Titelbild

Carsten Jahnke

Die Hanse

Reclam

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RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960502-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019206-1

www.reclam.de

Inhalt

1 Einleitung

Eine Hansedefinition im Mittelalter?

Das Bild der Hanse im 19. und 20. Jahrhundert

Ein neues Bild der Hanse

2 Die Anfänge der Hanse

Die Voraussetzungen

Einige zentrale Ereignisse

Die »Kaufleute der Hanse aus Deutschland« im Norden Europas

Entwicklungen im Inneren

Die deutsche Hanse

3 Die Waren der Hanse

Die Waren aus dem Ostseeraum

Waren des Nordseeraumes

Waren, die im Hanseraum produziert wurden

4 Wie funktionierte der hansische Handel?

Die hansische Lösung: Das Netzwerk

Wie werde ich ein Kaufmann?

Wie werde ich erfolgreich, und wie bleibe ich es?

Handelshäuser und Kaufmannsdynastien?

5 Die Hanse als Institution und Organisation

Von den Kontoren zur Deutschen Hanse

Die Hansetage

Die Mitglieder der Hanse

Die Kontore

Die Deutsche Hanse: Ein Staat im Staate?

6 Die Entwicklung der Hanse

Von der Kaufmanns- zur Städtehanse

»Hansekriege«? Die Kriege gegen Waldemar Atterdag von Dänemark als Beispiel

Die Hanse und Piraten

Die Hanse als Machtfaktor?

Die Hanse im Wandel: Wirtschaft und Politik im 15. Jahrhundert

7 Die Hanse, ein Auslaufmodell?

8 Nicht mehr hansisch, dafür hanseatisch: Das Weiterleben alter Traditionen in neuem Gewand in Lübeck, Hamburg und Bremen

9 Die Hanse: Versuch einer Bilanz

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

1 Einleitung

In Deutschland kennen wohl die meisten Menschen die Hanse, und für viele, wenn nicht die meisten von ihnen, ist die Hanse etwas sehr Positives. Nicht nur Städte nennen sich stolz Hansestädte, auch Unternehmen von der Lufthansa bis zu Hansaplast, von Hansano bis zum Hansataxi und selbst Pizzabäcker und Fußballvereine nehmen die Hanse für sich in Anspruch. Bei so viel Präsenz müsste es ja eigentlich klar sein, was dieser Begriff bedeutet, müsste es eine Erklärung dafür geben, was die Hanse eigentlich war.

Doch schaut man in die Forschungsliteratur zu diesem Thema und befragt man Historiker hierzu, wird schnell deutlich, dass bei der Hanse nur eines klar ist: nämlich das, was sie nicht war. Die Hanse war keine machtvolle monopolistische Firma, sie war kein Staat im Staate, sie hatte keine eigene Armee oder Flotte und besaß auch nur so viel Macht, wie ihre Mitglieder ihr geben wollten und konnten. Im Grunde genommen ist die Hanse auf den ersten Blick recht undurchschaubar – und das nicht erst für die Menschen im 21. Jahrhundert, sondern bereits auch für ihre Zeitgenossen.

Eine Hansedefinition im Mittelalter?

Wir sind es heute gewöhnt, dass Organisationen sich selbst definieren, sei es, dass sie sich eine Satzung geben oder dass sie erklären, was sie sind und was sie wollen. Ähnliches gab es im Mittelalter auch. Gilden hatten ihre Statuten, der König, der Adel und die Städte ihre Gesetze, und selbst die Kirche nutzte eine Eigendefinition. Und die Hanse? Die hatte nichts. Es gibt keine Satzung, die erklärt, was die Hanse ist und was sie zu tun und zu lassen hat, ja es gibt und gab nicht einmal ein offizielles Verzeichnis aller Mitglieder dieser Organisation, und selbst der Name »die Hanse« oder »die deutsche Hanse« erscheint erst im 14. Jahrhundert. Was war die Hanse dann?

