Hinweise zur Edition

Der Text „Die Abschaffung der Buchzensur durch Klaus Höpcke. Oder doch nicht?“ von Siegfried Lokatis erschien in leicht anderer Form erstmals 2003 unter dem Titel „Inwiefern hatte die Abschaffung der Zensur Züge einer politischen Reform?“ in: Detlef Nakath, Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.): Entweder es geht demokratisch – oder es geht nicht. Klaus Höpcke: ‚Bücherminister‘ der DDR, Parlamentarier in Thüringen, unbotmäßiger Streiter für sozialistische Politik. Kolloquium anlässlich seines 70. Geburtstags im November 2003, Schkeuditz: GNN-Verlag, 2004, S. 55 – 60.

Die Erinnerungen von Christine Horn wurden bereits 1993 in anderer Form unter dem Titel „Irrgarten. Über Zensur und Staatssicherheit. Ein Gespräch mit Frauke Meyer-Gosau“ veröffentlicht in: Feinderklärung. Literatur und Staatssicherheitsdienst. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik, 1993, S. 43 – 44.

Der Beitrag von Carmen Laux wurde erstmals publiziert in: Eyk Henze und Patricia F. Zeckert (Hg.): Flachware. Fußnoten der Leipziger Buchwissenschaft. Leipzig: Plöttner, 2010, S. 185 – 196.

Der Beitrag von Konstantin Ulmer wurde erstmals publiziert in Deutsch-deutscher Literaturaustausch. Deutschland Archiv, Heft 8/​9, Bielefeld: W. Bertelsmann, 2012. Der Beitrag „Vorbilder und Renegaten“ von Benedikt Jager ist ein Auszug aus der sich im Osloer Akademika-Forlag in Vorbereitung befindenden Monographie Norsk litteratur bak muren. Publikasjons- og sensurhistorie von Benedikt Jager.

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2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783954622788

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

VORSPIEL

Entdeckungsreisen ins Leseland Siegfried Lokatis

Staatliche Literaturaufsicht, Themenplan und Druckgenehmigungsverfahren: „Seinerzeit dachten wir an Schadensbegrenzung“ Innensicht einer Sektorleiterin Christine Horn

ERFAHRUNGEN

Pin Gu macht Erfahrungen. Das Zensurgeschehen im Rudolstädter Greifenverlag Romy Kupfer

„Von der Produktionsreportage bin ich für einige Jahre geheilt“. Die Geschichte von Nolls „Närrischem Nest“ Carmen Laux

Angeknabberte Tabus. Das Genre der Autobiographie und die Zensur in der DDR Siegfried Lokatis

Kann man sein Leben lang die Wahrheit verleugnen? Das sozialistische Weltbild der DDR-Autorin Hedda Zinner Jana Rahders

Mit viel Herzblut durch die Zensur. Erwin Strittmatters Kampf um die Veröffentlichung des „Wundertäter III“ Camila Vargas

Erst rechts, dann links. Wie der Leipziger Schriftsteller Kurt Herwarth Ball deutsche Geschichte schrieb Freya Leinemann

Die Suche nach dem wunderbunten Selbst. Franz Fühmann und das Märchen vom Scheitern Eike Gosch

PRÄGUNGEN

Der Umgang mit den Gebrüdern Grimm und Hans Christian Andersen oder Wie kritisch war die Zensurbehörde gegenüber Märchen? Viktoria Sauer

Der kleine Muck läuft der Zensur davon. Über den Umgang mit den Märchen Wilhelm Hauffs in der DDR Lisa Zimmermann

Der Dickkopf der Lakota-Tashina. Liselotte Welskopf-Henrich und die Zensurgeschichte zum Roman „Die Söhne der Großen Bärin“ Anne Ploetz

Gratwanderung der Science-Fiction-Autoren in der DDR. Zwischen Erfüllung der kulturpolitischen Forderungen und Nutzung der Literatur als Mittel zur Systemkritik Elisa Bieberstedt

GRENZGÄNGE

Ein Loch im literarischen Schutzwall. Die Publikationskontroverse um die Luchterhand-Ausgabe von Anna Seghers’ „Das siebte Kreuz“ im Jahr nach dem Mauerbau Konstantin Ulmer

Keine „gängige Konfektionsware“: Die Literaturkritiken von Kurt Batt über westdeutsche Prosa in der „Neuen Deutschen Literatur“ von 1963 bis 1966 Kerstin Schmidt

Geliebt, verachtet und wieder verehrt. Christa Wolf und die Politisierung ihrer Literatur Nora Hoffbauer

9.000 Meilen unter dem Bitterfelder Weg. Der real existierende Australismus des Joachim Specht Patricia F. Zeckert

Vorbilder und Renegaten. Probleme mit der norwegischen Literatur in der DDR Benedikt Jager

GEGENWARTSKRITIK

Konsequent aus Liebe zum Kind. Wie Alfred Wellm die Romanfigur Wanzka gegen das DDR-Schulsystem antreten ließ Constanze Schelten-Peterssen

Ein Hang zur Provokation. Der Weg zur Veröffentlichung von Heinz Czechowskis Anthologie „Brücken des Lebens“ Ina Hantschke

Ein Hofnarr des Sozialismus. Der Schriftsteller Martin Stade in der DDR Jan König

Aus technischen Gründen verzögert. Stefan Heym im Buchverlag Der Morgen Jan König

Vom Autor zum Herausgeber. Günter de Bruyns „Versuch intellektueller Emanzipierung“ Christina Mergel

Spreewaldfahrten viel Dampf um nichts? Landolf Scherzers zu realistische Reportage über ein Kohlekraftwerk Alex König

ENDSPIELE

Von fallenden Engeln und aufsteigenden Göttern. Über den schwierigen Weg der Veröffentlichung von Stefan Heyms „Ahasver“ in der DDR Klaus Geißler

Wenn Steine den Weg verändern. Vom Frontenwechsel der jungen DDR-Autorin Gabriele Eckart Jenny Schönherr

„Bis hierher konnte ich mitgehen weiter nicht!“ Hanns Cibulkas Werk im Spiegel der Gutachten Ann-Kathrin Reichardt

Der Mythos vom plebejisch unverfälschten Leben. Daniela Dahn auf Tour durch den Prenzlauer Berg Lisa Drukewitz

Die Abschaffung der Buchzensur durch Klaus Höpcke. Oder doch nicht? Ein exemplarisches Modell für Umverteilung von Macht Siegfried Lokatis

ANHANG

Zu den Autorinnen und Autoren

Abkürzungen

Dank

Fußnoten

Siegfried Lokatis

Entdeckungsreisen ins Leseland

Die DDR-Literatur gleicht einem versunkenen Kontinent, aber wie müßig, mit den Veteranen des „Leselandes“ darüber zu klagen: über das trostlose „Schicksal der DDR-Verlage“1, 11.000 vernichtete Bibliotheken und vermüllte Büchermassen. Unbekannte Kontinente bieten den Vorteil, dass sie zu Entdeckungsreisen einladen: in die gewaltigen Archen der heroischen Bücherretter Pfarrer Martin Weskott und Peter Sodann nach Katlenburg oder Staucha, in die Labyrinthe der Bücherdörfer und Antiquariate, in die vergilbten Kisten und Schränke der Großeltern oder – ganz staubfrei – sogar in die Geheimnisse der, weltweit einzigartig, online zugänglichen Zensurakten im Berliner Bundesarchiv.2

Dazu braucht es zwei Dinge, wozu dieses Buch verhelfen möchte: Neugier und ein wenig Orientierung.

