Meinen Söhnen
Johannes und Benedict
in Liebe und Dankbarkeit

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Erster Teil: Prägungen und Maßstäbe

I. Jugendjahre

1. Schulzeit

2. Leidenschaft für die Politik – Erfahrungen in der Bundeswehr

3. Studium und erste politische Gehversuche

II. Persönliche Weichenstellung und politische Maßstäbe

1. Familiäre Entscheidungen und Erfahrungen

2. Nominierung für die Wahl zum Europäischen Parlament

3. Programm der Jungen Union für Europa: „Wolfsburger Beschlüsse“

Zweiter Teil: Parlamentarische Bewährung in Zeiten der Einheit Deutschlands und Europas

I. Einzug ins Europäische Parlament 1979: Erste Aufgaben

1. CDU-Bundesparteitag in Kiel

2. Konstituierung des ersten direkt gewählten Parlaments

3. Mitarbeit im Regionalausschuss

4. Demonstration für den Abbau der Grenzen

5. Eine unangenehme Überraschung: Die Wahl des Präsidenten des Europäischen Parlaments 1982

II. Europawahl 1984: Neue Aufgaben

1. Spitzenkandidat wider Willen

2. Vorsitz im Unterausschuss „Sicherheit und Abrüstung“

III. Deutsche Einheit und Überwindung der Teilung Europas

1. Der Fall der Mauer

2. Gespräche über die Einheit Deutschlands in Moskau

3. Besuch in Moskau im August 1991: Putsch gegen Michail Gorbatschow

IV. Der Vertrag von Maastricht

1. Institutioneller Durchbruch für das Europäische Parlament

2. Grundsätze für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

3. Debatte in der CDU: Staatenbund oder Bundesstaat?

V. Europawahl 1994: Ein ehrgeiziges Ziel

VI. Auf dem Weg zum Vertrag von Amsterdam

1. Wirksame Innen- und Rechtspolitik

2. Handlungsfähigkeit in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik

3. Reform der Finanzen und wirksame Haushaltskontrolle

VII. Die Erweiterung der Europäischen Union

Dritter Teil: Fraktionsvorsitz und europäische Weichenstellungen

I. Die EVP auf dem Weg zur stärksten Fraktion

1. Europawahl 1999: Die EVP wird stärkste Fraktion

2. Wahl zum Fraktionsvorsitzenden

3. Neue und bewährte Arbeitstechniken in der Fraktion

4. Wahl der Parlamentspräsidentin

5. Bildung der Kommission von Romano Prodi

II. Die „Causa Österreich“

III. Die Dienstleistungsrichtlinie: Unterschiedliche Mentalitäten mit Folgen

IV. Der Vertrag von Nizza

1. Unzureichende EU-Reform und Forderung nach mehr Demokratie

2. Eine bewegende Begegnung

3. Konvent von Laeken – Vorbereitung einer Europäischen Verfassung

V. Explosives und Erfreuliches im Parlamentsleben

1. Eine unangenehme Überraschung zu Jahresbeginn

2. Reise durch die Beitrittsländer

3. Verhandlungen und Disput mit den britischen Konservativen

VI. Machtproben

1. Wahl des Parlamentspräsidenten

2. Bildung der Kommission von José Manuel Durão Barroso

3. Das Kollegium der Kommission

4. Finanzielle Vorausschau 2007–2013

Vierter Teil: Parlamentspräsident inmitten der Suche nach einer Europäischen Verfassung

