drei Frauen verlassen durch den Mittelgang die Kirche. Da mich keine von ihnen ansieht oder nochmals anspricht, atme ich erleichtert auf, als sie verschwunden sind.

„Apollon, die Zeit drängt!“

„Was?“ Jetzt erschrecke ich erst richtig. Neben mir sitzt Opa.

Sie will dich loswerden. Du muss unbedingt …“ 

„Opa, du lebst?“

„Junge, sehe ich tot aus?“, lacht Opa ansteckend.

„Aber dein Körper liegt doch vorne in diesem Sarg? Wie ist das möglich?“

„Wir beide haben die Dimension gewechselt.“

„He?“

„Junge, jeder von uns lebt in drei Welten gleichzeitig. Das lehrte ich dich doch. Unser Leben in der Realität der Materie, in Raum und Zeit ist nur eine deiner Daseinsformen. Erinnere dich!“

Ich nicke. Opa erzählte natürlich auch davon. Körper, Geist und Seele oder das menschliche, das psychische und das spirituelle Leben.

„Mir bleibt nicht viel Zeit, Apollon“, sucht Opa Blickkontakt. „Du hast die Chance …“

„Apollon, pennst du?“

Ich schrecke abermals auf. „Was?“ Ich sehe mich in der Kirche um. Sowohl Geister-Opa, wie die drei schwarzverhüllten Frauen sind verschwunden – falls sie je da waren? „Ich, ähm!“

„Mann, du hast voll geschnarcht!“

„Sicher nicht!“, brummle ich genervt und richte mein Hemd und meine Krawatte.

Dominik sieht naserümpfend zu mir hoch. „Aber du hast …“

„Sei still!“, zische ich ihn an. Der Typ nervt!

Da Orgelmusik jetzt wie wütende Kobolde auf einem Grab tanzt, endet unser Streit, bevor er richtig beginnen konnte. Am liebsten würde ich mir die Ohren mit Wachs zustopfen, stattdessen müssen meine Hände genügen, was Dominik auflachen lässt und er es mir sofort gleichtut. Während dem Lärm schließe ich abermals meine Augen.

Diesmal ist es keine Fantasie oder ein Traum, in die ich mich zurückziehe. Ich schwelge in Erinnerungen. Ich sehe mich, wie ich bei Opa am Küchentisch sitze und er in seiner vertrauten Art und Weise zu mir spricht:

„Apollon, höre auf dein Herz, selbst dann, wenn dein Verstand etwas anderes rät. Lebe deine eigene Mythologie …“

Leider tötet die depressive Musik beinahe meine letzten, schönen Erinnerungen an Opa. Die Kobolde zerren den Sarg ins Grab. Ich schlage nach ihnen. Ich schupse die Dämonen zur Seite und versuche abermals unser letztes Gespräch erneut im Geiste durchzugehen.

„Apollon, wundere dich über nichts und falls doch, dann nicht zu lange“, spricht Opa Worte, die er oft und gerne benutzte.

„Du pennst ja schon wieder?“ Dominik kickt mich hart gegen mein Schienbein.

„Spinnst du! Lass das! Du beschmutzt meine Hose!“

„Bist du immer so eingebildet?“, fragt mich Dominik ganz unschuldig. „Bist du ne Mode-Tussi?“

„Bin ich nicht!“, widerspreche ich.

„Dauert das noch lange?“, stöhnt der zwölfjährige Quälgeist.

„… Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten, als Erstling unter denen die gestorben sind …“  

Bla-bla-bla.

Als Erstling? Ich höre den Abschlussworten des Priesters nicht mehr zu. Ich verdrehe nur meine Augen, was Dominik erneut lachen lässt. Wenigstens einer hatte heute seinen Spaß!

„… Amen!“

„Halleluja!“, frohlocke ich leider viel zu laut, was mir böse Blicke meiner Eltern und Verwandten einbrockt. Nur meine zahlreichen Cousins grinsen mir verstohlen zu.

Cousin Martin hebt gar wortlos den Daumen seiner rechten Hand.

Apollon: Cousin Martins Geheimnis

 

 

Ein paar Tage nach der Beerdigung treffe ich Cousin Martin zum zweiten Mal auf einer Gartenparty bei einem unserer Onkel. Ich bin der Anführer meiner jüngeren Cousins. Wir schleichen stetig um Martin herum, denn er ist wirklich ein Sonderling. Er hat Muskeln wie Herkules. Wegen der Bruthitze trägt Martin heute Shorts und ein Tank Top, beides schwarz. Einen Muskelmann auf der Kinoleinwand zu bewundern, ist etwas, doch so ein Kraftpaket lebend vor sich zu haben, ist etwas total anderes – etwas total überwältigendes. Klar darf ich seine Oberarmmuskeln betatschen, das dürfen wir alle. Wir Swiss-Kids, wie Martin uns Cousins kollektiv nennt, interessieren ihn bald nicht mehr. Der Muskelmann schickt uns gar zum Spielen fort. Was für ein arroganter Arsch! Danach spricht Martin nur noch mit den Alten – mich hat er total vergessen.  

 

Aber meine Beziehung zu Martin ändert sich dramatisch, als ich ihn zum dritten Mal treffe. Weil ich von Kjell, einem meiner besten Freunde, ein Gerücht über einen verrufenen Ort aufschnappte, konnte ich natürlich nicht widerstehen, genau diesen Ort zu besuchen. Ich bin neugierig, eine weitere Eigenschaft, die Opa in mir förderte.

