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Erich Hackl

Drei tränenlose
Geschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2014 im Diogenes Verlag

Covermotiv:

Edita Polláková (19. Juni 1932  4. Oktober 1944)

175 x 253 mm, Aquarell auf Papier

Foto: Copyright © Sammlung des

Jüdischen Museums in Prag

 

 

Auf Wunsch des Autors folgt dieses Buch

der alten Rechtschreibung

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2020

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24306 2

ISBN E-Book 978 3 257 60412 2

[7] Familie Klagsbrunn

Vorschein einer Geschichte

1

Ein Stammbaum fehlt, deshalb müssen wir uns dringend an das Foto halten, auf dem sie uns, aus der Entfernung eines Jahrhunderts, betrachten. Ignaz Klagsbrunn, das Familienoberhaupt, freundlich, gelassen oder gar mit einem ironischen Lächeln unter dem gepflegten Schnurrbart. Mit der rechten Hand hält er seine Enkeltochter Flora am Arm, die linke liegt auf dem runden verschnörkelten Tisch, auf den sich auch seine Frau Johanna stützt, die Rosi, das zweite Enkelkind, auf den Schoß genommen hat. Johanna Klagsbrunn, geborene Thieberg, hat dunkles, kräftiges, durch einen Mittelscheitel mühsam gebändigtes Haar, während das helle ihres Mannes dünn und an den Schläfen schon gelichtet erscheint. Zwei Menschen mit überraschend zeitnahem, heutigem Aussehen, die zufrieden wirken, aber weder abgeklärt noch aufgespalten in eine autoritäre Stirn, ein duldsames Herz. Und erstaunlich jung noch. Im besten Alter.

Um das Ehepaar sitzen oder stehen in einem angedeuteten Halbkreis alle elf Kinder. Vorne, auf roh gezimmerten Gartenstühlen, die zwei ältesten, die Töchter Lola und Bertha. Schräg hinter ihnen, einander in Statur, Haarschnitt, Bartgestrüpp zum Verwechseln ähnlich, ihre Männer Karl [8] Goldstein und Benno Ostiller. Doktoren beide, der gesamten Heilkunde, außerdem Nachbarn im selben Haus, Leopoldsgasse 51, in dem sie ihrem Beruf nachgehen. Auffallend, wie weit Bertha Ostiller sich zurückgelehnt, die Unterarme dabei hinter den Rücken geschoben hat, die ungewöhnliche Haltung und die Andeutung einer Wölbung unter dem weiten bodenlangen Kleid bringen uns auf den Gedanken, daß sie schwanger sein könnte.

Es fällt nicht schwer, die Söhne Klagsbrunn und die Schwiegersöhne (der dritte, Sidas Ehemann Johann Frey, trägt Kneifer und Knebelbart) auseinanderzuhalten, denn die einen sind, wie auch die Töchter, der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten: die dunklen Augen, der schwermütige Blick, der widerspenstige Haarschopf. Nur Josef und Hugo, die beiden ältesten Söhne, ähneln auch dem Vater, weniger im Aussehen als im wohlwollenden Interesse, das sie dem Fotografen, oder seiner Plattenkamera, entgegenbringen. Aber an Aufmerksamkeit läßt es ohnehin niemand fehlen. Vielleicht, daß Cilla, die jüngste Tochter, ein wenig verdrossen dreinschaut. Oder ungeduldig, weil sie für ihren Geschmack schon zu lange stillhalten muß.

Keiner von ihnen lächelt, weder Bruno, der vierzig Jahre später samt seiner Frau Grete in einem Außenlager des KZ Jasenovac umkommen wird, noch Samek, von dem wir lesen, daß er seit 1938 verschollen ist, noch Molo (d. i. Maximilian), der in der Wiener Innenstadt eine Zahnarztpraxis führen, dann mit seiner Frau Frieda nach Shanghai flüchten, schließlich in San Francisco bettelarm sterben wird, noch Noli (Dietrich Arnold), der mehr als fünf Jahrzehnte später ebenso hartnäckig wie erfolglos die Rückstellung oder Abgeltung [9] der Geräte und sonstigen Einrichtungsgegenstände verlangen wird, die die Kaufleute Josef Prossnitz und Theodor Partik im September 1942 aus seiner Dentistenordination in Wien-Mariahilf entfernt haben. Geraubt, besser gesagt, und weil man ihnen zugesteht, »über Auftrag der ehem. Vermögensverkehrsstelle« gehandelt zu haben, wird das österreichische Bundesministerium für Finanzen keinen Anlaß sehen, dem Rückstellungsbegehren stattzugeben.