I. Präsident des Europäischen Parlaments: Führungsauftrag und Alltagsarbeit

1. Meine Wahl zum Präsidenten des Europäischen Parlaments am 16. Januar 2007

2. Angela Merkel – Präsidentin des Europäischen Rates

3. Die Aufgaben beginnen

4. Meine Programmrede im Europäischen Parlament am 13. Februar 2007

II. „Zu unserem Glück vereint“: Die Berliner Erklärung

1. Europäischer Rat am 8./9. März 2007 in Brüssel: Ein Kompromiss

2. Das EVP-Treffen in Berlin vom 24. März 2007

3. Fünfzig Jahre Römische Verträge: Die „Berliner Erklärung“ vom 25. März 2007

4. Besondere Gespräche mit Polen und Frankreich: Jarosław Kaczyński, Donald Tusk und Nicolas Sarkozy

5. „Tag der Heimat“ in Berlin

6. Zeremonie in Verdun anlässlich des Endes des Ersten Weltkrieges vor neunzig Jahren

III. Der Vertrag von Lissabon: Ringen um seine Ratifizierung

1. Plädoyer für den Inhalt des Verfassungsvertrages

2. Ein Kompromiss: Gipfeltreffen vom 18./19. Oktober 2007 in Lissabon

3. Unterzeichnung der „Charta der Grundrechte“ am 12. Dezember 2007

4. Eine neue „Verfassung“ für die Europäische Union:
Lissabon, 13. Dezember 2007

5. Zittau: Die Grenzen fallen endgültig

6. Ein hochverehrter Kollege aus Warschau: Am Sarg von Bronisław Geremek

7. Vermittelnder Besuch bei der katholischen Bischofskonferenz in Irland

8. Ein provokativer Präsident aus Prag: Dispute mit Václav Klaus

IV. Aus dem Innenleben des Europäischen Parlaments

1. Disziplinarmaßnahmen – unangenehm, aber manchmal unumgänglich

2. Reform der Arbeitsmethoden des Europäischen Parlaments.

3. Der zweite Reformschritt: Rechenschaftspflicht und bessere Rechtsetzung

4. Der dritte Reformschritt: Verbesserung der Ausschussarbeit und der interinstitutionellen Beziehungen

5. Der vierte Reformschritt: Das Abgeordneten- und Assistentenstatut

Fünfter Teil: Eintreten für die Menschenwürde

I. Gerechtigkeit und Solidarität: Das geeinte Europa als Auftrag

1. Die Schöpfung bewahren – Gerechtigkeit gegenüber künftigen Generationen

2. Wirtschafts- und Finanzkrise: Solidarität in Europa

3. Auftrag des Grundgesetzes: Das vereinte Europa

4. Plädoyer für einen Präsidenten der Europäischen Union

5. Europäische Demokratie und Bundesverfassungsgericht

II. Europa in der Welt: Friedenspartner

1. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zur Rolle der EU

2. Reise nach Israel und Palästina

3. Meine Rede vor der Knesset

4. Besuch bei König Abdullah II. in Jordanien

5. Internationale Aufwertung des Europäischen Parlaments

III. Dialog der Kulturen: Partnerschaft und Toleranz

1. Europäisches Jahr des interkulturellen Dialogs 2008

2. Dialog der Kulturen im Europäischen Parlament

3. Audienz beim Tennō: Dialog- und Wertepartner Japan

4. Dialoge weltweit: Lateinamerika und Afrika

5. Nordirischer Versöhnungsprozess: Dialog in der EU

6. Positive Erfahrungen in Oman

IV. Menschenrechte sind unteilbar

1. Arabische Jahreszeiten

2. Mit der Jugend von Weißrussland

3. Zum Gedenken an Anna Politkowskaja

4. Tibet und die Olympischen Spiele 2008 in Peking

5. Der „Sacharow-Preis für geistige Freiheit“

6. Engagement für die Abschaffung der Todesstrafe

V. Identität und Geschichtsbewusstsein

1. Europäischer Karlspreis für die Jugend

2. Europäischer Bürgerpreis

3. Benennung von Gebäuden des Europäischen Parlaments nach politischen Persönlichkeiten

4. „Haus der Europäischen Geschichte“

VI. Begegnungen im Vatikan

1. Papst Johannes Paul II.

2. Papst Benedikt XVI.

3. Rede vor Kardinälen

VII. Besucher und Besuche

1. Meine Gäste

2. Die Windsors: Besuch von Prinz Charles und Besuch bei Königin Elizabeth II.

3. Empfang durch Königin Beatrix der Niederlande

4. Gelebte Zeitgeschichte

Sechster Teil: Alles hat seine Zeit

I. Dankgottesdienst in Osnabrück im Zeichen deutsch-polnischer Freundschaft

II. Auf dem Soldatenfriedhof Stare Czarnowo

Dank

Abbildungen

Anmerkungen

Einleitung

Erster Teil: Prägungen und Maßstäbe

Zweiter Teil: Parlamentarische Bewährung in Zeiten der Einheit Deutschlands und Europas

Dritter Teil: Fraktionsvorsitz und europäische Weichenstellungen

Vierter Teil: Parlamentspräsident inmitten der Suche nach einer Europäischen Verfassung

Fünfter Teil: Eintreten für die Menschenwürde

Sechster Teil: Alles hat seine Zeit

Bildrechte/Quellennachweis

Personenverzeichnis

Backcover

Einleitung

Die Einigung Europas ist das größte Friedenswerk – nicht nur in der Geschichte unseres Kontinents, sondern der Welt. Diese historische Betrachtung und Wertung mag vielen übertrieben, unangemessen oder gar pathetisch erscheinen, aber sie bleibt wahr. 2012 ist der Europäischen Union dafür der Friedensnobelpreis verliehen worden. Die bewegende Zeremonie am 10. Dezember 2012 in Oslo, zu der ich eingeladen war, wird mir immer in Erinnerung bleiben.

Die Menschen vergessen zu leicht, welch langen Weg die Europäer zurückgelegt haben von einem Kontinent der Feindschaft zu einer Europäischen Union, die sich auf gleiche Werte beruft und in der heute über 500 Millionen Menschen aus 28 Ländern „in Vielfalt geeint“ zusammen leben. Nur wenn wir wissen, woher wir kommen, wissen wir, wo wir sind und können entscheiden, wohin wir gehen wollen. Die Bewahrung unseres historischen Gedächtnisses und die Vermittlung des Vergangenen – vor allem an junge Menschen, die die Zukunft gestalten werden – gehören zu dem Notwendigen, damit die Erfahrungen der Vergangenheit das Fundament und der Ausgangspunkt für unseren Weg in die Zukunft sein können.

Die Europapolitik von Bundeskanzler Konrad Adenauer war der Anlass, warum ich der CDU beitrat. Seine auf Versöhnung, Verständigung und Zusammenarbeit ausgerichtete Europapolitik, die er als Friedenspolitik begriff, hat mich in meinen Jugendjahren fasziniert. Diese Faszination hat später niemals nachgelassen. In Robert Schuman und Alcide De Gasperi hatte Konrad Adenauer gleich gesinnte Partner gefunden. Am 9. Mai 1950 trat der französische Außenminister Robert Schuman im französischen Außenministerium Quai d’Orsay in Paris mit einer Erklärung zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vor die Presse: „Den Feinden von gestern reichen wir die Hand, um uns zu versöhnen und um Europa aufzubauen!“, erklärte Schuman.1 Dies war die Geburtsstunde der Einigung Europas – fünf Jahre und einen Tag nach Ende des Zweiten Weltkrieges, der durch eine menschenverachtende Politik hervorgerufen worden war und unseren Kontinent an den Rand des Abgrundes geführt hatte.