Martin staunt nicht schlecht, als er mich als menschlicher Enchilada auf einer Liege im Ruheraum der Gay Sauna entdeckt. Ich bin in gleich zwei riesige Badetücher eingewickelt, denn die Blicke der Männer hier irritieren mich.

„Apollon! Was machst du denn hier?“

Wenigstens erkennt mich Martin wieder! „Ich schätze, das Gleiche wie du!“

Martin lacht viel zu laut auf. „Klar! Sicher doch!“ Dabei mustert er mich unverschämt, als ob er mich zum ersten Mal überhaupt sehen würde. „Apollon, wissen deine Eltern, dass du dich hier rumtreibst?“ 

„Ja, klar! Meine Mutter holt mich in zwei Stunden ab. Du kannst ja dann gleich mit uns mitfahren.“

Martin erbleicht. Erst, als er mich kindisch kichern hört, boxt er mir in die Schulter – was bei seiner Kraft verdammt schmerzt.

„Nein! Natürlich weiß niemand, dass ich hier bin!“, füge ich überflüssigerweise an.

„Und du sagst es auch keinem …“, droht er mir.

„Keine Angst, Cousin“, beschwichtige ich ihn und klinge dabei sehr verschwörerisch. „Das ist unser Geheimnis!“

Das Zauberwort Cousin bewirkt etwas in ihm. Martin setzt sich auf die Liege gegenüber meiner und sieht auf mich runter. „Sag jetzt bloß du bist schwul?“ 

„Klar doch!“ Das ist das erste Mal, dass ich das laut ausspreche. Bin ich wirklich schwul? Ich vermute es. Nein, natürlich weiß ich es. Wenn ich auch noch nie Sex hatte oder einen anderen Jungen auch nur geküsst hätte, so etwas weiß man trotzdem. 

Martin schüttelt seinen Kopf und fährt sich über sein kurzgestutztes Haar. Wie bei mir, sind auch in seiner äußeren Erscheinung unsere skandinavischen Ahnen nicht zu leugnen. Opa war Schwede.

„Apollon, wie alt bist du?“

„Ich bin vor drei Monaten achtzehn geworden!“ Auch ich sehe Martin plötzlich mit ganz anderen Augen. Jetzt, so gut wie nackt, nass von der Dusche mit glänzenden Muskeln und diesem Grinsen, als er mich abcheckt, läuft es mir eiskalt über den Rücken. Martins viel zu kleines Badetuch, das eher einem Frotteegürtel gleicht, verbirgt nicht viel von seinem Körper. Seine Haut ist golden, genau wie meine, wenn ich länger in der Sonne liege. Mir fällt sofort auf, dass Martins Körper vollkommen haarlos ist. Mit seiner einsneunzig Körpergröße  ist Martin so groß wie ich. Obwohl ich viel Sport betreibe, wirke ich neben ihm wie ein hochgeschossener Jüngling mit Hühnerbrust. Neben ihm fühle ich mich unfertig. Aber wer nicht? Dieser Muskelmann ist beinahe zu gut, um wahr zu sein. 

„Gehst du nochmals in die Sauna rein?“, fragt er mich.

„Klar!“ Sofort verneine ich wieder, als mir bewusst wird, dass ich das nackt tun müsste. „Nein, doch nicht! Ich war schon dreimal drinnen und ruhe mich nur noch kurz aus, bevor ich wieder los muss. Ich schwitze noch vom letzten Durchgang.“ Ich lüge. Da ich aus Verlegenheit rot glühe, scheint mir Martin zu glauben. „Zudem treffe ich mich gleich mit Kjell in der Stadt“, setze ich noch einen drauf.

„Dein Lover?“

„Mein was?“

„Hast du keinen Lover?“, fragt Martin.

„Du meinst einen festen Freund?“

Er nickt.

Für einen Moment taucht ein Gesicht vor meinen Augen auf. Ich kenne den Jüngling aus einem wiederkehrenden Albtraum. Hilf mir! Bitte, hilf mir! So fleht er seit einigen Wochen fast nächtlich. Ich blinzle zwei, drei Mal, doch dieses Gesicht bleibt viel zu real. Der Junge ist tief gebräunt, aber das kann auch täuschen, denn er steht im Schatten eines nur schummrig beleuchteten Schiffdecks. Was der Traum bedeutet, interessiert mich so wenig, wie warum der Typ ausgerechnet mich um Hilfe bittet.  

„Nein, ich habe keinen Lover!“, verkünde ich laut. Endlich verblasst das Traumgesicht.

Ohne Vorwarnung erhebt sich Martin von seiner Pritsche, zieht sich sein Badetuch von den Hüften und schmeißt es mir schwungvoll ins Gesicht.  

„He!“, schnauze ich ihn an und verstumme sofort. Obwohl ich die letzten zwei Stunden nichts weiter tat, als nackte Männer zu beobachten, sah doch keiner auch nur annähernd so gut wie Martin aus. Verlegen wende ich mich ab. Ich muss aussehen, als ob ich einen Aufguss zu viel abgekriegt hätte.