Vor zwanzig Jahren genügte es noch zu schreiben, dass jetzt endlich die geheimen Zensurvorgänge zu dem Buche x von diesem oder jenem Autor gelüftet würden, und man konnte wenigstens in den ostdeutschen Regionen zuversichtlich mit einem gewissen öffentlichen Interesse rechnen, das über die engeren germanistischen Kreise hinausging. Kein Wunder nach drei Jahrzehnten „Literaturgesellschaft“ mehr oder weniger „lesender Arbeiter“, in der für Romane Auflagenhöhen von 20.000 Stück eher die Regel als die Ausnahme waren! Inzwischen ist die Erinnerung selbst an die Sterne erster Ordnung bei der nachgewachsenen Generation stark verblasst: ein wichtiger Grund für dieses Buch, das ursprünglich aus Seminaren der Leipziger Buchwissenschaft gewachsen ist, wo Studenten DDR-Literatur neu für sich entdecken konnten.

Es geht um die Geschichte von Autoren, die unter sehr restriktiven Bedingungen ihre Texte publizierten, sodass diese ohne Erläuterung des historischen Kontexts nicht leicht gelesen werden können. Die Autoren agierten in höchst unterschiedlichen Phasen und ideologischen Großwetterlagen einer langen Geschichte der DDR, zu der sie nolens volens in einem so gespannten wie spannendem Verhältnis standen: institutionalisiert durch den Zwang zur Zensur, also das staatliche Druckgenehmigungsverfahren der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur der DDR.

Deren Geschichte und Arbeitsweise ist im Allgemeinen zwar längst erforscht3, doch birgt immer noch jeder einzelne Fall neue und überraschende Aspekte.4 Allgemein gilt die Faustregel, dass Zensurentscheidungen im Alltag oft Verhandlungssache waren, weil ideologisch-politische mit künstlerisch-ästhetischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten austariert werden mussten. Das war letztlich auf den Zielkonflikt zurückzuführen, dass die HV Verlage und Buchhandel zugleich Zensurstelle und ökonomische Planzentrale war, denn jede Zensurmaßnahme schnitt finanziell dem zentral gesteuerten Verlagssystem in das eigene Fleisch. Es wurde strenger entschieden, wenn das Papier knapp wurde oder gar kostbare Devisen auf dem Spiel standen, großzügig dagegen, wenn solche zu verdienen oder die Manuskripte knapp waren.

Für den einzelnen Schriftsteller hing viel davon ab, dass er einflussreiche und engagierte Verbündete fand, vielleicht einen Lektor wie Kurt Batt im Hinstorff-Verlag der 1970er Jahre oder einen tapferen Cheflektor wie Heinfried Henniger, der Stefan Heym die Türen zum Buchverlag Der Morgen öffnete. Nachwuchsautoren, nicht nur „schreibende Arbeiter“ wie Joachim Specht, sondern auch ein Günter de Bruyn, wurden von den Lektoren des Mitteldeutschen Verlags, des 1959 durch die Bitterfelder Konferenz berühmt gewordenen „Leitverlags für sozialistische Gegenwartsliteratur“ so fürsorglich wie übervorsichtig betreut.

Wie das gesamte Verlagssystem der DDR waren auch die Belletristik-Verlage arbeitsteilig organisiert und verwalteten jeweils bestimmte Spezialgebiete. So war der FDJ-Verlag Neues Leben auf Jugendliteratur und Science Fiction spezialisiert, ein Gebiet, das er sich mit dem Krimi-Verlag Neues Berlin teilte. Eulenspiegel war für Humor und Satire, Volk und Welt als Leitverlag für die internationale Gegenwartsliteratur zuständig. Da sich die Tätigkeitsfelder der größten Verlage wie Aufbau und Reclam ohnehin überschnitten und die Verlage der Blockparteien, der Verlag der Nation wie der Buchverlag Der Morgen, aber auch Provinzunternehmen wie der Greifenverlag in Rudolstadt oder der Hinstorff-Verlag in Rostock gern aus der Reihe tanzten und das von der Zensur gewünschte klare Profil vermissen ließen, war es für Autoren durchaus möglich, den Verlag zu wechseln. Das größte Ansehen verschaffte ihnen natürlich der Aufbau-Verlag, der auch seit den Zeiten des Kulturbund-Chefs Erich Wendt und des Kulturministers Johannes R. Becher, gestützt auf den Ruhm von Autoren wie Bert Brecht, Anna Seghers und Erwin Strittmatter traditionell über die besten politischen Verbindungen verfügte. Der Debütant Dieter Noll pocht sogar noch nach seinem Wechsel zum Reclam-Verlag auf seine guten Verbindungen zum Aufbau-Verlag und glaubt, dass Zensureinwände für ihn deshalb keine Rolle spielen könnten, eine Naivität, die allerdings so nur in den frühen 1950er Jahre denkbar ist. Schließlich zieht Dieter Noll es vor, das Genre zu wechseln: Statt undankbare Industriereportagen zu schreiben, spezialisiert er sich auf den Kriegsroman und verfasst Die Abenteuer des Werner Holt, bis heute ein Muster für einschlägige Fernsehproduktionen wie Unsere Mütter, unsere Väter.

In den 1950er Jahren ging es bei der Zensurbehörde noch recht abenteuerlich zu. Sie wechselte mehrfach Namen und Kompetenzbereich und stürzte von einer Verlegenheit in die nächste. Die Studie über das Schicksal des Greifen-Almanachs gibt einen guten Eindruck von ihrer Tätigkeit und der Unberechenbarkeit der Zensurkriterien. Die ganz persönliche Sichtweise einer ehemaligen Sektorleiterin der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, Christine Horn, liefert hierzu elementare Informationen und zeigt auch die schützende Intention der Zensorensprache.