Schuman rechnete mit Widerständen und Zweifeln, ja mit Feindseligkeiten in Frankreich und in der französischen Regierung gegenüber seinem Projekt. Eine friedliche Kooperation als Grundlage eines europäischen Zusammenschlusses – die Kernidee des Schuman-Plans – war eine unvorstellbare Zumutung, weil sie sich vor allem an den Kriegsgegner, an den Erbfeind, an die noch junge Bundesrepublik Deutschland richtete.

Unter strengster Geheimhaltung und ohne das Wissen der anderen Kabinettsmitglieder hatte Schuman seine Initiative ausarbeiten lassen, und zwar von einer kleinen [<<13] Seitenzahl der gedruckten AusgabeGruppe von Mitarbeitern im französischen Planungsamt – angeführt von Jean Monnet, Wegbegleiter Schumans, der bis dahin den Werdegang eines erfolgreichen ­Geschäftsmannes zurückgelegt, jedoch nie das Amt eines Ministers oder gar Regierungschefs inne gehabt hatte. Sein Hauptanliegen war die europäische und interna­tionale Politik; die Einigung des Kontinents für ihn eine Grundvoraussetzung für einen weltweiten Frieden.

Einen Tag vor der Presseerklärung, am 8. Mai 1950, beriet in Bonn das Kabinett unter Vorsitz von Konrad Adenauer über den Beitritt Deutschlands zum Europarat. Während dieser Beratungen traf ein Gesandter des französischen Außenministers mit zwei Briefen für Konrad Adenauer ein: einem handschriftlichen, persönlichen Schreiben Robert Schumans sowie einem offiziellen Begleitschreiben, der Erläuterung seines Projektes, des Schuman-Plans.

„Ich teilte unverzüglich Robert Schuman mit, dass ich seinem Vorschlag aus ganzem Herzen zustimme“, erinnerte Konrad Adenauer sich später in seinen Memoiren. Und weiter: „Schumans Plan entsprach voll und ganz meinen seit langem vertretenen Vorstellungen einer Verflechtung der europäischen Schlüsselindustrien.“2 Ebenso erkannte Italiens Ministerpräsident Alcide De Gasperi die Vorteile dieses Projektes. Er sah darin einen bedeutenden Schritt auf dem Weg zur innereuropäischen Aussöhnung.

Am 18. April 1951, nicht einmal ein Jahr später, wurde der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl von Frankreich und Deutschland, Italien und den Benelux-Staaten unterzeichnet. Am 10. August 1952 nahm die sogenannte Hohe Behörde in Luxemburg ihre Arbeit auf – unter dem Vorsitz von Jean Monnet.

Dreißig Jahre später sollte ich als Vorsitzender des Landesverbandes Niedersachsen der Europa-Union bei einer Veranstaltung „25 Jahre Römische Verträge“ in ­Hannover Jean Monnet zitieren. Anwesend waren der ehemalige Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Walter Scheel, Präsident der Europa-Union Deutschland, sowie der einstige Präsident Frankreichs, Valéry Giscard d’Estaing, der später mein Kollege im Europäischen Parlament wurde; außerdem der Ministerpräsident von Niedersachsen, Ernst Albrecht, sowie der niedersächsische Minister für Bundesangelegenheiten, Wilfried Hasselmann. Ich sprach davon, dass Jean Monnet, ein großer Franzose und Europäer, der erste Ehrenbürger Europas, einmal als Präsident der ­Hohen Behörde der Montanunion in Luxemburg eine Besuchergruppe empfing und dies später in seinen Memoiren folgendermaßen schilderte:

„Die Leute, die mich in Luxemburg besuchten, waren verwirrt über die Fotografie eines sonderbaren Floßes auf meinem Schreibtisch. Es war die ‚Kon Tiki’, deren Abenteuer die Welt bewegten und in der ich das Symbol unseres europäischen Unternehmens sah. ‚Diese jungen Männer‘, so schilderte ich meinen Besuchern, ‚haben die Richtung gewählt. Dann sind sie losgefahren und wussten, dass sie nicht umkehren konnten. Welche Schwierigkeiten auch auftreten mochten, sie hatten nur eine Möglichkeit, unaufhörlich [<<14]weiterzufahren. Auch wir gehen auf unser Ziel, die Vereinigten Staaten von Europa, zu, auf einem Weg ohne Umkehr‘.“3

Jean Monnet, dieser mutige und weitsichtige Mann, konnte das gegenüberliegende Ufer noch nicht sehen, aber er war entschlossen, das Ziel zu erreichen: die Einheit des europäischen Kontinents.

Die Ideen und Überzeugungen von Jean Monnet habe ich immer bewundert. Wenn wir ihnen weiter folgen, insbesondere der von ihm empfohlenen Gemeinschaftsmethode – das heißt, wenn wir durch die europäischen Institutionen handeln – und dies mit Geduld und Leidenschaft tun, Krisen und Herausforderungen als Chancen begreifen, schrittweise vorgehen und das Ziel dabei klar im Auge behalten, wird Europa erfolgreich sein und die Europäische Union eine gute Zukunft haben.

