für
Karoline und Jakob

© 2007 Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

Alle Rechte vorbehalten

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN: 9783954622139

www.mitteldeutscherverlag.de

Michael G. Fritz

Die Rivalen

Roman

Mitteldeutscher Verlag

Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Impressum

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Dank

I

1

Ich hatte ihn wiedergesehen, ich war sicher, daß ich ihn wiedergesehen hatte, auf der Friedrichstraße im Feierabendgedränge. Er stand mit einer jungen Frau vor dem Schaufenster eines dieser im Neonlicht strahlenden Verkaufspaläste von blinkendem Glas und Metall, von Sandstein, der so neu war, daß er noch keine Patina angesetzt hatte. Im dichten Regen, der schon nach Herbst roch, drängte wer nicht unbedingt weitermußte unter das schmale Dach. Ich tat, als musterte ich die Auslagen und studierte die Preisschilder, ohne die Beträge zu begreifen. Möglichst unauffällig schaute ich in seine Richtung, ich hatte mich nicht getäuscht: Wenige Meter neben mir unterhielt er sich mit der Frau an seinem Arm, die auf die ausgelegten Stücke deutete, was er jedesmal mit einem kehligen, tiefen Auflachen quittierte, das ansteckend wirkte. Hatte er damals schon so gelacht?

Er ist also wieder hier, aber vielleicht nur zu Besuch, als Tourist, versuchte ich meinem Gedanken, der wie eine Klingel in mir schellte, die hohen, spitzen Töne zu nehmen. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, daß man jemals als Tourist in den Ort zurückkehren kann, in dem man gelebt hat; man bleibt in ihm immer zu Hause, egal wohin es einen verschlägt, oder? Ich war nach dem Tod meiner Eltern vom Vorort in die Stadt gezogen, hinein nach Berlin. Das große Haus, mein Vaterhaus zu verkaufen, brachte ich nicht über mich, ich vermietete es an eine befreundete Familie, zu der mehrere Generationen gehörten, mit unüberschaubarer Mitgliederzahl.

Ich hätte ihn immer wiedererkannt, auch wenn ich mich nicht mehr an sein Lachen erinnerte. Nicht, daß er dick geworden wäre, er hatte zugesetzt, das Jackett spannte kräftig am Bauch, und die Haare waren dünn geworden. Davon bleibt man nicht verschont, wenn man sich in den Endvierzigern befindet – nicht mal Wilhelm. Er hatte nur Augen für die junge Frau an seinem Arm, deren Ohrringe, große an einer langen Kette hängende, in Silber gefaßte Perlen, ständig hin und her schaukelten. Sie war unverschämt jung, und ich mutmaßte nicht, daß sie seine Tochter gewesen war: So sieht kein Vater seine Tochter an. Sie trug Schwarz, Kleid, Strümpfe, die hochhackigen Schuhe – all das schwarz Schimmernde gab ihr eine nicht alltägliche Eleganz. Ob sie unterwegs zum Theater waren, vom Hotel zum Theater? Hatte Wilhelm nicht irgend etwas mit Büchern zu tun? Es paßte zu ihm, daß er hergekommen war, um die neuesten Inszenierungen kennenzulernen. Reisebüros überall in Deutschland warteten mit diesem Angebot auf: für ein paar hundert Euro ein verlängertes Wochenende zum Besuch der wichtigsten Bühnen der Hauptstadt, inklusive Stadtrundfahrt. Eine Stadtrundfahrt – ob Wilhelm so was mitmachte?

Erst reichlich spät fiel mir auf, eigentlich erst, als er mit seiner Begleitung in Richtung S-Bahnhof weitergeschlendert und der niederprasselnde Schauer einem Nieselregen, den man kaum spürte, gewichen war, daß ich gedankenverloren und beinahe allein – ich war tatsächlich der einzige Mann – in ein Schaufenster starrte, in dem Damenunterwäsche ausgestellt wurde: BHs, Höschen, Strumpfhalter und Stücke, für die ich keine Namen wußte, in duftigen Zusammenstellungen aus Rosa und Weiß und aus mondänem Schwarz.

