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Andreas Gößling

„Er ist tot. Er ist nicht tot.“

Über Paul Austers Stadt aus Glas

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Copyright © 2014 MayaMedia GmbH Verlag Dr. Andreas Gößling, Berlin

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ISBN 978-3-944488-29-5

www.mayamedia.de

Inhalt

Zusammenfassung

Abstract

Verwehrte Empathie als Formprinzip

„Das Thema Kinder“

Von Afrika in den Schneesturm New Yorks: der „Autor“

Der Junge und der Mann

‚Private I’ und „private eye“

„Aus sich selbst herausgeschwemmt“

Dreifache Anrufung

„Aufziehbare Affen“

Die Jungfrau und der Knabe

Die „Müllhalde seiner Kindheit“

„Erlösung“?

Anmerkungen

Zusammenfassung

Die labyrinthische Bauform von Paul Austers Stadt aus Glas wird meist als literarische Inszenierung postmoderner Theoreme gedeutet. Gewiss geht es in diesem ersten Roman der New York-Trilogie um Bedingungen und Aporien von Subjektivität und sprachlicher Wirklichkeitserfassung in einer Welt, in der die Verbindung zwischen dem Ich und den Realien auf technische Relationen reduziert scheint. Doch die formale Virtuosität und die erhabenen mythologischen Gegenstände, die in Stadt aus Glas verhandelt werden – Paradiesvertreibung, Turm zu Babel, Kaspar Hauser –, drohen den Blick auf eine Pathologie der – zumal männlichen – Individuation zu verstellen, die der Roman sehr viel verdeckter gleichfalls reflektiert. Das Verbrechen, das der väterliche Kerkermeister in Austers Variation des Kaspar-Hauser-Mythos an seinem kleinen Sohn begeht, symbolisiert vor allem anderen die Unterjochung und tendenzielle Vernichtung unbewusster Selbstaspekte und kindlich-nichtrationaler Erfahrungsweisen im babylonischen Turm des erwachsenen Selbst. Dieser mörderischen Tyrannei instrumenteller Rationalität unterliegt nach Austers Analyse auch die Subjektivität des Schriftstellers, seine Innenwelt und Imaginationsfähigkeit.

Abstract

Frequently, the maze-like architecture of Paul Auster’s City of Glass gets interpreted as a literary staging of post-modern theorems. Certainly, this first novel from the New York-Trilogy is about conditions and aporias of subjectivity and linguistic grasp of reality within a world where connections between the self and realities appear reduced to technical relations. However, formal virtuosity and elevated mythological topics discussed in the novel - expulsion from paradise, tower of Babylon, Kaspar Hauser - threaten to veil a pathology of namely male individuation, which less noticeably the book reflects as well. The crime the paternal gaoler commits on his young son in Auster’s variation of the Kaspar-Hauser-myth, symbolises above all else subjugation and latent destruction of subconscious identity aspects and a child’s non-rational perception within the Babylonian tower of the adult self. According to Auster’s analysis, the writer’s subjectivity, his inner world and imagination are also subjects to this murderous tyranny of instrumental rationality. [Englisch von Charlotte Lyne]

„Wie kann man einen Schriftsteller besser porträtieren, als dass man einen Mann zeigt, der von Büchern verhext ist.“ (120) [Anm. 1] Souverän spielt Paul Auster in Stadt aus Glas, dem ersten Buch seiner New York-Trilogie, mit literarischen Referenzen und Scharaden. Aber in diesem Roman geht es um eine Verzauberung ganz anderer Art und Herkunft.

Die Aufspaltung des imaginierenden Bewusstseins in diverse Schriftsteller, Detektive, Doppelgänger, die gelehrten Verweise auf Cervantes oder Milton, die geistreichen Anspielungen auf Poe oder Melville – das alles dient hauptsächlich dazu, eine Verstörung so zu reinszenieren, dass sie vom traumatisierten „Ich“ (15), dem verborgenen Subjekt dieser Imaginationen, möglichst schmerz- und folgenlos wiedererlebt werden kann. Ein zersplittertes Ich, eine Stadt aus Spiegelglas.

Schon die Brillanz der aufgebotenen Reflexionen und die Bevorzugung erhabener Referenzobjekte – Miltons Paradies, der Turm zu Babel, der Kaspar-Hauser-Mythos – erlauben einen ersten Rückschluss auf die Dramatik der gespiegelten Ereignisse, die nur in solcher Überhöhung und Distanzierung erträglich scheint.

Auf das Urbild all dieser Blendungen, Zerr- und Spiegelbilder vermag selbst der detektivisch aufmerksame Leser kaum jemals einen unverstellten Blick zu erhaschen. Einige Annäherungen sind jedoch möglich. Wie sich zeigen wird, geht es hierbei um einen „Sündenfall“, einen Verlust von „Unschuld“ (56) in durchaus auch konkretem und persönlichem Sinn. Aber zunächst noch einige Andeutungen zur Form des Romans.

Verwehrte Empathie als Formprinzip

Meist wird Stadt aus Glas als postmoderne Variation des Kaspar-Hauser-Mythos gesehen. Demnach ginge es hier im Kern um einen Vorfall – die Leidensgeschichte des jungen Peter Stillman –, der sich mehr oder minder bruchlos in die Tradition bizarrer Sprach- und Menschenexperimente einreiht, die im Roman ihrerseits ausführlich skizziert wird (vgl. 44-47) – vom altägyptischen Pharao, der zwei Kinder einsperren ließ, bis zu Kaspar Hauser und anderen „wilden Knaben“ (44) in der Neuzeit.

Das komplizierte narrative Konzept des Romans, mit seiner Verschachtelung von Erzähler- und Autorenfiguren [Anm. 2], wäre demnach als formale Reflexion dieses zentralen Themas zu verstehen. Hier wie dort ginge es folglich um die Rätsel menschlichen Spracherwerbs, die Widersprüche der Ich-Werdung und Sozialisation, und zwar in einem grundsätzlichen Sinn und in postmoderner Perspektive. „Ich ist ein anderer“ – das vielzitierte Rimbaud’sche Aperçu scheint nach dieser Lesart „unmittelbar ins Mark der Welt“ (56) Austers zu treffen.

Das spärlich und schwankend zutage tretende Mitgefühl der Perspektivfigur Daniel Quinn mit ihrem ‚Klienten’ Peter Stillman lässt sich so jedoch allenfalls als dramaturgischer Kunstgriff auffassen, um die Anteilnahme des Lesers zu steuern. Tatsächlich aber ist verwehrte Empathie ein konstituierendes Prinzip dieses Romans. Alle Zersplitterungen, Spiegelungen, spukhaften Verdoppelungen entspringen diesem Bewusstseinsmodus, dieser narrativen Grundhaltung der Erzähler- und Schriftstellerfigur(en).

Eine der wenigen Äußerungen des ansonsten schemenhaft bleibenden fiktiven „Autors“ ist bezeichnenderweise eine leidenschaftliche Tirade gegen „Paul Auster“, den er mangelnder Anteilnahme „an den Ereignissen“ und an Quinns „offensichtlich(en) Schwierigkeiten“ bezichtigt (159). Der zerknirschte „Auster“ bekennt sich „schuldig“ und will „sein Gewissen erleichtern“, indem er den „Autor“ drängt, sich der Angelegenheit anzunehmen (ebd.).

Doch bereits Quinn selbst, die Perspektivfigur, verweigert diese Anteilnahme am Schicksal des jungen Peter Stillman, der ihn – bzw. den „Detektiv Paul Auster“ – angeheuert hat. Eindringlich erzählt Peter ihm von seiner Leidenszeit (24-32):

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