„Cousin, bist du dir sicher, dass du mich nicht doch noch in die Sauna begleiten möchtest?“

Macht er mich gerade an? Ich gaffe wieder zu ihm hoch. Bevor ich zu sabbern beginne oder ihm antworten kann, zieht mich Martin an meinen Händen aus der Liege hoch. Kaum stehe ich vor ihm, packt er sich meine beiden Badetücher und zerrt sie mir vom Leib. 

„Cousin, du studierst meinen Körper sehr aufmerksam. Jetzt will ich auch deinen sehen. Das ist nur fair!“, grinst Martin.

Ich taumle, denn der Boden schwankt plötzlich. Ich keuche wie ein Asthmatiker. Noch mehr Blut schießt in meinen Kopf – leider nicht nur dahin. Augenblicklich verwandelt sich meine Scham in blanke Wut. „Verdammt noch mal! Lass mich in Ruhe!“

„Apollon, so verklemmt wie du dich anstellst, wundert es mich, dass du dich überhaupt hierher traust. Junge, Junge!“, schmunzelt Martin. „Ein Hetero würde definitiv nicht so reagieren.“ 

Was ist ein Hetero? Eine mythische Sagengestalt?

„Apollon, fliege mit mir nach Los Angeles!“, schlägt mir Martin ernst geworden vor und ignoriert mein Fluchen und meinen Ärger. „Cousin, hast du nicht bald Semesterferien?“

Ich nicke. „Ja! Nächsten Freitag ist letzter Schultag.“

„Falls du willst, kann ich dir Hollywood und Los Angeles zeigen. Willst du?“

Meine Wut ist verflogen. „Ehrlich?“ Er wird dich in Dimensionen führen, die dich in Angst und Schrecken versetzen werden.  

„Klar!“, klopft mir Martin auf meine Schultern. „Cousin, ich mag dich“, boxt er mir in die Seite, dann wuschelt er mir, wie einem Zehnjährigen, meinen Lockenkopf. „Goldlöckchen, du bist doch mein Lieblings-Cousin. Wir sind eine Familie.“ 

„Echt?“, wiederhole ich wie ein Depp. Goldlöckchen? 

„Echt!“, bestätigt er. Nackt, wie er schon eine ganze Weile ist, stolziert mein Cousin aus dem Ruheraum, um die Sauna aufzusuchen.

Ich folge ihm nicht. Ich kann kaum glauben, was gerade passierte. Martin ist schwul! Martin will mich nach Hollywood mitnehmen, um mir eine Welt zu zeigen, von der ich bisher nur träumte. Bin ich im Moment wirklich wach? Ich kneife mir in den Oberschenkel und schrecke hoch. Das tat weh! Und ja, ich bin wach in einer Gay Sauna.

 

Meine Eltern sind nicht sonderlich begeistert, als ich ihnen noch am gleichen Abend von Martins Einladung erzähle. Doch da ich jetzt volljährig bin, brauche ich ihre Erlaubnis nicht mehr wirklich. Mein Cousin Martin würde auf mich aufpassen, versichere ich ihnen immer wieder. Ob sie gerade diese Tatsache so nervös macht?  

Apollon: Im Bann einer Sexgöttin

 

 

Es ist Donnerstag, der Tag vor meiner Abreise nach Amerika. Am Morgen besuche ich noch eine Vorlesung, doch für den Nachmittag im Sport gibt es wegen der Hitze eine Änderung: statt Leichtathletik im Stadion ist Schwimmen im Freibad angesagt. Da ich Martin wegen meinen Reiseunterlagen in der Mittagspause in der Stadt treffen muss, bleibt mir keine Zeit mein Schwimmzeug zu Hause zu holen. Da ich mir einen neuen Schwimmanzug kaufte, habe ich den alten aus meinem Spint entfernt – ein Fehler!

Am Zielort winken mich Tommy und Kjell in den Schatten einer Ulme, wo sich die Klasse vor dem Schwimmbad Eglisee versammelt hat. Ich bahne mir meinen Weg durch meine Kumpels, um mich beim Lehrer zu entschuldigen. 

„Abmelden? Warum denn das?“ Mein Sportlehrer will davon nichts wissen.

„Na, sagte ich doch eben! Ich habe keine Badesachen dabei“, kontere ich schnippisch.

„Na und?“, zuckt der Aushilfslehrer mit seinen Schultern.

„Aber ohne Badehose darf ich nicht baden!“ Ist der schwer von Begriff?

„Egal! Du kommst mit rein. Was trägst du für Unterhosen?“

„Weiß nicht!“ Ich schiebe meine Shorts runter, um zu checken. „Eine weiße Diesel!“

„Ideal!“

„Ideal für was?“, gaffe ich den jungen Lehrer an. „Ich soll in einer weißen Unterhose schwimmen?“ Weiß der Typ nicht, dass weiße Unterhosen, wenn sie nass werden, durchsichtig sind?

„Unser Apollon ist ein Feigling!“, fordert mich Dan heraus. Sein strubbeliges Haar wuchert ihm wie Unkraut aus dem Schädel, was ihm etwas Faunenartiges verleiht.

„Diese modernen Slips sehen doch alle wie Badehosen aus. Fürs Becken ist’s in Ordnung. Doch ich will dich damit nicht im Restaurant rumgurken sehen. Verstanden?“

„Was?“ Rumgurken?

„Keine exhibitionistischen Nummer! Ist das klar?“, fügt mein Sportlehrer noch an.

