DIETER BUB

Das Honecker-Attentat
und andere Storys

Als stern-Reporter in der DDR

Mit Fotografien von Harald Schmitt

mitteldeutscher verlag

Dies ist die Geschichte des stern-Korrespondenten Dieter Bub, der von April 1979 bis Januar 1983 in der DDR akkreditiert war – und nach einem spektakulären Bericht über einen versuchten Anschlag gegen den Konvoi des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker innerhalb von 48 Stunden Ostberlin verlassen musste.

Dieses Ereignis hatte die Staatssicherheit in Bedrängnis gebracht und im Westen für Schlagzeilen gesorgt. Der Ausweisung war eine Reihe von Beiträgen vorausgegangen, die der Stasi bereits zuvor immer wieder missfallen hatten.

Der Korrespondent hatte nicht nur engen Kontakt zu den Systemkritikern Havemann und Eppelmann, sondern berichtete auch über andere Themen, die in der DDR als Tabu galten zum Beispiel über Umweltverschmutzung und Wehrkunde-Unterricht. Bei Reisen nach Osteuropa informierte er sich über die Frauen und Männer der Charta 77 in der ČSSR und die Solidarność-Bewegung in Polen.

Zu den wichtigsten Ereignissen der Zeit in der DDR gehörte für ihn die Begegnung mit einer Frau, die nicht nur zu seiner Freundin, sondern auch zu einer wichtigen Informantin wurde und viele Bekanntschaften ermöglichte. Mit dieser Frau lebt er heute noch zusammen. Beide hatten einen gemeinsamen Bezugspunkt – ihre Erinnerungen an Halle an der Saale. Denn das war und ist das Besondere: der stern-Korrespondent in der DDR hatte seine Kindheit und Jugend in Halle verbracht.

Seine Geschichte ist so auch eine Rückkehr in die Heimat und ein Stück deutscher Vergangenheit, die bis in die Gegenwart wirkt. Die Reportagen aus den Jahren 1977 bis 1981 zeigen eine DDR, Polen und die ČSSR auf dem Weg zum Ende ihrer Existenz unter der Herrschaft der Sowjetunion.

Das Manuskript ist Erzählung und Erinnerung, Realität, Reflexion und Fiktion. Es ist keine Reportage. Es ist eine Geschichte, in der das Erlebte weiterwirkt, eine Erzählung, die bewusst werden lässt, wie politische Ereignisse, denen wir ausgesetzt sind, so vieles bestimmen, wie scheinbare Zufälle Unerwartetes bringen, für Stunden oder für ein ganzes Leben. Die nicht vollständigen Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes – es fehlen Materialien aus Rostock, Stralsund, Jena und Halle – umfassen 1.600 Seiten. Zu den Reportagen, die im stern erschienen sind, gibt es im Archiv die Fotos von Harald Schmitt, der ab 1975 in der DDR akkreditiert war, Dokumente aus einem fernen und doch vertrauten Deutschland, Bilder, die einzigartige Erinnerungen sind.

Dieter Bub verwendet in seinem Buch den Namen Dieter Müller (um auch Fiction-Passagen einfügen zu können), unter dem er bis 1956 vor seiner Flucht aus der DDR in Halle gelebt hatte. Für die Behörden in der DDR war er, bevor seine Identität von der Staatssicherheit entdeckt wurde, nur unter dem Namen Bub bekannt.

Inhalt

Cover

Titel

Über das Buch

Das Angebot

Frühjahr 1979 – Hamburg – Berlin – Gutengermendorf

Die Akkreditierung

Die Bestimmungen

Die neue Adresse im Osten

Stadtflucht und Idylle

Alltag eines Korrespondenten in Ostberlin

Harald Schmitt – der Fotograf

Die Demonstration

Kindheit in der DDR

Besuch in Grünheide

Der 30. Geburtstag

Warten auf Brigitte B.

Erfüllung unter Kontrolle

Landidyll

Freundin und Komplizin

Landleben

Zwischen den Welten

Wiedersehen mit Halle

Umweltverschmutzung in der DDR

Die Enttarnung

Die „Betreuer“ Otto und Ernst

Die Reise nach Prerow

Der „antifaschistische Schutzwall“ und die Mauer

Die grenzenlose Liebe

Der Volkskammer-Abgeordnete

Proteste in Jena

Apollensdorf bei Wittenberg

Volksgesundheit

Prenzlauer Berg

Wilhelms konspirative Träume

Das Fanal aus Gdansk

Deutsches Gipfeltreffen

Havemanns Prophezeiung

Rainer Eppelmann

Wilhelm in der Burgwallstraße

Roberts Vermächtnis

Besuch in Klein-Venedig

„Die große Liaison“

Landausflug

Zeit der Unzufriedenheit und des Umbruchs

Die Voigts aus Rostock

Wilhelm und Müller in einem Boot

Die ČSSR und die Charta 77

Wegelagerer und Fernstraßen

Mit Max Lehmann im Spreewald

Berliner Impressionen

Die Reise nach Basedow

Halle, fünfziger Jahre

Unerwünschte Kunst – erwünschte Kunst

Moskau

Wilhelm, Helsinki und die Folgen

Die Hüter deutscher Geschichte

Altgarz – das Pfarrhaus am See

Dresden – alte und neue Meister

Edda und Wolfgang Herbst

Aktion Schwein

Das Ende der Geduld

Jugend ans Gewehr

Das „Attentat“

Erich Honecker – Biedermann und Apparatschik

Die Ausweisung

Müllers Traum – Wilhelms Rache

Der Abschied

Auf der anderen Seite

Nachrichten „von drüben“

Boulevard-Journalismus

Ankunft in Westberlin

Stasi-Paranoia: Suche nach Erkenntnis

Erosion und Ende

Glück, Zerwürfnis, Versöhnung

Die Agonie und das Ende der DDR

Heimkehr nach Halle

Das Verblassen und die Auferstehung

Wiedersehen mit Klaus

Spuren, Enttäuschung und Glück

Rückkehr und Glück

Nachwort

Dank

Impressum

Fotoserie

Das Angebot

Der Anruf war überraschend gekommen. Ein Termin in der Chefredaktion des stern.

„Wollen Sie für uns nach drüben, nach Ostberlin?“, fragte Koch. „Sie kennen sich dort doch aus. Und wir suchen einen Nachfolger.“

Müller kannte Koch vom Studiogespräch am Morgen. Koch war ein angenehmer Interviewpartner gewesen, präzise klare Antworten. Er hatte sich mit Koch verabredet, war zu ihm in den „Affenfelsen“ an der Alster gefahren, einen stufenförmig ansteigenden Bürobau, nur tausend Meter vom Sender entfernt. Koch hatte sein Büro im fünften Stock und war zusammen mit Schmidt einer der beiden Chefredakteure – er der Mann für Politik, Schmidt für Unterhaltung und Kultur.

Henry Nannen, „der Alte“, der Erfinder der Illustrierten nach dem Krieg, residierte im siebten Stock, widmete sich immer weniger dem Heft. Er war des Berufs nach Jahrzehnten überdrüssig. Ein Blatt zu machen, jede Woche neu, die beste Illustrierte des Kontinents, in Konkurrenz zu Augstein vom „Spiegel“, dem aggressiven Herausforderer im Chilehaus, hatte seinen Reiz verloren. Henry, der kräftige Grauschopf mit dem Gespür für Geschichten, Stimmungen, Entwicklungen, Wünsche, hatte alles erreicht. Er war noch Herausgeber. Seine große Leidenschaft waren Bilder – Gemälde des Impressionismus und Expressionismus. Er sammelte, suchte fieberhaft und gab ein beträchtliches Vermögen dafür aus.

