Cover

Kai Bleifuß

Goethes Mörder

Roman

hockebooks

Den beiden, die mich dieser Welt einschrieben.

So mußte man sich beinahe selbst fragen: ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum sei, daß man nunmehr in ganz andern Sitten, Gewohnheiten, Lebensweisen und Überzeugungen verweile.

Johann Wolfgang von Goethe,

„Die Wahlverwandtschaften“

Das Geheimnis des Erfolgs? Genauso sein wie die anderen und Glück haben.

Frei nach Woody Allen

We will never be never be anything but loud.

Pink

Erstes Kapitel

Kein Gespräch / Wofür man geschaffen ist / Ein unergründliches Angebot

Die Sachbearbeiterin, eine antiquiert gelockte Dame, stach mit spitzem Finger auf die Tastatur eines Computers ein und wirkte in ihrer demonstrativen Hektik, die gar nicht zu ihr passen wollte, als habe man einem älteren Modell einen neuen Chip verpasst. Jetzt aber sah sie auf und widmete dem Menschen, der sich ihr gegenübergesetzt hatte, einen flüchtigen Blick. „So, Herr...“ – sie suchte den Monitor nach dem korrekten Namen ab – „...Herr Goethe, was kann ich für Sie tun?“ Der andere, ein schlanker hochgewachsener Mann, der um die fünfundzwanzig oder etwas älter sein mochte, öffnete die Hand zu einer ausholenden Geste. „Das ist in der Tat eine gute Frage. Ich will versuchen, sie Ihnen so umfassend und wahrheitsgemäß wie möglich zu beantworten...“

Links hinter ihm stürzte in dieser Sekunde ein unachtsam aufgehängter Kätzchenkalender von der Wand und organisierte sich notdürftig am Boden zu einem skurrilen Chaos aus Tagen, Pfoten, Augen und Monaten, groß und bunt überschrieben mit der Jahreszahl zweitausendzehn. Keiner machte sich die Mühe, auf das Ereignis einzugehen.

„Herr Goethe, wie lang haben Sie warten müssen, um in mein Büro zu kommen?“ „Äh, nun, es dürfte wohl eine gute Stunde gewesen sein.“ „Und glauben Sie, die anderen wollen noch länger warten? Nein? Dann halten Sie keine Volksreden und kommen Sie zur Sache. Wir sind hier die Arbeitsagentur und keine Talkshow.“

Johann biss sich auf die Backen. Seine Taktik, unter allen Umständen würdig zu erscheinen, hatte einen Dämpfer erlitten. Aber er wusste sich zu helfen. „Sie müssten wie ich dreizehn Semester Philosophie, Medizin und Altertumswissenschaften studiert haben, um genau zu begreifen, was Sie für mich tun können. Es ist ja gewiss nicht leicht, sich in einen fremden Menschen so hineinzuversetzen, in seine Vita und seine Natur, dass daraus ein lebendiges Bild entsteht. Noch schwieriger aber ist es, in die Zukunft zu blicken und abzuschätzen, welche Arbeit für den Betreffenden die richtige sein wird.“ „Sie wollen einen Job? Wann haben Sie denn Ihren Abschluss gemacht?“

Irgendetwas in Johanns Kopf gab Meldung, dass dieser Frau mit Logik nicht beizukommen war. Offenbar hatte sie sich vorgenommen, ihn von Anfang an durch Versteifung auf ärgerliche Details zum Narren zu halten. Elende Spießerin. „Im Moment habe ich noch keinen, allerdings glaube ich, dass ich schon bald meine Zwischenprüfung –...“

„Moment! Darf ich das nochmal hören?...“ Nun erst blieben die Pupillen der Gelockten – und zwar überraschend starr – auf den jungen Goethe gerichtet. „...Sie sind noch gar nicht fertig?? Was haben Sie denn die ganze Zeit gemacht? Also lieber Herr..., ähm, Ihnen ist schon klar, dass Sie auf die dreißig zugehen, die dreißig, verstehen Sie, was das heißt? – Na schön, wie stellen Sie sich denn die nächsten zwei Jahre vor?“ „Ich... ich würde gerne noch ein paar Anatomievorlesungen beim Schultz besuchen; der hat eine recht eigene Art, seinen Studenten Einblick in die Welt und den Menschen zu vermitteln. Dann will ich mich endlich eingehender mit den Künstlern der Renaissance befassen, ohne deren Studium ja doch niemand behaupten kann, etwas von der Malerei und Plastik zu wissen. Vielleicht, wenn es sich einrichten lässt, werde ich dabei noch –...“ „Lieber Himmel, Herr Goethe, Sie machen mich sprachlos! Ich fürchte, ich habe Ihre Strategie noch immer nicht kapiert. Was bezwecken Sie damit, also, wie soll ich sagen, querbeet alles zu studieren, was Ihnen unter die Finger kommt? Also, die Arbeitgeber, die ich kenne, lassen sich davon kaum beeindrucken.“

Erst jetzt begann die Lage wirklich schweißtreibend zu werden. Johann fiel auf, dass sich mehrere wesentliche Bereiche seines Denkvermögens schon ausgeklinkt hatten. Möglich, dass er mit Verspotten weiterkam. Allerdings wohin? Schnell durchüberlegen: Geschrei, Rauswurf – nein, Job stand nicht am Ende der Aufzählung. Aber genau den brauchte er unbedingt, das heißt, was ihm wirklich fehlte, war nicht Arbeit, sondern: Geld... Goethe erhob sich, griff leise seufzend nach den Kätzchen, bog sie zurecht und hängte sie dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Das verschaffte ihm eine wertvolle Pause. Doch er bereute es schon im selben Augenblick. Es war eine Dummheit gewesen, seiner Gegnerin den Rücken zuzukehren, und es war noch dümmer, sich für sie zu bücken und die erniedrigendste Sklavenarbeit zu leisten. Es war falsch, falsch, falsch! Beruhigend ergriff im Wogen der Gedanken die Stimme seiner ungeschriebenen Autobiographie das Wort: ‚...Ich konnte nicht klar erfassen, weshalb mich auf einmal Mitleid mit den braven Tieren überkam, und zugleich mit ihrer Besitzerin, die mir um nichts weniger eine Gefallene schien als sie. Doch es war mir ein Bedürfnis, wenigstens das Menschenmögliche zu unternehmen und den jammervollen Anblick des auf der Erde liegenden Kalenders nicht länger zu dulden, und noch heute bin ich sicher, das Richtige getan zu haben, wenn ich mich an die tiefe Dankbarkeit in den Augen der Jobcenter-Angestellten erinnere...‘

„Danke. Aber wir kommen bei Ihrem Problem nicht weiter, indem wir Kalender aufhängen.“ Johann plumpste auf seinen Stuhl zurück – oder hatte er ihn etwa verfehlt? Hatte er mit Kitty und Pussy die Rolle getauscht und saß vor der grinsenden Hexe im Staub?? Für den Bruchteil eines Bruchteils musste er sich vergewissern, dass er tatsächlich links und rechts eine Armlehne spürte. Ja, Gott oder wem auch immer sei Dank: Er tat es.