Ich verlasse mich auf meine Mütze, eine mittlerweile abgewetzte Ledermütze, ein ungestaltes Etwas, das jedem Regen bis zu einem gewissen Grad Paroli bietet. Als Radfahrer kann ich Schirme nicht gebrauchen, wenn ich aber einen dabeigehabt und nicht hätte stehenbleiben müssen, ausgerechnet an dieser Stelle, ich hätte Wilhelm nie gesehen, er hätte sich nicht in mein Leben schleichen können. Oder hatte er mich gesucht?

Ich habe in Kreuzberg mein Büro, mein Heimweg führt mich jeden Tag die Friedrichstraße entlang zum S-Bahnhof. Um nichts in der Welt wollte ich wieder Wilhelm begegnen, den ich dorthin unterwegs vermutete, also bog ich schon Unter den Linden ab und schloß mich dem in Richtung Alexanderplatz treibenden Strom der Passanten an, den Blick auf das Muster der Gehwegplatten gerichtet, als gäbe es dort etwas zu finden, das mir weiterhilft. Aber ich nahm buchstäblich nichts wahr. Ich schaute während der Fahrt nicht aus dem Fenster der S-Bahn, fuhr nur meine Stationen herunter, deren Namen ich im Schlaf hätte hersagen können. Erst die ältere Frau neben mir auf der Bank, die mit jedem Biß laut berstendes Gebäck knabberte, was an kleine Explosionen erinnerte, bei denen ich mir die Ohren hätte zuhalten wollen, holte meine ganze Aufmerksamkeit zurück. Die Frau versuchte beflissen mit der offenen Hand, die Krümel abzufangen, was ihr gar nicht gelingen konnte; ihr Anorak, die Polster mit Kunststoffüberzug und der braune Fußboden zeigten einen hellen Teppich aus Krümeln, von dem ein süßlicher Geruch ausging. Ich stieg aus und suchte sie im Fenster, sie knabberte unentwegt auf eine geradezu verzweifelte Weise ihr Gebäck, als drohe ihr anderenfalls der Hungertod.

Zu Hause entledigte ich mich gar nicht erst meines Mantels oder meiner Schuhe, ich ging schnurstracks durch den Flur ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und schaute in den Spiegel, suchte darin mein Gesicht, das ich anschließend wusch, genauso wie meine Hände. Ich hatte das dringende Bedürfnis nach Wasser und Seife, es tat gut, den Tag sozusagen abzuspülen, ihn mit dem schäumenden Wasser im gurgelnden Abfluß verschwinden zu sehen. – Und wenn Wilhelm doch wieder hier war, und das nicht nur zu Besuch? Bei diesem Gedanken begegnete ich mir erneut im Spiegel, ich wollte das Bild wegwischen, wie man Spinnweben mit energischer Handbewegung aus dem Gesicht streicht, aber es blieb, blieb, blieb. Weshalb er wohl zurückgekommen war? Wenn er es auf mich abgesehen hatte, dann wahrscheinlich nicht, um mit mir ein Bier trinken zu gehen. Ich hatte seinen Namen überhaupt nicht mehr gehört, er erschien auf keinem unserer Klassentreffen, die wir wieder und wieder abhielten, als wollten wir nicht einsehen, daß uns ein Zufall zusammengeführt hatte und keine Fügung dahintersteckte, die uns ein Leben lang zusammenschweißen wollte. Es gab niemanden, der seinen Namen erwähnt hätte, er war tabu, was es nicht ganz trifft, tabu sein heißt ja verschweigen, wohinter man Absicht vermuten darf. Nein, Wilhelm war schlichtweg vergessen worden. Daß er vorhätte, in unseren Ort zurückzukehren, in den ich allein des Elternhauses wegen manchmal fuhr – ich hatte nichts dergleichen gehört.