Auch Leo lächelt nicht, der Zweitjüngste der Familie. Er steht in der letzten Reihe, vor der Terrassentür mit den spiegelnden Scheiben, und trägt einen hohen Stehkragen, der ihn wie eine Halskrause umschließt. Er ist zum Zeitpunkt der Aufnahme sechzehn Jahre alt.

2

In Rio de Janeiro bin ich seinem Enkel vor zweieinhalb Jahren zum ersten Mal begegnet. Die Universidade Federal Fluminense, deren Campus in Niterói liegt, auf der anderen Seite der Bucht, hatte mich zu mehreren Vorträgen eingeladen, und ich war nach den ersten Tagen in Rio einigermaßen überrascht, daß die Einwohner gar nicht dem Bild entsprachen, das ihnen gemeinhin zugeschrieben wird: Sie kamen mir weder besonders fröhlich vor noch gesprächig oder von überschäumendem Temperament. Bis ich Victor Hugo Klagsbrunn kennenlernte. Er war herzlich auf eine fast beiläufige Art, zuversichtlich, einfallsreich, dazu von einer souveränen Unbekümmertheit im Umgang mit Zeit. Aber mit einer Ausnahme – zu meinem letzten Vortrag in [10] Niterói trafen wir mit anderthalbstündiger Verspätung ein – ging sich immer alles in letzter Minute aus. Ein echter carioca also unter lauter falschen, bedrückt und gehetzt wirkenden, obwohl oder weil Victors Vater aus Wien, seine Mutter aus Berlin stammte und er selbst fast sechzehn Jahre im Exil verbracht hat. Er lud mich zu sich nach Hause ein, in eine geräumige, großzügig eingerichtete Wohnung in Copacabana, wo ich seine Frau Marta kennenlernte, mit der er das Exil geteilt hatte, und ein bellendes weißes Wollknäuel, das auf den Namen Tuca hörte.

Dort, in der Rua Ministro Viveiros de Castro, bewahrt Victor ein Plakat auf, das ihm, glaube ich, von allen Erbstücken die größte Freude macht: Der Floridsdorfer Athletiksport-Club kündigt für Sonntag, 11. September, auf der Hohen Warte das Meisterschaftsdoppelspiel FAC gegen Wacker und Vienna gegen WAC an. Das Plakat stammt, wie Victor herausgefunden hat, aus dem Jahr 1932 und weist, neben vielen anderen, Annoncen der Kohlenhandlung seines Großvaters, des Sportartikelgeschäfts Karl Jiszda und des Kleiderhauses Sinai auf. Karl Jiszda war ein legendärer Mittelstürmer des FAC, Leo Klagsbrunn war der Präsident, das Kleiderhaus Sinai befand sich im Parterre des Hauses Am Spitz 2, in dem auch das Vereinslokal untergebracht war. Wir werden diesem Geschäft unter der respektlosen und irreführenden Bezeichnung Möbelschupfen noch begegnen. Das Match fand übrigens nicht am Sonntag, sondern schon am Samstag statt, wie Victors Großvater mit Blaustift auf das Plakat geschrieben hat, und der FAC besiegte Wacker Wien durch Tore von Pepi Stroh (2) und Gustl Jordan mit 3 : 2.