Die Frage nach der Struktur und der Organisation der Hanse ist nicht neu. Schon im Mittelalter wurde sie gestellt – und nicht beantwortet. Allein der Name ist mehrdeutig. »Hanse« war im Anfang, im 11. und 12. Jahrhundert, nichts spezifisch Deutsches und eigentlich auch nichts Politisches. Eine »Hanse« nannte man einen Zusammenschluss von Kaufleuten im Ausland, und das Wort bedeutete nichts anderes als Schar oder Gruppe (lat. cohors). Diese Kaufleute, die Hansen, versprachen sich gegenseitig Hilfe, sei es bei Reisen, bei Rechtsfällen, Verhandlungen mit ausländischen Herrschern oder sei es bei handgreiflichen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig entrichteten die Kaufleute an einigen Orten für das Recht, Handel treiben zu dürfen, eine Abgabe, die ebenfalls »Hanse« genannt wurde. Hansen waren daher eigentlich die meisten europäischen Kaufleute im Ausland, und so kennen wir z. B. aus dem 12. Jahrhundert die »Hanse« der Kaufleute aus Saint-Omer oder die flämische Hanse in London. Wie später noch zu zeigen sein wird, bildeten auch die Kaufleute aus den späteren »Hansestädten« Hansen im Ausland, und z. B. die Stadt Lübeck ließ sich dieses Recht noch 1275 vom Kaiser ausdrücklich bestätigen. Die »deutsche Hanse« ist also keine Organisation, die etwas Neues, nie Dagewesenes darstellte, sondern sie entstand langsam, und ihr wurde ein Begriff zugeteilt, der sich über einen langen Zeitraum entwickelt hatte.

Diese langsame Entwicklung ist wohl daran schuld, dass es keine einheitliche Satzung gab. Die Hanse war ein Zweckbündnis, dessen Teilnehmer ihm freiwillig beitraten, da sie sich davon einen Vorteil versprachen. Im Gegenzug wurde von ihnen verlangt, dass sie sich solidarisch verhielten und dass man zum Wohle des gemeinen Besten einen Einsatz leistete. Diese Freiwilligkeit und die Freiheit aller Mitglieder ist das Grundprinzip der Hanse im Mittelalter. Gleich wem die Kaufleute und ihre Städte unterstanden, dem Kaiser, Bischöfen oder weltlichen Herren, in Fragen des Handels und der Handelspolitik agierten sie zusammen, über Herrschaftsgrenzen hinweg, und konnten, solange sie das gleiche Ziel verfolgten, ihre wirtschaftliche Macht auch als politisches Druckmittel einsetzen.

Aber gerade diese Freiheit und Freiwilligkeit war auch das größte Problem der »deutschen Hanse«. Waren einige Mitglieder an einer Entscheidung nicht interessiert oder gar anderer Ansicht, so nahmen sie an Entschlüssen einfach nicht teil, verzögerten, verwarfen oder ignorierten sie. Niemand konnte sie zwingen, sich an Abmachungen zu halten, die nicht in ihrem eigenen Interesse lagen.

Dieses Verhalten verursachte schon im Mittelalter Irritationen, vor allem dann, wenn man mit Herrschern verhandelte, die ein sehr klares und definiertes Staatsverständnis besaßen wie z. B. der englische König. Mit diesem hatten hansische Unterhändler 1437 ein Abkommen geschlossen, was allerdings den Interessen der Stadt Danzig widersprach, die das Abkommen nicht anerkannte. Der König nun, verärgert über den offensichtlichen Vertragsbruch, schickte seine Boten nach Lübeck, um den Sachverhalt und die innere Struktur »der Hanse« zu ergründen.

Was mussten die Boten erleben? Zunächst einmal sagten einige Städte ihr Kommen zu dem Treffen ab, da das Thema ihnen zu heikel war. Andere Boten reisten wieder ab, da wichtige Städte nicht da waren, wieder andere ließen sich vertreten, und die Stadt Lübeck erklärte, sie könne niemanden zwingen, da sie niemandes König sei. Das Ganze war für die Engländer so verwirrend, dass sie erst einmal Auskunft darüber verlangten, wer denn nun mit ihnen verhandeln werde. Danach ließen sie anfragen, wer denn nun überhaupt in der Hanse sei und wer berechtigt sei, ein Abkommen zu schließen, also mit wem man sich da einließe. Darauf wollten und konnten die Vertreter der Hanse keine Antwort geben, ein Eklat war vorprogrammiert.

Bei den Verhandlungen in den Jahren nach 1437 wird das Problem deutlich, mit dem wir uns auch heute herumschlagen. Auf der einen Seite stand der englische König mit seinem mehr als berechtigten Wunsch zu erfahren, wer der Verhandlungspartner ist, welche Strukturen oder Hierarchien beim Gegenüber existieren, ob und wer eine Prokura besitzt und welche Sicherheiten vorhanden sind, dass dieser Vertrag auch eingehalten werde. Diese Fragen sind für uns auch selbstverständlich. Mit wem haben wir es zu tun? Hat unser Verhandlungspartner das Recht, mit uns einen Vertrag zu schließen? Für wen gelten die Vertragsbedingungen? Alle diese Fragen setzen eine klare innere Struktur der Gegenseite voraus.