Ich setzte mich in eine Ecke des Wohnzimmers, von der aus ich Karola hantieren sehen konnte, und schwankte zwischen ihrem weißen, sanft geschwungenen Hals, den die blonden Haare bei jeder ihrer Bewegung freilegten, und dem Fenster, entschloß mich dann, meinen Blick hinauszuschicken, wo unten auf den Gleisen die Lichter der S-Bahnen überraschend im Dunkeln auftauchten wie schimmernde Augen von Tieren. Ich saß ganz still und mußte nicht einmal den Kopf drehen, um drinnen und draußen gleichermaßen verfolgen zu können, ja es war ganz leicht möglich, drinnen und draußen, als wäre es ein Spiel, zu vertauschen. Ich saß in meinem Sessel auf den Schienen und erwartete die Begegnung mit diesen herangleitenden gelb-roten Tieren oder ritt bereits auf einem von ihnen und sah, indem ich in den Bahnhof rauschte, zu meinem Wohnblock hinauf, auf dessen Dach die Leuchtreklame grüßte, aus der ich nie schlau geworden war: Wofür warb sie eigentlich? In den erhellten Fenstern im zweiten Stock erkannte ich hinter den Stores niemand anderen als mich selbst. Der dunkle Fahrtwind schlug mir hart ins Gesicht, zog in die Augen, daß sie brannten und ich sie unwillkürlich schloß, während ich versuchte, Schubläden mit Etiketten für meine Gedanken zu finden. Es mußte so scheinen, als sei ich abwesend, ja grenzenlos erschöpft von meinem Tagwerk, und ich unternahm nichts, um diesen Eindruck zu korrigieren.

Ich vergaß, Karola beim Decken des Tisches zu helfen, was wir sonst gemeinsam erledigten; sie mußte mich bitten, Platz zu nehmen. Das Essen verlief auf so offensichtliche Weise einsilbig, daß sie sich schließlich erkundigte, ob ich krank sei. Sie zog ihre Brauen kraus, die Augen darunter verschickten prüfende Blicke.

Ich weiß nicht, war meine fahrig dahingeworfene Antwort. Vielleicht war ich krank, einfach nur krank, hatte sich ein rätselhaftes Virus in meinen Körper geschmuggelt, der bald mit lähmendem Fieber reagieren würde. Begann nicht schon meine Stirn zu glühen, ich tupfte meinen rechten Handrücken dagegen. Das Ergebnis lautete: Alles ist möglich.

Du arbeitest zuviel. Am besten, du gehst gleich ins Bett, rief sie mir beim Abräumen zu. Schlaf erst mal, Albert. Morgen sieht die Welt wieder anders aus.

Ob sie damit recht haben würde? Jedenfalls befolgte ich zu gern den Rat, um ihren Nachforschungen, die mit weiblicher Beharrlichkeit, wie ich wußte, wieder- und wiederkehren würden, nicht Rede und Antwort stehen zu müssen, hörte vom Schlafzimmer aus ihren leise über den Teppich huschenden Schritt, der aber bald in seinen gewohnt festen Trott wechselte, sah das Licht, das im rechten Winkel der Türritzen ins Zimmer drängte, und wie es abrupt erlosch. Ich verharrte auf dem Rücken, spürte an meinen übereinandergeschlagenen Füßen die Socken, die ich beim Einschlafen anbehalten hatte. Mit ihnen fühlte ich mich warm und im gleichen Maße sicher, konnte aber meine Gedanken, um zum Schlaf zu kommen, fortschicken, wohin ich wollte, sie ließen sich auf keine Reise ins Blaue ein, blieben an Wilhelm haften, als würden sie von ihm angezogen wie Eisenspäne von einem Magneten, war das die Krankheit?

2

Die Stimme rollte wie ein unablässig strömender Wasserschwall, rollte über den Platz und trieb die Mannschaft an der Seitenauslinie hoch und wieder runter. Kondition ist alles, schrie Meixner, das werdet ihr nie mehr vergessen, das A und O. Als gelte es, dem Spruch nomen est omen gerecht zu werden, endeten K. o. und A und O mit demselben beharrlich den Mund rundenden Vokal: Meixner war in seiner Jugend Boxer gewesen und hatte aus dieser Zeit ein zertrümmertes Nasenbein mitgebracht. Seine Stimme geriet in eine heisere Tonlage; obwohl ich weit entfernt war, bemerkte ich es genau.