[11] Über die Geschichte seiner Vorfahren konnte mir Victor nur wenig sagen, denn der frühe Tod des Vaters und die eigenen Lebensumstände hatten verhindert, daß er sich mit ihr vertraut machen konnte. Dafür legte er mir einen Stapel Dokumente vor. Die meisten stammen aus dem Nachlaß seines Onkels Kurt, andere hat er sich im Österreichischen Staatsarchiv ausheben lassen. Und er erzählte mir seine Geschichte, und Marta die ihre, die gemeinsame. Eine Verfolgungsgeschichte, schlimmer als die seiner Eltern und Großeltern. Ich will die eine wie die andere so wiedergeben, wie ich sie gehört und in Erinnerung behalten habe, wie Victor und ich ihr zwei Monate später in Wien nachgegangen sind und wie wir sie seither in einem Frage-Antwort-Karussell zwischen hier und dort rekonstruiert haben: in ihren Eckdaten, einigermaßen dürftig, wenig anschaulich, ohne Emotionen, die man sich dazudenken muß.

3

Das Familienfoto wurde, wie damals üblich, als Korrespondenzkarte verwendet. Auf der Rückseite war nur Platz für Name und Anschrift des Empfängers, deshalb hat Ignaz Klagsbrunn seine Nachricht in schwungvoller Schrift über, neben und unter das Bild gesetzt. »Liebe Kinder!« In der Kopfzeile Ort und Zeitpunkt des Schreibens: »Floridsdorf, 22. 9. 1904, 10h Nachts schön Wetter.«

Die Aufnahme muß allerdings früher entstanden sein, März oder gar noch Ende Februar, denn die Äste neben und hinter ihnen und in den spiegelnden Scheiben hinter Leos [12] Kopf sind kahl. Und die Töchter, bis auf Bertha, tragen lange Pelzstolen über ihren hellen Kleidern. Die Männer dunkle Mäntel oder Überröcke. Unter den Mänteln Sakkos. Steife Krägen mit Fliegen oder Krawatten. Lauter geschmackssichere Leute, die sich solide, qualitätsvolle Kleidung leisten können. Die kleine Villa, vor der sie posieren, würde in einer bürgerlichen Wohngegend nicht weiter auffallen, aber hier, in der Pilzgasse, gleich hinter dem Floridsdorfer Güterbahnhof, wo sonst nur niedrige lehmverputzte Häuser, eine alte Seifenfabrik und die Ölraffinerie der Firma Shell stehen, wirkt sie wie hergezaubert. Die Villa Klagsbrunn.

Wir wissen nicht viel über das Ehepaar Ignaz und Johanna Klagsbrunn. Daß sie – nach ihrem Aussehen und dem Geburtsdatum der ältesten Tochter zu schließen – Mitte des 19. Jahrhunderts geboren sind und aus Wadowice stammen, der polnischen, damals zum österreichischen Kronland Galizien gehörenden Bezirksstadt am Fuße der Beskiden, fünfzig Kilometer südwestlich von Krakau, die sich heute ihres berühmtesten Sohnes Karol Woityla rühmt, des späteren Papstes Johannes Paul II.

In Wadowice sind auch ihre Kinder geboren, bis auf Bruno, der bereits in Wien auf die Welt gekommen ist, im Juli 1892, wo sich die Familie zwei oder drei Jahre vorher niedergelassen hat. In Lehmanns Wiener Adreßbuch für das Jahr 1891 sind seine Eltern jedenfalls schon verzeichnet, Ignaz als Inhaber einer Anstalt für Wäschewaren und Glanzbügeln, Johanna als Gastwirtin, beide in der Mühlfeldgasse 5, nahe dem Nordbahnhof. Ab 1895 ist Johannas Name getilgt, was den Schluß zuläßt, daß ihr Mann den Lebensunterhalt [13] der Familie inzwischen allein bestreitet – im Adreßbuch wird er der Reihe nach als Herausgeber eines Handbuches für Wäschewaschen und Glanzbügeln, Leiter einer Privat-Fachschule, Erfinder einer neuen Glanzbügelmethode, Erzeuger von chemischen Produkten und Händler mit Bügeleisen und Waschapparaten geführt. Das Tüfteln und Entdecken ist den Klagsbrunn-Männern offenbar angeboren, Noli wird später einmal eine Wachsspritze für den Dentistenbedarf, sein älterer Bruder Josef die Universalmühle »Microna« patentieren lassen. Im oder um das Jahr 1899 übersiedelt die Familie nach Floridsdorf, wo Ignaz Klagsbrunn die Villa in der Pilzgasse erwirbt. Ein Lieferschein der »Firma Ignaz Klaksbrunn. Chemische Producte-Fabrik« vom Juni 1909 ist erhalten geblieben, über ¼ Kiste »Heliosin« Wäsche-Glanz.