Eine von Zensur durchherrschte Gesellschaft bedarf nicht der Metapher eines „kulturellen Gedächtnisses“, um zu bestimmen, worüber man auf welche Weise reden und schreiben konnte. Die systematische Vorzensur verwaltete einen Vorrat mehr oder weniger strikter Spielregeln und Sprachregelungen, der sich im Lauf der Jahrzehnte änderte. Beinahe bis zuletzt galten die absurden, jeder erinnerten Erfahrung widersprechenden Tabus für den Umgang mit der unmittelbaren Vorgeschichte der DDR in NS- und Nachkriegszeit. An ihnen war wenig zu ändern, weil sie die Legitimation der SED-Führung und strikte sowjetische Vorgaben betrafen. So hatte das geheime Zusatzabkommen zum Hitler-Stalin-Pakt genauso wenig stattgefunden wie die „Schrecken der Befreiung“ durch die Rote Armee. Erwin Strittmatter knabberte tapfer an diesem letzten Tabu, hatte aber seine eigene SS-Vergangenheit zu verbergen. Über die Erinnerungen legten sich wie Mehlstaub als „typisch“ und vorbildlich akzeptierte antifaschistische Erzählmuster, wie das vom Verlag der Nation kultivierte Genre der für ehemalige Wehrmachtsangehörige bestimmten „Wandlungsliteratur“, die verführte Hitlerjungen seriell zu guten Sozialisten werden ließ. Selbst ein notorisch antisemitischer Hetzer wie Kurt Herwarth Ball konnte auf dieser Basis in der DDR Schriftstellerkarriere machen. Das vom Zensor verordnete Schweigen hatte vor allem auch die Erinnerung der kommunistischen Sowjetunion-Heimkehrer an Stalins Verbrechen im Orkus versenkt. Die Genossin Hedda Zinner versucht sich erst 1990, mit vier Jahrzehnten Verspätung, an die Zeit der „Säuberungen“ und des GULAG zu erinnern, doch es will ihr nicht mehr recht gelingen.

In der „Erziehungsdiktatur“ DDR wurde der Kinder- und Jugendliteratur größte Bedeutung beigemessen. Aber berührte und veränderte die Zensur selbst eine so klassische, unpolitisch-harmlose Form wie die der Märchen von Grimm, Andersen oder Hauff? Was Bücher für Kinder und Jugendliche anbelangt, wird der langjährige Karl-May-Ersatz der DDR, die Indianerbücher von Liselotte Welskopf-Henrich, eine Rolle spielen. Es wird aber auch gezeigt, wie ein ganzes Genre, die Science-Fiction-Literatur, zunächst nach ideologischen Bedürfnissen ausgerichtet wurde, um sich erst seit den 1970er Jahren von der Zensur zu emanzipieren.

Was Schreiben in einem geteilten Land5 bedeutete, veranschaulichen die Texte über Anna Seghers, Kurt Batt und Christa Wolf. Die Rezeption und Publikationsmöglichkeit von Texten aus der DDR in Westdeutschland bildet, wie etwa die Beiträge zu Stefan Heym und Gabriele Eckart zeigen, ein wiederkehrendes Grundmotiv.

Die schöne Literatur öffnete auch „Fenster zur Welt“, weshalb sich die einschlägig spezialisierten Verlage wie Volk und Welt, Reclam und Hinstorff bei den Lesern besonderer Beliebtheit erfreuten. Exzessive Lektüre als Ersatz für versperrte Reisemöglichkeiten6 war, wie unter anderem Studien über die französische, schwedische, italienische und amerikanische Literatur7 gezeigt haben, eine ganz typische Funktion von Literatur in der DDR. Allerdings wurde Weltliteratur, egal welcher Herkunft, wie durch ein hocheffizientes Virenabwehrsystem von der Zensur zu einem jeweils höchst eigenartigen Kanon geformt. Eine erste Kostprobe aus einer größeren Monographie zur norwegischen Literatur in der DDR8 gibt darüber beispielhaft Aufschluss. Wie sehr die Begeisterung für die internationale Literatur unmittelbar von der Abgeschlossenheit durch die Mauer abhing, wird am Beispiel des Australien-Experten Joachim Specht verdeutlicht, ein in der DDR vielgelesener Bestseller-Autor, dessen Werk mit dem Mauerfall schlagartig in Vergessenheit geraten ist.

Paradoxerweise wird der schönen Literatur in der DDR trotz der Zensurherrschaft mit großem Recht die Funktion einer kritischen literarischen Öffentlichkeit zugesprochen, in der vieles gesagt wurde, was in den Zeitungen nicht zu lesen war. Für die Bürger der DDR war das eine so lebenswichtige wie selbstverständliche Erfahrung, die sie lehrte, auch zwischen den Zeilen zu lesen und für welche Büchern es sich lohnte, in der Volksbuchhandlung Schlange zu stehen. Alfred Wellm, Heinz Czechowski, Martin Stade und Landolf Scherzer, Günter de Bruyn, Stefan Heym und Franz Fühmann, in den 1980er Jahren Daniela Dahn, Hans Cibulka und Gabriele Eckart waren solche Autoren, über die man entsprechend interessante Bedenken in den Gutachten ihrer Zensoren findet. Die Akten zeigen nicht nur konkret die kritische Funktion von Gegenwartsliteratur in der DDR, wie sie sensible Fragen vom schulischen Alltag bis hin zum Umweltschutz thematisierte, sondern vor allem auch, wieso solche Bücher, oft erst nach heftigen internen Disputen und Kompromissen, überhaupt gedruckt werden konnten.

Welch ein Kontrast zur heutigen digitalen Beliebigkeit, dass solche Texte außerordentlich ernst genommen wurden, ganz in der Logik der Zensur als potenziell staatsgefährdend – und waren sie das nicht wirklich? Dem Untergang der DDR ging zum 1. Januar 1989 die Abschaffung der systematischen Vorzensur durch das Druckgenehmigungsverfahren voraus. Damit war der Weg frei für den interessantesten Jahrgang der DDR-Buchproduktion 1990, gespickt voll mit Titeln, die jahrzehntelang nicht erscheinen und nun endlich auf gutem Papier gedruckt werden konnten. Paradoxerweise war es ausgerechnet dieser Jahrgang, der von den Kunden zugunsten der westdeutschen Bücher bestreikt wurde und ungelesen auf den Müllkippen landete. Es gibt noch einiges zu entdecken.

