Das Mädchen, das verstummte

Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel «Den stumma flickan» bei Norstedts Förlagsgrupp AB, Stockholm

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Den stumma flickan» Copyright © 2014 by Michael Hjorth & Hans Rosenfeldt

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Annika Ernst

Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen

ISBN Printausgabe 978-3-8052-5077-1 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-51661-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51661-8

Aber es sind Ferien. Er trägt noch immer seinen Schlafanzug, dabei ist es schon nach neun Uhr.

Sie sind alle zu Hause. Aus dem Wohnzimmer dringt der Ton von SpongeBob Schwammkopf.

Mama stellt ihm einen Teller Joghurt hin und fragt, ob er sich die Hände gewaschen hat, nachdem er auf der Toilette war. Er nickt. Ob er auch Brot wolle? Er schüttelt den Kopf. Der Joghurt reicht ihm. Vanille und Banane. Am liebsten hätte er Frosties dazu gehabt, aber Fred hat die letzten aufgegessen, also muss er sich mit den Haferkissen begnügen. Weil Fred die letzten guten Flakes bekommen hat, darf er dafür direkt nach dem Frühstück eine DVD gucken. Er wird Transformers sehen. Die dunkle Seite des Mondes.

Noch einmal.

Es klingelt an der Tür.

«Wer kann das denn sein, so früh am Morgen?», fragt die Mutter verwundert und geht zur Haustür. Als sie die Klinke herunterdrückt und öffnet, nimmt er diese alltäglichen Geräusche gar nicht wahr.

Doch dann ertönt ein lauter Knall, und es klingt, als würde jemand im Flur umfallen.

Er schreckt so sehr zusammen, dass der Joghurt vom Löffel auf dem Tisch landet, aber er bemerkt es nicht einmal. Papa ruft besorgt aus dem Schlafzimmer im Obergeschoss. Er war noch nicht aufgestanden, aber jetzt sind hastige Schritte zu hören.

Mit einem Gewehr.

Sie war zwei.

Ein Außen und ein Innen.

 

Außen bewegte sie sich noch.

Widerwillig und doch zielstrebig. In der Schule hatte sie gelernt, dass man sich nicht von der Stelle rühren sollte, wenn man sich verlaufen hatte, aber ihr Fluchtinstinkt trieb sie weiter voran.

Hatte sie sich verlaufen?

Sie wusste nicht genau, wo sie war, aber sie wusste, wohin sie wollte. Sie entfernte sich immer nur so weit von der Straße, dass sie die vorbeifahrenden Autos noch hören konnte. Sie könnte dort am Rand entlanglaufen und sich verstecken, wenn ein Wagen kam. So lange, bis ein Schild auftauchte, damit sie sehen konnte, ob sie auf dem richtigen Weg war, und anschließend wieder im Wald verschwinden. Dann verirrte sie sich auch nicht und konnte sich gut von der Stelle rühren. Außerdem war da die Kälte. Und die ungemütliche Feuchtigkeit, also war es besser, nicht stehen zu bleiben. Wenn sie sich bewegte, wurde ihr wärmer. Und sie war weniger hungrig. Also lief sie weiter.

 

Innen war sie ruhig.

Eine Weile war sie auch Innen gerannt. War blind

Sie wusste es nicht. Aber dort war sie, und dort war alles leer, und sie war ruhig.

Sie war leer und ruhig.

Alles war still.

Das schien ihr am wichtigsten. Solange es still blieb, war sie sicher. An dem Ort, der kein Ort war, erleuchtet und doch ohne Licht. Wo keine Farben sie an jene Farben erinnerten, die ihre starren Augen dennoch von der Welt dort draußen wahrnahmen. Ihre Augen waren offen, aber gleichzeitig vor allem verschlossen. Sonst würde das Gefühl der Sicherheit zusammen mit der Stille verschwinden. Das spürte sie. Aber vor allem Worte würden sie verraten. Worte würden die Wände einreißen, die sie nicht sah, und alles wieder wirklich machen. All das Grauen hereinlassen, das dort draußen lauerte.

Die Schüsse, die Schreie, das Rote, Warme, und die Angst.

Ihre eigene und die der anderen.

Innen war sie ruhig und still.

 

Außen war sie gezwungen weiterzugehen.

Dorthin zu gelangen, wo niemand sie finden konnte. Außen war sie gezwungen, das Innen zu schützen.

Sie wusste, wo sie hinmusste.