„Na schön, Herr Goethe. Bekommen Sie eigentlich so etwas wie Bafög?“ „... – ...Jetzt nicht mehr. Dieser eine Kurs in Technischer Kybernetik war wohl zuviel für die zuständige Kommission, aber ich bin ja froh, dass ich mich überhaupt so lang im Förderprogramm halten konnte. Ich glaube, Sie dürfen es mir, ähm, als soft skill anrechnen, dass ich im Umgang mit der Bafögstelle ein rechtes Geschick bewiesen habe...“

Als Goethe den Telefonhörer in den spitzen Fingern der Gelockten bemerkte, fiel ihm auf, dass er dabei war, sich um Kopf und Kragen zu reden. Die – wollte ihn verpetzen! Sein erster Impuls war, das schon begonnene Telefonat sofort zu unterbinden, und seine Hände zuckten nach dem Kabel. Dann allerdings hörte er, dass die Frau etwas von einem Tag der offenen Tür im vergangenen Monat erzählte, und plötzlich dämmerte es ihm, dass der Apparat eben geklingelt hatte und die Sachbearbeiterin demnach angerufen worden war. Nun legte sie auch schon wieder auf und entließ aus ihrem stark geschminkten Mund die Worte: „Tut mir leid, ich konnte Ihnen gerade nicht ganz folgen. Wo waren wir stehen geblieben? – Oh, unsere Zeit ist sowieso schon vorbei. Tja, also, um ganz ehrlich zu sein: Ich glaube, Sie sind bei mir falsch. Wenn Sie einen Studentenjob suchen, den finden Sie an der Universität viel besser als bei der Arbeitsagentur. Ich kann Ihnen nur den Tipp geben: Belegen Sie mal einen Kurs in Kosten-Nutzen-Denken. Das Beste, was Sie in Ihrer Situation tun können, ist, dass Sie sich bemühen, Hartz IV zu vermeiden. Alles Gute weiterhin.“ „...–...–...–...“ „Ist sonst noch was?“

„Ich... habe Ihnen... in achtfacher Ausfertigung meine Unterlagen geschickt, meinen Lebenslauf, mein beglaubigtes Abizeugnis; ich habe schon dreimal hier angerufen...; ich fordere Wiedergutmachung, will sagen, ich meine, es ist mein Recht als Bürger – ach, warum habe ich nicht Jura studiert(?) –, nach all dieser Mühe nicht einfach hinausgeworfen zu werden! Ich will keinen Studentenjob! – Mein Philosophieprofessor Pflug hat mir geraten, in meiner... meiner Situation einen gleitenden Übergang ins Berufsleben ins Auge zu fassen. Ein Praktikum oder gar eine regelrechte Stelle auf einem Gebiet, in dem ich nach dem... Abschluss bleiben kann, das muss ich an diesem Ort finden, etwas Beratung, Lenkung und Vorsortierung... Ich weiß nicht, wohin! Kein Arbeitgeber lässt sich beeindrucken von... einem wie mir...“

Goethe fühlte, wie sein Mienenspiel außer Kontrolle geriet. Die Sachbearbeiterin blickte drein, als stieße ihre Physis den Modernitätschip ab, so dass sie ihn jeden Moment vor sich auf den Schreibtisch spucken müsste.

Da auf einmal öffnete sich die Tür zu einem Nebenzimmer und ein in jeglicher Hinsicht korrekt wirkender junger Mensch trat herein. Ohne zu zögern – fast konnte man glauben, er hätte von nebenan alles mitbekommen und wäre über das Geschehene voll im Bilde – streckte er Johann eine glatte Hand entgegen und sagte: „Sie müssen Herr Goethe sein! Gut, dass ich Sie noch hier antreffe. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Falkner. Wir haben schon miteinander telefoniert; vielleicht erinnern Sie sich.“ Der so Angesprochene erinnerte sich nicht. Doch er stellte fest, dass der Neuankömmling ihn an jemand anderen erinnerte. Diese Unmengen Schmalz, von denen der Mann derart randvoll schien, dass sie ihm schon aus den Ohren quollen, um von dort zwecks Styling direkt in die Haare befördert zu werden, dieses ölige Grinsen, auf dem jeder Blick ausrutschte und noch zwanzig Zentimeter weiterschlitterte – nein, das war es nicht, oder? Was war es, worin lag das Problem, das ihn über diesen – wie hieß er gleich(?) – förmlich stolpern ließ??

Doch er wurde im Nachdenken gestört, denn der Schleimige hielt ihm plötzlich einige Papierseiten vor das Gesicht, vielleicht irgendwelche Ausdrucke aus dem Internet. „Ich habe mir erlaubt, schon einmal ein bisschen vorzusortieren. Fürs Erste habe ich drei Jobs gefunden, für die Sie wie geschaffen sind, Herr Goethe. Schauen Sie die Angebote daheim in Ruhe durch, und wenn sie Ihnen nicht gefallen, kommen Sie einfach nochmal vorbei. Wenn Sie mir nur noch den Empfang quittieren, einfach als Bestätigung für die Agentur, dass ich Ihnen das Material ausgehändigt habe. Hier, ja. Und hier und hier, Herr Goethe. Geil. Alles Gute weiterhin.“

Als Johann von den Zetteln aufschaute, stand er außen im Gang. Ohne dass er die Energie fand, die Arbeitsangebote genauer durchzusehen, setzte er sich langsam in Bewegung und strebte dann immer eiliger auf den Ausgang zu. Keine zwei Minuten würde er es mehr zwischen diesen verlotterten Wänden aushalten, dann würden sie Macht bekommen, zusammenzurücken und sämtliche Luft aus ihm herauszuquetschen. Links und rechts huschten apathische Pressspantüren an ihm vorbei, die alle gleich aussahen und kein Ende nahmen – noch eine, noch eine, Fikus, Mensch, noch eine –; nun um die Ecke biegen und ins Treppenhaus gelangen, oder hatte er sich verlaufen? Nein. – Aber so schäbig die Stufen auch aussahen, eigentlich hatte er doch einen Erfolg erzielt; er hatte diesem tristen Gebäude ein paar Informationen abgetrotzt, die ihn möglicherweise vor dem Ruin bewahrten. Bestimmt konnte er in der weniger klebrigen und ekelhaften Luft der Straße mit ganz anderen Augen auf sein erstes und letztes Mal Jobcenter schauen; dort vorne war ja schon die Anmeldung und dahinter – die Erlösung...

Als er sein Ziel fast erreicht hatte, wurde die Eingangstür von außen aufgerissen und eine Gestalt glitt herein. Ach, zu dumm! Jedes Hindernis, das seine Flucht verzögerte, und sei es auch ein noch so schlankes und leicht umgehbares, wuchs nun zum ernsthaften Problem heran.