Floridsdorf liegt am linken Donauufer, der Stadt Wien genau gegenüber. Schiffsverkehr, viel Industrie, aufstrebendes Gewerbe, Zuzug von Arbeitsuchenden aus Mähren und anderen Randgebieten der Monarchie. Elend auch, und nicht zu knapp. Im Jahr der Aufnahme hat die Ortschaft um die fünfundfünfzigtausend Einwohner und wird, per Landesgesetz vom 12. November 1904, als 21. Bezirk der österreichischen Haupt- und Residenzstadt eingemeindet. Ins selbe Jahr fällt auch die Gründung des FAC, der für Leo so große Bedeutung erlangen wird. Unbekannt, wie er und seine Brüder durch den Ersten Weltkrieg kommen; ich stelle mir vor, daß die meisten von ihnen aufgrund ihrer Ausbildung zu Chemikern und Ärzten in Spitälern, Lazaretten und Laboratorien Dienst versehen.

Den Mangel an erschwinglichen – und hygienischen – Unterkünften bekämpft die Gemeinde Wien mit einem [14] ehrgeizigen Wohnbauprogramm, in dessen Rahmen zwischen 1924 und 1932 zwei große Gebäudekomplexe entstehen, die zum Symbol der Floridsdorfer Arbeiterbewegung werden: der Schlinger-Hof in der Brünner Straße und der FAC-Bau in der Freytaggasse, gleich neben dem Fußballplatz. Beide Wohnanlagen sind beim Februaraufstand 1934, gegen die Dollfuß-Diktatur, heftig umkämpft. In ihnen verschanzen sich sozialdemokratische Schutzbündler und Wehrturner, bis sie nach einem Tag und einer Nacht durch Granat- und Minenwerferbeschuß von Polizei und Militär zur Aufgabe gezwungen werden. Vor dem Schlinger-Hof und im Kommissariat in der Hermann-Bahr-Gasse erschießen Polizisten sowie Angehörige der rechten Heimwehr bereits verhaftete und entwaffnete Arbeiter. Der Feuerwehrkommandant und Schutzbundführer Georg Weissel wird am 14. Februar wegen »Dienstverweigerung und Auflehnung« von einem Standgericht zum Tode verurteilt und wenige Stunden später gehenkt. Insgesamt kommen bei den Kämpfen in Floridsdorf einundsiebzig Menschen ums Leben. Nichts auf dem Foto und kaum etwas von dem, was wir über die Fotografierten wissen, weist auf dieses Ereignis hin. In der Pilzgasse wird dem Vernehmen nach nicht geschossen, und die Bewohner der Villa machen in diesen Tagen Skiurlaub in Salzburg oder im Wechselgebiet.

4

»Die Pilzgasse«, so heißen die Erinnerungen, die Grete Gabmeier-Grach vor zehn oder mehr Jahren für ihre [15] Enkelkinder geschrieben hat. Ein schmaler Band mit etlichen Fotos, den Frau Gabmeier Victor und mir zu lesen gibt, als wir sie im Dezember 2011 besuchen. Auf dem Weg zu ihr kommen wir an einem verwilderten Grundstück vorbei, auf dem bis in die späten fünfziger Jahre die Villa Klagsbrunn gestanden ist, schwer kriegsbeschädigt nach einem Bombentreffer am 12. März 1945, dann einem schlichten Gartenhaus weichen mußte, ehe auch dieses abgerissen oder dem Verfall überlassen wurde.