Ungläubig verziehe ich mein Gesicht. Was meint er jetzt damit? „Sicher nicht!“, versichere ich ihm und geselle mich wieder zu meinen Freunden.

„Du sollst in Unterhosen baden?“, grinst Tommy.

„Und du darfst keine exhibitionistischen Nummern abziehen!“, klopft mir Kjell schelmisch auf die Finger. „Wie schade!“

Ich gaffe die Beiden nur blöd an.

Tommy zuckt mit seinen Schultern und Kjell grinst so verschmitzt bei der Aussicht, mich bald in durchsichtiger Unterhose zu sehen, dass ich ihn ins Schienbein trete. Kjell ist der albernste unserer kleinen Clique.

„Ich dachte echt, du würdest kneifen!“, zieht Dan seine Augenbrauen nach oben, als ich der Klasse ins Freibad hinein folge.

„Ich bin kein Feigling!“ Da mich meine Freunde wirklich gut kennen, wissen sie, wie unangenehm mir das heute Nachmittag werden würde. Selbst im Schwimmclub trage ich einen Schwimmanzug. Ich erzähle allen, das sei, weil das spezielle Material der Haut eines Hais nachempfunden wurde und einen sehr geringen Wasserwiderstand bietet, doch in Wahrheit trage ich einen Schwimmanzug, weil der meinen ganzen Körper bis auf Hände und Füße bedeckt. Und, na ja, weil der Spezialstoff meinen Athletenkörper darunter extrem gut zur Geltung bringt. Solange jeder glaubt, ich sei prüde, kann ich zeigen was ich will, ohne dadurch zum Angeber abgestempelt zu werden – wofür mich ohnehin jeder hält!

An Flucht ist eh nicht zu denken, denn unser Sportlehrer begleitet uns sogar zur Umkleide. Er dürfte keine zehn Jahre älter sein als wir – wenn überhaupt. Ich hörte, er sei selbst noch Sportstudent, der gelegentlich bei Lehrerausfällen einspringt.

Nackt, bis auf meinen weißen Slip und meinen roten Kopf, fühle ich mich unwohl. Unter all den Jungs meiner Klasse falle ich zum Glück überhaupt nicht auf, denn meine Diesel unterscheidet sich auf den ersten Blick nur in der Stoffqualität von den Badehosen der anderen. Da Badeshorts oder Surfer Shorts hier im Freibad seit neuestem verboten sind, tragen fast alle meiner Sportklasse Bade-Pants, Speedos oder gar Tangas. Einige der Jungs lieben es wirklich, ihre Teenager-Körper zu zeigen, allen voran Kjell. Kjell kann es sich leisten, einen Tanga zu tragen. Sein Knackarsch ist echt ein Hingucker! Aber auch Dan und Steven tragen sehr knappe Badehosen, da bin ich in meiner Diesel noch richtig angezogen.

„Zum Einschwimmen je zehn Längen!“, schickt uns Björn          ins Wasser.  

Ich bin der erste, der mit einem Salto vom Beckenrand eintaucht. Es tut gut in der Extremhitze ins Wasser springen zu dürfen, statt angezogen vom Beckenrand den anderen beim Spaß zusehen zu müssen. Im Wasser fühle ich mich wie ein Delfin – oder manchmal auch wie ein fieser Hai. Hier macht mir so schnell keiner etwas nach.

Als endlich auch der letzte der zwölf Schüler seine zehn Längen beendet hat, versammeln wir uns am Beckenrand. Ich tummle mich im Bassin.

„Heute Nachmittag ist Turmspringen angesagt!“

Als ich beim Turm aus dem Becken steige und erst Tommy, dann nach und nach die anderen mit Finger auf mich zeigen und grinsen, ahne ich, was passiert ist. Sofort hechte ich zurück ins Becken.

„Keine exhibitionistischen Nummer!“, ruft mir Kjell nach.

Am liebsten würde ich mich jetzt in einen Delfin verwandeln, aber ich bin nur dem Namen nach Apollon, der antike Sonnengott. So bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Scham zu schlucken und mich später angaffen zu lassen.

 „Wir üben heute Saltos. Erst vom Drei- dann, für die Geübteren von euch vom Fünfmeterbrett. Wer beherrscht den Salto?“, fragt Björn.

Ohne nachzudenken, strecke ich im Wasser meinen rechten Arm in die Luft. Ich bin seit Jahren im Schwimmclub und Turmspringen fand ich immer schon mega-cool. Was tue ich hier? Zu spät! 

„Dann hoch mit dir aufs Dreimeter!“, zieht mich Björn an meinen Händen aus dem Becken.

Noch bevor mich wieder jeder angaffen kann, klettere ich die Sprossen hoch. Ich wähle das Fünfmeterbrett. Gekonnt lande ich nach vollendetem Salto mit gerader Kerze im Wasser und spüre, wie etwas meine Zehen streift. Ich schenke dem keine weitere Aufmerksamkeit, denn meine Eitelkeit lässt meine Brust noch im Abtauchen anschwellen. In raschen Zügen bin ich zurück am Beckenrand, wo mich Björn ein weiteres Mal aus dem Wasser zieht. Als alle augenblicklich loslachen, erglühe ich sofort vor Scham. Ich stehe splitternackt vor meinen Kumpels, die mich alle neugierig mustern. Beim Eintauchen ins Wasser verlor ich meine Unterhose – die Verschnürungen an Badehosen sind nicht nur zur Zierde da!