Für die »Hanse« aber waren sie nicht von Interesse, ja sie widerstrebten eigentlich ihrer inneren Struktur. Man wollte an einem Ort Handel treiben und dafür die besten Bedingungen aushandeln. Hier konnte man gemeinsam agieren und Bedingungen festsetzen und Verträge aushandeln. Sobald aber die Angelegenheiten zu Hause oder nur Angelegenheiten einzelner Städte tangiert wurden, wurde die Sache heikel. Hier mussten das eigene Interesse, die Machtverhältnisse und äußeren Umstände mit in Betracht gezogen werden – und hier besaßen die gemeinhansischen Interessen viel weniger Gewicht als im Ausland. Aus Sicht der Kaufleute und ihrer Städte konnte es durchaus vorteilhaft sein, sich in der Hanse zu engagieren. Dann hielt man sich nolens volens an die gemeinsame Linie. War aber das Verhältnis zum Stadtherrn wichtiger als der Auslandshandel oder waren andere Handelsrichtungen bedeutender, so hielt man sich nicht daran, ignorierte oder verzögerte die Sache. Das bedeutete aber nicht, dass man bei der nächsten Gelegenheit nicht doch wieder auf die Hanse zurückgriff.

Für die am römischen, abstrakten Recht geschulten Juristen des Mittelalters stellte dieser Zustand ein Unding dar, für sie war »die Hanse« nicht Fleisch noch Fisch. Für sie – und für die meisten ihrer handelspolitischen Gegner – war die Hanse ein Krokodil, ein Monster, das man nie ganz zu Gesicht bekam, das scharf beißen konnte, aber schwer zu fangen war. Die Hanse war theoretisch nicht zu fassen, und dennoch war sie nur zu real, sie konnte nie zu einer Entscheidung gelangen oder wiederum schnell zuschlagen. So frustrierend dieses für uns ist, so frustrierend muss es auch für die Fürsten und Politiker im Mittelalter gewesen sein.

Das Bild der Hanse im 19. und 20. Jahrhundert

Die Hanse hat nicht nur den Menschen im Mittelalter Kopfzerbrechen bereitet. Auch heutige Historiker beißen sich immer wieder an ihr die Zähne aus. Und das liegt nicht nur an ihrer undurchschaubaren Struktur.

So langsam wie die Hanse im 14. Jahrhundert entstanden war, so langsam ging sie auch im 16. und 17. Jahrhundert unter. Sie zerbarst nicht in einem großen Knall oder in einem großen Konkurs, sondern sie schlief ein, da sie keinen ökonomischen Nutzen mehr erfüllte. Aber dennoch lebte der Name der Hanse in einigen Städten, vor allem in Hamburg, Lübeck und Bremen, weiter. Wir unterscheiden hierbei zwischen »hansisch« für die Zeit bis zum 17. Jahrhundert und »hanseatisch« für die Zeit danach.

Am Beginn des 19. Jahrhunderts war die Erinnerung an die Hanse aber weitestgehend verblasst. Und so erklärt der erste »Hansehistoriker« G. F. Satorius, Freiherr von Waltershausen, 1802 in seinem Buch zur Hanse freimütig, dass er sich dieses Gegenstandes angenommen habe, da er in den Wirren der Revolutionszeit nichts Unpolitischeres habe finden können »als diese harmlose halbvergessene Antiquität«. Aber schon in der nach seinem Tode erschienenen zweiten Auflage seines Werks von 1830 ist das Unpolitische völlig verschwunden. Der Herausgeber, Johann Martin Lappenberg, führt über die Ursprünge der Hanse aus, dass es »vor allem der Mangel an Einheit der Nation gewesen [sei], welcher die Städte des nördlichen Deutschlands, wie früher Italiens, groß gemacht hat, und jene zu der Entstehung der Verfassungen und Vereine führen musste, welche den kräftigen Sinn der Bürger nährten«. Dann setzt er die Bürger in einen Gegensatz zu den Fürsten, die ihr Geld in teuren Kriegen verschwendeten.