Koch und Schmidt, die beiden Neuen an der Spitze, sind ein interessantes Duo, der eine spielt den Feingeist, ist ein bemerkenswerter Kenner klassischer Musik und ihrer Interpreten und hat bereits eine Karriere als Blattmacher hinter sich – Chefredakteur der Hör zu und der Hamburger Morgenpost. Er kleidet sich elegant und teuer, liebt gute Weine, erkundigt sich vor Interviews nach den Vorlieben seiner Gesprächspartner, um sie so mit ihren Lieblingszigarren, bevorzugten Cognacs oder Whiskys zu überraschen. Die beiden mögen sich nicht besonders, gehen sich aus dem Weg, beschränken ihre Kontakte auf die notwendigen Absprachen bei den Konferenzen.

Koch, der zupackende Macher, nicht eloquent sondern direkt, mit Gespür für attraktive Geschichten. Koch verstellt sich nicht, entscheidet und fordert Entscheidungen. Der schlanke Vierziger, blond mit kurz geschnittenem Haar, Harris-Tweed-Jackett, blaues Hemd, Karokrawatte, Cordhose, empfängt Müller auf flapsige Art, nicht hamburgisch, bleibt hinter seinem Schreibtisch sitzen, lässig, sagt: „Das hat mir gefallen, das Gespräch bei Ihnen. Danach habe ich mich über Sie erkundigt. Sie waren häufiger drüben. Ein Kenner der Verhältnisse dort.“

„Drüben?“, fragt Müller. „Was meinen Sie?“ Er weiß, was Koch meint.

„In Ostberlin, bei unseren Brüdern und Schwestern, das ist drüben.“

„Immer wieder, wenn sich die Gelegenheit bot: Ostseewoche in Rostock, Leipziger Messe, das Festival des politischen Liedes, die Händelfestspiele in Halle. Ja!“

„Können Sie sich vorstellen, für uns dorthin zu gehen, nach drüben?“, fragt Koch. „Wollen Sie das machen?“

Er wollte, er wäre ohnehin dorthin gegangen, für das Radio als Hörfunk-Korrespondent. Die endgültige Entscheidung darüber sollte in wenigen Wochen getroffen werden.

„Was erwarten Sie?“, fragt er.

„Alles“, sagte Koch.

„Alles, was alles?“, fragt Müller.

„In den vergangenen beiden Jahren war im Heft fast nichts über die Zone zu lesen.“

„Die Zone?“, fragt Müller und weiß um die Verachtung Kochs für die DDR.

„Dieses Land DDR, das bei uns ziemlich in Vergessenheit geraten ist“, sagt er.

„Weil es niemanden interessiert?“, fragt Müller.

„Ich weiß nicht, ob es jemanden interessiert. Sie sollen dafür sorgen, dass es die Leute interessiert. Sie kennen sich doch aus!“

Müller: „Soweit das möglich ist, vieles ist nicht möglich. Es gibt strenge Bestimmungen, Einschränkungen, keine freie Berichterstattung.“

„Die gibt es weder in Moskau noch in Peking – und trotzdem berichten wir darüber“, sagt Koch. „Sie müssen die Geschichten finden, ohne Rücksicht.“

Müller: „Ohne Rücksicht auf was?“

Koch: „Ohne Rücksicht auf Vorschriften. Sie bekommen alles, was Sie benötigen. Wohnung in Ostberlin, Dienstwagen, ein Firmenkonto, steuerfreies Gehalt. Sie können über alles berichten – außer über langweilige Verlautbarungen. Und Sie können Reisen, wohin Sie wollen – nicht nur innerhalb der DDR, nach Warschau, Prag, Budapest, auch nach Moskau.“

Koch ist in den vergangenen Jahren als Mann in Bonn häufiger nach Washington und Moskau geflogen. Die DDR hat ihn nicht interessiert. Er stellt sich das Land als klein, muffig, langweilig vor. Müller sagt zu.

Nannen empfängt ihn, freundlich, distanziert, Zustimmung und Glückwunsch.

Müller wird den Leuten von Deutschland I vorgestellt worden. Deutschland I, der Bereich Politik, für den Heiner Bremer verantwortlich ist, ein guter Analytiker, Anhänger Willy Brandts und Egon Bahrs mit ihrer deutsch-deutschen Entspannungspolitik, dazu als Redakteur bei D1 Ulrich Rosenbaum.

Mit dem Anruf von Koch erfüllte sich ein lang gehegter Wunsch. Er könnte ein Ziel erreichen, dem er sich seit Jahren durch intensive Beschäftigung und Berichterstattung genähert hatte. Er wollte zurückkehren. Unter allen Möglichkeiten war es die reizvollste Aufgabe. Das scheinbar Fremde war ihm vertraut wie nur wenigen.

Er hatte sich der Minenfeld-Grenze und der Elbe dahinter immer weiter genähert: eine Rückkehr in Schritten. Er war auf dem geteilten Fluss unterwegs gewesen, war an Bord der Zollboote aus dem Westen den grauen Schiffen der NVA begegnet. Er hatte am „Tag der deutschen Einheit“, am 17. Juni, mit ehemaligen Bewohnern und Politikern von Gedenkveranstaltungen in Zicherie berichtet. Zeugnisse der Teilung: Hinter dem jenseitigen Ufer der Elbe die Anlagen – Betonmauern vor verfallenen Bauerngehöften, die Bewohner ins Innere des Staates umgesiedelt – Wachtürme, Minenfelder, Hundelaufanlagen, Metallgitterzäune mit Selbstschussanlagen. Er hatte Reportagen über die Dörfer und Kleinstädte entlang der Grenze zwischen Elbe und Harz aufgenommen, den „Eisernen Vorhang“, den „antifaschistischen Schutzwall“ beschrieben.

Frühjahr 1979 – Hamburg – Berlin – Gutengermendorf

Montag, morgens um halb acht auf dem Land in Brandenburg. Brigitte B. wartet mit ihrer Tochter Angelika an der Haltestelle. Die Siebenjährige ist müde, ist immer müde, ein Abend- und Nachtkind, ein Späteinschlafkind. Der Schulbus wird das Mädchen abholen und mittags wieder zurückbringen. Die Familie, er Film-Dramaturg in Potsdam, sie Restauratorin, lebt auf dem Dorf, in den Kleveschen Häusern bei Gutengermendorf, nördlich von Oranienburg, Richtung Gransee, sieben Gehöfte, in Ellipsenform angeordnet, fernab der Hauptstadt und fern der Parolen.

Klein-Venedig, Rahnsdorf, am Stadtrand von Berlin: Bernhard Wilhelm macht sich in seinem Wartburg auf den Weg ins Außenministerium, früh unterwegs nach einem angenehmen Wochenende, Bootstour mit der Familie über den Dämeritzsee nach Erkner, Grillabend am Wasser, Tatort, Westfernsehen.