„Keine exhibitionistischen Nummern!“, grölt Kjell und klatscht mir mit seiner flachen Hand auf meine Schultern, als ich beschämt in die Hocke sacke.

Björn schüttelt nur seinen Kopf, als ob er genau das von mir erwartet hätte. Ich flüchte zurück ins Becken, um nach meiner Unterhose zu tauchen. Hoffnungslos! Sie ist futsch.

Björn winkt mich nach vergeblichen Tauchgängen zurück zu sich an den Beckenrand und reicht mir ein Badetuch. „Hat einer von euch eine Zweitbadehose dabei?“, fragt er in die Runde. Als ob ich das vorhin nicht längst gecheckt hätte! Als keiner reagiert, wechselt mein Lehrer das Thema: „Das war ein ziemlich cooler Sprung. Du hast es voll drauf. Nur die Showeinlage danach war etwas überflüssig.“ 

„Danke!“, murmle ich und fletsche meine Zähne.

„Wie heißt du?“, fragt mich der Lehrer.“

„Apollon! Apollon Holmström!“

„Apollon, unser Flitzer mit der Riesengurke!“, grölt Kjell.

Die Blicke von Björn verraten mir sofort, dass er Kjell glaubt und mich im Auge behalten will, damit ich hier keine weitere Show abziehe. Ich will schon zum Widerspruch ansetzen, da streckt mir Björn etwas entgegen. „Mr. Holmström, zieh die an. So kannst du uns weiterhin deinen Luxuskörper zeigen, ohne dabei zum öffentlichen Ärgernis zu werden. Nacktbaden ist hier nicht erlaubt.“

„Was?“ Der Typ spinnt doch vollkommen! „Das will ich doch gar nicht!“, beteure ich. Meinen Luxuskörper zeigen?

Kjell und Tommy krümmen sich vor Lachen.

„Die Sache hat einen Hacken“, fügt der Sportlehrer an. „Es handelt sich dabei um den Bade Slip meiner Freundin, die ich später hier noch treffen will.“

Meine Freunde kriegen sich vor Lachen nicht mehr ein.

„Danke! Aber NEIN, Danke!“, schüttle ich meinen Kopf. Als ich danach das leuchtende Pink in Björns Händen sehe, rufe ich aus: „Shit! Mann, nein! Auf absolut gar keinen Fall!“

„Los, zieh schon an! Mehr als vorhin sehen wir eh nicht“, versucht mich Tommy schadenfroh zu ermutigen, das bisschen knallpinken Stoff überzustülpen.

„Lass ihn, Tommy!“, mischt sich Dan ein. „Apollon ist ein Feigling. Er traut sich niemals diesen Slip anzuziehen.“

„Ich fände es toll, wenn du den Jungs deine Salto Techniken   beibringen könntest“, ermutigt mich Björn über meinen Schatten       zu springen.

„Echt?“, gaffe ich den Lehrer an.

„Klar!“, nickt mir Kjell zu. „Das sieht sicher verdammt sexy aus!“

„Und mega-schwul!“, kontere ich mit glühenden Ohren.

„Feigling!“, nuschelt Dan, aber so laut, dass es jeder hören kann.

„Jetzt ziere dich nicht so!“, beginnt wieder Kjell. „Was ist schon dabei? Ich trage ja auch eine JP Beach!“ Dabei dreht sich Kjell um die eigene Achse und lässt mich seine bloßen Backen sehen. Er ist der Flitzer hier. Nicht ich!

„Darin mache ich mich doch total zum Affen!“

„Feigling!“

„Halt endlich deine verdammtes Maul!“, fahre ich Dan an. „Ich bin kein Feigling!“

„Mit deiner Sprungtechnik wird keiner über dich lachen“, verscheucht Björn meine Zweifel. „Ich kann dich nicht nackt schwimmen lassen.“

„Will ich ja gar nicht!“ Angewidert reiße ich meinem Lehrer den rosa Tanga aus seinen Händen, um ihn mir im Wasser überzustreifen. „Ich bin keine Feigling“, murre ich leise vor mich hin. Besser als ganz nackt, ist das grauenhafte Ding nicht. Vorne reicht der kleine Stofffetzen nicht aus, die Wölbungen eines Jünglings zu fassen. Dass der Stoff übergezogen nicht einfach zerreißt, ist ein wahres Wunder. Alles Stoffziehen nutzt nichts, dieser Tanga ist mir fünf Nummern zu klein, obwohl ich echt schmale Hüften habe.

„Keine exhibitionistischen Nummer!“, höre ich immer wieder Kjell.

„Wie heiß!“, lechzt Simon lüstern und knickt dabei seine Handgelenke ab.

„Hast du nachher schon was vor, mein Süßer!“, lispelt auch noch Dan. Dass Dan selbst nur einen Tanga trägt, hat er scheinbar total vergessen! Was für ein Heuchler! Tangas sind so etwas von total unmännlich!