Konrad Adenauer brachte es auf den Punkt: „Der Schuman-Plan war der Anfang der Europäischen Einigung. Mit der Unterzeichnung […] begann […] ein neuer Abschnitt der europäischen Geschichte.“4 Der Schuman-Plan wurde zur Grundlage für eine neue Ordnung der Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern Europas. Seine Erklärung war das Fundament des Friedenswerkes, das für uns heute in der Europäischen Union zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Vor sechzig Jahren war nicht vorhersehbar, dass damit die längste Friedensperiode in der Geschichte Europas eingeleitet werden würde. Das Ziel aber, das Schuman formulierte, wies den Weg. Bereits der erste Satz seiner Erklärung war eindeutig und ambitioniert: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“5

Die Gründerväter Europas wussten um die Größe dieser Bedrohung. Sie hatten sie am eigenen Leib erfahren: Auseinandersetzungen um Grenzen und Grenzräume zwischen den Staaten Europas. Allen voran die drei Staatsmänner Robert Schuman, ­Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer – allesamt christliche Demokraten. Sie waren durch frühe Erfahrungen eines Lebens in europäischen Grenzräumen geprägt: Robert Schuman, in Luxemburg geboren, als Lothringer im Ersten Weltkrieg deutscher Soldat; Alcide De Gasperi, geboren im italienischen Trentino, das damals noch zum Kaiserreich Österreich-Ungarn gehörte, weshalb er Mitglied des österreichischen Reichsrates war; und Konrad Adenauer, langjähriger Oberbürgermeister des linksrheinischen Köln, als welcher er die Besetzung des linken Rheinufers durch Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg erlebt hatte.

Immanuel Kant hatte schon Ende des 18. Jahrhunderts die bittere Erkenntnis formuliert:

„Wir sind in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel.“6

[<<15]

Leid, Elend und Tod als Folge von Feldzügen und Schlachten um Grenzen und Territorien – jahrhundertelang war dies die Regel gewesen und nicht die Ausnahme. Dieses schwarze Kapitel europäischer Geschichte musste endlich ein Ende finden! Die Gründerväter der Europäischen Union zogen aus der blutigen Geschichte ihres Kontinents die richtigen Lehren. Sie waren sich einig darin, alles dafür zu tun, um den Grenzen Europas ihren trennenden Charakter zu nehmen. Mit Mut und Weitsicht, mit Geduld und Leidenschaft ließen sie die von Hass und Groll beherrschte Vergangenheit hinter sich und begannen, eine bessere Welt zu schaffen. Der Schuman-Plan – die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl – war dazu der erste Schritt.

Diese erste Gemeinschaft konkreter Interessen war der Ausgangspunkt des sich allmählich fortentwickelnden Integrationsprozesses. Die Gemeinschaftsmethode, die noch heute für uns verpflichtend und Maßstab unseres Handelns sein muss, bewährte sich bei der schrittweise zunehmenden Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Anliegen. Es war „eine Vereinigung der Interessen der europäischen Völker und nicht einfach die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts dieser Interessen“, wie es Monnet formulierte.7

Man führe sich den Inhalt und die Tragweite des ersten Gründungsvertrags der Europäischen Gemeinschaft vor Augen: Die gesamte Kohle- und Stahlerzeugung Frankreichs und Deutschlands sowie Italiens und der Benelux-Länder wurde einer gemeinsamen Behörde unterstellt. Man beseitigte Handelshemmnisse und erleichterte den wirtschaftlichen Wiederaufbau der zerstörten Industrien. Die Idee, dass Sieger und Besiegte gemeinsam die Kontrolle über die zentralen, über Krieg und Frieden entscheidenden Industrien von Kohle und Stahl ausüben wollten, war revolutionär.

Das Bedeutsamste des Schuman-Plans war die Errichtung eines völlig neuen ­institutionellen Systems: An die Stelle der einfachen Zusammenarbeit zwischen souveränen Staaten trat der ausgewogene demokratische Dialog zwischen den Mitgliedstaaten, der Gemeinsamen Versammlung (später das Europäische Parlament), dem Ministerrat, der Hohen Behörde – Vorläuferin der heutigen Kommission – und dem Gerichtshof. Jean Monnet formulierte es so: „Nichts ist möglich ohne die Menschen, nichts dauerhaft ohne Institutionen.“8 In diesem Satz liegt viel Wahrheit.

Die Hohe Behörde wurde Ausdruck des supranationalen Prinzips, während der Ministerrat als intergouvernementales Bindeglied zwischen der Hohen Behörde und den EGKS-Mitgliedstaaten in der allgemeinen Wirtschaftspolitik handelte. Das Zusammenwirken supranationaler und intergouvernementaler Elemente wurde zum Kern des europäischen Integrationsprozesses.

Die Beschluss- und Handlungsfähigkeit dieses Apparates wurde durch die Einführung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit in den Bereichen mit geteilter Souveränität gewährleistet. Die Rechtsprechung eines Gerichtshofes, der über direkte Justizgewalt verfügt, und die Schaffung von Eigenmitteln anstelle nationaler Beiträge machten die Originalität, Effizienz und die Überlegenheit dieses Systems aus – eines Systems, das in den vergangenen sechzig Jahren auf einem steinigen, hindernisreichen, [<<16]von Umwegen gekennzeichneten Weg Stück für Stück fortentwickelt und gefestigt worden ist.

*

Nicht alles gelang. Am 30. August 1954 scheiterte der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) an der Haltung der französischen Nationalversammlung, die beschloss, das Gesetz über die Ratifizierung des Vertrages von der Tagesordnung abzusetzen.