Christine Horn

Staatliche Literaturaufsicht, Themenplan und Druckgenehmigungsverfahren

„Seinerzeit dachten wir an Schadensbegrenzung“ – Innensicht einer Sektorleiterin

Es fällt mir nicht leicht, über eine Tätigkeit zu sprechen, die nunmehr einer allgemeinen Verurteilung ausgesetzt ist. Ich musste mich auch in den Zustand einer relativen Unbefangenheit begeben, um Worte und Wendungen zu gebrauchen, die zum Alltag dieser Tätigkeit gehörten. Wenn ich das Thema meines Beitrags mit staatlicher Literaturaufsicht benenne und zunächst nicht mit Zensur, so deshalb, weil die Zensur, wie sie von der HV Verlage und Buchhandel ausgeübt wurde, in zahlreiche staatliche Aufgaben eingebunden war – die durchaus auch den Charakter von Pflege und Förderung von Kultur und Kunst hatten –, sollte damit ja auch die erfolgreiche sozialistische Entwicklung demonstriert und unterstützt werden. Hatte man sich also mit diesen – gutmeinenden oder naiven – Absichten in diese Tätigkeit begeben, merkte man nach geraumer Zeit und entsprechenden Erfahrungen, dass die „Lenkung und Leitung kultureller bzw. literarischer Prozesse“, bezogen auf künstlerische Tätigkeit und künstlerische Werke, nicht zu realisieren war.

Es lief auf Bevormundung und Reglementierung hinaus, die freundlich oder unfreundlich, scheinbar zufällig oder willkürlich, oftmals undurchschaubar für den Betroffenen ausgeübt wurde. Und die Kontrolle von literarischen Manuskripten hatte nichts mehr damit zu tun – wie ursprünglich zumindest aus verständlichen Gründen als Verfassungsauftrag formuliert –, dass militaristische, rassistische, faschistische oder antihumanistische Gedanken in Kunst und Literatur keinen Platz finden sollten. Es ging letztlich um die Unterbindung von Literatur, die sich kritisch mit der Geschichte und dem aktuellen Verlauf des Sozialismus auseinandersetzte.

Wenn ich im Folgenden etwas zu der Tätigkeit, die ich ausgeübt habe, sage, so ist das eine Art Erlebnisbericht, eine ergänzende Innensicht zu zahlreichen Außensichten.

Zunächst aber einige Fakten: Die HV Verlage und Buchhandel war Teil des Ministeriums für Kultur. Sie bestand aus den Abteilungen Ökonomie, Literaturpropaganda und Vertrieb, Literatureinfuhr und -ausfuhr, Fach- und wissenschaftliche Literatur, Belletristik-, Kunst- und Musikliteratur, der Personalabteilung und dem Bereich des Leiters der HV Verlage und Buchhandel (Stellvertretender Minister).

Die HV Verlage war u. a. zuständig für die ideologische Anleitung und Kontrolle aller ihr unterstellten Einrichtungen, für die Papierzuteilung, Gewinnabführung, Titelplanung, Erteilung der Druckgenehmigung von schließlich 78 Verlagen, darunter 22 belletristische, Kinder- und Jugendbuchverlage.

Produziert wurden jährlich zuletzt insgesamt ca. 6.000 Buchtitel, darunter (inklusive Auslandsliteratur, Erbe, Kinder- und Jugendliteratur, Kunst- und Musikliteratur) 2.000 an Belletristik. Von den jährlich etwa 500 Titeln DDR-Gegenwartsliteratur, für die ich zuständig war, waren ungefähr 200 Erstauflagen und 300 Nachauflagen. Ein Lyrikband wurde mit ca. 2.000 bis 4.000 Exemplaren herausgebracht, ein Debütant mit 8.000 bis 10.000 Exemplaren, bei einem bekannten und gefragten Autor wurden 40-, 60- oder 80.000 Exemplare angesetzt, was bei Christa Wolf bei weitem nicht der Nachfrage entsprach, aber innerhalb der materiellen Möglichkeiten des Verlages schon eine hohe Auflage war. Natürlich gab es aus ideologischen Gründen begrenzte Auflagen, z. B. bei Stefan Heym, wenn Titel überhaupt erschienen: 10.000 oder 20.000 Auflage, mehr wurde zumeist nicht genehmigt.

Papier für Buchdruck war kontingentiert. Dabei gab es viele Ärgernisse, die wir ständig zur Sprache brachten, ohne Änderungen zu erzwingen: Papier für Parteibroschüren und Bücher, die nicht gekauft wurden, Papier für Mitdrucke für Verlage außerhalb der DDR, Direktverkauf von Papier, um schnelles Geld zu machen usw.

Die Abteilung Belletristik, Kunst- und Musikliteratur arbeitete wie die anderen Abteilungen der HV auf der Grundlage von Arbeitsordnungen und Direktiven des Ministeriums für Kultur bzw. des Ministerrates, für die inhaltlich-ideologische Arbeit waren die Beschlüsse der Partei und die Orientierungen der Abteilung Kultur des ZK der SED maßgeblich. Die Rede ist hier von Orientierungen, denn die Partei konnte einer staatlichen Einrichtung keine Weisungen erteilen. Sie stützte sich auf die Tatsache, dass die meisten Mitarbeiter des Ministeriums Genossen waren und diese in ihrem Verhalten und in ihrer Tätigkeit den ideologischen Vorgaben und der Parteidisziplin verpflichtet waren.

Die Abteilung Belletristik galt innerhalb des Ministeriums als zuständig für alles, was schöne Literatur betraf: Konzeptionen oder Rededispositionen und Ausarbeitungen für den Minister oder für die Kulturabteilung, Vorschläge für Literaturpreise, Mitarbeit bei Ausstellungen und Messen, Vorschläge für Stipendien des Kulturfonds, die Zusammenarbeit mit Medien, Künstlerverbänden, Universitäten und Literaturwissenschaftlern, die Anleitung der Bezirksliteraturzentren, die Abstimmung mit dem Büro für Urheberrechte und Übersetzerseminare. Vor allem aber war sie zuständig für die inhaltliche Arbeit der Verlage, d. h. für Planung und Koordinierung der Buchproduktion, der Entwicklung von Manuskripten in der Zusammenarbeit von Autor und Verlag. Das betraf auch Formen und Intensität der Lektoratsarbeit, die Prüfung der eingereichten Manuskripte und die Erteilung der Druckgenehmigung.

Das alles war ein Geflecht von engagiertem Beteiligtsein seitens der Mitarbeiter der Abteilung am Literaturgeschehen und ständigem Hineinreden in die Arbeit von Autoren und Verlagen bis zu Eingriffen in das fertige Manuskript.

Für die Verlage, die vor allem Gegenwartsliteratur herausgaben, galt innerhalb der Abt. Belletristik der Sektor DDR-Literatur als zuständig. Ich war seit 1979 Sektorleiterin für diesen Bereich mit fünf bis sechs Mitarbeitern, die jeweils für einzelne Verlage und die von diesen eingereichten Manuskripte zuständig waren. Über vielfältige Kontakte mit der Arbeit im Verlag vertraut, nahmen wir an Planberatungen, Lektoratssitzungen und Autorenberatungen teil. Die meisten Autoren wussten, wer wir waren, wo wir arbeiteten und was wir taten. Wir wurden von einigen Autoren mit Zurückhaltung, von wenigen mit Misstrauen betrachtet, zu vielen hatten wir Kontakt. Ich meine hier in aller Unbefangenheit, dass wir, das heißt die meisten Mitarbeiter der Abteilung Belletristik, unsere Tätigkeit so verstanden, alles zu tun, dass die von den Autoren geschriebenen und von den Verlagen angenommenen Manuskripte als Bücher erschienen. Ich will an zwei Arbeitsvorgängen darstellen, welche Probleme und Absurditäten damit verbunden waren. Es handelt sich um die Themenplanung und die Erteilung der Druckgenehmigung.