Die Baracke, die sich in der prallen Sonne duckte und mir den Blick zum Platz versperrte, verströmte den aromatischen Dunst von heißem Holz, das man vor Zeiten mit Karbolineum getränkt hatte. Vom Dach tropfte mit leisem, langgezogenem Laut Teer in die vom Regen gegrabenen Rinnen im Sand. Ich lag im hohen Gras, brach einen Halm ab und kaute auf ihm herum, wobei ich versonnen in den Flutgraben stierte. Wilhelm neben mir stützte sich auf und steckte sich eine Club an. Er konnte es sich leisten zu rauchen, er war in der Mannschaft der schnellste über hundert Meter, selbst auf längeren Distanzen sah er nicht schlecht aus, auch wenn er sich bis zur letzten Runde bloß mitziehen ließ. Sobald er einen Zug von der Zigarette nahm, sprang eine dicke Ader aus seiner Stirn, die an eine Wurzel erinnerte, die sich unvermittelt aus dem Sandweg erhebt, eine Wurzel, der man mit dem Fahrrad am besten auswich. Er zerwedelte das helle Gekräusel seiner Zigarette, damit es vom Fußballplatz aus nicht gesehen werden konnte. Ich spuckte ins Wasser, ohne den Halm aus dem Mund zu nehmen. Die Spucke driftete ab, es wirkte, als stiege sie Absätze hinunter, Absätze wie winzige Stufen, von dahinjagenden Wellen gebildet, hinunter in den um die Ecke liegenden Zeuthner See, mit dem sie in die Spree strömte und mit ihr durch Berlin, das heißt, von dem einen Berlin ins andere, sozusagen durch die Mauer hindurch, darauf über Havel und Elbe die offene See zu erreichen. Damit sie nicht allein schwimmen mußte, schickte ich ihr gleich noch welche nach. Hatten die Hitze und der abschweifende Gedanke an Ferne und Meer, über dessen Wassergeglitzer kreischend Möwen strichen, mich in Bettinas Nähe gerückt? Jedenfalls schlüpfte mir ihr Name in den Kopf, wie ein scheues Tier sich sein Versteck sucht, richtete sich häuslich ein und wollte bleiben, wie lange? Ich sah aus den Augenwinkeln zu Wilhelm, der nochmals an der Zigarette zog, sie schließlich in der Erde versenkte. Er strich sich unruhig durch den Flaum auf seiner Oberlippe, und als gehorchten wir beide einer stummen Verabredung, geriet uns das Blut unkontrolliert in Fahrt und rötete die Gesichter, beulten sich die Hosen, daß sie zu eng wurden, worauf wir sie flugs, nachdem wir aufgestanden waren, auf die Knöchel beförderten, hoben mit der Linken das Jersey, ließen die Rechte schalten und walten, wie sie wollte: anfangs versonnen und scheinbar ziellos, begleitet von ängstlich Ausschau haltendem Blick, dann, eine stattliche Größe umfassend, die anscheinend nicht aufhören wollte zu wachsen, hastig dem bekannten Ende entgegen.

Paß auf, keuchte Wilhelm.

Was, fragte ich ärgerlich, was denn.

Eine Wette, paß auf, wer zuerst fertig ist, kriegt sie. Sie?

Ein für allemal, abgemacht?

War mir der Name nicht nur durch den Kopf, sondern über die Lippen gejagt, war er mir von der Stirn abzulesen, wie man ein Kainsmal erkennt – ich wußte keine Antwort. Doch wenn Wilhelm sie ebenfalls vor Augen hatte, wurde sie dadurch anders, veränderte sie sich? Kamen ihm vielleicht sogar die gleichen Bilder, wie sie sich auch bei mir einstellten? Bettina blieb trotz der beharrlich herandringenden Kommandos von Meixner, die einen auf die falsche Fährte hätten bringen können, ohne mein Zutun greifbar nah vor mir: Sie fuhr sich durchs lange schwarze Haar, lachte, dabei die Zähne entblößend, und bog sich zurück. Dorthin, wo eben noch meine Spucke ihre Reise in die Ferne begonnen hatte, entleerte ich mich mit rhythmisch plätscherndem Geräusch. Kam Wilhelm weiter? Er stopfte das Jersey wieder in die Hose. Wir sanken beide rücklings und schwer atmend ins Gras. Während er sich eine nächste Club griff und ansteckte, seine Hand den Rauch auseinanderwedelte, sagte ich: Unentschieden. Und weil er schwieg, zu lange schwieg, als zweifele er, fügte ich hinzu: Du kannst sagen, was du willst, gewonnen hast du nicht.