Schon hier, 1830, wird eine Tendenz deutlich, die die Hansegeschichte bis heute als Fluch verfolgt: Jede Generation betrachtet diese Organisation unter den politischen Voraussetzungen ihrer eigenen Zeit. Das Jahr 1830 ist die Zeit der Nationalisierung Deutschlands und gleichzeitig das Vorspiel zur bürgerlichen Revolution von 1848. In diesem Kontext ist die Hanse das Sinnbild des aufstrebenden, soliden Bürgers, der durch Fleiß und Arbeitssinn die stolzen Städte des Mittelalters erschuf – und das trotz pausenloser Kriege, die durch verschwenderische Fürsten angezettelt wurden und die armen Bürger bedrückten. Gleichzeitig wird die Hanse zu einem Garant der Einheit der Nation in einer Zeit, in der die Fürsten aus Eigeninteresse das Wohl des Ganzen, nämlich Deutschlands, vergessen hatten. In diesem Bild der Hanse konnten sich viele Bürger des deutschen Biedermeier wiederfinden. Die Hanse wurde somit zu einem Geschichtsmythos des deutschen Einheitsgedankens.

Dieser Entwurf von Johann Martin Lappenberg, der einen großen Einfluss auf die Hansegeschichte ausüben sollte, wurde dann in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt. Insbesondere die Ereignisse von 1848, die sogenannten Einigungskriege bis 1870/71 und die folgende Flottenpolitik Kaiser Wilhelms II. boten für die Hansegeschichte eine große Chance, die genutzt wurde.

Die 1848 ausbrechenden Kriege um Schleswig-Holstein zeigten den nationalen Kreisen in Deutschland u. a., dass man nicht nur eine geeinte Nation brauchte, sondern diese auch mit einer starken Flotte versehen müsste, um den »Feinden« im Ausland die Stärke Deutschlands in Erinnerung zu bringen. In diesem Zusammenhang bot sich die Hanse als passendes Geschichtsbild an. In der vermittelten Vorstellung war sie nicht nur bürgerlich und explizit nichtadlig, sondern zeigt auch Stärke zur See: »Solange es eine kraftvolle deutsche Hanse gab, gab es auch eine gefürchtete deutsche Seemacht«, wie ein Greifswalder Professor 1853 schrieb. Die Hanse vereinte nach diesem Bild die zersplitterten deutschen Städte und Länder im Sinne einer größeren Sache. Und so nimmt es nicht wunder, dass das Flaggschiff der neuen deutschen Flotte 1848 den Namen »Hansa« erhielt.

Diese Ideen wurden dann mit der preußischen Reichseinigung noch verstärkt. Während sich 1870 im Westen der Krieg gegen Frankreich anbahnte, wurde in Stralsund am 14. Mai 1870 der 500. Jahrestag des Stralsunder Friedens, eines angeblich militärischen Erfolges der Hanse, gefeiert. In diesem Zusammenhang gründeten Historiker den noch heute bestehenden »Hansischen Geschichtsverein«, in dem die »althansische Waffengenossenschaft« in eine »neuhansische Studiengenossenschaft« umgewandelt werden sollte, so ein zeitgenössisches Zitat. Gleichzeitig erschien im selben Jahr der erste Band der sogenannten »Hanserecesse«, einer Sammlung von Akten und Urkunden, die mit der Geschichte der Hanse in Verbindung gebracht wurden. 1876 wurde diese Reihe durch das »Hansische Urkundenbuch« ergänzt, welches vor allem Privaturkunden »hansischer« Kaufleute sammelt.

Die führenden Historiker folgten dem eingeschlagenen Weg und stellten die Hanse in den Dienst der neuen Nation. Die Hanse wurde nach 1870 explizit als deutscher Erfolg zur See dargestellt: Bürgerlich, in Gedanken protestantisch und erfolgreich überrollten die deutschen Kaufleute ihre Konkurrenten aus dem Norden und aus England und waren somit ein bedeutendes Vorbild für die Bürger im neuen Deutschen Reich. In diesem Zusammenhang wurde vor allem der militärische Aspekt der Hanse herausgestrichen. Die Hanse war in erster Linie eines: eine erfolgreiche Seemacht.

Dieser Gedanke wurde dann noch vertieft, als Kaiser Wilhelm II. mit seiner Flottenpolitik am Ende des 19. Jahrhunderts England herausfordern wollte. Auch hierzu wurden historische Vorbilder gesucht und in der Hanse gefunden: Die deutsche Flottenpolitik müsse dort einsetzen, wo in alter Zeit die »Hansa« aufgehört habe, so Wilhelm II. Dieser Gedanke wurde von den Historikern vermittelt, in Schulbüchern verbreitet und von einer breiten Öffentlichkeit, vor allem des Bürgertums, getragen, die ihre Stellung mit dem Mythos Hanse verband und die deutsche Flotte feierte.