Björn reicht mir sein Badetuch. Schnell wie Superman flitze ich aus dem Wasser und wickle mich sofort ins Frottee ein, um mich nicht noch mehr zum rosaroten Idioten zu machen. Abermals eile ich die Sprossen des Sprungturms hoch, nur diesmal bis zum Zehnmeterbrett, bringe mich dort in Position und wirble in doppeltem Rückwärtssalto vom Brett. Als ich nach meinem Auftauchen im Becken die offenen Münder meiner Mitschüler sehe, weiß ich sofort, sie würden sich ab sofort mit weiteren Sprüchen über mein aufreizendes Outfit zurückhalten. Ich wollte nicht angeben – na ja, eigentlich schon! – doch hauptsächlich wollte ich alle Aufmerksamkeit vom Slip abziehen. Dummerweise liegt jetzt das Badetuch zehn Meter höher. So bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als abermals hochzuklettern, das Tuch dort zu holen und danach wie ein Feigling die Treppe wieder runterzukommen.

„Bleib oben!“, ruft mir Björn zu, als ich ins Badetuch eingewickelt die Treppe aufsuche.

Da sich aber keiner meiner Mitschüler traut, seinen ersten Salto vom Zehnmeterbrett zu machen, warte ich mit dem gelben Badetuch um meine Hüften auf dem Dreimeter. Ich soll jetzt echt Björns Unterricht übernehmen?

Das Unterrichten macht mir tatsächlich großen Spaß. Immer wieder korrigiere ich Körperhaltung der Springer und labere sie mit Erklärungen und Tipps voll. Ich kann es nicht lassen zwischendurch selbst wieder etwas anzugeben. Einmal, nach einem besonders geilen Sprung, vergesse ich sogar mir zurück auf dem Brett mein Badetuch umzuwickeln.  

„Excuse me, Darling! May I pass?“, tippt mich ein Finger an meiner Schulter an und bittet um Durchlass.

Ich drehe mich um und sehe in die fast schwarzen Augen einer dunkelhäutigen Schönheit. Ihr langes Haar fällt ihr über die Schultern und reicht ihr fast bis zum Saum ihres knallgelben Bikiniunterteils. Sie ist geschminkt wie ein Supermodel und sie benutzt dieses Fünfmeterbrett als ihren persönlichen Laufsteg.

„Sorry! Ähm! Klar, doch! Bitte!“, tänzle ich zur Seite und schupse Dan zur Seite, dass der sein Gleichgewicht verliert und im Fallen laut flucht.

„Ups!“, rufe ich ihm nach. „War keine Absicht!“ Doch Dan ist längst im Wasser untergetaucht.

„Thank you, Darling!“, schreitet die Schönheit an mir vorbei, nicht ohne mich vom Scheitel bis zur Badehose sehr genau zu mustern. „Bist du der Neue?“, fragt sie noch immer English sprechend.

„Nein, ich helfe nur aus“, schüttle ich meinen Lockenkopf und antworte ihr in derselben Sprache.

„Darling, da bin ich mir nicht so sicher. Für einen Schützling oder jemand, der sich nur eine der Gaben aneignen möchte, wäre ich nicht hier hochgeklettert.“ 

Schützling? Gaben? „Ich vertrete wirklich nur meinen Lehrer“, beteure ich. 

„Darling, ich behalte dich im Auge!“, stupst sie mir mit einem rotlackierten Fingernagel in die Brust, lächelt zweideutig und wirbelt in vollendetem Salto vom Fünfmeterbrett ins Becken.

„Was war denn das für eine Sexbombe?“, lechzt Beat an mir vorbei in den Abgrund. „Mann, die Braut sieht aus wie eine Sexgöttin.“ Ziemlich plump hechtet ihr Beat ins Wasser nach.

Die Tiefgebräunte beachtet ihren neuen Fan überhaupt nicht. Sie krault an den Beckenrand, zieht sich galant aus dem Wasser, wirft ihr langes, dunkles Haar in weitem Bogen über ihre Schulter, um es dann mit ihren Fingern, wie Lorelei am Flussufer sitzend, zu kämmen, während sie erneut nach mir Ausschau hält.

Wenn Jungs mich so anstarren, stört mich das überhaupt nicht. Die Mädchen und Frauen beachte ich normalerweise gar nicht. Doch irgendetwas ist an dieser Fremden, das mich anzieht und erschreckt. Sie ist mir nicht fremd. Ich kenne sie! Dieser Gedanke ist noch viel schockierender, denn die Frau ist sicherlich Mitte Dreißig oder gar schon Vierzig und definitiv nicht von hier. Ihrem englischen Akzent nach muss ihre Muttersprache Portugiesisch sein. Wahrscheinlich kommt sie aus Brasilien. Bestimmt ist sie ein Supermodel oder eine berühmte Schauspielerin aus Rio de Janeiro. Aber was macht eine solche Frau in einem Freibad in Basel? Sie zu ignorieren fällt mir schwer, da fast jeder meiner Klassenkameraden von nichts anderem als der Exotin am Beckenrand spricht, die mich mit ihren Blicken nicht für eine Sekunde aus den Augen lässt. Selbst Björn fällt es auf und er bittet mich, mir das Badetuch wieder umzubinden. Komischerweise steht danach Björn keine zwei Meter von der Brasilianerin am Beckenrand und erteilt ständig Ratschläge, was mich mehr und mehr nervt, da mir auf dem Sprungturm so rasch keiner etwas vormacht. 