„Es waren qualvolle Tage. Das Ergebnis der Abstimmung [...] vernichtete uns Deutschen die jahrelangen Bemühungen, die Souveränität unseres Landes wiederzuerhalten [... und] bei dem Wiederaufbau Europas den entscheidenden Schritt nach vorn zu tun“,

befand Adenauer hinterher, in dessen Gedächtnis sich „jene schrecklichen Tage [...] tief eingegraben“ haben.9

Bei dem Beschluss in der französischen Nationalversammlung hatten die etwa hundert kommunistischen Abgeordneten eine besondere Rolle gespielt. Sie wollten die Einigung Europas nicht, da dies den Interessen Moskaus, für die diese Abgeordneten handelten, widersprach. „Die übrigen Stimmen für die Absetzung von der Tagesordnung wurden“, so stellte es Konrad Adenauer ausführlich dar, „zum Teil aus nationalistischen Gründen, zum Teil aus Besorgnis gegenüber Deutschland“ abgegeben.10

Wie Adenauer schrieb, war das französische Parlament das vorletzte, das sich mit dem Vertrag befasste. Belgien, die Niederlande, Luxemburg sowie die Bundesrepublik Deutschland hatten ihn bereits ratifiziert. In Italien stand die Ratifizierung durch das Parlament zwar noch aus, doch die zuständigen Ausschüsse hatten den Vertrag schon gebilligt, sodass auch mit einer Zustimmung der italienischen Volksvertretung gerechnet werden konnte. Wichtig ist es auch darauf hinzuweisen, dass die EVG einer französischen Initiative entsprach, sodass es umso bedauerlicher, ja bestürzender war, dass Frankreich das eigene Projekt kippte.

Es muss auch daran erinnert werden, dass das Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft die starke Unterstützung der amerikanischen Regierung hatte. Besonders der amerikanische Außenminister John Foster Dulles, ein guter Freund Konrad Adenauers, unterstützte die Politik des deutschen Bundeskanzlers im Hinblick auf die Einigung Europas. Adenauer kommentierte in seinen Memoiren die amerikanische Nachkriegspolitik nach 1946, indem er von Dulles berichtete, dass dessen Politik

„auf der Annahme aufgebaut war, dass Westeuropa es endlich zu einer Einheit bringen werde, die es gegen Kriege immun mache und es in die Lage versetze, sich gegen eine Aggression von außen zu verteidigen. Die dringende Notwendigkeit dieser Einheit sei von allen führenden Staatsmännern aller freien Nationen anerkannt worden“.11

[<<17]

Dann zitierte Adenauer Dulles mit den Worten:

„Es ist eine Tragödie, dass sich der Nationalismus mit der Unterstützung des Kommunismus in einem Lande so durchgesetzt hat, dass das ganze Europa gefährdet wird. Diese Tragödie würde noch größer werden, wenn die Vereinigten Staaten daraus die Schlussfolgerung ziehen würden, dass sie auch ihrerseits einen Kurs engstirnigen Nationalismus einschlagen müssten.“

Die deutsche und die amerikanische Politik wurden jetzt darauf ausgerichtet, Deutschland in die NATO (North Atlantic Treaty Organization) zu integrieren. Zwar wurde Deutschland am 9. Mai 1955 Mitglied der NATO, aber durch das Scheitern der EVG sind viele wertvolle Jahre für die europäische Einigungspolitik verloren gegangen. Wir haben noch heute an den Folgen zu arbeiten, da es eine wirkliche Europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik – trotz allen Fortschritts in der Zusammenarbeit – als eine gemeinschaftliche Politik bedauerlicherweise nicht gibt.

Aber Konrad Adenauer hatte Recht:

„Trauer und Resignation helfen nichts. Die Aufgaben: Aufnahme der Bundesrepublik in den Kreis der freien Völker, Schaffung Europas, mussten von Neuem in Angriff genommen werden.“12

Seine Feststellung, nach einer schweren Niederlage nicht aufzugeben, hat mich sehr beeindruckt, ja geprägt. Sie sollte mir später, als Fraktionsvorsitzender der Europä­ischen Volkspartei und Europäischer Demokraten (EVP-ED) im Europäischen Parlament und auch als Präsident des Europäischen Parlaments eine Lehre sein, in schwierigen Situationen, in denen viele Mitstreiter die Hoffnung bereits aufgegeben hatten, nicht lockerzulassen und Kurs zu halten.

Am 25. März 1957 wurde mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge über die Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) der EGKS-Ansatz fortgeführt – die Fortsetzung des größten Friedens- und Demokratieprojektes in der europäischen Geschichte.

In den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten wuchs Europa nicht nur im Bereich der Wirtschaft zusammen. Auch das politische Europa wurde mehr und mehr geschaffen: mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA), am 1. Juli 1987 in Kraft getreten, den Verträgen von Maastricht (1. November 1993), Amsterdam (1. Mai 1999) und Nizza (1. Februar 2003), und schließlich dem Vertrag von Lissabon, ­welcher am 1. Dezember 2009 in Kraft trat.

Europa entstand nicht in einem großen Wurf, nicht in einem einzigen Schritt. Schuman war sich bewusst darüber, dass Europa sich etappenweise und am konkreten [<<18]Sachgegenstand würde zusammenfinden müssen. Auch war es nicht entscheidend, für alle Probleme sofortige Lösungen zu finden, sondern Verfahren zu entwickeln, wie auf zivilisierte und gewaltfreie Weise Probleme und Aufgaben schließlich auf rechtlicher Grundlage gelöst werden können. Die europäischen Institutionen sollten gleichwohl „den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist“, wie es in der Schuman-Erklärung hieß.13 Frieden war das Wort, auf das es ankam, auf das es auch heute ankommt und in der Zukunft ankommen wird. Die Europäische Einigung war die Antwort auf Krieg und Vernichtung. Heute ist Europa ein anderes Wort für Frieden!