Goethes widerwilliger Blick fiel auf das Gesicht der Eintretenden. Da zerriss etwas in ihm. Er wurde von einem unerhörten, bodenlosen Entsetzen eingehüllt, das ihm umso merkwürdiger vorkam, als er buchstäblich keine Ahnung hatte, was er von diesem Gefühl halten sollte. Kannte er die Person? Keinesfalls. Hatte er Feuer gefangen? Das fühlte sich erfahrungsgemäß anders an. Verachtete er sie vielleicht? Dazu gab es wenigstens jetzt noch keinen Grund. Dennoch stand außer Zweifel, dass die Frau seine Nerven derart in Erregung versetzt hatte, dass es weh tat, und eine grimmige Angst hielt ihn weiterhin mitten in der Bewegung auf, wie wenn sie sich vorgenommen hätte, ihn zum Denkmal erstarren zu lassen. Und noch immer war der bewusste Moment nicht vorbei, noch immer schwebte, von einer durch den Schrecken verlangsamten Zeit aufgehalten, dieses Gesicht vor ihm, diese überaus eigentümlichen, unverwechselbaren Konturen, von denen er sich nicht befreien konnte, obwohl er wusste, dass ihr Anblick, noch eine Sekunde länger ausgehalten, ihn verderben würde. Diese länglichen, weit hochgezogenen Augenlider, die ein wenig zu kitschig roten Backen, die falben ausgeblichenen Haare – die saßen ein wenig schief, schienen angeklebt...

Die Frau nickte ihm zu und war verschwunden. Johann befand sich im Freien, wo es kräftig zu nieseln, ja fast schon zu regnen begonnen hatte. Doch was kümmerte es ihn? Sogar seine wirtschaftlichen Sorgen, die ihn eben noch um den Verstand bringen wollten, lagen nun vor ihm wie ein kläglicher Haufen Sperrmüll. Nein, Moment, das war ein Haufen Sperrmüll, der den kompletten Gehweg blockierte. Beinah hätte ihn ein ausrangierter halbierter Diwan zum Stolpern gebracht.

Wer ihn in diesem Augenblick beobachtete, so etwa durch eine mit kleinen Regentropfen gesprenkelte Windschutzscheibe, konnte mitverfolgen, wie er achtlos vom Randstein auf die Straße trat und einen Bogen um eine Staffelei schlug, um diverse Bügelbretter, ein düsteres Etwas, das vielleicht einmal ein Kasperletheater gewesen war, sowie einige weitere Gegenstände – doch offenkundig nahm er keinen davon wirklich wahr. Nicht einmal das ihm entgegenrollende Pizzakurier-Auto erregte sein Interesse...

Da er hinter sich ein unheilvolles Geräusch zu bemerken glaubte, wandte er den Kopf und entdeckte einen weißen Oldtimer, der mit geringer Geschwindigkeit näher kam, eine kolossale Karosse, die wohl einen leichten Motorschaden hatte.

Dem vielfach widerhallenden, ihm seltsam vertraut erscheinenden Geheul dieses Gefährts gelang es – ei, das war ja richtig laut –, wenigstens einen Teil von Johann wachzurütteln. Ach ja, so ging es ihm durch den Kopf, er stand noch auf der Straße... Wahrscheinlich sollte er sich besser bewegen; ein kleiner Spaziergang mit seiner ungeschriebenen Biographie würde die nötige Klärung bringen. Er machte ein paar Schritte auf den Randstein zu...

‚...und gerade als ich mich, erfüllt von den empfangenen Ratschlägen und Arbeitsangeboten, zum Gehen wandte, geschah es, dass das hohe Bild einer hereintretenden Dame meine Aufmerksamkeit beanspruchte. Der Anblick versetzte mich in Staunen...‘, nein, (der Pizzakurier verfehlte ihn knapp und entfernte sich hupend nach der anderen Seite) ‚...Der Anblick war... so recht... über alle Maßen...‘ – altmodisch, das klang würdig, aber über alle Maßen altmodisch – ‚...Der Anblick ließ mich an eine Schauspielerin denken, die ich vor kurzem...‘ – das stimmte nicht – ‚...brachte mir die spontane Eingebung zu einem neuen Roman...‘ – auch das war gelogen – ‚...widersprach... – ...berührte... – ...glich... – ...unterschied sich...‘

Goethe blieb stehen. Dann wandte er sich um und lief gehetzt zur Arbeitsagentur zurück. Erschrocken hob die Anmeldungsfachkraft den Kopf, als er die Tür aufriss, in die Halle stürmte und rief: „Die Frau von eben – wo ist die hingegangen??“ „Äh, wer bitte?“ „Die Frau, die gerade dieses... ‚Bauwerk‘ betreten hat!“ „Ich habe niemanden gesehen.“ „Na klar, Kindchen. Jetzt hören Sie mir mal zu: Ich habe schon Spukgedichte geschrieben, als Sie noch... äh, auch schon hier gearbeitet haben. Und über unsichtbare Frauen und ähnliche Gestalten können Sie mir gewiss nichts Neues berichten. Also hören Sie auf, mich an der Nase herumzuführen!“ Seine Gesprächspartnerin hatte unwillkürlich zum Telefonhörer gegriffen, doch offenbar wusste sie nicht, wen sie in Fällen wie diesem anrufen sollte. „Aber Herr..., ich habe vorhin unsere Broschüren neu geordnet; ich habe so gut wie gar nichts gesehen! Gerade noch, dass Sie die Treppe runterkamen, aber sonst...“ Die letzten Worte sprach sie allerdings in die leere Luft, denn der, den sie erreichen sollten, war bereits auf dem Weg nach oben.

Er musste sie finden. – Er hatte ein Problem mit übermäßigem Lärm, also stellte er sich zuweilen auf eine Brücke, unter der die Güterzüge durchrauschten, und ließ das Donnern der Waggons auf sich wirken. Er hatte Angst vor großer Höhe, also war er häufig gesehener Gast in den oberen Stockwerken der Bankentürme, soweit sie öffentlich zugänglich waren. Und nun hatte er ein Problem mit dieser Person. Er würde es ohne zu zögern angehen. Warum er gerade glaubte, dass sie in das Zimmer mit der Lockigen und dem Schleimigen gehörte, wusste er selbst nicht so genau zu sagen. Aber – Pressspan, Mensch, Fikus, Pressspan – solang er die Kraft besaß, den Türgriff zu betätigen, brauchte er keine Erklärungen.

Dort, da war es, da saßen die Wartenden. Johann verlor keine Zeit mit Anklopfen. Er stieß die Tür auf, dass die Angeln knirschten, und entdeckte – die nämliche Sachbearbeiterin von vorhin im Gespräch mit einem Jobsuchenden. Der stiere Blick, der ihn traf, sprach nicht nur Bände, sondern umfasste eine regelrechte Gesamtausgabe. „Herr Goethe! Womit kann ich Ihnen denn diesmal behilflich sein?“ Herr Goethe war derart perplex, dass er nur murmelte: „Schirm vergessen“, und den Raum sofort wieder verließ, ohne Gruß und ohne Schirm.

Nun war es auch schon egal. Die deutlich sichtbare Verwunderung einiger Wartender ignorierend, ging er geradewegs auf die Tür des Nebenzimmers los. – Er fand ein komplett leergeräumtes Büro vor; von Falke, oder wie der geheißen hatte, fehlte ebenso jede Spur wie von –... Schnell weiter. Hinter der nächsten Tür mischte Johann einen Vortrag auf, die übernächste war abgeschlossen, drei nachrückende verbargen, so schien es ihm, immer denselben Raum, nur dass in den Zwischenzeiten rasch das Personal ausgewechselt wurde. Es folgten die Toiletten, eine Art Rumpelkammer, ein Büro, ein Büro, ein Büro, ein Büro... Es war wohl am besten, sich nicht umzuwenden, ja nicht einmal aufzuschauen, denn das Palaver, das wie eine Schlange hinter ihm herkroch, schwoll stärker und stärker an und verkürzte rasch den Abstand zu ihm. Er konnte bereits kaum mehr ausblenden, dass ihn jemand am Ärmel zupfte, obwohl er sich redlich darum bemühte. Genauso wenig gelang es ihm, noch weiter das Gefühl der Sinnlosigkeit aufzuhalten, das ihn seit unbestimmter Zeit auf Schwachstellen abklopfte.