Weiß ich allein, entgegnete er, wobei die Ader auf seiner Stirn anschwoll.

Ich brach einen neuen Halm ab, der im Mundwinkel zu wippen begann. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, Bettina ihm zu überlassen, sie an einem heißen Nachmittag hinter der Vereinsbaracke zu verspielen, als hätten wir um sie gewürfelt. Bettina beschäftigte uns, seitdem sie hergezogen war, aufgetaucht aus dem Nichts, wenn man so will. Sie saß schräg vor mir, seit drei Jahren immer schräg rechts vor mir und zog meinen Blick unweigerlich von der Tafel oder vom Fenster weg, vor dem Kastanienbäume wogten, die scheppernd ihre Früchte gegen die Fensterbretter warfen. Wilhelms Stuhl war auf gleicher Höhe wie Bettinas, in der dritten Reihe, der Wandreihe; er brauchte seinen Kopf nur leicht zu drehen.

Wir rannten zurück auf den Platz, freilich mit weichen Knien, auf den Rücken die Netze voller Bälle, die wir holen sollten. Wir übten das Paßschlagen in den Lauf des Mitspielers; die Mannschaft stellte sich paarweise an, Wilhelm stürmte aufs Tor zu, ich gab ihm die Vorlage, er schloß mit einem Torschuß ab. In der nächsten Runde war ich an der Reihe, traf aber den Ball nicht voll und verzog ihn weit über das Tor. – Hoch lebe der Fußball! Meixners Stimme rollte krächzend über den Platz. Hoch, wiederholte er.

Jetzt das Spiel, zum Abschluß des Trainings endlich das Spiel, worauf alle gewartet hatten und das ungeahnte Kräfte an den Tag legte: Gerdchen dribbelte, wie nie gesehen, der hochaufgeschossene Krakow lief auf rechts mit seinen dünnen Beinen, was das Zeug hielt, paßte nach innen zu Wilhelm, der den ewig hackentrickprobierenden (und oft genug dabei scheiternden) Schulz stehen ließ, den ebenso zierlichen wie schnellen Schütte ausspielte, mir, dem Linksaußen, den Ball, wie es sich gehörte, tadellos in den Lauf schob. Ich brach zur Grundlinie durch und zog die Flanke akkurat auf Gerdchens Kopf. Flüchtig tastete mein Blick den Spielfeldrand nach Zuschauern ab, Pleschkat mit der Baskenmütze und seinen grauen Haaren, die im Nacken einen dicken Wulst bildeten, nickte anerkennend. Bald hatte Wilhelm seine Chance, als er sich den Ball von hinten holte, einen Doppelpaß mit Krakow spielte, aus fünfzehn Metern abzog und wie immer ins Schwarze traf. Bei Meixners Ruf: Für heute Feierabend, Männer, merkten wir plötzlich, daß wir schon im Dämmer gespielt hatten, und rannten auf den Eingang zu. Die Vereinsbaracke dröhnte vom Hämmern unserer Töppen auf den Dielen, wo uns der Geruch nach Bohnerwachs empfing. Die Dielen waren von Fußballschuhen blank getreten und hatten riefenartige Vertiefungen bekommen, in die hinein Reinigungsfrauen Mal um Mal Bohnerwachs gerieben hatten, die das Holz rutschig machten. Wir wuschen uns lärmend an Bottichen aus schrundigem Beton, Wassertropfen flossen zu Mustern im Wrasen der beschlagenen Scheiben.

Pleschkat, Pleschkat war immer da, er gehörte zum Verein wie der Trainer oder der Platzwart, dabei hatte er eigentlich keine Aufgaben. Wenn ein Auswärtiger jemanden suchte, hieß die Antwort: Gehen Sie erst mal zu Pleschkat. Er schob seine Baskenmütze in den Nakken und kratzte sich darauf die Stirn, ehe er sprach. Weshalb er eine Baskenmütze trug, die übrigens immer dieselbe und zwar unglaublich speckig war, hat nie jemand erfahren.