Keine besonderen Vorkommnisse, alles nimmt seinen sozialistischen Gang. In den Sonntagszeitungen aus der BRD Frankfurt und Hamburg, FAZ und Springers Welt und Bild am Sonntag keine Hetze gegen die DDR, besser, die DDR findet nicht statt. Auch im Spiegel nichts über die Deutsche Demokratische Republik. Seit Wochen nichts. Aussicht auf einen ruhigen Wochenanfang. Routine – Auswertung der Berichte der Genossen zur Überwachung der Korrespondenten, keine Erkenntnisse. Sie waren mit Ausnahme von Marlies Menge von der Zeit alle zu Hause in Westberlin oder der BRD. Überblick über Veröffentlichungen vom Wochenende, Vormittagskonferenz. In der Kantine wird es Soljanka und Schweinebraten geben.

In der geräumigen Wohnküche im dritten Stock der Hansastraße in Hamburg-Eppendorf, fünf Minuten vom Funkhaus des Norddeutschen Rundfunks entfernt, blättert der Radiojournalist Dieter Müller in den wichtigsten Tageszeitungen – der Süddeutschen, der FAZ, der Rundschau, der Welt, dem Abendblatt und in Bild, registriert Aufmacher, Überschriften, überfliegt Artikel, liest Kommentare, hört die Nachrichten seines Senders und die letzten Berichte des Frühmagazins, das um neun Uhr endet. Müller ist so gut vorbereitet für seine Sendung, in fünf Stunden, den Kurier am Mittag.

Bernhard Wilhelm schätzt die ruhigen Wochenenden in der Politik mit ihrer Ereignislosigkeit. Sie versprechen gemächliche Arbeitstage, wenngleich die Beschaulichkeit vergangener Jahre mit den neuen internationalen Verbindungen des Landes, der Anerkennung der DDR, dem Einzug der Botschafter aus aller Welt mit ihrem Gefolge und über einhundert akkreditierten Journalisten zu Ende ist. Der Preis der Kontakte sind Aufmüpfigkeiten von Kritikern, Pfarrern, Schriftstellern, Malern, selbst Schauspielern, Jugendlichen, die Gesetze missachten, aufbegehren, sich unzulässig äußern, dabei gerade die Nähe von Diplomaten und Korrespondenten suchen. Der Staat reagiert, überwacht, lädt vor, schüchtert ein, sperrt ein, verweist Feinde des Sozialismus des Landes.

Die Restauratorin Brigitte B. sitzt im Garten ihres Bauernhauses, das die Familie kostenfrei von der LPG, dem volkseigenen Großbauernbetrieb, zur Verfügung gestellt bekommen hat. Ihr Mann ist mit dem knatternden Zweitakter nach Babelsberg unterwegs. Sie trinkt Kaffee – aufgebrüht – genießt die Ruhe, den Garten mit den blühenden Obstbäumen, den weiten Blick über die Wiesen, bevor sie sich einem barocken Taufengel zuwendet, der, auf dem Boden einer Dorfkirche entdeckt, von ihr sorgfältig gesäubert und gesichert wird. Sie wird erst später das Leben Müllers verändern und das Leben der anderen in Müllers Familie, das Leben seiner Frau, seiner Kinder, seiner Schwiegereltern, die noch meinen ihre Tochter sei in guten Händen.

Dieter Müller stellt die sieben Themen für seine Sendung zusammen, sieben Themen in einer halben Stunde, die Welt auf sieben Berichte zusammengeschrumpft, ausgewählt nach politischer Dringlichkeit, Berichte aus Washington und Moskau, eine Katastrophe, ein Kulturereignis – Paris, Wien, London, Salzburg, New York – ein Studiogespräch. Er entscheidet sich, den Chefredakteur des stern, Peter Koch, einzuladen, der in dieser Woche eine große Dokumentation über die Annäherung zwischen Ost und West im Heft publizieren wird.

Zehn Uhr: Müller passiert die Gänge und Treppen aus seinem Büro im ersten in den zweiten Stock, erläutert sein Programm in der Vormittagskonferenz, Zustimmung, ohne Widerspruch, danach die Vorbereitungen, Absprachen mit dem Producer – Geruch von Morgen-Cognac, der Sekretärinnen-Duft von Chanel. Das Band zu einem Beitrag aus dem Iran wird abgehört und freigegeben. Flirt mit der Cutterin. Nichts Besonderes. Routine mit Kaffee, Zigaretten, Telefongesprächen.

Bernhard Wilhelm wusste seine Möglichkeiten zu nutzen. Eigentlich nur passabel begabt, war er fleißig, schlau, pfiffig, heiter, anpassungsfähig, beredt. Mit diesen Eigenschaften, geschickt eingesetzt, ließ sich viel erreichen, bei Lehrern, in den Jugendorganisationen, an der Universität, in der Partei.

Wilhelm schätzte seine Chancen ab, entwickelte eine Strategie, verfolgte sein Ziel. Eine Karriere in der SED schied aus, weil sie ihm mit ihrem Schulungs- und Versammlungs-Ritualen zuwider gewesen wäre. Sie entsprach nicht seinem Naturell, seiner Neigung zu eher lockerer Konversation und seiner Fähigkeit zur Formulierung. Er entschied sich für den Journalismus, der selbst unter dem klaren Parteiauftrag vielerlei Möglichkeiten bot. Bereits mit vierzehn gestaltete er Wandzeitungen, wurde Chefredakteur der Schülerzeitung, schrieb erste kleine Beiträge für die Junge Welt. Seine Aufnahme ins „Rote Kloster“, den Studiengang für Schriftsteller und Journalisten in Leipzig, war der erste Schritt.

Brigitte B. mit ihrer Tochter auf dem Land

Dieter Müller und Bernhard Wilhelm hätten sich begegnen können – wenn Müller geblieben wäre, geblieben im Arbeiter- und Bauernstaat, wenn er nicht, aus bourgeoisen Haus, vom als erstrebenswert propagierten Sozialismus abgewichen wäre, wenn sich jemand seiner angenommen hätte. Einige Parallelen hatte es in beiden Biografien gegeben. Müller verfasste als Vierzehnjähriger Gedichte und zwei Artikel über den Besuch einer sowjetischen Jugendgruppe in einem Heim in der Nähe des Schrebergartens am Krokusweg, die er an die Redaktion der Freiheit in Halle schickte. Sie wurden veröffentlicht, der Autor erhielt neben einem Honorar die Aufforderung, als „werter Volkskorrespondent“ Neues einzusenden. Daraus wurde nichts, der 17. Juni veränderte die Ansichten des jungen Autors, der ohne diesen Volksaufstand vielleicht nach dem Abitur ebenfalls im „Roten Kloster“ eingezogen wäre.

Brigitte B. und ihr Mann entschieden sich für das Land als Ort der Möglichkeiten in der Enge; fort aus der Bevormundung, die ihnen ihre Freiheit ließ, die Halbemigration, das Arrangement, wie es viele gewählt haben.

Draußen, vor den Toren der Stadt, nördlich von Löwenberg, links und rechts der F7 bilden sie die Gemeinschaft der Aussteiger oder Halbaussteiger – der Grafiker, der Kinderbuchautor, der Jazzposaunist, der Dokumentarfilmer, der Theaterregisseur, der Maler, der Dramaturg, ein Schauspieler und sie, die Restauratorin. Sie sind unauffällig, genügsam und fügsam, keine Aufbegehrer, sondern nur die üblichen Systemmeckerer, die auf Genehmigungen für Auftritte, auf Papier, auf Filmmaterial, die immer auf etwas warten.