Grete Gabmeier ist Jahrgang 1927 und der letzte auffindbare Mensch in Wien, der sich noch an Familie Klagsbrunn erinnert – an Leo, seine Frau und die Kinder, nicht an seine Eltern, die schon tot waren, als Grete an der Hand ihrer Mutter oder ihrer Tante die Villa Klagsbrunn zum ersten Mal inspiziert hat. Gleich hinter der Haustür war die Speisekammer, in der ein Eiskasten mit Eisblöcken stand, anschließend ein fensterloser Gang, auf der einen Seite die Küche, schmal, weil nachträglich ein Badezimmer eingebaut worden war, sowie das Speisezimmer, auf der anderen Seite das Büro und daneben das sogenannte Mittelzimmer, von dem man auf die Veranda trat, die es 1904 noch nicht gegeben hat. Im ersten Stock befanden sich das Balkonzimmer und zwei kleine Mansardenzimmer: die Schlafräume für eine vierköpfige Familie.

Aufgrund der Einträge in Lehmanns Adreßbuch wissen wir, daß Leo nach dem Ersten Weltkrieg den Firmenstandort seines Vaters übernommen hat. Aber davor war er, nach der Ausbildung zum Chemiker, Haushaltsartikelgroßhändler und Teilhaber der Holzkohlenhandels- und Verwertungsgesellschaft Buche. Mit seiner neuen Firma Chemiker [16] Leopold Klagsbrunn führt er anfangs auch noch chemische Produkte, dann beschränkt er sich auf den Handel mit Holzkohle, Kohle und Koks. Er hat mehrere Bedienstete, zuletzt werden es sechs sein, »sämtliche arisch«, wie er gezwungen sein wird anzugeben.

Leo ist eine auffällige Erscheinung in Floridsdorf, nicht nur seiner hohen Gestalt wegen, er ist fast zwei Meter groß, dazu sportlich, leutselig und charmant, die jungen Frauen im Gänsehäufel recken die Köpfe, wenn er über die Holzplanken läuft und ins Wasser hechtet. Zu ihrer Enttäuschung heiratet er im Oktober 1911 Friederike »Fritzi« Kohn aus der Leopoldstadt, die ein Jahr älter ist als er und zwei Köpfe kleiner. Am 24. Mai 1913 kommt ihr erstes Kind Karl Peter zur Welt, am 6. Mai 1918 das zweite, Kurt Paul. (Es ist Familientradition, den Söhnen zwei Vornamen zu geben, sei es, weil sich die Eltern nie einigen können oder weil sie ihren Kindern die Möglichkeit offenhalten wollen, sich für einen zu entscheiden; Karl Peter wird für sich den zweiten beanspruchen.) Im Dezember 1926 erteilt die Polizeidirektion Wien Leopold Klagsbrunn »die Bewilligung zur selbständigen Führung von Kraftwagen mit Explosionsmotor«, im Jahr 1930 stellt ihm der Wiener Fußball-Verband eine Legitimationskarte aus, die ihn als Zweiten Vorsitzenden der Ersten Liga, der höchsten österreichischen Spielklasse, ausweist. Die Fotos auf Karte und Führerschein zeigen einen schlanken jungen Mann mit dichtem, nach hinten gekämmtem Haar und einem sorgfältig gestutzten Schnauzer. Er hat immer noch den schwermütigen, sehnsuchtsvollen Blick seiner Mutter, die im Juni 1914 verstorben ist, zehn Jahre vor ihrem Mann.

[17] 5

Im Jänner 1920 beginnt die damals sechzehnjährige Maria Pfeiffer in der Firma Leopold Klagsbrunn als Kontoristin zu arbeiten, eine Tätigkeit, die sie von Mai 1918 bis Februar 1919 schon in der Firma C. Haumanns Witwe & Söhne (Dachpappen- und Teerproduktion) ausgeübt hat. Ihrer Nichte Grete zufolge wird sie von der Familie Klagsbrunn wie eine Tochter aufgenommen. Umgekehrt bescheinigt ihr der Dienstgeber, tüchtig, selbständig und absolut vertrauenswürdig zu sein.