*

Der große Erfolg der Gründerväter Europas ist unumstritten. Kaum einer hat es 1950, in dieser von Spannungen geprägten Epoche, in der die Sowjetunion und der kommunistische Totalitarismus halb Europa unterdrückten, für möglich gehalten, dass kommunistische Staaten eines Tages Teil der Europäischen Union sein würden. Adenauer aber hielt es für möglich:

„Auch nach Osten müssen wir blicken, wenn wir an Europa denken. Zu Europa gehören Länder, die eine reiche europäische Vergangenheit haben. Auch ihnen muss die Möglichkeit des Beitritts gegeben werden.“14

Und an anderer Stelle sagte er:

„Ich bin überzeugt: wenn der Anfang mit sechs Ländern gemacht ist, kommen eines Tages alle anderen europäischen Staaten auch hinzu“.15

Dieses neue Konzept für eine europäische Zukunft faszinierte mich von früh an. Das Gemeinschaftseuropa war die Antwort für die Zukunft, ohne dass dadurch die Na­tionen, die Regionen und die Kommunen ihre jeweilige Identität verlieren würden. Unter dem vereinten Dach starker europäischer Institutionen konnten sich die Mitgliedstaaten Europas auf der entscheidenden Grundlage gemeinsamen europäischen Rechts entwickeln. Diese Institutionen waren die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, der Ministerrat, der Europäische Gerichtshof sowie andere Organe, die noch hinzukommen würden: der Europäische Rechnungshof, der Ausschuss der regionalen und kommunalen Gebietskörperschaften sowie der Sozialausschuss. Das war das historisch Neue im Gemeinschaftseuropa: Das Recht hat die Macht und nicht, wie in jedem Jahrhundert vor der Europäischen Einigung, die Macht das Recht. Walter Hallstein, der erste Präsident der Europäischen Kommission (1958–1967), hat das in Europa neu Entstehende so beschrieben:

[<<19]

„[...] was wir mit ‚föderal‘ meinen, ist also nur: die Gemeinschaft hat mit dem Bundesstaat die Eigenschaft gemein, dass bestimmte Teile der Staatsgewalten in einem Verein mit anderen zusammengelegt und einer eigenen, vom Gliedstaat verschiedenen Organisation übertragen sind. Insofern ist die Gemeinschaft bundesstaatsähnlich. Sie leistet das, was das Wesentliche der europäischen Aufgabe ist: ein Gleichgewicht herzustellen zwischen einer aus nationalen Souveränitätsteilen zusammengefügten europäischen Gewalt und einer fortbestehenden Staatsgewalt der Mitgliedsländer. Sie bewahrt, was an Verschiedenheit und Eigenständigkeit überkommenden nationalen Einheiten Erhaltung verdient, und sie schafft doch die großräumige Organisation, die der kontinentale Maßstab des globalen Zeitalters fordert.“16

Golo Mann, der bedeutende Historiker, hat das alte europäische System aus der Sicht der Napoleon-Zeit gut dargestellt. Als Napoleon sich nach der Schlacht von Jena und Auerstedt (Oktober 1806) auf dem Zenit seiner Macht befunden hatte, hatte er sich einer wankelmütigen und in sich zerstrittenen Front gegenübergesehen. Gleichsam hat Golo Mann ein Psychogramm der fünf Großmächte jener Epoche – England, Frankreich, Österreich, Russland und Preußen – gezeichnet.

„Zwischen allen diesen Mächten war Feindschaft, offener oder latenter Krieg; ein negatives Verhältnis, welches das politische Spiel beherrschte. [...] Die Feindschaft zwischen Frankreich und England war eine alles überschattende. Eben darum gab es immer wieder vage Kontaktnahmen zwischen ihnen, verursacht durch die Vorstellung, dass, wenn sie sich einigten, der Friede ewig und die Welt ihr Besitz sein würden. Es war Feindschaft zwischen Frankreich und Österreich, alte klassische Renaissancefeindschaft. Aber zweimal schon hatten sie im vergangenen Jahrhundert versucht, ihr ein Ende zu machen und gemeinsam dem Kontinent das Gesetz vorzuschreiben: im Siebenjährigen Krieg und [...] Anno [17]97. Es war Feindschaft zwischen Preußen und Österreich, deutsche und europäische Feindschaft; der Gedanke hörte aber nicht auf, in den Köpfen deutscher Patrioten zu fühlen, dass eine Vereinigung dieser beiden Mächte – eine Vereinigung aller Deutschen – stärker sein würde als das gesamte übrige Europa. Auch zwischen Frankreich und Preußen war [...] Feindschaft; die Allianz dieser beiden Fortschrittstaaten aber eine Lieblingsidee der Französischen Revolution. Endlich war Feindschaft zwischen Frankreich und Russland. Und die Idee war, dass eine Vereinigung dieser beiden Mächte nicht Europa allein, sondern Afrika und Asien beherrschen [...] könnte.“17

Treffender hätte die Rivalität unter den europäischen Staaten nicht beschrieben werden können. Heute sind die genannten Mächte mit den meisten ihrer damaligen europäischen Territorien, mit Ausnahme Russlands, in der Europäischen Union friedlich vereint. Damals aber, 1814/15, nach der Niederlage Napoleons, hatte es gegolten, die Rivalität der europäischen Mächte durch Wiederherstellung des Gleichgewichtes zu zügeln. Klemens von Metternich, der große Gestalter des Wiener Kongresses, und [<<20]Friedrich von Gentz, der Sekretär des Kongresses, hatten, um es noch einmal in den Worten von Golo Mann auszudrücken, dieses Ziel gehabt:

„Eine Wiederherstellung des Gleichgewichts und sonst nichts. Keine neue Chimäre, kein Völkerbund, kein Universalstaat. Kein Deutsches Reich, von dem norddeutsche Patrioten träumten. Auch kein russisches Übergewicht, wie es sich aus dem gewaltigen russischen Beitrag zu diesem Wandel der Dinge recht wohl ergeben konnte. Ein Friede, der auf mehreren ungefähr gleich starken, maßvoll regierten, einander nicht allzu feindlich gesinnten Staaten beruhte“.18

Und wir wissen, was nach dem Wiener Kongress gekommen war: die Restauration, die den Volkswillen unterdrückte, aber immerhin eine kriegslose Epoche ermöglicht hatte. Aber wie in der Vergangenheit, wie in allen Jahrhunderten zuvor, hatte dieses System nicht von Dauer sein können. Es waren der preußisch-österreichische Krieg 1866, der französisch-preußische Krieg 1870/71, der Erste Weltkrieg 1914–1918 sowie der Zweite Weltkrieg 1939–1945 gefolgt. Angesichts dieser historischen Erfahrungen war die durch Robert Schuman gegenüber Deutschland 1950 ausgestreckte Hand der Versöhnung und Verständigung ein politisches Wunder. Bei Lichte besehen galt auch hier, was der Kirchenvater Augustinus formuliert hatte: „Wunder sind nicht wider die Natur, sondern nur wider die uns bekannte Natur.“19

Es gehört zu den historischen Glücksfällen, dass Robert Schuman in Konrad Adenauer, Alcide De Gasperi und anderen gleichgesinnte Freunde fand. Wir können stolz darauf sein, dass es insbesondere Christdemokraten waren, die das Versöhnungs- und Einigungswerk Europas begannen. Dabei wissen wir – und das gilt auch heute: Die Europäische Einigung fällt nicht wie eine reife Frucht vom Himmel, sondern sie erfordert immer wieder neuen und entschiedenen Einsatz. Konrad Adenauer hat es in der letzten Rede seines Lebens am 16. Februar 1967 in Madrid treffend gesagt:

„In unserer Epoche dreht sich das Rad der Geschichte mit ungeheurer Schnelligkeit. Wenn der politische Einfluss der europäischen Länder weiterbestehen soll, muss gehandelt werden. Wenn nicht gleich die bestmögliche Lösung erreicht werden kann, so muss man eben die zweit- oder drittbeste nehmen. Wenn nicht alle mittun, dann sollen die handeln, die dazu bereit sind.“20

Diese Worte Konrad Adenauers haben auch noch heute uneingeschränkte Gültigkeit. Und wir sollten niemals vergessen: Wie alles Menschliche bleibt auch die Europäische Einigung unvollkommen. Sie erfordert in jeder Zeit Einsatz und Anstrengungen. Der Glaube daran, es bleibe oder werde schon alles gut, reicht nicht.

[<<21]

Die kleinen Schritte sind dabei ebenso bedeutsam wie große Entscheidungen. Wichtig ist und bleibt, dass die Richtung stimmt: Nicht das Europa der Regierungen, das intergouvernementale Europa, sondern eine Europäische Union, die der Gemeinschaftsmethode, dem durch starke Institutionen gemeinschaftlich handelnden Europa verpflichtet ist, entspricht meinen Überzeugungen. Eine dieser Institutionen ist das Europäische Parlament. Aus einer ursprünglich „Versammlung“ genannten Institution hervorgegangen, ist es heute machtvoll und einflussreich. Ohne das Europäische Parlament wäre die Europäische Union heute nicht das, was sie ist. Das Europäische Parlament war und ist in vielem Vorreiter. Die Fraktion der Christdemokraten, heute die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), steht dabei an der Spitze und hat sich immer als Anwalt eines neuen, handlungsfähigen Europas verstanden, welches sich auf Demokratie und Parlamentarismus gründet. Dabei war und ist die EVP-Fraktion – seit 1999 mit Abstand die größte Fraktion im Europäischen Parlament – erfolgreicher, als es selbst der interessierten Öffentlichkeit bekannt ist. Bis zum Ausscheiden der britischen Konservativen aus der Fraktion nach der Europawahl 2009 – ein großer strategischer Fehler – war sie die einzige Fraktion im Europäischen Parlament mit Abgeordneten aus allen bis dahin 27 Ländern der Europäischen Union.

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Bei der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahre 1979 wurde ich erstmals und bis zu den Wahlen 2014 immer wieder von den Menschen in meiner niedersächsischen Heimat als ihr Volksvertreter gewählt. Sechsmal habe ich bei Europawahlen die niedersächsische CDU-Landesliste angeführt (1984, 1989, 1994, 1999, 2004 und 2009). Zweimal (2004 und 2009) war ich Spitzenkandidat der CDU Deutschlands. Im Einsatz für die Europäische Einigung blicke ich in diesen Erinnerungen auf 35 Jahre mit Dankbarkeit zurück. Meinen Entschluss, im Jahre 2014 meine Arbeit als Abgeordneter des Europäischen Parlaments zu beenden, möchte ich mit diesen Erinnerungen zum Anlass nehmen, Bilanz zu ziehen. Mehr als die Hälfte meines bisherigen Lebens war ich Abgeordneter des Europäischen Parlaments und bin in dieser Zeit als der Einzige, der diesem „Hohen Hause“ seit seiner ersten Direktwahl ununterbrochen angehört, hier mehr als 3.500 Kolleginnen und Kollegen begegnet. Dass ich seit 2010 als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) zwischen meinem Wohnort Bad Iburg, Brüssel und Berlin pendele, spiegelt für mich symbolisch meine Überzeugung wider, dass für uns als Europäerinnen und Europäer die europäische und die nationale politische Ebene zusammengehören und wir mit der Verwurzelung in unserer jeweiligen Heimat unsere europäische Identität bestimmen.