Die Akkreditierung

Als die Hamburger Chefredaktion ihn in Ostberlin als Korrespondenten anmeldet und das Gremium im Außenministerium über den Antrag berät, gibt es keine Bedenken. In den Unterlagen der Staatssicherheit finden sich die Abschriften von Berichten und Kommentaren für den NDR. Beiträge über die Weltjugendfestspiele vermitteln den Eindruck von einem Fest globaler Völkerfreundschaft, von der Solidarität mit Unterdrückten, vom Kampf gegen Ausbeutung und Diktaturen. Eindeutig Müllers Sympathien für die Verfolgten aus Chile, für die Demonstranten in Westberlin. Sein Dossier weist ihn als Linken aus, der aus Protest nach dem NATO-Doppelbeschluss aus der SPD ausgetreten ist, als Kritiker Amerikas und Gegner des Vietnamkrieges, als einen Spätachtundsechziger.

In den Unterlagen befinden sich Manuskripte über die Weltjugendfestspiele, von Besuchen der Ostseewochen in Rostock, Leipziger Messen, von Festivals des politischen Liedes – mit einem süffisant ironischen Ton. Sie werden erst viel später seine Identität als Republikflüchtling erkennen, der unbemerkt wenige Jahre vor der Akkreditierung die Gelegenheit zu einem heimlichen Klassentreffen genutzt hatte. Sie bescheinigen dem Neuen nach Durchsicht der Unterlagen durchaus Sympathien für die DDR und eine kritische Haltung gegenüber den Konservativen in der Bundesrepublik.

Ausführlich die Dokumentation einer Reportage auf der Insel Rügen und in Stralsund.

Zu MÜLLER wurde bekannt, dass er keiner Partei angehört. Nach seinen Angaben steht er der SPD nahe und befürwortet deren Programm. Er erkennt den Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR an und sieht deren positive Seiten für die Entwicklung zwischen beiden deutschen Staaten. Des Weiteren erkennt er die daraus sich ergebenden Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten der BRD in der DDR an.

In Binz waren die Genossen der Staatssicherheit nach der Teilnahme an den Diskussionen der Hamburger Studenten mit einer ausgewählten FDJ-Delegation wieder in ihre Zentrale nach Stralsund zurückgekehrt. Sie hatten versäumt, die Stunden nach den Gesprächen und dem Abendessen zu überwachen. Die Westdeutschen trafen sich in der Kneipe gegenüber der Jugendherberge mit einheimischen Jugendlichen, seltener Westbesuch, Reden bis in die Morgenstunden über die Veränderungen in Westdeutschland durch die Bewegung der Achtundsechziger-Generation, die sich aufgemacht hatte verkrustete Strukturen aufzubrechen und die Gesellschaft zu verändern. War die DDR nicht auch, auf andere Weise, erstarrt? Diese Nächte, nach denen niemand, auch der Wirt nicht, anschließend ein Protokoll verfasste, diese Nächte einer unkontrollierten Begegnung waren die Ausnahme.

„Dass wir hier nicht raus können, das isses“, schimpft Jochen. „Wir wollen doch gar nicht abhauen, wir würden ja wiederkommen“, meint Peter.

„Stell’ dir vor, Dänemark ist ganz nah, selbst mit der Luftmatratze haben es ein paar geschafft.“

Ein zwei Stunden mit der Fähre. Einen Tag und dann wieder zurück. Mehr nicht“, ergänzt Jochen.

„Was willst du da? Die warten gerade auf uns. Mit unserer Mark, die nichts wert ist“, mischt sich Angelika ein. „Selbst in Bulgarien sind wir doch nur Deutsche zweiter Klasse, wenn wir da überhaupt hindürfen.“

„Sie lassen euch nicht reisen, weil sie euch nicht trauen. Sie fürchten, ihr würdet abhauen.“ Hatte Müller damals erklärt.

„Stimmt wahrscheinlich.“

„Na klar.“

„Wir sind eben noch keine gefestigten sozialistischen Persönlichkeiten.“

So ging es nächtelang. Runde um Runde.

Danach bekam er Post. Gesine wünschte sich ein Autogramm von Roland Kaiser. Müller war kein Roland Kaiser-Fan und vergaß die Bitte. Gesine wartete, ahnte nicht, dass sie eines fernen Tages Roland Kaiser erleben sollte, live.

Wann immer es ging, war er zurückgekehrt, in dieses Land, das zu Deutschland gehörte und doch so weit entfernt war. Er hatte, nach dem Ende des Kalten Krieges und der Minderung der Gefahr gegenseitiger Vernichtung jede Gelegenheit zu Reisen in die DDR genutzt, war so zu einem Spezialisten für deutsch–deutsche Fragen geworden, hatte von Hamburg und Westberlin aus die Beziehungen zwischen beiden Staaten kommentiert.

Müller machte sich keine Illusionen über seine Arbeit. Er hatte im Sender als Experte für deutsche Fragen gegolten, weil er sich die erforderlichen Grundkenntnisse über die Geschichte und die Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten erworben hatte, weil er sich über Viermächteabkommen, Besucherregelungen, Transitvereinbarungen, Helsinki, Grundlagenvertrag und deren Akteure, soweit sie bekannt waren, informiert hatte, weil er einen Teil dieser Geschichte selbst erlebt und immer wieder beobachtet und kommentiert hatte. Im Gegensatz zum Großteil seiner Kollegen wusste er, wer zur Gruppe Ulbricht gehört hatte, kannte er die Geschichte der Zwangsvereinigung von KPD und SED, die Namen und Funktionen von Grotewohl, Sindermann, Hilde Benjamin, Honecker, Mittag, Herrmann, Hoffmann und Axen. Er konnte zuordnen, abwägen, kommentieren. Er verdankte viele Kenntnisse dem WDR-Publizisten Peter Bender.

Müller berichtete wie alle anderen über Ansätze zu einer vermeintlichen Liberalisierung, über Verbesserungen von Warenangebot und Gastronomie, kommentierte mit Wohlwollen Tendenzen, die der Öffentlichkeit nur vorgegaukelt wurden. Zur Strategie der Staats- und Parteiführung gehörte es, ihre Schändlichkeiten vergessen zu machen, den 17. Juni, den Bau von Mauer und Grenzanlagen die Bereitschaft zum Einmarsch nach Prag, die Verfolgung, Bestrafung und Einkerkerung Andersdenkender, die Tötung von Flüchtlingen mit Waffen und Minen. Erst jetzt, nachdem er wirklich hier angekommen ist, wird ihm das Ausmaß von Unrecht und Menschenverachtung bewusst.

Die Bestimmungen

Einweisung des Neuen durch die drei vom Außenministerium, der eine, der kleine Wilhelm von beinahe weltmännischer Freundlichkeit, der andere: Dr. Otto in Mausgrau, mit durchbrochenen braunen Schuhen, Abneigung im Gesicht, die dritte, Frau Ernst, kühl distanziert.

„Willkommen in der DDR!“

Sie erklären die Vorschriften, die von akkreditierten Journalisten zu beachten und strikt zu befolgen sind. Danach sind für alle Themen rechtzeitig Anträge auf Genehmigung einzureichen, die erst nach positivem Bescheid realisiert werden dürfen.