Diese gedankliche Verbindung von bürgerlichem Stolz, alter »hansischer« Tradition und Stärke zur See überlebte dann auch den Sturz des Kaiserreiches, war die Hanse doch als Verteidigung bürgerlicher Freiheiten und als Aspekt der Einheit Deutschlands in schwerer Zeit propagiert worden. In diese Zeit fällt so u. a. die Gründung der Lufthansa 1926, die den Hansebegriff als positives Werbesignal verwendete. Auch die Hansa-Lloyd-Automobile, die es bis 1931 gab, sind hier zu nennen. Und selbst die Ende der 1920er Jahre geplante Bundesautobahn 1 erhielt den Namen »Hansalinie«.

Allerdings wurde der Gedanke der stolzen und zur See fahrenden Hanse gleichzeitig auch von konservativen und nationalen Kreisen in Deutschland weiterentwickelt und mit NS-Gedankengut verwoben. Die militärische Seemacht Hanse wurde am Ende der 1920er Jahre und dann verstärkt nach 1933 zur »erobernden Macht im Osten«, die eine Sendung zu erfüllen habe. In dieser Gedankenwelt waren die hansischen Kaufleute die Vollstrecker des »Blut- und-Boden-Gedankens« zur See, die mit ihren Schiffen maßgeblich zur »Kolonisierung des deutschen Ostens« beigetragen haben. Gleichzeitig wurden Parallelen zwischen der hansischen Wirtschaft und der europäischen »Großraumplanung« unter Hitler gezogen. Dieses Gedankengut wurde auch von einigen führenden hansischen Historikern dieser Zeit vertreten, weiterentwickelt und so stark propagiert, dass es über lange Zeit einen bleibenden Einfluss, nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland, ausüben sollte. In diesem Bild wurde die »deutsche Hansekogge« zum Sinnbild der deutschen Überlegenheit zur See und der »Kultivierung« oder »Kolonisierung« der Ostküste des Ostseeraumes – ein Mythos, der in abgeschwächter Form auch heute noch weiterlebt.

Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches war das national verzerrte Weltbild selbstverständlich nicht mehr zeitgemäß, aber die Idee des überlegenen deutschen Kaufmannes existierte fort. Anstatt militärischer Macht nahmen die Forscher nach 1945 die wirtschaftliche Potenz der Hanse in den Blick. Angesichts des sich gerade vollziehenden Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders überraschte es niemanden, dass die deutschen Kaufleute schon im Mittelalter die erfolgreichsten Geschäftemacher ihrer Zeit gewesen sein sollten, innovativ, konsequent und erfolgreich. Dabei konnten sich sowohl Forscher im Westteil wie im Ostteil Deutschlands auf die Hanse stützen. Während man in der DDR vor allem auf die Wirtschafts-, Sozial- und Stadtgeschichte in europäischer Dimension schaute und dieses marxistisch verbrämte, wurde in der Bundesrepublik die Hanse in der Öffentlichkeit ihres historischen Kerns entledigt. Gleichzeitig wurde sie zu einem Sondergebiet der Geschichtsforschung, welches kaum einen Zusammenhang zur allgemeinen Geschichte aufwies.

In der Öffentlichkeit entfaltete die Hanse ein positives Bild, das diffus irgendetwas mit Mittelalter, Koggen und stolzen (und dicken) Kaufleuten zu tun hatte und das sich besonders zu Werbezwecken eignet. So tragen Biersorten, Pflaster, Essendienste, Versicherungen, ja selbst kirchliche Rundschreiben Namen mit Hansebezug, wie der Historiker Thomas Hill in einer Untersuchung zeigen konnte.1

Gleichzeitig fand in der öffentlichen Meinung aber auch eine Bedeutungsverschiebung statt. Feierte man im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert den stolzen Kaufmann und seinen Gewerbefleiß, so verblasste dieses Bild nun. Der Kaufmann wurde zu einem diffusen Nebenobjekt, zum glanzvollen Hintergrundbild, und andere Aspekte, z. B. der Kampf Arm gegen Reich, rückten mehr in den Vordergrund. Ein gutes Beispiel hierfür ist Klaus Störtebeker. Huldigte man in Hamburg im 19. Jahrhundert noch Simon von Utrecht, demjenigen Kaufmann und Ratsherrn, der Störtebeker fing und seinem Spuk ein Ende setzte, so ist sein Name heute vergessen. Stattdessen lockt Klaus Störtebeker mit seinen Abenteuern, in Ausstellungen wie in Festspielen.