Nach einer Stunde schickt uns Björn für eine viertelstündige Pause auf den Rasen. Der hinterste Teil des Gartenbades ist für Schulklassen reserviert. Da wir so kurz vor den Sommerferien die einzige Klasse sind, hätten wir zwölf Jungs den abgesonderten Teil vollkommen für uns alleine. Aber was interessiert pubertierende Jünglinge eine abgesonderte Wiese, wenn am Becken eine Sexgöttin sitzt, deren Busen von ihrem knallgelben Bikini kaum verborgen wird?

Bis auf meine Freunde, Tommy, Dan und Kjell, verlässt keiner das Becken, um sich auf der Wiese auszuruhen. Endlich außer Sicht der Brasilianerin lege ich mich auf das ausgebreitete Badetuch auf meinen Rücken und starre mit geschlossenen Augen in die Sonne. Sofort wirbeln gelbe, orange und rote Punkte vor meinen Augen und der durchdringende Blick der Dunkelhäutigen. Ich behalte dich im Auge, Darling! höre ich jetzt sogar ihre Stimme, als ob sie wieder neben mir stehen würde.  

„Wie trägt sich so ein Ding?“, will Kjell wissen, der mich ungeniert mustert und breitbeinig über mir steht, als ich meine Augen öffne.

„Ich hasse Tangas“, winke ich ab. Hier auf dem Rasen bin ich nicht mehr der Sprungtrainer, sondern einfach ein Teenager unter seinen Freunden.

„Es sieht schon sehr geil aus!“, grinst Kjell und versucht seine Worte als Witz klingen zu lassen, was ihm aber nicht gelingt.

„Was? Die Alte am Pool?“, will Dan wissen.

„Die ist doch sicherlich schon Fünfzig!“, winkt Kjell ab.

Ich bin schon versucht, schallend zu lachen, doch die lüsternen Blicke meiner drei Freunde lassen mich verstummen. Erst jetzt fällt mir auf, dass wir vier hinter einem Busch, im hintersten Teil auf dem Rasen unseren Platz bezogen haben und so außer Sicht der anderen sind. Anderes fällt mir ebenfalls auf: die erröteten Gesichter meiner Freunde, ihre direkten Blicke auf meinen rosa Slip und ihre physische Nähe. Die drei sitzen entschieden zu nahe bei mir. Tommys Schenkel berührt mein Knie, Kjells Hand meinen linken Fuß und Dans Fuß meinen rechten Arm. Was passiert hier? Irgendetwas stimmt hier nicht! Meine Freunde benehmen sich eindeutig nicht normal. Tommy himmelt mich so verliebt an, dass ich noch verlegener werde. Sind sie alle verhext?  

„Jungs!“, ruft uns eine bekannte Stimme. Björn winkt uns zurück zum Pool. „Jungs! Die Pause ist um!“

Wir vier gaffen uns reihum an, ziehen Grimassen und marschieren etwas steif zurück zum Pool. Als ich am Beckenrand die Dunkelhäutige erblicke und meine Klassenkameraden, die sie umschwärmen, fällt mir noch etwas anderes auf: nicht nur Björn und die Jungs werden von der Exotin magisch angezogen, sondern ALLE im Gartenbad. Egal in welche Richtung ich meine Blicke schweifen lasse, jeder sieht zu ihr hinüber. Sie ist das Zentrum aller Aktionen geworden. Nur die Kinder ignorieren sie und jagen sich nach wie vor lachend oder plantschen im Kinderbecken.

Als mich Miss Brasilien wieder dem Becken nähern sieht, kommt sie zielstrebig auf mich zu. „Darling, verschwende nicht deine Zeit, in dem du verbirgst, was du wirklich bist. Wenn ich dich durchschaue, dann auch die anderen.“

„Was meinen Sie?“, frage ich direkt und jeder meiner Klasse, inklusive meines Lehrers, gaffen mich an.

„Darling, du bist nicht wie die anderen hier“, sieht sie sich reihum jeden meiner Schulkollegen sehr kritisch an und lässt auch Dan, Tommy und Kjell nicht aus, die sich rechts und links neben mir aufgebaut haben und ihre Brustkörbe anschwellen lassen und Dan gar seinen Bizeps anspannt.

„Ich bin nur der heutige Sprunglehrer“, antworte ich ihr.

„Darling, du wirst mir nicht entkommen. Ich habe dich als erste gefunden.“

„Apollon Holmström!“, mischt sich mein Lehrer ein und die dunkle Schönheit reißt ihre Augen auf.

„Apollon?“, fragt sie mich. „Darling, diese Unwürdigen nennen dich bei deinem wahren Namen?“  

Habe ich mich eben verhörte? Unwürdigen?  

„Apollon, zurück mit dir auf den Sprungturm und nimm deine Kumpels gleich mit“, befiehlt mein Lehrer, schiebt sich aber näher zur Schönheit. „Hat Sie Apollon belästigt?“, erkundigt sich Björn etwas zu einschmeichelnd bei der Sexgöttin.

Die schlängelt sich einfach an Björn vorbei, hakt sich bei mir unter und schiebt mich mit sich fort, während die Kinnladen meiner Mitschüler kaum noch weiter aufklappen könnten. „Meine Schwestern sind noch nicht hier? Wunderbar!“, legt die Brasilianerin ihren Kopf an meine Schulter. „Kalliope hat, wie immer, die wachsten Sinne.“ Dabei lacht sie, dass wieder alle zu sabbern beginnen. 