Ich ließ mir von ihm im Vorübergehen auf den Oberarm klopfen, was einer Auszeichnung gleichkam, die für mich schwerer wog als ein Lob von Meixner, viel schwerer, rief einen Gruß in den Raum und stieg auf mein Fahrrad. Ich fuhr auf den Wegen, die im Sommer, in heißen, trockenen Sommern wie weiße Bänder in die Dunkelheit gelegt schienen und leuchteten, als wären sie von Lampen bestrahlt, und deren Sand locker wurde, so locker, daß das Rad schlingerte, man wohl oder übel absteigen und bis zur Chaussee schieben mußte. Die Kopfweiden standen wie Wächter mit martialischem Werkzeug in der Hand.

Bettina war Pleschkats Tochter. Wer bei ihr Erfolg haben wollte, hatte den Vater für sich zu gewinnen – dann mußte man nicht nur irgendwas mit Fußball zu tun haben, sondern einiges auf seinem Rasen können. Obwohl Pleschkat, der aus Ostpreußen stammte und dessen Dialekt pomadig anmutete, mit Baskenmütze und grauem Haarwulst alles andere als einen sportlichen Eindruck machte, hatte er sich mit Leib und Seele dem Fußball verschrieben, und es gab im Verein nicht wenige, die ihn deshalb belächelten. Von Beruf war er Schuster, vom Schild über seinem Laden im Souterrain am Ende unserer Straße blätterte die Farbe ab, hörte aber nie auf zu verkünden: Eduard Pleschkat, Schuhmacherei.

Töppen seien die Ballettschuhe der Fußballspieler, so einer seiner Sprüche.

3

Wer etwas auf sich hielt, trug zum Schwimmen Dreieckbadehosen, zwei in Form jener geometrischen Figur gehaltene Tücher, die an einer Seite zusammengeknotet wurden, so schamlos knapp geschnitten, daß Fragen über den jeweiligen Inhalt nicht aufkamen: Hosen, wie gemacht für uns, um sie Bettina vorzuführen.

Ach herrje, hörten wir ihre näselnde Stimme, die immer klang, als wäre sie verschnupft. Und dann: Wenn euch nichts Besseres einfällt. Sie lag im Sand, drehte sich auf den Bauch und warf ihre Zöpfe auf den Rücken, mit weitausholender Geste den einen, dem der nächste folgte, und nahm sich ein Buch vor.