„Aber …“

Private Kontakte zu Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik zum Zwecke der Recherche sind untersagt.

„Aber …“

Die Mitnahme von Anhaltern ist verboten.

„Aber …“

Das beabsichtigte Verlassen der Hauptstadt der DDR in das übrige Territorium der DDR ist, auch für private Fahrten, Besichtigungen, Ausflüge etc. mindestens 24 Stunden zuvor schriftlich anzumelden.

„Aber …“

Die Einfuhr und die Ausfuhr von Gütern unterliegen den allgemeinen Vorschriften. Der Umtausch von D-Mark in Mark der DDR erfolgt über ein Konto bei der Staatsbank.

Müller hört zu. Müller macht den Eindruck eines aufmerksamen Zuhörers. Müller schweigt, beredt. Was Wilhelm routiniert vorträgt, ist für Müller neu. Ihm ist, als werde ihm gerade eine Zwangsjacke angelegt.

Wo befindet er sich?

Im Außenministerium eines deutschen Staates, gegenüber dem Berliner Dom, einem Zeichen preußischen Revanchismus’, das wie das Schloss verschwinden sollte, aber nicht gesprengt werden konnte. Die Berliner nennen das hässlich plattengeschuppte Gebäude „Winzerstube“, nach dem Mann, der das Land auf dem begrenzten Parkett der Bruderstaaten vertreten darf. Hier sitzt Müller, in einer Hauptstadt, die Teilstadt ist, nicht Hauptstadt ist, mit ihm am Tisch das Trio seiner Staatsaufseher.

Sie werden keine Freude an ihm haben.

„Ihr habt sie nicht alle“, schaut er sie belanglos an. „Das ist euer Ernst? Ihr wollt mich kastrieren und ihr erwartet meine Zustimmung zu dieser Operation?“

Müller weiß, sie drohen mit Sanktionen und haben Erfolg.

Viele bleiben in der Stadt, nehmen offizielle Termine wahr, erfüllen ihre Funktion als politische Korrespondenten, fahren abends vom Arbeitsplatz DDR in den Westen zurück, Privilegierte. Dazu ist er nicht gekommen.

Das Trio am Tisch hat sich gut etabliert, Karriere im System, Parteihochschule mit klaren Richtlinien, Wohlverhalten, Auszeichnungen, Privilegien. Wilhelm mit Kenntnissen über den Westen – Begleiter bei den Verhandlungen zum Helsinki-Abkommen, Monate in der finnischen Hauptstadt, auf internationalem Parkett. Frau Ernst hat Moskau erlebt, zwei Semester Lomonossow. Und der Dritte, Dr. Otto, der Älteste, der Blasse in Grau, der Apparatschik, voller Galle: hier geblieben, Klassenkämpfer, Westhasser, Verbitterter.

Die neue Adresse im Osten

Die Grauen an der Grenze können ihn nicht leiden, so wenig wie alle anderen, die hier nur nach Vorlage ihrer Dokumente, ohne Kontrolle ihrer Autos, ungehindert passieren dürfen, so oft sie wollen, auch mehrmals am Tag oder in der Nacht. Es sind die Männer und Frauen mit blauen Nummernschildern an ihren Dienstwagen aus dem Westen, teure Schlitten, die sich die Grauen in ihren Uniformen niemals würden kaufen können. Sie ahnen ebenso wenig wie er, dass sie diese hässlichen Verkleidungen in zehn Jahren ausziehen und wegwerfen werden, dass sie sich dann ungehindert auf die andere Seite begeben können – ohne von ihren Kameraden erschossen zu werden; dass sie dann jeden Wagen dieser Welt erwerben werden, wenn es ihnen gelingt, einen ordentlichen Job zu bekommen.

Was die Grauen auch nicht wissen: Er kommt gerne. Manchmal redet er mit ihnen, ohne sie anzusprechen. Sie spüren seine Gedanken, erspüren sie an seiner Freundlichkeit, seinem Lächeln, mit dem er ihnen begegnet, während sie die angeordnete Miene aufsetzen und anschließend Auffälligkeiten melden müssen.

Der Unbekannte vor ihm. Zurückhaltung, ein Gefühl von Beklemmung. Mitleid mit dem Kontrolleur, eingezwängt in einer Holzschachtel, zwei Quadratmeter Lebensfläche, acht Stunden am Tag, 160 Stunden im Monat, 1.760 Stunden im Jahr – vier Wochen Ferien bereits abgerechnet. Tage und Nächte auf zwei Quadratmetern zwischen dünnen Pressspanwänden. Vor ihm Gesichter, vertraut, Gesichter aus aller Welt, Spiegel von Normalisierung und internationaler Anerkennung, wie ein paar hundert Meter entfernt, Übergang Friedrichstraße, den die Amerikaner Checkpoint Charly nennen. Dort passieren sie alle: Japaner, Franzosen, Südafrikaner, Argentinier, Chinesen – die ganze Welt. Hier, Übergang Heinrich-Heine-Straße, erscheinen die Westdeutschen.

Die Wohnung ein Gefängnis im Gefängnis, in das er sich freiwillig begeben hat. Während Hunderte ihr Leben, ihre Freiheit riskierten, um herauszukommen, wollte er herein. Er sitzt im Betonkäfig, elfter Stock, vor dem Haus ein Uniformierter, hier oben Wände und Telefon verwanzt.

Ausblicke: vom Balkon nach drüben, in den Westen, zweihundert Meter entfernt die Mauer, der antifaschistische Schutzwall, hinter dem sich die imperialistischen Feinde des Springerkonzerns in ihrem Ullstein-Hochhaus Lügen über das sozialistische Vaterland ausdenken. Auf dem Dach das Emblem des Verlags als ständiges optisches Ärgernis. Nicht weit davon entfernt der Moritzplatz mit den Ateliers der neuen Wilden, die Kreuzberger Kneipen, eine Saufrepublik fröhlicher Zecher mit immer neuen Lebensformen, Experimenten, Diskussionen, Kreativität: Dichter, Maler, ein „König von Kreuzberg“, ein Gassenhauer: „Kreuzberger Nächte sind lang …“

Und hier, fünfhundert, tausend, zweitausend Meter entfernt, im Osten. Hier sitzt er fest. Die Abende sind trostlos. Fernsehen und Gin Tonic, zwei, drei, fünf. Bevor er ins Bett geht, um in diesem überheizten Zimmer, kopfschwer und unruhig, schlafen zu können, im Bewusstsein, sie sind bei dir, belauschen dich, kennen dich, erklärt er ihnen, sie müssten sich nicht weiter um ihn sorgen, er werde sich jetzt zur Ruhe begeben und wünsche ihnen eine angenehme, von Provokationen störungsfreie Nacht. Er gibt sich heiter, locker, aufgeräumt. Dabei fühlt er sich in Wahrheit miserabel. Er bedauert sich.