Abrupt blieb Goethe stehen und drehte sich dem Zupfer entgegen. Es war... irgendwer, den er sich ganz anders vorgestellt hatte. Von ferne mochte er an Falke erinnern. Bevor der Mann etwas sagen konnte – es wurde allmählich dringend; immerhin zuckte ihm schon der Mund –, sprach Goethe, unterstützt von einer gewandten rhetorischen Gebärde: „Nur wer täglich die Wahrheit sucht, ist es wert, ein ehrenhafter Scheiternder genannt zu werden“, und bewegte sich, vorbei an seinem Gegenüber und einigen anderen Leuten, wieder zurück in Richtung der Treppen. Hmm. Vermutlich hätte ihm lieber ein lockerer Spruch à la Hollywood einfallen sollen. Inständig hoffte er, dass die Meute dennoch aufhören würde, ihn zu behelligen.

Da trat ihm ein weiterer seiner Verfolger in den Weg: „Warten Sie doch mal; Sie haben es aber eilig! Wir sind die Rhetorikgruppe und unser Seminarraum ist belegt.“ „Äh... wie bitte?“ „Ja, sind Sie hier denn nicht der Chef? Wir dachten, weil Sie nirgends anklopfen müssen... Neulich stand doch erst in der Zeitung, das Jobcenter hätte einen jungen neuen Chef bekommen...“ „Jaja. Nehmen Sie Zimmer fünfhundertzwölf. Vier Stockwerke über uns; diese Richtung; zweimal abbiegen.“

Mit einem Schlag war Goethe die Gruppe los. Erst langsam begriff er, was da vor sich gegangen war. Er hatte gar kein Aufsehen erregt?! In ihm und rund um ihn herum war nichts als Leere.

In dieser Stimmung streifte er um die Ecke zum Treppenhaus – und prallte heftigst mit derjenigen zusammen, die er gesucht hatte. Wenn der Pizzakurier ihn gerammt hätte, wäre es ihm besser ergangen. Eine Sekunde später fühlte er sich, als ginge ihm ein Jahrmarktskarussell im Kopf herum, und zwar eines der allerneuesten Sorte: Weil er schon seit geraumer Zeit keinen Jahrmarkt mehr besucht hatte, kannte er die noch gar nicht. Umso mehr belastete es ihn, dass nun auf einmal zwanzig grell blinkende Kabinen in unerhörter Beschleunigung zu rotieren und sirrend und summend auf- und niederzuhüpfen begannen. Rechts oben – nein, jetzt war sie schon weiter – hing eine rot-gelbe Kapsel, da saß einer drin und klammerte sich an die Frage, wie die geheimnisvolle Frau nur einen so schrecklich harten Körper haben konnte. Ganz vorne und ganz groß oder auch ganz woanders schossen Grün und ein schreiendes Pink vorbei, die verbargen einen, der sich überlegte, woher die Person so plötzlich aufgetaucht war. Ein anderer in Blau und Orange wollte wissen, warum die Fremde nicht zurückwich (so, wie Goethe selbst es getan hatte), ein weiterer – die Farben konnte Goethe nicht erkennen – feilte vergeblich an einer angemessenen Reaktion auf das Geschehnis... Langsam hob sich die Maschinerie in die Senkrechte, um in der Mitte einen Blick auf das diffuse, aber ach so vertraute und extrem nahe Gesicht der Verursacherin von all dem freizugeben. Da kam eine neue Frage hinzu: O was hatte er nur Sonderbares an ihr finden können?! Sie war eine ganz normale, wenn auch sehr charismatische Frau, die ihm unter mehreren nicht unbedingt aufgefallen wäre – oder? Etwas an dem Bild und seinen Gefühlen zu ihm schien gelegentlich ins komplette Gegenteil zu kippen und leicht verändert daraus zurückzukehren...

In diesem Moment begannen die Lippen der Dame ebenmäßig zu sprechen: „Ich habe erfahren, Sie sind Herr Goethe...“ Das Karussell flog nach allen Seiten auseinander. Unfall! Bruch der Hauptachse! Im Nu fand Johann sich in einem Tal zwischen metallisch glänzenden Trümmerteilen wieder. – Nein. Das waren keine Trümmer. Das hatte System. Er war im Spiegelkabinett gelandet... „...Gut, dass Sie noch da sind, Herr Goethe; dann kann ich es Ihnen persönlich sagen: Ich hätte vielleicht eine Arbeit für Sie. Natürlich kann ich Ihnen nichts versprechen. Es wird noch mehr Bewerber geben...“ Aus einer Flut verbogener Spiegelgläser starrten ihm vervielfacht die nun gestoppten Karussellfahrer entgegen, dick, dünn, verklärt, aggressiv, gepeinigt, gelassen... Er selbst, Johann Goethe, war in der Wirrnis verloren gegangen... Wie sollte er sich unter so vielen Köpfen finden? „...Hören Sie auf zu suchen“, sprach die Dame. „Äh – ich muss mich verhört haben. Was sagten Sie eben?“

Unvermittelt begann die Dame zu lachen. Was für eine warme, geradezu überwarme Stimme, nur etwas monoton vielleicht... „Ich sagte, Sie müssen ja wirklich schon lange nach einer Stelle suchen. Sonst wären Sie jetzt weniger...“ – sie lachte wieder – „...gerührt. Interessiert es Sie denn gar nicht, was mein Angebot genau beinhaltet?“

Die Spiegel verschwanden allmählich bis zum Rand seines Gesichtsfelds und zerbröckelten dort zu einem dezenten Flimmern, das kurz darauf von einem sanften Rauschen in den Ohren abgelöst wurde, einem Rauschen allerdings, das nicht gesund sein konnte. Johann machte einen weiteren Schritt nach hinten, um noch ein Stück aus dem Bannkreis der Fremden zu entweichen, denn – möglich, dass das verschwörerisch wirken sollte – diese stand noch immer exakt auf dem Punkt, wo sie ihn gerammt hatte. Erst danach gelang ihm eine Antwort: „Zunächst wüsste ich recht gerne, wie Sie dazu kommen, Erkundigungen über meine Person einzuholen. Weshalb sollten Sie die Absicht haben, gerade für mich etwas zu tun? Und vor allem: Was haben Sie über mich erfahren?“ „Oh! Ein Mensch mit Prinzipien! Sehr schön. – Tjaaa, mein guter Herr Goethe, viel weiß ich nicht, aber ich weiß, dass Sie vorhin in aller Eile von hier weglaufen wollten. Das gefällt mir. Vielleicht hat es Ihnen ja noch keiner gesagt, aber egal wie viele Qualifikationen man Ihnen abverlangt, am Ende zählt doch etwas anderes. Da zählt, wie Sie riechen und ob man Ihnen abnimmt, dass Sie etwas... zu opfern bereit sind... – Dass Sie genug da oben drin haben,...“ – sie tippte sich an den Kopf, was wider Erwarten kein seltsames Geräusch verursachte – „...das sehe ich Ihnen aus hundert Metern Entfernung an. Verkrachter Musiker, schätze ich. Oder... Schriftsteller?“ Goethe versuchte unwillkürlich in die Zweige eines Fikus zu greifen, den es an dieser Stelle aber nicht gab, und lehnte sich dann an die Mauer. Doch die Frau war in ihrer Rede schon fortgeschritten. – Offenbar ein ganzes Stück: „...und ich möchte es nochmal möglichst schriftstellerisch ausdrücken: Falls Sie also Lust haben,...“ – sie lachte – „...Chef des Unergründlichen zu werden: Hier ist meine Karte. Schönen Tag weiterhin.“