Sie hatten von einem Ort gesprochen. Davor gewarnt. Ein Ort, an dem man nie wiedergefunden würde, wenn man ihn einmal betrat. Nie wieder. So hatten sie es gesagt. Niemand würde sie finden.

 

Innen kuschelte sie sich zusammen, wurde kleiner und kleiner und hoffte, bald ganz zu verschwinden.

Am schlimmsten war, dass sie nicht mehr anrief.

Anna selbst konnte im Grunde damit leben. Sie verstand Vanjas Reaktion. Teilweise war sie sogar auch der Meinung, dass sie es verdient hatte. Außerdem hatten Vanja und sie noch nie eine besonders innige Mutter-Tochter-Beziehung mit langen Gesprächen gehabt.

Schlimmer war es für Valdemar. Ihn schmerzte es sehr, dass Vanja sich vollkommen von ihm distanziert hatte. Und das hatte, mehr noch als die Krankheit, aus ihm einen Schatten seiner selbst gemacht. Er redete ununterbrochen von seiner Tochter und den Wahrheiten, die sie ihr niemals hätten vorenthalten dürfen. Von all dem, was sie hätten anders machen sollen. Kaum hatte er den Tod überlistet, musste er einsehen, dass sein Leben von Reue und Resignation bestimmt war. Natürlich war die Situation auch für Anna schmerzhaft, aber sie verkraftete die Lage besser. Sie war schon immer stärker gewesen als ihr Mann.

Er war bereits vor mehr als einem Monat aus dem Krankenhaus entlassen worden, aber seither konnte sie ihn nicht zum Verlassen der Wohnung bewegen. Sein Körper hatte die neue Niere offenbar vollständig akzeptiert, Valdemar jedoch konnte seine neue Welt nicht akzeptieren. Eine Welt ohne Vanja. Daher stieß er alle anderen von sich.

Nicht einmal das Ermittlungsverfahren, das weiterhin gegen ihn lief, schien ihn noch zu berühren. Die Vorwürfe der Steuerhinterziehung und Bilanzfälschung waren gravierend, aber beides wurde von dem Betrug überschattet, den er an Vanja begangen hatte.

Sie hatte sich rasend vor Wut auf ihn gestürzt. Es war schrecklich gewesen. Die Schreie, die Auseinandersetzungen, die Tränen. Keiner von ihnen hatte Vanja je so erlebt.

So wütend.

So schrecklich verletzt.

Ihre Vorwürfe waren immer dieselben: Wie konntet ihr nur? Was seid ihr bloß für Menschen? Welche Eltern tun so etwas?

Anna verstand das. Genau das hätte sie an Vanjas Stelle auch gedacht. Ja, ihre Fragen waren berechtigt und nachvollziehbar. Aber die Antwort gefiel ihr nicht: Sie. Sie war die Mutter, die so etwas tat.

Während der schlimmsten Auseinandersetzungen war Anna mehrere Male kurz davor gewesen, sie zu fragen: «Willst du wissen, wer dein Vater ist? Willst du es wirklich wissen?»

Aber sie hatte sich stets zusammengerissen. Sich geweigert, es zu erzählen. Gesagt, dass es keine Rolle spiele.

Nicht, weil sie Sebastian Bergman schützen wollte. Sie sah sehr wohl, was er vorhatte. Wie er sich in ihr Leben drängen wollte. Anspruch auf ein Recht erhob, das ihm nicht zustand, wie ein Eintreiber, der eine Schuld einforderte, die ihm niemand schuldig war.

Sebastian war nie Vanjas Vater gewesen. Im Gegensatz zu Valdemar. Der war es die ganze Zeit über gewesen, voll und

Und würde genauso von ihr gehasst werden.

Mit derselben Kälte bedacht.

Sebastian wusste das. In den letzten Wochen hatte er Anna mehrmals angerufen und sie geradezu auf Knien angefleht, ihm zu einem Weg zu verhelfen, Vanja die Wahrheit zu erzählen. Doch Anna weigerte sich. Niemals würde sie ihm dabei helfen, Valdemar die Tochter wegzunehmen. Das gehörte zu den wenigen Dingen, die sie mit Bestimmtheit wusste. Alles andere in ihrem Leben war dagegen ein einziges Chaos.

Aber heute würde sie die Kontrolle wiedererlangen.

Heute würde sie den ersten Schritt tun, um alles wieder in Ordnung zu bringen.