Themenplanung oder Titelplanung hieß, dass die Verlage jeweils ein Jahr vor dem vorgesehenen Erscheinungstermin über ihre Vorhaben informierten. Das geschah so, dass jeder Verlag für jeden Titel eine Karteikarte einreichte, mit Angaben über Autor, Titel, vorgesehene Auflage und einer Annotation über den Inhalt des Buches. Diese Angaben wurden von uns zusammengefügt, und es entstand eine Übersicht über alle jeweils im folgenden Jahr vorgesehenen Buchpublikationen, Erstauflagen und Nachauflagen, diese ohne Annotation. Angesichts des Planungssystems der DDR hatte das auch eine ökonomische Komponente, die ich hier nicht weiter betrachten will. Ein von der HV Verlage und Buchhandel bestätigter Themenplan war die Voraussetzung dafür, dass für die angegebenen Titel die Druckgenehmigung eingereicht werden konnte. Diese Druckgenehmigung wiederum musste den Druckereien vorgelegt werden. Ohne sie durfte kein Buch gedruckt werden.

Dieser Themenplan wurde zunächst im Sektor und in der Abteilung geprüft und mit einer Einschätzung des jeweiligen Sektorleiters versehen. Das Vertrackte an dieser Einschätzung war, dass gewünscht und verlangt wurde, Tendenzen der künftig zu erwartenden Bücher zu fixieren. Dies erwies sich jedoch als unmöglich, da die Bücher zum Teil noch nicht fertig geschrieben waren.

Themenplan und Einschätzung wurden dann in zahlreichen Gremien mit der Zielstellung beraten, dass fast alle mit Literatur befassten Institutionen über neue Bücher informiert werden sollten und die Meinung kluger Leute über Vorhaben, Themen, Entwicklungen, Leserinteressen herausgefordert werde, auch um rationell zu arbeiten, Interessen zusammenzuführen, Doppelentwicklungen zu vermeiden.

Zugleich war es auf „diesem demokratischen Wege“ auch möglich, nicht gewünschte Titel oder Autoren auszusondern. Das funktionierte aber im Allgemeinen nicht, wussten doch alle Beteiligten um die Brisanz des vorgelegten Papiers. Die im Kulturbereich Tätigen, ob Lektor und Verlagsleiter, Literaturwissenschaftler, Buchhändler oder Funktionär, bildeten keinen monolithischen Block. Neben einigen unverbesserlichen Dogmatikern gab es kenntnisreiche, kluge Leute, die sich für künstlerische Freiheit, humanistische Werte und demokratische Verfahrensweisen im Kulturbereich einsetzten. Beratungsgremien hatten die Leitung der HV Verlage inne, Literaturarbeitsgemeinschaften mit Vertretern aller Verlage, Zeitschriftenredaktionen, wissenschaftliche Institutionen, die Akademie der Künste, Schriftstellerverband, Bibliotheken, die Leitung des Ministeriums für Kultur und die Kulturabteilung der SED. Letztere galt als der sensible Punkt und alles lief darauf hinaus, Themenplan, Einschätzung und Beratungsergebnisse so zu formulieren, dass deren Zustimmung erlangt wurde.

Unter diesem Aspekt sah ich mir also den Autor, den Titel und die Annotation eines Themenplanes an. Angesichts jahrelanger Erfahrungen, dass bereits eine allzu ehrliche oder spektakuläre Annotation die misstrauische Aufmerksamkeit der Kulturabteilung auf einen Autor oder Titel richten könnte, versuchten wir alles, um bestimmte Inhaltsangaben mit Zustimmung des Verlages zu „entschärfen“. Selbst ein Buchtitel, vom Verlag oft noch als „Arbeitstitel“ kaschiert, konnte Misstrauen hervorrufen. Das geschah z. B. beim ursprünglichen Titel von Fries’ Buch „Verlegung des Reiches der Mitte“. Alle möglichen Leute wurden hellhörig – die Chinesen galten im Allgemeinen als gut unterrichtete Leute –, sodass wir Autor und Verlag nahelegten, den Titel zu ändern. Es wurde daraus Verlegung eines mittleren Reiches, was dem Buch keinen Abbruch tat, aber sein Erscheinen ohne größere Komplikationen sicherte. Aus heutiger Sicht erscheint das lächerlich, ist es sicher auch, seinerzeit dachten wir an Schadensbegrenzung.

Ich wusste auch, dass manche Auflagenhöhen mit Misstrauen betrachtet wurden, z. B. wenn bestimmte Autoren in populären Reihen wie der „Romanzeitung“ mit hohen Auflagen von 95.000 erscheinen sollten. Dann gab es Diskussionen mit den Verlagen. Christoph Heins Der fremde Freund wurde aus solchen Gründen in dieser Edition verschoben.

Die „Ausgewogenheit“ eines solchen Planes spielte dahingehend eine Rolle, dass Titel, die den Wertvorstellungen des „realen Sozialismus“ entsprachen, einige „kritische Autoren“ aufwiegen und ihre Bücher letztlich „verkraftet“ werden konnten. Eine absolut wirklichkeits- und literaturfremde Vorstellung führender Genossen – aber sie existierte.

So enthielt der 1988 für 1989 aufgestellte Plan u. a. Der Weg nach Obliadooh von Fritz Rudolf Fries, Kohlenkutte von Paul Gratzik, Leben im Winter von Klaus Schlesinger und Schuld der Worte von Gert Neumann – alles Bücher, die Jahre zuvor in der BRD erschienen waren. Wir diskutierten, dass diese inzwischen, angesichts der zahlreichen in der DDR publizierten Bücher mit ähnlicher Thematik, ein Diskussionsangebot darstellten, das endlich zur Kenntnis genommen werden müsse. Darunter befanden sich auch Bücher, die von den Verlagen Jahr für Jahr für eine Veröffentlichung vorgesehen waren, oftmals aber bereits auf dem Wege in den Plan zurückgestellt wurden. Das war vorauseilender Gehorsam unsererseits, aber ich muss aus heutiger Kenntnis und damaligen Vermutungen auch annehmen, dass Einflüsse und Einflüsterungen der Staatssicherheit hier eine Rolle spielten.