Eine auffällig stille Wohnung, in die trotz der dünnen Betonfertigteilwände selten Geräusche aus der Nachbarschaft dringen. Er hat andere Erfahrungen gemacht. Bei Leipziger Messen war er mehrmals in Neubausiedlungen einquartiert worden. Untergebracht im schmalen Zimmer der Kinder, die für diese Tage der Nebeneinkünfte bei Mutti und Vati schlafen mussten. Im Sanitärteil leere Waschmittel-Pappschachteln aus dem Westen aufgestellt, erreichten ihn von dort bereits früh um sechs die ersten akustischen Morgensignale der Körperhygiene, und nicht nur von dort, sondern aus vielen anderen Reinigungskabinen des Wohnblocks. Alles gleich nebenan. Erst danach kehrte Ruhe ein. Die Mieter verlassen ihre Dienstwohnungen, um den Abend drüben, auf der anderen Seite zu genießen, im Le Boubou, bei der Dicken Wirtin am Savignyplatz, bei Lutter und Wegener, in der Parisbar, im Florian oder bei irgendeinem Italiener, egal, jede Straße bietet mehr Abwechslung als hier die gesamte „Hauptstadt der DDR“.

Auf der anderen Seite der freie Blick auf den Gendarmenmarkt, noch immer Ruinen, trostlos, das Konzerthaus und der Französische Dom. Beginn erster Rekonstruktionen am Deutschen Dom, ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg, vom endgültigen Abriss verschont. Allmähliche Besinnung auf Kultur und Tradition. Die sozialistischen Staatslenker im Arbeiter- und Bauernstaat erheben Anspruch auf deutsche Geschichte, erklären Martin Luther, gestern noch verhasst, zum progressiven Reformator und widmen ihm einen monumentalen Spielfilm. Erich Honecker gelüstet es nach alter Pracht. Ließ der Prolet und Stalinist Walter noch Kirchen sprengen, so ordnet sein Nachfolger den Wiederaufbau der Semperoper und des Konzerthauses an, schafft Luxusherbergen und einen „Palast der Republik“. Der gelernte Dachdecker aus Saarbrücken wünscht Glanz für seine Hauptstadt.

Allein im Betongeisterhaus, gemeinsam mit den Überwachungsleuten. Selbstgespräch. Trunkene Selbstbefragung: In der Isolation. Für monatlich 800 D-Mark Miete. Ausnahmesituation. Kein Leben draußen. Der Boulevard leer.

Stadtflucht und Idylle

Brigitte B. hatte eine gute Chance, in der Hierarchie der Privilegierten aufzusteigen. Zum Abschluss ihres Studiums der Malerei und der Restaurierung war sie Meisterschülerin des Staatskünstlers Walter Womacka geworden. Sie hatte die Gelegenheit nicht genutzt. Stattdessen mit einem Stipendium Rückzug ins Private. Kein Widerspruch, keine Opposition, nur eine angenehme Lebensmöglichkeit. Landflucht. Landluft. Sommerfrische. Das Bauernhaus, die Datsche.

Nach den Erfahrungen mit ihrer vierjährigen Tochter in den staatlichen Kinderkrippen, mit genauer Regulierung, gemeinsamem Topfzwang und Mittagsschlaf, und der drohenden Schule mit den Indoktrinierungen der Staatsführung, die sozialistische Persönlichkeiten forderte, nur heraus aus der Stadt aufs Land. Hunderte waren vor ihnen nach draußen gegangen. Die Suche. Die besten Adressen auf den Dörfern waren die Landwirtschaftlichen Genossenschaften, industrielle volkseigene Großbetriebe für Pflanzen- oder Tierproduktion. Diese LPGs waren, unabhängig vom Wetter, zur Planerfüllung und Übererfüllung verpflichtet, nutzten Herrenhäuser als Lager, errichteten für Melker und Traktoristen Plattenbauten und ließen alte Bauernhäuser verkommen.

Brigitte B. und ihr Mann zogen zu Erkundungen in Richtung Norden, trafen Künstler, die dort bereits ihr Domizil gefunden hatten, erhielten den Hinweis auf die Kleveschen Häuser und fanden ein leeres Bauernhaus aus den zwanziger Jahren. Dem LPG-Vorsitzenden waren die Städter willkommen, würden sie doch das Gebäude nutzen und vor dem Verfall bewahren. Sie erhielten kostenfreies Wohnrecht unter der Bedingung, das Haus zu erhalten und Reparaturen vorzunehmen.

Brigitte B. als Titel auf der „Neuen Berliner Illustrierten“

Die Entscheidung für die Kleveschen Häuser hatte sie getroffen – es war nicht das Neubauernhaus, das erst wieder benutzbar gemacht werden musste, es war der Garten. Während ihr Mann überlegte, was zu reparieren und zu renovieren war, noch abwägte, überschlägig Kosten errechnete, war es der Blick, ihr Blick über wucherndes Unkraut, Obstbäume, Wiese, Feld bis zum Wald, ein paar hundert Meter entfernt. Sie wusste, hier wollte sie leben, nein, hier würden sie leben, aber zuallererst würde sie hier leben, mit ihrer Tochter. Alles andere würde sich finden, war nebensächlich, Improvisation.

Wilhelms Doppelleben – der Genosse im Rang eines Offiziers des Staatssicherheitsdienstes im Außenministerium der DDR – und der Kleinbürger, der zweite Wilhelm, der einfache Wilhelm, die Verwandlung nach Feierabend wenn er nach Klein-Venedig kommt. Er zieht sich um, tauscht den grauen Dienstanzug gegen Trainingshose und Trainingsjacke, rot-braun, Erinnerung an die NVA. Selbstverständlich hat er seinen Dienst an der Waffe absolviert, an der Waffe ein paar Wochen nur, die übrige Zeit in der Presse- und Propaganda-Abteilung der Armee. Der nun aus der Datsche in den Garten tritt, ist ein anderer; nicht, dass er sich entpuppt hätte, von der Raupe zum Schmetterling geworden wäre, aber verwandelt, ein netter Privatmann, so wie alle hier zu liebenswerten Privatpersonen werden. Lässige Biertrinker und Würstchengriller. Ihre überwiegend molligen Frauen, die für die Woche hochtoupierten Haare nun aufgelöst, mit bunten Blusen über ihren fülligen Brüsten, die strammen Beine bis zu den Knien in eng anliegenden Hosen. Verkleidete Rubens-Figuren. Sie sind locker, die Genossen von Klein-Venedig, ohne ihre Abzeichen, nicht zu erkennen, stünden da nicht Wernesgrüner Pils und Becherovka auf den Tischen, lägen da nicht köstliche Steaks auf dem Grill, die sonst zum größten Teil ins kapitalistische Westberlin und in die BRD geliefert werden, unter dem Ladentisch, Bückware, Beziehungen, Tauchhandel, gegenseitige Vorteilsnahme: Kinderschuhe, erzgebirgisches Spielzeug, Rinderfilet, Auspuffrohre, immer gibt es irgendwo irgendetwas.

Alltag eines Korrespondenten in Ostberlin

Müller versorgt sich in der Kaufhalle – das Brot für 51 Pfennige, zwei Sorten Joghurt, drei Sorten Käse, Butter, Milch, alles einfach und schmackhaft, subventioniert. Auch wenn er sich unauffällig kleidet, die Verkäuferinnen erkennen in ihm einen von drüben, Misstrauen gegenüber diesem Mann, der sich Besseres leisten könnte und der, offenbar auch noch schwul, einen goldenen Ring im linken Ohr trägt.

„Ist was?“, fragt er die Neugierige hinter der Kasse, die aufdringlich das Schmuckstück betrachtet.