Sie hatte einen Plan.

Endlich wurde die Haustür geöffnet, und Vanja kam heraus, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, die Schultern hochgezogen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah so blass und mitgenommen aus, als wäre sie in den letzten Monaten um Jahre gealtert. Mit einer Hand strich sie sich das stumpfe, ungewaschene Haar aus dem Gesicht, als sie die Straße überquerte und auf den Wagen zuging. Anna sammelte ihre Gedanken, holte tief Luft und stieg aus.

«Hallo! Wie schön, dass du kommen konntest», sagte sie so positiv, wie es nur ging.

«Was willst du?», erwiderte Vanja. «Ich habe viel zu tun.»

«Ich möchte dir eine Sache zeigen», sagte Anna vorsichtig.

«Was denn?»

«Können wir nicht erst losfahren? Dann erzähle ich es dir im Auto.»

Vanja musterte sie misstrauisch. Je länger sie schweigen würden, desto wahrscheinlicher war es, dass Vanja mitkam. Das hatte Anna aus all ihren Auseinandersetzungen gelernt. Vanja durfte man nicht angreifen, in die Ecke drängen oder versuchen, ihr gegenüber den eigenen Willen durchzusetzen. Um sie zum Mitkommen zu bewegen, musste alles nach ihren Bedingungen ablaufen, und Anna musste jede Konfrontation vermeiden.

«Du wirst feststellen, dass es sich lohnt», sagte Anna zurückhaltend. «Da bin ich mir sicher.»

Schließlich nickte Vanja und ging zur Beifahrertür. Sie stieg ein und setzte sich. Schweigend.

Anna startete den Wagen, und sie fuhren los. Als sie bei der Tankstelle am Frihamnen angekommen waren, brach Anna das Schweigen und beging den ersten Fehler.

«Ich soll dich von Valdemar grüßen. Er vermisst dich.»

«Ich vermisse meinen Vater auch. Und zwar meinen richtigen Vater», zischte Vanja.

«Ich mache mir ein wenig Sorgen um ihn.»

«Das habt ihr euch selbst zuzuschreiben», fiel Vanja ihr ins Wort. «Schließlich habe nicht ich euch mein ganzes Leben lang belogen.»

Anna spürte, dass sie kurz davor waren, sich wieder in die Haare zu kriegen. Wie schnell das gehen konnte. Vanjas Wut

«Ich weiß, ich weiß. Entschuldige, ich möchte mich wirklich nicht streiten. Nicht heute …»

Vanja schien sich auf die vorübergehende Waffenruhe einzulassen. Schweigend fuhren sie weiter, den Valhallavägen hinunter nach Westen, in Richtung Norrtull.

«Wohin fahren wir?», fragte Vanja, als sie am Stallmästergården vorbeifuhren.

«Ich will dir etwas zeigen.»

«Aber was?»

Anna antwortete nicht direkt. Vanja wandte sich ihr zu.

«Du hast gesagt, du würdest es mir im Auto sagen, also erzähl schon!»

Anna holte tief Luft, richtete ihre Aufmerksamkeit jedoch weiterhin auf die Straße und den Verkehr.

«Ich habe vor, dich zu deinem Vater zu bringen.»

Erik Flodin wandte sich zu dem großen weißen, zweistöckigen Haus um. Fabian Hellström, der Kriminaltechniker aus Karlstad, der mit ihm hergekommen war, stand auf der Terrasse und deutete auf das Gebäude. «Wir sind gleich fertig.»

Erik hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und richtete seinen Blick erneut auf die offene Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete.

Es war schön hier.

Der saftige Rasen, der sich bis zur Steinmauer erstreckte. Dahinter Äcker, die darauf warteten, dass das Frühjahr weiter voranschritt, und die in das dunkle Grün der Nadelbäume übergingen, denen seit kurzem die Laubbäume mit ihrem zarten, hellen Frühlingsgewand Konkurrenz machten. Über dem freien Feld segelte ein Mäusebussard und unterbrach die Stille mit seinem klagenden Kreischen.

Erik überlegte, ob er Pia anrufen sollte, ehe er hineinging. Sie würde ohnehin erfahren, was passiert war, und verzweifelt sein. Es würde die ganze Kommune betreffen.

Ihre Kommune.

Aber wenn er jetzt anriefe, würde sie Fragen stellen.

Alles wissen wollen.