Das innige Verhältnis zu Maria Pfeiffer schließt auch deren Geschwister ein, Gretes Mutter Leopoldine und die Brüder Rudolf und Josef. Rudolf Pfeiffer hilft, als Chauffeur, in der Firma gelegentlich aus. Eigentlich ist er Lackierer von Beruf, Josef hat Sattler gelernt. Vermutlich sind sie während der Weltwirtschaftskrise immer wieder oder auf längere Zeit arbeitslos. Auf einem Foto aus den frühen dreißiger Jahren stehen die beiden in zerbeulten Hosen und mit großen Schirmmützen auf den Köpfen vor dem Zaun der Klagsbrunn-Villa, hinter ihnen das Haus mit dem holzverkleideten Giebel und der geschnitzten Balkonbrüstung, an der Mitzi und Fritzi lehnen. Aufgrund der Körperhaltung könnte man nicht erkennen, wer von ihnen die Herrschaft und wer die Bedienstete ist.

Maria Pfeiffer stammt aus einer Arbeiterfamilie, ihre Brüder sind Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei, Josef außerdem Gruppenführer im Republikanischen Schutzbund. Beide nehmen am Februaraufstand teil und versuchen nach der Niederlage, in die Tschechoslowakei zu [18] entkommen. Während Rudolf an der Grenze verhaftet und für einige Monate eingesperrt wird, kann sich Josef nach Brünn durchschlagen. Von dort emigriert er weiter in die Sowjetunion, wo er der Kommunistischen Partei beitritt. 1936 läßt er Frau und Tochter nach Moskau nachkommen und meldet sich noch im selben Jahr als Freiwilliger für den Spanischen Bürgerkrieg. Er kämpft in der XIII., dann in der XI. Internationalen Brigade, zuletzt im Rang eines Leutnants der republikanischen Volksarmee. Auf einem undatierten Foto, das in oder bei Almería aufgenommen wurde, im Freien, vor Schuppen, Lastwagen und einem kahlen, steil aufragenden Hang, sitzt er in einem Korbsessel, eine Pullmanmütze auf dem Kopf, den linken Arm in der Schlinge, den verbundenen linken Fuß auf einen Stuhl gelagert. Nach der Niederlage der Republik wird er im französischen Lager Saint-Cyprien interniert, kehrt aber schon Mitte April 1939 in die Sowjetunion zurück. Einen Monat vorher sind Leo Klagsbrunn und seine Familie in Brasilien eingetroffen.

6

Über die Wiener Jahre von Peter und Kurt müßte mehr herauszufinden sein als die flüchtige Erinnerung Grete Gabmeiers an Kurts Maturafeier, zusammen mit seinen Klassenkameraden, in einem Biergarten neben dem Mautner-Schlössel in der Prager Straße, zu der auch ihre Familie eingeladen war. Bei Gretes Geburt war Kurt neun Jahre alt gewesen und hatte sich aus Neugier, wie denn ein Neugeborenes aussieht, seiner Mutter angeschlossen, als sie Mutter und Kind [19] im Krankenhaus besuchen ging. Er sei, so ist es der ausnehmend hübschen Grete erzählt worden, bei ihrem Anblick entsetzt gewesen. So ein häßliches Kind, soll er gerufen haben. Beide – Peter wie Kurt – hat sie als eher ruhige Buben in Erinnerung. Aber sie dürften, sowohl im Bezirk als auch an der Universität, wo sie, im Abstand von fünf Jahren, Medizin studierten, viele Freunde gehabt haben. Das jedenfalls lassen Briefe von Kurts Studienkollegin Eva Rhoden erkennen, die ebenfalls aus Floridsdorf stammte. Ihr gelang die Flucht aus Wien vier Monate nach der Abreise von Familie Klagsbrunn, mittels der Aktion Gildemeester, eines Hilfsfonds für auswanderungswillige nichtgläubige Juden, der von der Geheimen Staatspolizei kontrolliert und zum Zweck der Vermögensberaubung mißbraucht wurde.