Ohne Johann Zeit für ein paar Worte seinerseits zu lassen, drehte sie sich um und lief in aller Eile die Treppe hinunter, als ob sie es nicht erwarten könnte, das Gebäude zu verlassen. Er, verwirrt und verunsichert wie noch an keinem Tag in seinem Leben – außer einem, an den er sich nicht mehr erinnern konnte –, bemerkte, dass er zusammen mit den Zetteln des Schleimigen eine Visitenkarte in der Hand hielt, und hob sie sich vor die Augen. Darauf stand... nichts...

Herrje, da kam die Rhetorikgruppe zurück und schimpfte mit allen Finessen der Redekunst. Schnell fort, bevor man ihn bemerkte...

Als er wenig später auf die fast schon abendlich anmutende Straße trat, schwelte in ihm der Ärger, dass er das eigentliche Rätsel ungelöst hatte entfleuchen lassen, und falls seine Beunruhigung durch das Gespräch auch nur ein klein wenig gemildert worden war, so flammte sie nun hemmungslos wieder auf. Diese schiefen Haare... Ja, er schüttelte den Kopf über sich, dass er überhaupt fähig gewesen war, die Gegenwart dieses wandelnden Alptraums zu ertragen – wie jemand, der, aufs Land gezogen, eines Morgens schweißgebadet und ungläubig aufwachte, weil ihm im Schlaf das Toben der Stadt erschienen war... Doch was reimte er sich da zusammen?... Seine Autobiographie schwieg. Das war ungewöhnlich. Das war ein Fanal! Nie und nimmer würde er von dieser... – ihm fehlten die Worte – eine Arbeit annehmen, und wenn er als Bettler durch die Straßen ziehen müsste...

Zweites Kapitel

Der Parcours / Jennys Erweckung / Auftritt eines Abenteurers

Das Baby Johann Goethe – Goethe mit oe, das würde später noch vorteilhaft für die E-Mail-Adresse sein – erblickte an einem klaren Augusttag des Jahres neunzehnhundertzweiundachtzig das Licht der Welt, oder genauer: die spiegelnden Fassaden der Frankfurter Bankentürme. Es wollte nach Hause, also zurück ins Dunkel, denn schließlich stand zu befürchten, dass der unfreiwillige Umzug dauerhafte Folgen für sein Leben mit sich bringen mochte. Doch etwas später, kurz bevor man es einschulte – damals war es allerdings kein Baby mehr –, siegte die Neugier, und der kleine Johann begann sich mit seiner Lage peu à peu zu arrangieren, auch wenn er sie in seinem Innersten noch lange als großes Unrecht empfand.

Immerhin stapfte er inzwischen ein wenig sicherer durch die Zimmerfluchten des geräumigen elterlichen Vorortbungalows, ganz gleich, wie viel absonderliche Formen und Gestalten oben von den Möbeln heruntergrüßten, wie viel höhnische Gesichter nur darauf warteten, dass er unter ihnen vorbeitrippelte, damit sie ihn aus riesigen Augen anstarren konnten... – ach, warum hatte er nur wieder darüber nachzudenken begonnen? Nun bekam er es nicht mehr aus dem Kopf, und das, obwohl er sich gerade vor die Aufgabe gestellt sah, das Wohnzimmer zu durchqueren...

Da kam links das Regal mit den glitzernden Dosen. Sein Vater hatte ihm erklärt, das sei eine Sammlung von Bierdosen aus aller Welt, aus Japan, Australien und wie die Länder alle hießen, und nur auf ganz wenigen davon war ein Gesicht zu sehen. Dort, ja, da war die Polizistin mit dem riesigen schäumenden Glas, nun, die war noch recht harmlos. Aber ganz hinten, das wusste er, da war die Fratze, die sich hinter der spiegelnden Sonnenbrille versteckte. Die kontrollierte die Dosen, und wenn sie wollte, dann würden ihre blechernen Vasallen auf ihn niederprasseln... Schau hin, Johann, fixiere sie; nur so kannst du sie in Schach halten... Schnell weiter.

Aber da schoben sich rechts schon die Konturen eines noch größeren Schreckens ins Bild, der Kopf des afrikanischen Löwen. Den hatte sein Vater bei einer Safari überfahren und seitdem sann der Kopf hier über der Stereoanlage auf Rache... Den schaute man besser nicht an, sonst fühlte er sich noch zusätzlich gereizt, und am Abend würde man Johann zerkaut auf dem Fußboden finden... Der junge Goethe hielt sich den Arm vors Gesicht und ging halb blind weiter voran. Plötzlich allerdings sprach etwas in ihm; er wusste nicht, ob Freund oder Feind: Dochdoch, du musst hinsehen. Zeig ihm, wer sein Meister ist! Und unversehens schielte er, noch bevor er gänzlich begriffen hatte, was er tat, nach den kalten Fischaugen des Monsters...

Dadurch geriet er ins Stolpern und hätte beinah die dritte Station des Hindernisparcours umgerannt, die Lampe aus Amerika mit den wabernden bunten Mustern, die man nur berühren musste, damit sie original bayerisch zu jodeln begann. O wie er sich vor diesem Geräusch fürchtete, das klang wie Hilferufe aus der Hölle... Nur rasch antippen, damit er es hinter sich hatte... Seine Eltern glaubten, er liebte die Lampe, weil er sie jedes Mal zum Kreischen brachte, wenn er ihren Bannkreis passierte... Sie ahnten ja nichts... Wie sollte er es ihnen erklären?

Doch er verschwendete besser keine Kraft mehr für einen Gegner, den er bereits glücklich hinter sich gelassen hatte, denn es erwarteten ihn noch ganz andere Gewalten! Der überlegen lächelnde Plastikkojote mit dem Sombrero, der mächtige Sandbottich, aus dem jede Menge alte Messer und Gabeln aufragten und die gruseligsten Schatten warfen – Relikte von längst vergessenen Restaurantbesuchen –, im Flur die Wandteller, auf denen sämtlich ein riesengroßes orientalisches Gespenst sein Unwesen trieb... Freilich hätte es Johann amüsiert, wäre ihm eröffnet worden, dass seine Mutter vor Jahren erfolgreich mit der Scheidung gedroht hatte, falls noch mehr Plunder ins Haus käme. Leider eröffnete es ihm niemand.

Mittlerweile war er an der Tür zu seinem Zimmer angekommen, indem er sich fortwährend beschwor, der Kollektion die Stirn zu bieten, ja später selbst zu sammeln und die Geister in ihre Löcher zu scheuchen... So, jetzt nur rasch hinein und der gerade sechsjährige Goethe war gerettet vor allem, was ihn bedrängen mochte, außer vor sich selbst.