Wilhelm und ich hockten auf dem Stamm einer ins Wasser geschlagenen Weide, deren Krone ein paar Meter seewärts herausragte. Wilhelm tippte mit seinem Fuß in die gemächlich treibende Strömung: auf und ab, und brachte dabei den Baumstamm zum Schwingen, immer stärker auf und ab, während ich mich auf dem Stamm ausstreckte. Wilhelm wollte sich eine Zigarette anzünden, aber die Streichhölzer, die er in seine Badehose gesteckt hatte, waren angeblich naß geworden, er riß Holz um Holz an, keines brachte es zur Flamme, er schnippte sie nacheinander mit dem Mittelfinger ins Wasser. – Mist, rief er und lief über den wippenden Baumstamm zum Ufer, machte einen Satz in den Sand und kam neben Bettina zu liegen, was der eigentliche Zweck seines Manövers war. Er strich über den Flaum auf seiner Oberlippe, es sah aus, als müsse er überlegen, wie er vorzugehen habe, hob dann behutsam ihren Buchdeckel und buchstabierte absichtsvoll umständlich den Titel, den er dann zusammenhängend aussprach, In einem anderen Land. – Hemingway, sagte Bettina, was er so selbstverständlich mit Hemingway, beantwortete, als sei ihm dieser Name geläufig wie sein eigener. Jetzt hätte ich merken müssen, daß ihr Buch nicht allein die Brücke war, über die er sie erreichen wollte, sondern sozusagen auch ein Ziel. Aber mir ging es erst später, viel später auf. Ich beobachtete ihn argwöhnisch aus den Augenwinkeln, wie nebenher zog er mit seiner Hand über ihren Rücken, dort entlang, wo er eine sanfte Vertiefung bildet und Härchen bei behutsamer Berührung nicht anders können, als sich aufzurichten, führte den Mittelfinger vom Flaum des Nackens langsam über den Verschluß ihres Bikinis, den er leicht übersprang, wie ein Hürdenläufer eine Hürde nimmt, und steuerte weiter auf die sanft abfallende Senke zu, in sie hinein und unbeirrbar auf der anderen Seite zwischen den beiden Grübchen wieder hoch, bis zum Ansatz des Höschens, der die Ziellinie darstellen sollte. Das galt aber nicht für Wilhelm, den rastlosen Läufer, der nach dem Training gern eine Zusatzrunde übernahm, ach, was hieß Zusatzrunde, der noch zehntausend Meter lief, als wär’s nichts. Er schickte seine Hand weiter, langsam aber sicher, dabei gespannt auf jede Reaktion von Bettina lauernd. Sie hatte längst ihr Buch Buch sein gelassen, ihren Kopf seitlich auf das warme weiße Papier gelegt und zu lächeln begonnen. Wenn es ein Lächeln gibt, das man mit einem Zustand in Verbindung bringen kann, dem das Wort Zauber am ehesten nahekommt, dann durfte dieses hier getrost darunter verbucht werden. Die Blätter der Weiden, die aussahen wie Lanzenspitzen, klirrten metallen und kalt und plötzlich nah neben mir. Als sich Wilhelm allzu weit hinter die Ziellinie wagte und sich schon so bewegte, als fühle er sich dort zu Hause, sagte sie: Schön, wobei sie das Ö derart in die Länge dehnte, daß es mir in den Ohren dröhnte. Aber schöner wär’s, wenn Albert noch herkäme. Warum kommst du nicht endlich, rief sie.

Das kannst du nicht wollen, fuhr Wilhelm sie an, was Bettina mit ausgelassenem Lachen quittierte und sich abrupt auf den Rücken drehte, daß Wilhelm nichts anderes übrigblieb, als seine Hand möglichst schnell zurückzuziehen.

Warum nicht, meinte sie.

Hatte ich mich verhört? Ich verstand sie nicht, balancierte aber über den wippenden Weidenstamm und legte mich auf der anderen Seite neben Bettina. Während ich vorgab, in der Sonne zu dösen, raste mein Herz, ich konnte meine Hand nicht länger festhalten, die sich vorsichtig aufmachte, bekanntes Terrain zu durchstreifen, wo es indes immer wieder Neues zu entdecken galt, auf der Suche nach einem Geheimnis, tastete über nackte und schließlich bekleidete Haut, die unter meinen Fingern weich wurde. Als ich zum ersten Mal auf Wilhelm stieß, fragte ich mich beklommen, was Bettina eigentlich wollte. Ich erstarrte und wartete mit Schweiß auf der Stirn wie ein ertappter Einbrecher im Dunkeln, um nach der Störung das Werk ungehindert fortzusetzen, in der Hoffnung, nicht bemerkt worden zu sein. War ich der Einbrecher, oder Wilhelm?

Die Sonne, die sich auf ihren Zenit geschoben hatte, begann zu stechen, und in das blendende Blau des Himmels gerieten mehr und mehr dunkle Schlieren. Neben Bettinas Atemzügen, die aus den Tiefen ihres Körpers hervorstießen, waren von fern Motorboote zu hören: ein leises beständiges Sirren, das überall her kam. In der Bucht nebenan schrien Kinder, die sich zuvor mit Modder beworfen hatten, ihre Mütter drohten erst mit Prügel und versuchten, als das nichts half, die Kinder zu besänftigen. Ihr kricht Eis, ja, ja, Schoko.

Ich gehe rein, sagte Wilhelm. Wer kommt mit? rief er uns zu, um sofort hinzuzufügen: Los, Albert, wir schwimmen rüber.

Bettina brachte sich abrupt hoch, daß ihre Zöpfe wippten. Bist du verrückt, sagte sie, ist viel zu gefährlich.