Ob Peter und Kurt in Wien feste Freundinnen hatten? Bei Peter wäre es zu vermuten, er war 1938 schon Mitte zwanzig und ähnlich gesellig wie sein Vater. Er sei, so hat es Victor später, in Berlin, von einem Bekannten der Familie gehört, in der Synagoge immer weit hinten gestanden und habe Witze erzählt. Kurt soll schon in Wien gern fotografiert haben. Noch war keine Rede davon, daß ihm sein Hobby Beruf und Berufung werden sollte.

7

Am 12. März 1938 marschieren deutsche Truppen in Österreich ein. Schon am selben Tag nehmen die Beamten Bricka und Denstedt vom Bezirks-Polizeikommissariat Floridsdorf in der Wohnung und Garage der Kohlenhandlung Leopold [20] Klagsbrunn eine Hausdurchsuchung vor. Laut Protokoll seien dabei nachstehende Gegenstände vorgefunden worden: »1 Nash Type (6 Zylinder) 55 PS, Kennzeichen A 5068 minder gut Reparatur notwendig, 1 Kennzeichenausfertigung, 1 Typenschein.« Als Zeuge der Durchsuchung wird Rudolf Pfeiffer genannt. Möglich, daß ihn seine Schwester in aller Eile beigezogen hat, damit die Amtshandlung nicht in eine Demütigung ihres Dienstgebers ausartet. Möglich auch, daß die beiden Polizisten sich ohnehin schämen, den ihnen gut bekannten Klagsbrunn mit einer Hausdurchsuchung zu inkommodieren. Daß sie sich für die Umstände entschuldigen und sich bald verabschieden. Oder im Gegenteil, daß sie ihre jähe Macht auskosten wollen.

Für Leo Klagsbrunn kommt der politische Umsturz nicht unerwartet. Er trägt sich schon seit längerer Zeit mit Auswanderungsplänen. Vielleicht hat er wegen der Söhne bis jetzt gezögert; Peter fehlt nicht mehr viel bis zur Promotion, für Kurt hat gerade das vierte Semester begonnen. Zwei Fluchtländer werden in Betracht gezogen: USA und Brasilien. In Connecticut oder New York leben Witwe und Sohn von Leos Bruder Hugo, der 1928 verstorben ist, in Rio de Janeiro sein Schwager Albert Kohn. Albert ist auch Chemiker und arbeitet für Brasil Perfumista, die Zeitschrift des Verbands der brasilianischen Parfumindustrie. Gerade jetzt sind Fritzis Eltern bei ihm zu Besuch. Sie werden dableiben. Aber das ist nicht der Grund, warum sich Leo und Fritzi für Brasilien entscheiden: Es ist das einzige Land, für das auch ihre Söhne Visa erhalten. Die Vereinigten Staaten hätten nur den Eltern die Einreise gestattet.

Angeblich haben sie schon vorher mit Maria Pfeiffer [21] gesprochen, unverbindlich, ob sie sich vorstellen kann, die Firma und auch das Haus in naher Zukunft zu übernehmen. Sie ist bestens eingearbeitet, hat einen guten Draht zu Kunden wie Lieferanten, kann aber auch, wenn es nottut, energisch und beharrlich sein. Ihre Ersparnisse, sofern sie überhaupt welche hat, reichen bei weitem nicht für einen auch nur annähernd angemessenen Kaufpreis für Haus, Lager, Lagerbestände und die beiden Fahrzeuge (neben dem Pkw gibt es noch ein Lastauto), aber sie ist mit Arthur Egger liiert, einem Ingenieur der Österreichischen Bundesbahnen (nunmehr: Deutschen Reichsbahn), der vielleicht Geld auftreiben würde, außerdem könnte sie ja einen Teil des Kaufpreises durch ein Darlehen abdecken. Leo weiß, daß er in seinen Forderungen nicht unbescheiden sein darf. Einer Zwangsarisierung will er zuvorkommen. Und der Mitzi einen Vorteil verschaffen, für jahrelange treue Arbeit. (Er hatte eine Schwäche für sie, angeblich gefiel sie ihm auch als Frau. Blond, burschikos, dabei mütterlich, obwohl oder weil sie keine Kinder kriegen konnte. Böse Zungen, wir werden sie bald hören, dichten den beiden ein Verhältnis an.)