Einen erneuten Boom erlebte die Hanse dann seit 1962, als man in Bremen bei Ausbaggerungsarbeiten in der Weser ein mittelalterliches Schiff fand, das, als Hansekogge deklariert, nicht nur gerettet und ausgestellt wurde, sondern in zahlreichen Nachbauten heute auf Hafenfesten und Rundfahrten eine Besucherattraktion darstellt und das Mittelalter anschaulich macht.

Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung wurde das Hansebild einer erneuten Revision unterzogen. In den Beiträgen der 1980er und 1990er Jahre fungiert die Hanse nun als Vorgänger der europäischen Union, in der einzelne, selbständige Mitglieder zum Zwecke des gemeinen Großen zusammen agierten, trotz aller Gegensätze. Die Parallelen zur europäischen Wirtschaftsunion dieser Zeit, mit ihrer Fokussierung auf wirtschaftliche Fragen, sind dabei augenfällig. Dabei befruchteten sich die Geschichtsschreibung und die Politik gegenseitig. So propagierte der damalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins Björn Engholm zwischen 1988 und 1992 eine »neue Hanse« und meinte damit eine friedliche Zusammenarbeit der Ostseeanrainer. Die Entwicklung dieser Idee sollte aber zeigen, dass die Vorstellung einer »neuen Hanse« wegen der deutschen Dominanz im Ausland auf keine Sympathie stieß. Bei den Ostseeanrainern, so z. B. in Norwegen, wurde und wird die Hanse noch immer mit deutscher Unterdrückung und Ausbeutung gleichgesetzt. Die Enthistorisierung des Hansebegriffs, die in Deutschland stattgefunden hatte, wurde in Skandinavien nicht verstanden. Der Begriff der Hanse erwies sich in diesem Zusammenhang als glatter Fehlgriff.

Gleichzeitig wurde am Ende des 20. Jahrhunderts versucht, der Hanse durch große Ausstellungen wieder mehr historische Präsenz zu verschaffen. Der Blickpunkt lag nun nicht mehr im militärischen Aspekt, sondern bei Fragen der Bündnisse, des Handels, der Waren und des Kulturtransfers in alle Richtungen. Und auch der europäische Aspekt rückt nun mehr in den Vordergrund. »Um den grenzüberschreitenden Hansegedanken, die geschichtlichen Erfahrungen der Zusammenarbeit, die Gedanken und den Geist der europäischen Städte und Gemeinden wieder zu beleben, das Selbstbewusstsein der Hansestädte zu fördern und die Zusammenarbeit zwischen diesen Städten und Gemeinden zu entwickeln, wurde der Hansetag der Neuzeit eingeführt«, wie es in einer Beschreibung der seit 1994 durchgeführten Festveranstaltungen heißt. Die Hanse dient hierbei als Anlass für international besuchte Volksfeste mit leicht mittelalterlichem Anstrich, ohne dass auf den historischen Kern näher eingegangen wird.

In der Geschichtsforschung gab es seit den 1990er Jahren eine Rückbesinnung auf die Quellen. So wird jetzt in zahlreichen Einzelstudien die Geschichte einzelner Teilaspekte neu untersucht. Gleichzeitig versucht man, teilweise mit Hilfe von sozialgeschichtlichen Ansätzen, sich über den Kern der Hanse klar zu werden. Hierbei steht die Geschichtsforschung einer starken Erwartungshaltung der Öffentlichkeit gegenüber. In Fernsehsendungen und populärwissenschaftlichen Magazinen fahren noch heute Hansekaufleute mit ihren Koggen auf Kriegszug gegen fremde Herrscher, vornehmlich in Dänemark. Die Hanse ist noch immer eine »Supermacht«. Aber was die Hanse eigentlich war, ist unter Fachleuten noch immer umstritten.

Insofern können wir heute vor allem konstatieren, was die Hanse nicht war. Sie war kein Garant der deutschen Einheit oder Nation, und sie hat auch nur bedingt eine irgendwie geartete »deutsche« Kultur exportiert. Sie war vor allem auch keine militärische Seemacht, die die Feinde Deutschlands in die Knie zwang. Sie war wohl auch nur bedingt ein Vorgänger der Europäischen Union oder der europäischen Integration.