„Ist das dein Name?“, frage ich die fremde Frau und komme mir extrem blöd vor, so in den Mittelpunkt des Geschehens im Gartenbad gerückt zu sein. Warum hat sie sich ausgerechnet mich geschnappt?

„Ich fliege bald nach Los Angeles, wo in Hollywood meine Dienste benötigt werden“, flüstert sie mir verschwörerisch ins Ohr.

„Ich auch!“, platzt es aus mir heraus und ich hätte mir dafür auf die Zunge beißen können.

„Darling! Was für ein Zufall?“, säuselt sie. „Ich benachrichtige meine Schwestern. Apollon, wir sehen uns wieder in L.A.!“, damit verneigt sie sich vor mir und schreitet über den Rasen in Richtung Garderoben davon.

Erst als sie vollkommen außer Sicht ist, bellt Björn erneut: „Mr. Apollon Holmström, auf den Sprungturm mit dir, aber plötzlich!“ Nach einer weiteren Stunde Turmspringen, schickt uns Björn um vier Uhr nachmittags unter die Dusche. „Apollon, kennst du diese Frau?“, will er von mir wissen und klingt dabei so, als ob er mich gleich um ihre Adresse anflehen würde. 

„Ich habe sie noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.“

„Aber du wirst sie in Los Angeles wiedersehen?“

„Ich hoffe nicht!“, dann beiße ich mir erneut auf die Zunge. „Ich meine, vielleicht. Ja, kann sein. Wahrscheinlich hat sie mein Cousin auf mich angesetzt. Er lebt in Los Angeles.“ Das wird es sein: Martin hat sich einen Scherz mit mir erlaubt! Erleichtert, das Rätsel gelöst zu haben, grinse ich vor mich hin.

Martin weiß später, als ich ihn danach frage, nichts von einer Kalliope oder einem brasilianischen Vamp, wenn ich ihm das auch nicht glaube.

Am nächsten Morgen ist es endlich soweit, ich fliege nach      Amerika.

Mercury: Ich bin unschuldig!

 

 

Mein vorletzter Schultag ist zum Abschimmeln. Ich habe keinen Bock mehr auf die letzte Doppelstunde. Ich tue das einzig Senkrechte: ich schwänze. Zudem ist es viel zu heiß. Seit Tagen gibt es Sondersendungen über die Sonne, die ihr Magmasperma soweit ins All spritzt, wie noch nie zuvor. Abgefahren, nur leider voll der Achselterror. Am Ende der Pause verstecke ich mich auf dem Klo und warte bis sich alle anderen Schüler wieder in die Klassenzimmer zurückgezogen haben, dann schleiche ich mich zu den Alugurken in den Keller, um von dort aus zu verduften.  

„Keine Lust mehr?“

Shit, erwischt! Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus. Ich wirble herum und schaue mich nach der Stimme um. Erleichtert schnaube ich aus. Etwa vier Meter hinter mir, auf seinen Knien, liegt Andrey und schaut zu mir hoch. Er ist voll das Schnitzel an diesem Bildungsschuppen. Der Junge hantiert an einem Fahrradschloss herum. Klaut er es gerade? Benutzt er einen Spezialschlüssel oder die Drahtmethode? Keines von beidem, er checkt den Luftdruck im Reifen.  

„Nein! Oder ja! Ich will nur raus hier!“, labbere ich.

„Verstehe!“, grinst der Fußballer. Andrey trägt ein moosgrünes Tank Top mit dem Aufdruck eines Fußball Clubs, Kicker-Shorts und Turnschuhe ohne Socken.

Ich kenne Andrey nicht persönlich. Doch wer kennt Andrey nicht? Er ist der Champion, der seinem Fußballverein den Aufstieg ermöglichte. Anders als ich, leidet er nicht mehr unter der Pubertät. Sein Körper ist pickelfreie Zone. Andrey ist kleiner als ich, etwas untersetzt mit strammen Fußballer Waden und einem Blick, der einen nie ganz sicher lässt, ob er gerade mit einem flirtet. Seine afrikanischen Ahnen lassen sich nicht verleugnen, obwohl er relativ hellhäutig ist und seine Haare braun statt schwarz sind. Seine ebenfalls braunen Augen fokussieren mich.  

„Hast du Bock auf einen Trip in die Stadt?“

Erstaunt über seine Frage, gaffe ich ihn an. Wir haben noch nie zuvor miteinander gesprochen. Wir besuchen wohl beide diese Handelsschule, und ich sehe ihn jeden Mittwochnachmittag in der Bahn Nummer Acht. Andrey hat mich nie beachtet, wenn ich ein paar Bänke hinter ihm saß, ebenfalls auf dem Weg zum Sport bin. Während er eine Station vor mir beim Fußballplatz aussteigt, fahre ich weiter bis zum Hauptkomplex, wo sich auch das Bodybuilder Studio befindet. Dort stemme ich Gewichte und boxe auf Sandsäcke.

„Klar, Alter! Coole Idee!“, entgegne ich ihm.

Andrey ist der Mädchenschwarm und überhaupt auch sonst der gesellige Typ. Er ist Berner, was sein langsames Reden entschuldigt. In den drei Monaten, in denen er in Basel lebt, hat er sich mehr Freunde gemacht, als ich in meinen fast achtzehn Jahren. Während jeder in der Schule seine Nähe sucht, meiden mich die Meisten.