– Diese finale Wendung war es, die den bald elfjährigen Goethe einen Moment lang zögern ließ, als er sich, sein Zimmer betretend, aus den noch immer farbigen Erinnerungen an die alten Ängste löste. Sein Blick fiel aus dem Fenster, die begrünte Böschung hinab. Da sah er – sie. Also nicht die betreffende „sie“ aus dem letzten Kapitel; das wäre zu seltsam. Aber fast so war es dann doch. Er sah Jennifer aus der Parallelklasse, die Tochter von Leuten, die ein paar Häuser weiter lebten, durch die Fliederbüsche streifen, die unten das unumzäunte Grundstück begrenzten. Das für sich allein musste nicht weiter dramatisch genommen werden. Es kam oft vor, dass andere Kinder dort unterwegs waren, schließlich waren andere Kinder überhaupt sehr viel unterwegs. Allerdings setzten ihm die Fernbegegnungen mit Jenny besonders zu. Wenn es ihm gelungen wäre, nur einmal für ein paar Minuten mit ihr Federball oder Faules Ei zu spielen, wie es das restliche noch nicht ausgewachsene Viertel fertigbrachte, dann hätte er dafür mit Freuden die gleichen lächerlichen T-Shirts angezogen, wie sie dort in der Ferne und auf dem Schulhof offenbar modern geworden waren. Aber: Es war unmöglich. Warum? Er wusste es nicht. Er wusste sehr wenig von sich. Nur soviel stand fest, dass es mit jedem Tag ausgeschlossener wurde.

Doch heute war nicht jeder, sondern ein ganz bestimmter Tag, der für Goethes Zukunft noch sehr wichtig werden würde. Und da unten zeigte sich außer Jenny nur noch einer, ein Junge namens –... Der kleine Johann wusste nur, dass alle ihn beim Nachnamen riefen, dass er Wagner hieß (– ach, an den hatte ihn der Schleimer im Jobcenter erinnert, schoss es ihm über achtzehn Jahre später durch den Kopf; wieso war er darauf nicht gleich gekommen(?); das lag doch wirklich nahe)...

Dieser Wagner war ihm schon mehrfach unangenehm aufgefallen, indem er bewiesen hatte, dass er die anderen Kinder steuern konnte. Seine prahlerischen Äußerungen über einen mit allen Mitteln anzustrebenden Erfolg sowie zum Unterschied zwischen „Bossen“ und „Bimbos“ machten an der ganzen Schule die Runde. Wenn er auftauchte, entstand aus einem bunten Haufen miniaturhafter Menschen rasch ein geordnetes Schema aus Kreisen, Schlangenlinien, Teams und Gegnern. Das war eigentlich sehr hübsch anzusehen, wenn es nicht so unheimlich gewesen wäre. Dieser Wagner durfte das nicht! Er arbeitete mit verbotenen Tricks, um sich einen geheimen Hofstaat zu schaffen, mit Dienern, Tänzerinnen und Gladiatoren... Nur Jennifer hatte sich ihm weitgehend entziehen können, und das, obwohl er ganz offensichtlich der Einzige war, dem sie wirklich auffiel, von Goethe abgesehen. Mehrfach war sie nur reglos dabeigestanden und hatte dem tollen Treiben um sie her zugeschaut – und Wagner hatte ihr zugeschaut, ja den zuschauenden Johann beschlich zuweilen der Verdacht, dass vieles, was dort geschah, nur um ihretwegen inszeniert wurde. Für alles andere als die Rolle des Ehrenpublikums schien sie auch zu schmal und zu besonders...

Doch nun war eine schlimme Veränderung eingetreten. Jenny bewegte sich, einige Blüten in den Haaren, durch den Flieder wie eine Nachtwandlerin. Sie folgte jedem Wink des Gauners, mal nach links, mal nach rechts und jetzt im Kreis um den Busch, und wenn es aus der Distanz richtig zu deuten war, hatte sich ein seliges Lächeln in ihr Gesicht eingebrannt. „Stopp! Das war nicht gut!...“, so drang plötzlich Wagners Stimme leise durch die Fensterscheibe; hörte man das immer so klar(??); „...Los, wir fangen von vorne an!“ – und Jenny legte sich vor dem Flieder direkt auf die Wiese der Goethes, wo sie tat, als ob sie schliefe, nein, als ob sie gar nichts Lebendiges an sich hätte... Keiner im Umkreis von mehreren Kilometern hätte das merkwürdige Spiel, das sich da draußen in der Trübnis des späten Nachmittags vollzog, richtig zu deuten vermocht, außer eben dem kleinen Johann, der in diesem Moment Zeuge einer archaischen Erweckungsszene, einer Beschwörung der Daseinskräfte wurde. Und erneut begann das Mädchen zu wandeln... „Stopp! Nochmal! Du musst mehr –...“ Was Jenny musste, war nicht zu verstehen.

Schließlich gab Goethe sich einen Ruck und ließ sich auf einen Stuhl fallen, von dem er das Geschehen nicht länger überblicken konnte. Was kümmerte ihn Jenny? Sie hätte ihn mutwillig erschrecken, beleidigen oder angreifen sollen, dann wäre er dreimal in der Lage gewesen, es mit ihr aufzunehmen. („Hast du verstanden, Löwe?“, hätte sein sechsjähriges Alter Ego triumphiert, „Sogar mit ihr!“) Doch solang sie nur irrlichterte, war er dazu verdammt, allein zu bleiben. Rasch beugte er sich zur Schrankwand hinüber, entnahm ihr den Gameboy, den ihm sein Großvater geschenkt hatte, und setzte ihn in Betrieb. Kürzlich hatte er begonnen, sich für die darin lebenden kleinen Männchen und sonstigen Wesen ein Theaterstück auszudenken.

– Willi! Warte doch! Ich bin zwar nur ein armer wackelnder Kaktus, auf dem das Wort „Start“ blinkt, aber ich bitte dich, hör trotzdem auf mich. Dieses Wort hat mir ein böser Zauberer angehext, und wenn du es berührst, bist du verloren.

– Ach, so ein Unsinn! Ich bin ein Abenteurer. Mein Beruf verbietet es mir, auf dich zu hören.

– Vor allem bist du jung und weißt nicht, was du sagst. Hast du denn überhaupt eine Ahnung, wer deine Feinde sein werden? Die menschenfressende Lampe? Die Armee der Messer und Gabeln?

– Genug jetzt! Du kannst mich nicht aufhalten. Schau nur zu, wie meine Hand sich dir nähert... Was willst du dagegen unternehmen??

– Willi! Nein! Ich... ich bin stachlig! Du wirst dir wehtun! Willi! Williii!!!