Die Literatur der DDR, insbesondere die der letzten 15 Jahre, ist nach meiner Auffassung nicht ohne weiteres in staatstragend affirmative und kritische bzw. systemkritische Bücher einzuteilen. Es gab kaum noch einen Autor, der sich nicht kritisch mit der Geschichte und Gegenwart des „realen Sozialismus“ auseinandersetzte – mit unterschiedlichem künstlerischen Vermögen, unterschiedlicher künstlerischer Intensität und unterschiedlichem weltanschaulichen Standpunkt. Sicher galt es dabei als Anliegen, Verbesserung des Bestehenden oder dessen Ablehnung schon herauszulesen.

Das aber waren genau die Pole, die wir in unseren Einschätzungen nicht herausarbeiteten. Versuche, ehrlicher darzulegen, was in der Literatur an Entwicklungen vor sich ging, wurden zurückgewiesen, bzw. merkten wir, dass damit Gefährdungen für Autoren und Bücher verbunden waren.

Ich muss heute vermuten, dass Einschätzungen von anderer Seite vorlagen, die Literatur und ihre Urheber in feindliche und weniger feindliche Gruppen einteilten. Ich hatte immer das Gefühl, dass unseren Einschätzungen mit unterschwelligem Misstrauen begegnet wurde, dass sie aber für die offizielle Version von Bündnispolitik und Befriedung brauchbar waren. Auch Literaturwissenschaftler wie Prof. Dieter Schlenstedt oder Prof. Karin Hirdina versuchten, sehr präzise Positionen der Literatur herauszuarbeiten, mit dem Ergebnis, dass der Überbringer der Botschaft in Verruf geriet. Und Analysen des Instituts für Gesellschaftswissenschaften, die auch nach Veränderungen in der Kulturpolitik drängten, verschwanden offensichtlich in den Panzerschränken der Kulturabteilung.

Ich bin von der Beschreibung des Themenplan-Vorgangs abgewichen. Ich konnte ein geplantes Verlagsvorhaben wegen inhaltlicher oder autorenpolitischer Bedenken nicht ohne weiteres aus dem Plan herausnehmen. Was heißt Bedenken: Es gab Parteiversammlungen oder Informationen aus Dienstbesprechungen, aus denen wir wussten, dass von Funktionären der Partei oder anderen Persönlichkeiten mit bestimmten Machtbefugnissen Einwände zu Büchern oder Autoren geäußert worden waren. Das geschah kaum öffentlich, noch weniger schriftlich. Das geschah in Form von parteilichen Einschätzungen, Unterstellungen, „Besorgnissen“. Ich würde heute sagen, es war eine Form schleichender Denunziation. Das konnte auch dann geschehen, wenn ein Autor sich irgendwie „anstößig“ geäußert hatte, in der Presse oder bei Lesungen. Je nach Reaktion und Interessenlage konnte man das ignorieren, hatte man aber keine überzeugenden Argumente, setzte man sich dem Vorwurf der Provokation aus, und Plan und Einschätzung wurden dann besonders kritisch unter die Lupe genommen.

Die Herausnahme eines Vorhabens aus dem Plan hatte Konsequenzen: Meist bestand ein Verlagsvertrag, der Verlag wurde vertragsbrüchig und Konflikte zwischen Verlag und Autor waren vorprogrammiert. Der Verlag wiederum war angehalten, den Vertragsbruch auf sich zu nehmen und ihn zu begründen. Diese Praxis war infam und wir haben sie – wenn auch widerwillig – mitgetragen. Wie so vieles anderes. Allerdings wurden auch vielerlei Tricks versucht, solcherart Konflikte zu vermeiden. Zum Beispiel hatte jeder Plan einen Anhang, in den jeder Verlag sogenannte Freititel aufführte, also Vorhaben ohne Titel, Autor und Annotation. Grund war zunächst, dass es mehrere Vorhaben gab, die bis zum kommenden Jahr fertig werden konnten, und eine bestimmte Flexibilität angestrebt war. Man konnte hier aber auch den einen oder anderen Titel verstecken, den man nicht unbedingt in die Diskussion bringen wollte. Dieser wurde dann per Plannachtrag eingebracht.

Die Beratungen der Themenpläne in der Kulturabteilung des ZK der SED verliefen in freundschaftlich gespannter Atmosphäre. 1988 nahm ich daran teil. Das war das Jahr nach dem X. Schriftstellerkongress, und ich hatte das Gefühl, dass manche Fragen zur Literaturentwicklung spürbar weniger aggressiv formuliert wurden als die Jahre zuvor. Zum Beispiel waren wir immer aufgefordert, etwas zu unternehmen, damit mehr Bücher über die Arbeiterklasse, Entwicklungen in der Landwirtschaft oder zur Verteidigungsbereitschaft geschrieben würden. Dennoch gab es auch diesmal die Aufforderung, bestimmte Vorhaben „sehr genau anzusehen“. Das betraf beispielsweise Christoph Heins Tangospieler. In der gleichen Weise sind wir jedes Jahr auf unsere besondere Verantwortung bei der Herausgabe der Bücher von Stefan Heym und Volker Braun, Christa Wolf und Jurek Becker, Richard Pietraß und Uwe Kolbe – um nur einige zu nennen – hingewiesen worden. Wenn wir auch nicht alle in diesen Beratungen geäußerten Empfehlungen ernst nahmen, die Hinweise zu solchen Autoren mussten wir ernst nehmen. Es wurden dazu zu gegebener Zeit Informationen oder Stellungnahmen erwartet, und die Art und Weise unserer Argumentation konnte das Erscheinen sichern oder gefährden.

Dabei spielte in den letzten Jahren die Angst vor dem Vorwurf des „Berufsverbots“ von Autoren, deren Bücher nicht gedruckt wurden, eine gewisse Rolle, auch das vielbeschworene „Bündnis von Partei und Künstlern“ sollte aufrechterhalten werden. Unter diesem Aspekt wurden auch Schriftsteller, die humanistischen Werten verpflichtet waren, stärker respektiert. Ich will diese Werteskala hier nicht interpretieren, es bedeutete aber, dass die Elle sozialistisch-realistischer Literatur, so sie überhaupt einmal praktikabel war, für die Bewertung der meisten Bücher von DDR-Autoren nicht mehr handhabbar war.

Auch die Kulturabteilung musste, wollte sie nicht in die absolute Isolierung geraten, vielfältige Interessen berücksichtigen: literarische, autorenpolitische, kulturpolitische und internationale. Dazu gehörte auch, dass Schriftsteller, die in der BRD oder im Ausland mit einem DDR-Pass lebten, mit ihren neuen Büchern vorgestellt wurden oder Nachauflagen erhielten, allerdings nach langen Erwägungen.