Die Hanse entwickelte sich aus einer bestimmten Situation heraus. Sie konnte über einhundert Jahre auf die Herausforderungen der Zeit reagieren, um dann sukzessiv in einem weiteren Jahrhundert ihren Einfluss und ihre Aufgaben zu verlieren.

Ein neues Bild der Hanse

Heute versuchen wir, uns der Hanse mit Analyseinstrumenten der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu nähern, um so eine theoretische Definition der Hanse zu finden. Wir beschreiben die Hanse damit mehr in ihrer Funktion denn in ihrem historischen Zusammenhang. Diese Vorgehensweise erleichtert den Zugang zum Phänomen Hanse und hilft, Ereignisse und Entwicklungen zu beschreiben und besser zu verstehen.

Nach heutiger Definition ist die Hanse eine Einrichtung, die man mit den Begriffen ›Institution‹ und ›Organisation‹ bezeichnet. Eine Institution ist eine Einrichtung, die es in unserem Fall Kaufleuten ermöglicht, Zeit und Geld zu sparen. Ein Kaufmann, der eine Ware von A nach B bringt und dort verkauft, berechnet nicht nur die Differenz zwischen Einkaufspreis und Verkaufspreis, sondern muss noch eine Reihe anderer Faktoren einkalkulieren. So kostet natürlich der Transport, das Ein- und Ausschiffen der Waren genauso etwas wie die Miete eines Verkaufsstands. Weiterhin fallen Kosten für Übernachtungen und für die Unterbringung der Ware an. Das sind für uns sehr einleuchtende Kostenfaktoren. Daneben gibt es aber auch eine Reihe von indirekten Faktoren, die ebenso in Geld zu berechnen sind. So muss der Kaufmann dafür Sorge tragen, dass er weiß, wo er Ware verkaufen bzw. kaufen kann, dass er beim Einkauf der Ware nicht betrogen wird, dass er die Qualität und die Menge der Ware genau kennt. Ebenso muss er dafür sorgen, dass er ein Schiff zum Transport zur Verfügung hat, dass dieses nicht überfallen wird, und vor allem dafür, dass er auf dem fremden Markt überhaupt Handel treiben darf, dass man ihm dort die Ware nicht einfach wegnimmt, ihn mit hohen Zöllen und Abgaben belegt oder ihn betrügt. Alle diese Aufgaben könnte der Kaufmann allein erledigen. Das heißt, er könnte jede Tonne auspacken und die Ware genau kontrollieren, er könnte Soldaten mieten, die ihn und die Ware begleiten, und er könnte mit dem fremden Herrscher verhandeln (und ihn bestechen), so dass er Schutz und Handelsrechte auf dem fremden Markt erhält. Allerdings käme ein solcher Kaufmann nicht weit, da auch seine Zeit Geld kostet und die Kosten für die Soldaten, die Bestechung des fremden Herrschers und seiner Höflinge und alles andere die Gewinne zumeist weit übersteigen würden.

Wenn der Kaufmann sich aber mit anderen Kaufleuten zusammenschlösse, würde er viele dieser Aufgaben auf die Gruppe übertragen können und somit Zeit und Geld sparen. Diese Art des Zusammenschlusses und die daraus folgenden Einrichtungen nennt man eine Institution. Institutionen versuchen z. B., Marktorte festzulegen oder die Produktionsqualität zu regeln und zu sichern. Damit erspart man den Kaufleuten z. B. die Aufwendungen für das Kontrollieren jeder einzelnen Ware oder das Suchen von Verkaufsplätzen. Institutionen versuchten, die Sicherheit auf den Transportwegen zu gewährleisten, und sie verhandelten mit fremden Herrschern (und bestachen sie), dass diese ihren Mitgliedern Rechte und Sicherheiten gewährten, so dass die Kaufleute auf fremden Märkten Handel treiben konnten. Die Mitgliedschaft in einer Institution ersparte dem Kaufmann so eine Menge Zeit und Unkosten. Zwar musste er für die Mitgliedschaft in irgendeiner Form bezahlen, aber der gewährte Schutz und die gewährten Vorteile überstiegen in der Endsumme die Aufwendungen, die der Kaufmann für die Mitgliedschaft aufbringen musste.

Institutionen wie die Hanse waren erst einmal freiwillige und lose Zusammenschlüsse. Sie konnten und können sich aber weiterentwickeln, feste Verfahrenswege, ein Sekretariat, eine feste Leitung, eine feste Kasse usw. erhalten. In einem solchen Fall sprechen wir davon, dass sich eine Institution in eine Organisation entwickelt.