Zögernd stand ich auf, suchte dabei ihren Blick, der an meinem haftenblieb und plötzlich in Spott umschlug, ich täuschte mich nicht: Es war Spott, mit dem sie mich überschüttete. Aber was sollte ich anderes machen als zu gehen, ich war ja schon aufgestanden, ich ging, ging Wilhelm hinterher, der mit einem Hechtsprung ins Wasser klatschte, und folgte ihm schließlich, auf Zehenspitzen ins Tiefe.

Verrückt seid ihr, verrückt. Bettinas näselnde Stimme, die über dem See schwebte, begleitete uns ein Stück hinaus. Das trübe, warme Wasser trieb allerlei gegen unsere Bäuche, vollgesogenes Laub, Äste und kleine harte Früchte der Erlen, ein toter Fisch tauchte auf, der leichte Beute einer Möwe wurde, die sich unmittelbar hinter uns auf ihn stürzte.

Es dauerte, ehe wir die Mitte des Sees erreicht hatten, der hier Lastkähne trug; mit Seilen verbunden, ähnelten sie Zügen, die wie auf Gleisen ihrer festen Route folgten, dabei an der Spitze Rauch spien, als wären sie Lokomotiven, und drohend dumpfe, langgestreckte Töne ausstießen, in kurzer Folge, immer wieder. Meinten sie uns? Wir schwammen ihnen aus dem Weg und erlebten sehr deutlich den Sog, mit dem die Kähne uns an sie zu binden versuchten, an ihren Kiel, wo die rotierenden Schiffsschrauben das Wasser in unentwegtem gurgelnden Aufruhr hielten, jenen Sog, gegen den wir ankämpften und dem wir schließlich entkamen. Es war, als würde ein unsichtbares Band, das uns festhielt, abrupt gekappt, jeder darauffolgende Schwimmstoß brachte uns weiter voran als bisher.

Meine Kräfte waren mir abhanden gekommen, im Lärm der Motoren und dem schäumenden Rauschen suchten meine Arme nach Halt, tasteten meine Beine vergeblich nach den Balken im Wasser. Ich blieb auf der Stelle und machte nur die nötigsten Bewegungen, um nicht völlig in den Wellen zu versinken. Links, rechts strichen Segelboote pfeilschnell vorüber – ob sie mich bemerkten? –, die wie weiße Wimpel leuchteten und mir die Sicht auf Wilhelm versperrten. Wo war Wilhelm? Paddler, Motorboote stoben auseinander und fort, überhaupt sah plötzlich alles zu, daß es Land gewann. Erst spät bemerkte ich den Schatten, der über mich gezogen war, ich drehte mich auf den Rücken, die Glut der Sonne hatte ihr Ende hinter Wolken gefunden, die, von stumpfem Schwefelgelb, über mir standen. Von dort drang ein langgezogenes Raunen, das den Wind anzufachen und das Wasser in Wallung zu bringen schien, die Wellen trugen Schaumkronen und rollten von jeder Seite auf mich zu. Das Schwefelgelb wurde von Blitzstößen durchzuckt, elektrische Flammen, die die Wolken in eine Feuersbrunst zu verwandeln drohten, die, ich war sicher, sich auf mich herabsenken würde. Ich schwamm, das Ufer vor Augen, so schnell ich konnte. Als ich es im strömenden Regen erreichte, lehnte Wilhelm am Pfahl eines Schildes, auf dem es hieß: Berlin, Hauptstadt der DDR. Er schaute in die Ferne, an mir vorbei. Ich faßte Fuß im nachgebenden Untergrund und schlurfte zum etwas erhöhten Ufer, das ich über die herausragenden Wurzeln der Bäume erstieg. Es waren Kiefern, deren rote Borke sich abschälte und im Wind flatterte.

Wilhelm empfing mich mit den Worten: Schon gehört, was bei den Tschechen los ist.

Ich sackte zitternd unter das Schild und sah den Tropfen zu, die aus meinen Haaren fielen und zwischen meinen aufgestellten Schenkeln eine Pfütze bildeten, die sich so weit ausbreitete, daß ich in ihr saß.

Bei den Tschechen? – Ich zuckte verloren mit den Schultern.

Kam heute morgen in den Nachrichten. Die Russen sind einmarschiert, wir natürlich mit.

4