Was machst du denn da?“ Goethes Vater hatte die Zimmertür aufgerissen. Goethes Vater hatte als erfolgreicher Immobilienmakler zu viel Zeit und verbrachte sie damit, stundenlang sinnend und spionierend durch das Haus zu schleichen. „Johann, was soll das? Wie oft soll ich es dir noch sagen: Das ist ein Gameboy; der wurde konzipiert, um mit dem Verlust des Klassenfeinds fertig zu werden – ach, das verstehst du noch nicht. Die Männchen sind auf jeden Fall dazu da, abgeschossen zu werden, und nicht, damit du –...; ich habe es deiner Mutter gesagt. Catharina, sage ich, das Kind ist noch nicht alt genug, dass du es ins Theater schleppst; irgendwann fängt es an und redet nur noch wie eine dämliche Bühnenfigur. Komm, wir stecken es in einen Schwimmverein oder Fußballclub, dass es sich durchbeißen lernt. Aber sie: ‚Nein, der Junge ist musisch veranlagt...‘ Als ob das heute noch einen interessieren würde! Pass auf, Johann: Du bist kein Schiller und wirst nie einer sein, kapiert?“

„Was ist ein Schiller?“, hatte Goethe junior noch wissen wollen, als er eine Ewigkeit früher zum ersten Mal mit diesem Satz konfrontiert worden war, und die Antwort hatte gelautet: „Frag mich das nicht. Den wird Mama dir spätestens übermorgen vorstellen, wenn sie mit Lindgren und dem ‚Kleinen Prinz‘ durch ist.“

Inzwischen, nach einundsiebzig Wiederholungen dieser Voraussage, wusste er schon ziemlich genau Bescheid, was ein Schiller war, doch bevor er etwas erwidern konnte, war er von Neuem allein im Raum. Auf dem Gameboy leuchtete der Schriftzug „Game over“ – die übliche Reaktion auf seine Bemühungen als Dramatiker. Herrje, warum hatte der Vater nicht hinausgeschaut? Gewiss hätte er die Gestalten von seinem Rasen gescheucht.

...von seinem Rasen... Ruckartig stand Johann auf. Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass er doch nicht verstehen konnte, was die ausgerechnet hier zu schaffen hatten. Suchend starrte er in den immer düsterer werdenden Tag hinaus, um zu ermitteln, ob sie noch da waren. Er musste sich nicht lange umschauen: Sie waren unübersehbar. Sie waren näher gekommen. Verblüfft und nicht ohne eine Gänsehaut unter den Haaren prallte Johann zurück. Man hatte ihn angegriffen(!), wenn schon nicht Jennifer, so doch der böse Dämon, der sie in den Armen hielt und sich soeben zum hundertsten Mal über sie beugte... Jetzt – jetzt schielte er zu ihm herauf! Mit unnachgiebigen, fürchterlich alten Augen... Mit Augen, die keinem Kind gehörten... Johann flüchtete sich in die Tiefen des Zimmers. War er die ganze Zeit schon beunruhigt gewesen, fühlte er jetzt die Präsenz einer ernsthaften Gefahr. Dort draußen geriet etwas Grundlegendes aus seiner Ordnung. Krampfhaft versuchte er, logisch zu denken. Er konnte Wagners Blick gar nicht so genau aufgefangen haben, schließlich war dieser noch immer mehrere Meter weit weg, und dem Abend gefiel es, heute verfrüht einzutreffen. Schon jetzt flossen dichte Schatten an den Möbeln herunter. Schrank, Stuhl, Tisch, ja sogar die Uhr und der Spiegel – von überall deuteten spitze Formen aus Nacht zu ihm hin, als wollten sie ihn anklagen und beschuldigen, ein nervöser Fantast zu sein... Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Goethe ein Problem mit Dunkelheit. Aber das strenge eindringende Licht war auch nicht besser, es sprach nämlich: Natürlich hast du alles richtig gesehen; ich war sehr wohl noch hell genug...

Auch wenn sich etwas in ihm wie wild sträubte: Mit einem Mal schien es ihm möglich, dass Wagner Jenny nicht wieder aufweckte, dass er nichts weiter tat, als sie – genau jetzt – im Gras abzulegen. Und dass sie liegen bleiben würde... Er rechnete jeden Moment damit, dass das feiste Grinsen des Wahnsinnigen am Fenster auftauchte, um sich daran festzukleben. Er wollte den Raum verlassen, um vor der Erfüllung dieser Schreckensvision verschwunden zu sein. Aber sein Blick kam nicht so ohne Weiteres von den feinen Staubpartikeln los, die vor einem tintenfarbenen Himmel an der Scheibe hingen und immer heimtückischer zu glitzern begannen; gleich müssten sie Wagners ihn anglotzendes Gesicht umkränzen...

Irgendwann – er konnte sich nicht erinnern, wie – war es ihm dann wohl gelungen, in den Gang zu treten, denn jäh tauchten vor ihm die Wandteller mit dem Geist auf, denen er jahrelang keine wirkliche Beachtung mehr gegönnt hatte. Vor Entsetzen öffnete sich sein Mund und fast hätte er die dutzendfach wiederholte Erscheinung aus Keramik und Glasurfarbe wüst angebrüllt: Er sah die gleichen Gesichtszüge, die gleiche Mimik wie eben, und wie Pistolenkugeln hämmerte sich ihm ein Schwarm schwarzer Wagnerscher Pupillen in den Leib. Johann schwankte, doch er lief allein schon deshalb weiter, weil er hier auf keinen Fall bleiben wollte. Gestürzt vor den wiederkehrenden Gesichtern seiner Vergangenheit zu liegen, war das Letzte, was er sich wünschte. Geschickt fing er sich mitten in der Bewegung auf; schon war er in der Diele – und plötzlich begriff er, was er vorhatte: Er war auf dem Weg ins Freie, um eine seltsame Wendung des Schicksals geradezubiegen und, auch wenn der andere größer und älter sein mochte, Jenny beizustehen. Die Märchen mussten nun ein Ende haben. Er hatte es mit einem ganz irdischen Kontrahenten zu tun, der mit dem Mädchen wer weiß was angestellt hatte, Hypnose oder vielleicht auch jenes andere, das man Vergewaltigung nannte. Er konnte den Übeltäter aufhalten; so machten es Odysseus, Prinzen, die mit Drachen kämpften, und der erst kürzlich von ihm entdeckte James Bond...

Oder aber er konnte einfach die Eltern rufen.

Seine Stimme, die fremd klang, verhallte im Haus. Keine Reaktion. Goethe rief erneut. Ob Wagner ihn am Ende noch draußen hörte?? „Was ist denn?“, kam es genervt aus dem Wohnzimmer. – Ach, das dauerte zu lang.

Als Goethe senior siebzehn Sekunden später nachschauen ging, ob etwa die Erstbesetzung für die Hauptrolle im Gameboy abgesagt hatte, musste er bemerken, dass die Haustür sperrangelweit offenstand und sein Sohn verschwunden war. Dann wandelte er sich in Johanns Kopf zu einer grässlichen Spukgestalt, die ein bellendes Lachen ausstieß.

Drittes Kapitel

Wege eines Stücks Karton / Menschen und Bierkisten / Freunde und Möglichkeiten

Der Student, Arbeitslose und Autor Johann Goethe betrat sein im obersten Stock eines schäbigen Stadthauses gelegenes Ein-Zimmer-Appartement, aus dem ihn zur fortgeschrittenen Stunde der Hauch der einsamen Nacht anwehte. Er betätigte den Lichtschalter und war etwas erstaunt darüber, dass die Lampe heute noch weniger hergab, als er es von anderen Tagen in Erinnerung hatte. Im Grunde hätte er genauso gut eine Kerze nehmen können; die wäre wenigstens stimmungsvoll gewesen. Er schleuderte die Unterlagen aus dem Jobcenter auf das am weitesten entfernte Möbelstück, einen grünen Klappstuhl, und ließ sich auf das Sofa fallen. Was hatte die verworfene Person doch gleich gesagt? „Verkrachter Schriftsteller“?! – Sie hatte ja recht. Aber wenn sie glaubte, sie könne ihn durch solche Kränkungen von seinem Weg abbringen, wenn sie sich etwas darauf einbildete, einen hoffnungsvollen jungen Mann durch üble Scherze mit vorgetäuschten Arbeitsangeboten und unbedruckten Visitenkarten in seinem Lebenswillen gebrochen zu haben, dann lag sie falsch.