Auffällig war für mich an dieser Beratung 1988, dass mit größter Empfindlichkeit auf die Titel reagiert wurde, die als Übersetzungen aus der Sowjetunion vorgesehen waren. Das betraf z. B. die Herausgabe Granins Sie nannten ihn Ur, Dudinzews Weiße Gewänder und Rybakows Kinder des Arbat. Wir hatten jetzt die schizophrene Situation, dass es die Zustimmung der Sowjetunion zu Fragen gab, an deren Behandlung früher gar nicht zu denken war. Damit würden wir auch „weiße Flecken“ bei uns freigeben. Kommentiert wurde das mit dem Satz: „Wir sollten keine Dinge aus der sowjetischen Geschichte aufarbeiten, die uns nicht zustehen.“ Dahinter stand die Abwehrhaltung gegenüber allem, was mit der Perestroika zu tun hatte. In den Verlagen und auch in der HV Verlage herrschte dazu eine andere Meinung. Es bedurfte eines Aufwandes von Absprachen, Stellungnahmen, Gutachten, um die Veröffentlichung solcher Bücher durchzusetzen, die sich dann bis ins Jahr 1989 hinzog.

Von der Kulturabteilung wurden in allgemeinen keine Verbote zu den Veröffentlichungsvorhaben der Verlage ausgesprochen, verantwortlich für die Veröffentlichung war die HV Verlage. In Form von Erwägungen, Empfehlungen, Ermahnungen, Hinweisen wurde der Themenplan befürwortet. Es blieb ein Schwebezustand. Schriftliche Zustimmungen oder Ablehnungen gab es kaum.

Nach diesem Zeremoniell wurde den Verlagen der Themenplan bestätigt, wobei es vorkam, dass man einen Titel aus der Bestätigung herausnahm, wenn die Empfehlung der Kulturabteilung zu nachdrücklich war. In moderaterer Form konnte der Titel als Nachtrag im Laufe des Jahres aber eventuell wieder aufgenommen werden. Da dies bemerkt wurde, waren wir in den letzten Jahren angehalten, solcherart Nachträge im Laufe des Jahres aufzulisten und der Kulturabeilung mitzuteilen – das betraf auch die Besetzung der erwähnten Freititel. Wenn wir dies auch mehrfach vergaßen, manchmal kam man nicht umhin, dieser Aufforderung nachzukommen.

Die Bestätigung der Themenpläne war die Voraussetzung dafür, dass die Verlage für die geplanten Titel, sobald sie im Verlag fertiggestellt waren, die Druckgenehmigung einreichen konnten. Die Praxis der Verlagsarbeit in der DDR war so beschaffen, dass ein Autor im Allgemeinen einen Stammverlag hatte, mit dem er zusammenarbeitete, mit dem er seine Vorhaben, z. T. als gedankliches Vorhaben bzw. in Form einer Konzeption oder als erste Manuskriptseiten anbot. War der Verlag an dem Vorhaben interessiert, gab es Vorverträge, die mit der Vergabe von Fördermitteln verbunden waren, wofür die Verlage besondere Fonds besaßen.

Darüber hinaus existierten Mittel des Kulturfonds für Vorhaben, die besonders aufwendige Recherchen erforderten, oder für den Fall, dass Autoren über keine Einkünfte verfügten. Die Mittel wurden im Allgemeinen großzügig vergeben, und ich meine damit nicht nach der Höhe (300 – 800 Mark). Es wurde keine Parteiliteratur unterstützt, sondern vor allem junge Autoren, Werke, die wichtig erschienen, die Talent erkennen ließen. Soweit ich mich entsinne, waren darunter auch solche, die heute mit literarischen Preisen ausgezeichnet werden. So mancher Autor, der sich hilfesuchend an mich wandte und Unterstützung erhielt, gehörte auch zur sogenannten „Szene“. Es war möglich, dies ohne größere Information zu tun. Natürlich wurde diese Unterstützung auch als „Bestechung“ abgelehnt. Ich will das ganze Feld der verlegerischen Entwicklungsarbeit hier nicht ausbreiten. Nur so viel: Die Vorstellung, ein Buch in enger Zusammenarbeit zwischen Autor und Lektor zu schreiben, hatte sicher historische und ideologische Gründe, und es war sicher in dem einen oder anderen Fall vorteilhaft, so zu verfahren. Zugleich lagen bei diesem Verfahren Förderung und Bevormundung nahe beieinander, und jeder Autor, der etwas auf sich hielt, entzog sich dem, indem er versuchte, dem Verlag ein möglichst fertiges Manuskript anzubieten. Auch dann gab es genügend Debatten und Veränderungswünsche seitens des Verlages, sprachlich-literarische und ideologische Dinge. War der Verlag also der Meinung, ein Manuskript in einen veröffentlichungsreifen Zustand gebracht zu haben, stellte er bei der HV Verlage den Antrag auf Druckgenehmigung. Zu diesem Antrag gehörten eine Stellungnahme des Verlages, ein oder zwei Gutachten und das Manuskript. Das Manuskript wurde von dem jeweils zuständigen Mitarbeiter der Abt. Belletristik gelesen. Gab es keine Einwände, wurde die Druckgenehmigung abgezeichnet und über den Sektorleiter dem Abteilungsleiter zur Unterschrift vorgelegt. So wurde im Sektor DDR-Literatur bei jährlich ca. 220 Erstauflagen mit 93 bis 95 % verfahren.

Was geschah mit den restlichen schätzungsweise 7 bis 5 %, also mit ca. 12 bis 15 Manuskripten im Jahr? Bei diesen Manuskripten herrschten Einwände vor. Gab es dafür Richtlinien, einen Index oder dergleichen? Nein. Es waren Erfahrungswerte, die die Grundlage für Einsprüche darstellten. Erfahrungen also, die aus vorangegangenen Buch- und Manuskriptdiskussionen hervorgegangen waren, die mehr oder weniger intern als Abteilungs- oder Parteiveranstaltungen stattfanden und natürlich auch die Einschätzung von Parteitagen, Literaturkritiken usw. widerspiegelten. Die Diskussionen und Ergebnisse des XI. Plenums waren Fixpunkte, die man beim Lesen eines Manuskripts im Kopf hatte. Ich selbst wurde 1965 Mitarbeiterin der HV Verlage. Das Kaninchen bin ich von Manfred Bieler war die erste Manuskriptdiskussion, die ich so erlebte. Das Manuskript war zunächst druckgenehmigt worden, vor Erscheinen des Buches erfolgte jedoch Einspruch – aufgrund von vermeintlichen Angriffen gegen das Rechtswesen und fehlerhafter Darstellung individueller Problemlagen. Wirbel entstand auch im Zusammenhang mit dem Film. Jedenfalls wurde der Mitarbeiterin gehörig der Kopf gewaschen und wir alle angehalten, künftig parteilich und aufmerksam jedes Manuskript zu beurteilen und keine gegen den Sozialismus gerichteten Positionen in der Literatur zuzulassen. So vage waren meist die Orientierungen. Wir waren als Genossen aufgefordert, auf der Grundlage unseres Wissens, unserer Parteilichkeit und der jeweiligen Orientierungen herauszufinden, ob ein Manuskript dem Sozialismus nütze oder schade. Es war aber so, dass die meisten Genossen der Abt. Belletristik mit den Verlautbarungen des XI. Plenums und weiterer kulturpolitischer Edikte nicht einverstanden waren. Wir hatten andere Vorstellungen von einer sozialistischen Kulturpolitik, ein anderes Literaturverständnis, andere Vorstellungen vom Umgang mit den kritikwürdigen Seiten dieser Gesellschaft. Allerdings kam es nicht zu Protesten, jedenfalls zu keinen öffentlichen.