Die schönsten Erfahrungen in den vielen Jahren im Europäischen Parlament waren für mich, dass die Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990, anders als in manchen Hauptstädten Europas, hier begrüßt und unterstützt wurde und dass wir am 1. Mai 2004 ehemals kommunistische Länder wie Estland, Lettland, Litauen – viele Jahre [<<22]von der Sowjetunion okkupiert –, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn und Slowenien in der Europäischen Union willkommen heißen konnten. Die Freiheit hat gesiegt. Dass wir diese Erfahrung in unserer Lebenszeit machen konnten, bleibt für mich das Wunder unserer Zeit. Die Überwindung der Teilung Europas wurde möglich, weil wir im westlichen Teil Europas an unseren Werten festgehalten haben, diese eine Anziehungskraft in der Mitte und im Osten Europas entfalteten und so die Menschen ihre Verwirklichung ersehnten und die Freiheit friedlich erkämpften. Heute sind wir, wie es so schön in der „Berliner Erklärung“ vom 25. März 2007 heißt, „zu unserem Glück vereint“.21

Meine Jahre im Europäischen Parlament bilden den Schwerpunkt meiner Erinnerungen. Sie sollen dazu beitragen, das Bemühen des Europäischen Parlaments um die Einheit unseres Kontinents darzustellen. Es handelt sich insoweit um Erinnerungen, da ich kein Tagebuch geführt habe, mit Ausnahme meiner zweieinhalbjährigen Amtszeit als Präsident, in denen ich zeitweilig Notizen über meine Erfahrungen und mein Handeln direkt niederschrieb. In Einzelfällen habe ich bei der Schilderung von Sachverhalten auf frühere von mir verfasste Darstellungen zurückgegriffen. Es ist keinesfalls Absicht, mein eigenes Handeln überzubewerten. Dennoch liegt es in der Natur der Sache, dass die eigenen Überzeugungen, das eigene Engagement und Mitwirken bei den Beschlüssen besonders der Erinnerung verhaftet sind. Dies soll dabei auf keinen Fall die wichtigen Beiträge anderer reduzieren. Vor allem liegt mir daran, einen Beitrag zum Verständnis unseres komplizierten, aber wunderbaren Kontinents und unserer Bemühungen zu seiner Einheit zu leisten. Ich empfinde es als ein großes, mich beglückendes Privileg, dass ich die Bemühungen um die Einheit Europas eine lange Wegstrecke begleiten und mitgestalten durfte.

Von dem klugen Schriftsteller Reinhold Schneider ist uns eine wertvolle Mahnung überliefert, die wir beherzigen sollten: „Geschichte ist unerbittlich: sie gewährt die Tat nur ein einziges Mal und verzeiht es nicht, wenn die Stunde der Tat versäumt wird.“22 Für mich besteht die politische und moralische Aufgabe für die Zukunft darin, das Erbe der christlich-demokratischen Überzeugungen, denen ich verbunden bin, zu wahren. Die Europäische Union wird einer guten Zukunft entgegensehen, wenn wir Europäer den Werten und Prinzipien treu bleiben, die diesen Überzeugungen entsprechen: der Einigung unseres Kontinents auf der Grundlage der Würde des Menschen, der Menschenrechte, der Freiheit, der Demokratie, des Friedens, der Rechtsstaatlichkeit sowie den Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität.

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Mit allen unseren Fraktionsvorsitzenden seit 1979 habe ich freundschaftlich zusammengearbeitet: Egon Klepsch (1977–1982 und 1984–1992), Paolo Barbi (1982–1984), Leo Tindemans (1992–1994), Wilfried Martens (1994–1999) – als dessen Stellvertreter in diesen Jahren – und Joseph Daul (seit 2007), meinem Nachfolger in diesem [<<23]Amt. Besonders dankbar bin ich für die Jahre als Vorsitzender unserer Fraktion (13. Juli 1999–9. Januar 2007) und als Präsident des Europäischen Parlaments (16. Januar 2007–14. Juli 2009). Auf meinem Weg wurde ich engagiert unterstützt von den Generalsekretären der Fraktion, Klaus Welle (1999–2004) und Niels Pedersen (2004–2007). Klaus Welle leistete auch während meiner Präsidentschaft als Kabinettschef sehr wertvolle Arbeit und ist heute Generalsekretär des Europäischen Parlaments. Es gehört zu den besonders guten Erfahrungen meines politischen Lebens, dass Klaus Welle über viele Jahre an meiner Seite war. In der Beurteilung von politischen und personellen Fragen waren wir fast immer einer Meinung, was ich nicht nur als außergewöhnlich, sondern als einen Glücksfall empfunden habe.

Aufrichtig danken möchte ich meinen Söhnen Johannes und Benedict, die meinen politischen Weg immer verständnisvoll begleitet haben. Ihnen widme ich diese Erinnerungen.