Im Gegenteil hatte ihn die Begegnung mit ihr darin bestärkt, sich erneut und mit größerem Einsatz ins Schreiben zu stürzen. Sie hatte in ihm längst vergessene Ängste an die Oberfläche gerührt, die forderten, dass er sie in Buchstaben verwandelte, und eigenartigerweise kam ihm dabei seine langjährige Bekannte... und Freundin... Freundin und Bekannte... seine langjährige Freundin Jennifer in den Sinn, das seit Ewigkeiten auf Eis liegende Manuskript mit dem Titel „Die Leiden des Jungen“, dessen erste vierzig, fünfzig Seiten das Mädchen recht ordentlich auf virtuelles Papier gebannt hatten, inzwischen aber kaum noch auf eine Fortsetzung hofften. Zu dick das Fragezeichen, welches ihr Verfasser hinter das eigene Talent zum Literaten setzte, zu geballt eingetroffen die befremdeten Reaktionen von Mitmenschen auf seine Versuche, den Künstler zu spielen. Nun jedoch hatten die Dinge ein neues drohendes Gesicht bekommen, ein zu rotbäckiges Gesicht unter einem schiefen Haaransatz – nicht daran denken, sonst tauchte es noch als Schemen in der Fensterscheibe auf(!) –, und das düstere Textfragment war bestens dazu geeignet, sogar das Grauen in personam in sich aufzunehmen. Unruhig erhob er sich, trat mit hallenden Schritten zu seinem Computer und ließ ihn hochfahren. Dabei sah er, dass die leere Visitenkarte statt auf dem Stuhl auf dem Boden gelandet war.

Außerdem machte er die Entdeckung, dass von „leer“ keine Rede sein konnte. Noch während er sich danach bückte, stellte er fest, dass auf dem weißen Karton etwas silbrig glitzerte. Er zuckte zurück, als habe er seine Hand in eine Flamme gehalten. Hätte er das Objekt doch nur gleich entsorgt! Goethe wagte sich nicht einzugestehen, dass er im Geheimen schon an eine derartige Fortsetzung der Ereignisse gedacht hatte, freilich ohne im Ernst daran zu glauben. Er bückte sich noch tiefer, während er die Arme vorsorglich hinter dem Rücken verschränkte, um jede Berührung zu vermeiden. Er kam gerade tief genug, um die folgenden geschwungenen Lettern zu entziffern: „Charlotte Weimann. Loud Voice Media GmbH. Personalabteilung und Public Relations“.

Der Computer dudelte die Startmelodie und versprach, einsatzbereit zu sein. Da hatte den Autor die Wirklichkeit wieder: Dieses Stück Pappe dort auf dem Linoleum war Abfall, nicht wahr? Und was tat man mit Abfall? Man kehrte ihn zusammen. Also rasch ans Werk; wo war denn gleich der Besen? – Ach ja. Und die Schaufel dazu.

Die Karte klebte am Boden fest und ließ sich nicht von der Stelle bewegen. – Doch, jetzt. Man musste nur etwas fester drücken.

Die Karte schoss weit über die Schaufel hinaus und landete zwischen Goethes Fingern. – Dummes Zeug; das war nur eine Fantasie.

Als Goethe mit glücklich aufgefegtem Unrat auf dem Weg zum Mülleimer im Bad war, klopfte es laut an der Tür. Das Geräusch hallte in ihm weit länger nach als in der Wohnung. Was sollte das denn? Er hatte doch eine Klingel!

Es klopfte erneut. „Wer ist da?“ Langsam, damit die Karte nicht von der Schaufel geweht wurde, bewegte er sich dem Ausgang entgegen. Eine Antwort erhielt er nur in Form eines noch massiveren Klopfens. Johann verstand nicht recht, warum er ausgerechnet jetzt an Odysseus denken musste. Er hieb die Klinke nach unten und riss die Tür auf. Die Karte tat einen Sprung in die Luft und wäre unkontrollierbar geworden, wenn er sie nicht, den Blick schon halb nach draußen gerichtet, sofort mit seiner Schippe wieder aufgefangen hätte.

Im Treppenhaus befand sich eine bedeutende Menge ihm unbekannter Menschen und Bierkisten. Johann stand und schaute. „Hi...“, ließ sich da der Vorderste der Gruppe hören, der, weil er keine Bierkiste war, sprechen konnte, „...Ich bin der Dennis. Ich bin heute in die Wohnung unter dir gezogen und will eine kleine Einweihungsparty schmeißen. Der Hausmeister hat mir erzählt, du bist auch ein Student? Ich nämlich bald auch; Kommunikationswissenschaften; also wenn du willst, dann mach doch einfach mit bei der Party! Äh... was hast du da eigentlich? Das ist ja cool!...“ Erst jetzt sah Goethe, dass die Schrift auf der Visitenkarte mit einem blassen Bild unterlegt war, das nach Art eines Hologramms verschiedene Gestalten annehmen konnte; es zeigte eine Menge Puppen und schuf die Illusion, dass sie sich bewegten, dass sie vorwärts schritten... „...Soll ich dir ein Geheimnis verraten?...“, fing der neue Nachbar wieder an. „...So eine coole Visitenkarte gehört nicht auf eine Müllschaufel. Kann ich sie haben?“ „Nein!“ „Wer ist denn diese... Charlotte Weimann? Deine Ex?...“ In der Clique ertönte Gelächter. „...Ähm, worum ich dich eigentlich bitten wollte: Ich habe noch gar keine Möbel, nur eine Matratze. Vielleicht, wenn du uns ein paar Stühle leihen könntest, und vielleicht hättest du auch einen CD-Player oder sowas?“ „Oder wir bleiben einfach hier oben, dann müssen wir nichts durchs Treppenhaus tragen“, meldete sich eine junge Frau hinter ihm zu Wort. „Ja, das wäre echt super...“, meinte Dennis. „...Übrigens, deine Klingel ist kaputt!“ – und zum Beweis drückte er den Knopf, ohne dass sich etwas rührte.

Der Autor wusste nicht, wie ihm geschah. Normalerweise hätte er die Leute hochkant rausgeworfen, aber auf eine seltsame Weise war er froh, dass sie da waren: Er fühlte sich matt und schwindlig im Kopf und begann zu glauben, dass es gut war, wenn neben der hoffentlich bald entsorgten Karte auch ein paar unbefangene Menschen in seiner Wohnung waren. „Ich bin Johann. Fühlt euch wie zu Hause.“ Er winkte sie herein – und noch während er in der Bewegung begriffen war, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass dieser Dennis eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schleimer aus der Arbeitsagentur hatte. Wem hatte der„“„“„“„–“