„Nö, nö“, sagt sie. „Is nischt.“

„Is wirklich nischt?“, fragt er.

„Nö, nö“, sagt sie.

Sie meinen den Ring im Ohr. Trag’ ich, seit ich Baby bin. Immer dringeblieben.“

„Ach so“, sagt sie.

„Quatsch“, sagt er. „Gefällt mir nur. Bin aber nicht schwul. Ich liebe Frauen.“

„Ist schon in Ordnung“, sagt sie.

„Na ja, dann. Was macht das hier?“

„Drei zweiundachtzig“, sagt sie.

‚Ich sollte was über Schwule in der DDR schreiben‘, denkt er, ‚und über die Ostfrauen, die alle irgendwie Yvonne oder Marlene heißen. Sie haben irgendetwas.‘

„Du solltest dich vor ihnen hüten“, antwortet er sich.

„Warum sollte ich mich vor ihnen hüten?“

„Frauen, die sich für dich interessieren, wollen entweder mit dir in den Westen oder sie sind vom Staatssicherheitsdienst.“ „Ich weiß. Es sind die wahren Kämpferinnen des Sozialismus.“

Er hat sie erlebt, die Karl-Marx-Liebesdienerinnen mit dem MfS-Ausweis. In den Hotels und Bars der Messestadt Leipzig, die eleganten Westfrauen aus dem Osten, perfekt gekleidet, ihr Englisch im leicht warmem mitteldeutschen Klang, sächsisch oder thüringisch. Er wusste um die Sozialismus-Mätressen aus der Kaderschmiede der Partei, die nicht nur darin geschult waren, ihren Kurzzeit-Liebhabern nach dem Orgasmus zu schmeicheln und ihnen nebenbei weiter verwertbare betriebliche und familiäre Geheimnisse zu entlocken, sondern die vor ihren Einsätzen noch in einer Schönheitsklinik der Staatssicherheit bei Halle an der Saale körperlich aufgemotzt worden waren. Zwar ideologisch perfekt, galt es, kleine körperliche Mängel zu kaschieren: Beseitigung von Krähenfüßen, Brustvergrößerungen, Nasenoperationen. So waren die Ost-Mata-Haris auf dem Leipziger Messe-Parkett, verlockende Sehenswürdigkeiten und die Westmänner, wenn auch gewarnt, leichte Beute. Ihre Zielpersonen waren die Bosse aus Führungsetagen, mittelständische Unternehmer und Politiker, die sich alle umgarnen ließen, eingesponnen im Netz der Firma, die von Dienstreisen immer wieder zurückkehrten und, um Enthüllungen zu Hause zu entgehen, Informationen preisgaben, freiwillig oder erzwungen. Sie hatten sich eingelassen.

Er ernährt sich aus der Kaufhalle. Will kosten, auskosten. Er leistet es sich, für Pfennigbeträge. Hausmannskost als exotische Speise. Schmackhaft. Ein Experiment für einen, dem jederzeit, ein paar hundert Meter entfernt, alles serviert wird, chinesisch, kroatisch, türkisch, spanisch, japanisch und italienisch, an jeder Ecke. Die Stadt, die Weststadt als eine große Fressmeile von der Albertstraße bis zum Savignyplatz. Gleich neben dem Westberliner stern-Büro sein Italiener – das Il Sorriso: Pasta, Scampi vom Grill, Mozzarella, Vino Nobile aus Montepulciano, Vitello, Sabaglione, Tiramisu, Grappa, Vernacchia, Chianti Classico, Gran Sasso Primitivo Puglia aus Vendemmia.

Hier, im Osten, ein einziger Italiener mit sächsischem Koch und sächsischer Bedienung, Pizza mit Haufenbelag, Wein aus Rumänien – das Besondere für Devisen im Interhotel, in Leipzig am Ring. Müller weiß: er hat sich diesen Aufenthalt selbst verordnet. Er will dabei nicht nur, wie er sich immer wieder versichert, zurück in die Heimat, zu den Wurzeln. Er will fort aus seinem bisherigen Leben des Überflusses und des Überdrusses, der Sattheit, Gewohnheit mit allen Bequemlichkeiten.

Harald Schmitt – der Fotograf

Auf der anderen Seite wartet Harald Schmitt. Harald, der junge Fotograf, ein Dreißigjähriger, charmant, höflich, gute Manieren. Schmitt fühlt sich „in der Hauptstadt“, wie er Ostberlin nennt, heimisch. Seit zwei Jahren lebt er hier, zufrieden, wenig beschäftigt. Nick Barkow, der bisherige Korrespondent, Müllers Vorgänger, konnte nur wenige Geschichten platzieren, nachdem vor ihm Eva Windmöller und ihr Mann Thomas Höpker die DDR als kleinbürgerliche Idylle dargestellt hatten, ein biederes Land mit biederen Menschen – die Klorollen auf der Ablage ihrer Kleinwagen unter Häkeldeckchen verborgen, dickbäuchige Handwerker der Mangelwirtschaft, gemütliche Brigaden und Kleingärtner in ihren Wochenendhäusern, die sie, nach russischem Vorbild, Datschen nennen. Beschauliches Deutschland, nicht so ganz demokratisch, wissen wir, wollen wir, drüben, in der alten Bundesrepublik eigentlich auch gar nicht wissen. Es soll nur schlimm sein dort. Keine Freiheit.

Thomas Höpker hatte die DDR als das „langweiligste Land der Welt“ bezeichnet. Welch ein Irrtum. Die DDR ist spannend, aufregend, irritierend. Ein politisches Labor für den „real existierenden Sozialismus“, eine Diktatur, die Einparteienherrschaft der SED, ein Überwachungsstaat. Unverändert. Müller ist hier aufgewachsen. Ein Wiedersehen. Aufmärsche, Paraden, Kinder mit Pionierhalstüchern, die Hand zum Gruß an der Mütze, Jugendliche in blauen Hemden, massenhaft, bestellt, aufgestellt. Es wird marschiert, Tribünen mit dem Vorsitzenden der Genossen, dem Ministerrat. Militärkapelle. Parade mit den bewaffneten Streitkräften. Schmitt fotografiert das alles. Ohne Auftrag. Ein Chronist. Harald Schmitt kennt sich mittlerweile aus. Verhaltensregeln, Vorzüge, Vorschriften, Einschränkungen. Nach zwei Jahren beherrscht er den Alltag, weist den Neuen ein. Müller ist nicht fremd. Aber es sind alte Bilder, Erlebnisse, die 23 Jahre zurückliegen.

Schmitt ist ein Bildersammler, der Menschen mag, sich ihnen freundlich nähert, sie erkennt, für sich gewinnt, sie ermuntert, einen Augenblick in ihrem Leben. LPG-Bauern am Feldrain, unbekümmert fröhliche Jugendliche auf dem Weg nach Berlin, Maler in ihrem Atelier, Autobastler mit ihrem Trabant, Diplomaten staatsmännisch und den Staatsratsvorsitzenden in Afrika. Er denunziert nicht, er findet das Besondere. Dazu die Kuriositäten und Schäden dieses unbekannten Landes: Parolen, Schaufensterauslagen, Briketts auf Bürgersteigen, verdreckte Fabriken, verfallene Häuser. Schmitt und Müller – zwei Geschichtensucher auf dem Weg.