Die Hanse war eine solche Institution im wirtschaftswissenschaftlichen Sinne. Allerdings war die Mitgliedschaft in dieser Institution freiwillig, und das ist der zweite wichtige Punkt.

Am Anfang, im 13. und 14. Jahrhundert, waren es einzelne Kaufleute, die sich freiwillig zusammenschlossen, um so besser und stärker agieren zu können. Später wurden diese Kaufleute dann durch die Regierungen (die Räte) ihrer Heimatstädte vertreten. Man nennt dieses gemeinhin den Übergang von der Kaufmanns- zur Städtehanse. Aber auch die Städte waren freiwillig in der Hanse. Das heißt, einige Städte, die sehr an dem durch die Hanse vertretenen Handel interessiert waren, bildeten den Kern dieser Institution. Andere Städte, die nur teilweise oder temporär ein Interesse am Handel der Hanse besaßen, konnten sich dieser Institution bedienen, wenn es opportun war; sie konnten ihr aber auch fernbleiben, wenn es politisch oder ökonomisch für sie besser war. Dieses Prinzip benennt man mit dem soziologischen Fachbegriff eines Loosly Coupled Model (Angelo Pichierri).2

Die Freiwilligkeit und Lockerheit des Zusammenschlusses führten dazu, dass Beschlüsse nur gemeinsam gefasst werden konnten. Nur wenn die Mitglieder auch davon überzeugt waren, dass ein Beschluss für sie von Vorteil war, führten sie ihn auch aus. Das heißt, dass Beschlüsse nur dann eine Wirkung hatten, wenn die Mitglieder dieses auch wollten. Zwingen konnte die Hanse keines ihrer Mitglieder. Diese Offenheit in den Beziehungen machte es dann auch möglich, dass verschiedenste Städte Mitglieder der Hanse sein konnten, unabhängig von ihrem Status oder ihrem Stadtherrn.

Allerdings galt auch eine gewisse Solidarität. Städte, die einen Beschluss nicht ausführen konnten oder wollten, blieben den Verhandlungen fern oder verzögerten eine Antwort. Eine offene Konfrontation war selten, da man in anderen Bereichen durchaus wieder aufeinander angewiesen war und man an vielen Orten des Auslandes Privilegien gemeinsam erhalten hatte und diese auch gemeinsam verteidigen musste. Insofern war die Hanse meistenteils damit beschäftigt, in einem schwerfälligen und langsamen Prozess eine Einigung unter ihren Mitgliedern zu erzielen.

Sollte man die Hanse also heute definieren, so handelte es sich bei ihr um eine lose organisierte, wirtschaftliche Institution auf freiwilliger und solidarischer Basis.

Wie noch zu zeigen sein wird, konnte die Hanse zur Durchsetzung ihrer Ziele auch militärische Schritte androhen oder durchführen. Hierzu mussten aber eigentlich alle Mitglieder gleichzeitig betroffen und interessiert sein – und das geschah in der gesamten Geschichte der Hanse niemals.

Auch die militärische Macht der Hanse war nur freiwillig und solidarisch organisiert. Kein Hansemitglied konnte dazu gezwungen werden, die Mitglieder mussten es wollen und darin einen Nutzen für die eigene Stadt oder ihre Interessen in der Gemeinschaft sehen, sollten sie Geld, Soldaten oder Schiffe zur Verfügung stellen.

Die Hanse gewann ihre Schlagkraft durch die gesammelte wirtschaftliche Macht ihrer Mitglieder. Und das entspricht ebenfalls dem Institutionencharakter. Sie konnte versuchen, durch Boykott oder andere Maßnahmen, ihre Interessen (d. h. die Interessen ihre Mitglieder) durchzusetzen. Das galt im übrigen auch im Inneren. Sollte sich ein Mitglied unsolidarisch verhalten, konnte es »verhanst«, d. h. aus der Gemeinschaft der Institution ausgeschlossen werden. Damit gingen die verhanste Stadt und ihre Kaufleute aller Vorteile verlustig, die die Institution erworben oder geschaffen hatte. Einige Städte, wie z. B. Köln oder Bremen, haben das kühl abgewogen und sich so gegen die Hanse entschieden, wenn es ihren eigenen Interessen eher entsprach.

Die Hanse war also eine Institution, die durch die Ballung von Interessen und ökonomischen Möglichkeiten Macht, politisch wie wirtschaftlich, ausüben konnte. Sie besaß aber nur so lange Macht, solange es ihre Mitglieder auch wollten.