Daraus ergab sich jedoch auch die Schizophrenie, mit der wir unsere Tätigkeit ausübten: alles zu versuchen, aus Manuskripten fertige Bücher zu machen, dabei gesellschaftlich sensible Darstellungen aufzuspüren und sie dem Autor und dem Verlag zur Veränderung anheimzustellen, mit der Zielstellung, dass ein Kompromiss gefunden werde, der die Veröffentlichung rechtfertigt. Das geschah natürlich auf Kosten der Autoren. Wir wussten, dass jeder Autor mit Spannung auf die Erteilung der Druckgenehmigung wartete, und jeder Einwand – sei er nur auf ein Wort oder einen Satz gerichtet – griff in die Kompetenz, in das literarische Anliegen eines Autors ein. Solche, manchmal im Nachhinein auch komisch wirkenden Änderungen demonstrierten, dass die Zensurbehörde ihrer Aufsichts- und Erziehungspflicht weitgehend nachgekommen war und gemeinsam mit dem Verlag und dem Autor einen Kompromiss erreicht hatte. Konnten solche Aktivitäten nachgewiesen werden, durfte man Nachsicht erwarten. Dahinter stand die kulturpolitische Vorstellung, dass ein Schriftsteller und ein Buch mithilfe ideologisch standhafter Wegbegleiter auf den rechten Weg gebracht werden könnten. Für uns war es eine Art Überlebensstrategie fürs Büchermachen, für die Autoren war es Gängelei und Bevormundung. Zu diesen Riten gehörte auch, dass es strategisch nicht vorteilhaft war, ein Manuskript besonders zu loben oder zu verteidigen. Bei Stellungnahmen und Gutachten, die für die Kulturabteilung verfasst wurden, war es zweckmäßig, ein kritisches Urteil zum vorliegenden Manuskript zu präsentieren und dann aus politischen, kultur- oder autorenpolitischen Gründen für eine Veröffentlichung zu plädieren. Das mag dem heutigen Leser von Gutachten widersinnig erscheinen, war es auch, funktionierte aber in einem bestimmten Maße. Es war auch nicht besonders günstig, literarische Kriterien ins Feld zu führen – Personensprache, Anliegen, Gesamtaussage –, das wurde als intellektuelle Spinnerei abgetan. Jeder Satz wurde beim Wort genommen.

Oftmals gelang es also mit pragmatischen Begründungen, für viele Bücher die Erlaubnis der Kulturabteilung zur Druckgenehmigung zu erhalten, um einmal der Informationspflicht zu genügen und sie damit zugleich in die Verantwortung mit einzubeziehen. Warum war das notwendig? Man sollte nicht außer Acht lassen, dass die HV Verlage im Ministerium für Kultur zwar die Behörde für Druckgenehmigung und Zensur war, Zensur aber gesamtgesellschaftlich ausgeübt wurde.

Jeder, der glaubte, im „gesellschaftlichen Interesse“ zu denken und zu handeln – das Wort wurde von Volker Braun im Hinze-Kunze-Roman sarkastisch aufgenommen –, konnte sein Missfallen über ein veröffentlichtes Buch oder ein zur Kenntnis gelangtes Vorhaben äußern. Die Informationswege konnten Vorabdrucke, Autorenlesungen aber auch Informationen über die Staatssicherheit sein. Waren es Leute oder Institutionen mit einem bestimmten Machtvolumen, dann wurden daraus erhebliche Behinderungen für eine Nachauflage oder eine Veröffentlichung.

Einsprüche zu bestimmten Themen, Darstellungen oder Passagen in literarischen Werken kamen oder konnte man erwarten von den SED-Bezirksleitungen sowie den Ministerien für Volksbildung, Gesundheitswesen, Auswärtige Angelegenheiten, Nationale Verteidigung, Umweltschutz, Staatssicherheit; vom Institut für Marxismus-Leninismus, dem Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer, Diplomatischen Vertretungen und Kombinatsdirektoren.

Der Vorgang zum Werder-Buch von Gabriele Eckart ist ein bizarres Beispiel für die gesellschaftlichen Antriebe von Zensur. Gabriele Eckart erhielt von der FDJ den Auftrag, über die Menschen im Zentralen Jugendobjekt „Havelobst“ Werder bei Potsdam zu schreiben. So entstanden sehr subjektive, aussagefähige Porträts von Arbeitern, Funktionären, Jugendlichen, die Aufschluss über Probleme, Sorgen, aber auch Erfolge der dort arbeitenden Menschen geben. Eine Mitarbeiterin der Abt. Kultur des ZK der SED übernahm die Betreuung des Vorhabens, womit sich die Autorin wohl einverstanden erklärte. Schließlich wurden im Buch alle Bereiche der Gesellschaft öffentlich gemacht. Der Buchverlag Der Morgen übernahm die Herausgabe des Buches, übergab uns aber vor der Einreichung das Manuskript zur Beratung – ein Vorgang, der in Ausnahmefällen stattfand. So saßen also Kulturabteilung, HV Verlage und der Verlag gemeinsam mit der Autorin am Manuskript, um herauszufinden, ob man dies so belassen könne oder nicht. In dieser Phase beabsichtigte die Zeitschrift „Sinn und Form“ eine Vorveröffentlichung von drei Porträts und der Chefredakteur Max Walter Schulz ließ sich von diesem Vorhaben auch nicht abbringen. Die Porträts erschienen, und die Bezirksleitung Potsdam begann ihre Attacke gegen alle, die an diesem Vorhaben beteiligt waren, bis zu den Interviewpartnern, die dann angeblich ihre Zustimmung zu einer Veröffentlichung nicht gegeben hatten bzw. sie zurückzogen. Es kam zu einer Politbürositzung, in der allen an diesem Objekt Beteiligten mehr oder weniger feindliche Aktivitäten bescheinigt wurden. Das Buch erschien dann in Köln bei Kiepenheuer & Witsch.