Die Demonstration

Der Ausnahmezustand. Ostberlin als Aufmarschplatz. Aus allen Teilen der DDR kommen die Demonstranten. In Sonderzügen, in Bussen, mit Mannschaftswagen. Am Vortag verschwinden die Datschenbesitzer in ihren Sommerhäusern am Stadtrand. Die Korrespondenten gönnen sich freie Tage. Am Vortag beginnen die Absperrungen von Straßen und Plätzen, bleiben die Geschäfte leer, gehört Ostberlin den Akteuren. Müller bleibt. Er will das Spektakel erleben, ein jährlich wiederkehrendes Großschauspiel, eine Massenveranstaltung von Tausenden, angeordnet, befohlen, militärischer Mummenschanz, offizielle Bedrohung.

Gefeiert werden nicht der 1. Mai, der Tag der Arbeit und der Arbeiter, nicht der Gründungstag der Deutschen Demokratischen Republik. Es sind die Tage der Macht, die Tage der Selbstdarstellung. Die Stadt ist erfüllt vom Widerhall der Marschschritte entlang der S-Bahn-Bögen, erfüllt von Kommandos, erfüllt von Gehorsam, Disziplin, Drill, sorgsam eingeübt, alles wie am Schnürchen. Es gibt sorgsam entwickelte Pläne, Erfahrungen, immer weiter verfeinert, Strukturen. Jeder an seinem Platz. Die Tribünen werden errichtet, die Tribünen für die Staats- und Parteiführung und für die Ehrengäste. Das Fuß-Volk der Fahnenschwenker und Mitläufer ist zu festgelegten Plätzen zitiert. Spätabends rollen Panzer mit Geschützen, Lafetten mit Raketen über die Karl-Marx-Allee, die einstige Stalin-Allee. Das Gerassel der Kettenfahrzeuge. Die Straße von Menschen leer.

Müller spürt Beklemmung, hat das Gefühl, als läge über Ostberlin eine bedrohliche Spannung, als herrsche Ausnahmezustand. Es sei eine Frage der Gewöhnung, erklärt Schmitt. Alles nur großes Brimborium.

Müller schläft mit den Geräuschen des Vor-Krieges ein, erwacht früh. Wieder Befehle, Schritte von Einheiten, Kompanien? Müller, ungedient, kennt sich nicht aus, ein militärisches Greenhorn. Am Morgen das Ritual, das große Theater. Die hohen Herren nehmen mit den Repräsentanten der Brudervölker auf den Tribünen Platz, genießen das Schauspiel winken jovial von oben herab – unter ihnen das Volk, das Teilvolk, mit Fahnen, Spruchbändern, Hochrufen. Kapellen ziehen vorüber, gedrillte Kampfgruppen, Soldaten der Nationalen Volksarmee mit ihrem Kriegsgerät.

Er erinnert sich an seine Zeit, als auch er 1950 nach der Gründung der DDR mit seinen Klassenkameraden zur Demonstration beordert wurde. Lehrer Sachse hatte ihn zusammen mit ein paar anderen dazu ausgewählt, dem Präsidenten das „Immer bereit!“ der Jungen Pioniere zu entbieten. In kurzen Hosen, mit weißem Hemd und dem Halstuch, das ihm die Großmutter sorgfältig zum Knoten gebunden hatte. Anständig hatte er aussehen sollen. Auf die Tribüne waren er und die anderen von Wilhelm Pieck, dem gemütlichen alten Mann mit der Entgegnung „Seid bereit!“ und Handschlag begrüßt worden. Dazu die Ermahnung, immer fleißig zu sein.

Der junge Dieter Müller, bürgerlicher Herkunft, war wie alle in die Kinderorganisation eingetreten, auf Empfehlung des Kriegsheimkehrers, Lehrer Sachse, und seiner Großeltern. Großvater und Großmutter wussten aus Erfahrung um die Notwendigkeit der Anpassung im totalitären System. Der Mann, der ihn in seine Obhut und seine Erziehung übernommen hatte, war wohlüberlegt in die Partei eingetreten, am Revers des grauen Anzugs das Abzeichen der NSDAP, zum Gruß das „Heil Hitler!“, um ohne Schwierigkeiten in seinem Laden weiter Zigaretten und Zigarren verkaufen zu können.

Nichts hat sich geändert. Der Großvater weiß, Diktaturen erfordern Strategien. Nach seiner Zeit bei den Pionieren tritt der Enkel in die FDJ ein, ein falsches Blauhemd-Bekenntnis zum Staat, das dem Kind aus eher suspektem bürgerlichem Milieu den Zutritt zur Oberschule erleichtern soll. Der kleine Müller erzählt der Großmutter zu Hause, es sei sehr schön gewesen. Der Präsident habe ihm über den Kopf gestreichelt. Damals war er noch ein dummer Junge. Und ging es ihnen jetzt nicht schon viel besser – nach dem Krieg? Und der Frieden war damals noch nicht wieder bewaffnet 

Kindheit in der DDR

Dieter Müller: Der Junge im Familienalbum, aufgenommen mit der Box-Kamera, unbeholfen schüchtern im großen Garten An der frohen Zukunft in Halle mit Oma und Dackel Lumpi. Spielkameraden gab es hier nicht, nicht an den Wochenenden mit Hefekuchen und Kaffee aus der Thermoskanne. Lumpi, Freund mit fliehenden Schlappohren im Rucksack auf dem Fahrrad. Später: Der Junge bei der Klassenreise in Wernigerode, zusammen mit anderen. Dazu Fotografien, die er selbst aufgenommen hat – Landschaften, Waldstimmungen. Regentage, Regennächte. Das Zelt durchlässig. Im Dunkel der Kopf in einer Wasserlache. Ärger mit dem Pfarrerssohn, Dombrowski, arrogant, eifersüchtig auf Müller, der, im Gegensatz zu Dombrowski, dem einsamen Orgelspieler, mit seinen Darbietungen am Flügel in der Schule Erfolg hat und selbst bei den Lehrern beliebt ist, deren Fächer er vernachlässigt.

Später: Der Junge nach dem Besuch der Steherrennen im Kurt-Wabbel-Stadion auf dem Fahrrad bei einem Radrennen, von der Schule veranstaltet. Müller hat als zweiter das Ziel erreicht, vor Klaus Kohl, dem Jungen mit dem Mecki-Haarschnitt, auf dem dritten Platz, ein Triumph des schlechten Geräteturners.

Alles gegenwärtig. Ich sehe den Kreiselplatz vor dem Haus, die Gärten, das Kind unterwegs mit dem Leiterwagen, hoch beladen mit Obst und Gemüse, die große Ernte im Herbst. Kilometer von der Frohen Zukunft und vom Krokusweg (zwei Gärten im Sozialismus!) in die Schleiermacherstraße. Ächzende Räder unter der Last. Der Junge an der Deichsel, die Früchte des Sommers zum Überwintern: Birnen und Kohl, Bohnen, Kartoffeln, Gurken, Tomaten. Der Geruch des Herbstes, von den Obststiegen im Keller, Regale voller Gläser, Marmelade und Gemüse, in einem großen grauen Topf auf dem Kohleherd eingeweckt, verschlossen mit Gummiringen.

Dieter Müller als Kind im Garten in Halle-Mötzlich

Besuch in Grünheide