Und er wusste selbst nicht mehr als das, was er von den Kollegen erfahren hatte, die bei seiner Ankunft bereits vor Ort gewesen waren.

Was hätte es also für einen Nutzen?

Keinen.

Erik seufzte und ging zum Haus und zu den Toten.

Fredrika Fransson hatte neben dem Streifenwagen gestanden und schloss sich ihm nun schweigend an. Sie war als Erste eingetroffen und hatte ihn bei seiner Ankunft mit knappen Worten über das informiert, was sie wusste. Er kannte sie noch von früher. Sie hatten zusammengearbeitet, ehe er zum Kommissar mit besonderer Dienststellung befördert wurde und seine neue Position in Karlstad angetreten hatte. Fransson war eine gute Polizistin, sorgfältig und engagiert. Sie war fast zwanzig Zentimeter kleiner als Erik mit seiner Länge von einem Meter und fünfundachtzig Zentimetern und wog mindestens zehn Kilo mehr als er, und er brachte achtundsiebzig Kilo auf die Waage. Über sie hinwegzuspringen sei leichter, als um sie herumzulaufen, hatte er einmal boshafte Kollegen über sie sagen gehört. Sie selbst sprach nie über ihr Übergewicht, genauso wenig wie über andere Dinge. Fredrika war nicht gerade redselig.

Erik glaubte Schmauchgestank zu riechen, als er das Haus betrat und das erste Opfer sah. Doch es war nicht möglich, das wusste er. Der Gerichtsmediziner hatte ihm einen vorläufigen Todeszeitpunkt genannt, nachdem er die Toten kurz untersucht hatte: Sie waren vor ungefähr vierundzwanzig Stunden gestorben. Nach einer so langen Zeit gab es keine Geruchsrückstände mehr, zumal die Haustür offen gestanden hatte, als die neunjährige Nachbarstochter gekommen war, um einen Spielkameraden zu finden.

Vier Tote.

Zwei Kinder.

Eine Familie.

Noch waren sie nicht zweifelsfrei identifiziert, aber Karin und Emil Carlsten besaßen und bewohnten dieses Haus zusammen mit ihren Söhnen Georg und Fred, weshalb Erik sicher war, Karin Carlsten vor sich zu haben. Sprach er mit Kollegen aus Stockholm oder Göteborg, ja selbst aus Karlstad, wunderten sie sich immer darüber, dass er nicht alle Bewohner von Torsby kannte. Schließlich stamme er doch von dort. Sei das nicht bloß ein kleines Kaff mitten im Wald? Normalerweise seufzte Erik dann nur entnervt. In der gesamten Kommune wohnten fast zwölftausend Menschen. In der Kreisstadt fast viertausend. Wer kannte in Stockholm schon viertausend Menschen? Niemand.

Nein, er war den Carlstens nie begegnet. Aber hatte er nicht schon von ihnen gehört? Waren sie nicht erst kürzlich in irgendeine polizeiliche Angelegenheit verwickelt gewesen?

«Kennst du die Carlstens?»

Er blickte zu Fredrika hinüber, die sich draußen auf der Terrasse mit den Schuhüberziehern abmühte.

«Nein.»

«Ich meine mich zu erinnern, dass wir im Winter mit ihnen zu tun hatten?»

«Schon möglich.»

«Kannst du das überprüfen?»

Ein Loch im Brustkorb. Groß. Fast einen Dezimeter. Zu groß für eine Waffe mit gezogenem Lauf wie eine Pistole oder eine Büchse. Es passte eher zu einer doppelläufigen Flinte. Die Blutmenge auf dem Boden deutete auf ein entsprechend großes Austrittsloch hin. Erik vermutete einen aufgesetzten Schuss, eine auf den Körper gepresste Mündung. Die Pulvergase hatten sich zwischen der Haut und dem Brustbein gesammelt, und der hohe Druck hatte die Haut aufplatzen lassen und auf dem weißen Strickpullover der Frau rund um das Eintrittsloch schwarze Schmauchspuren hinterlassen. Der Tod musste sofort eingetreten sein.

Erik warf einen Blick zum Eingang. Die Frau lag einen knappen Meter davon entfernt. Als hätte sie die Haustür geöffnet, und jemand hatte ihr, ehe sie reagieren konnte, sofort ein Gewehr an die Brust gesetzt und abgedrückt. Die Wucht des Schusses hatte sie nach hinten geworfen.

Anschließend musste der Täter über sie hinweggestiegen und weiter ins Haus vorgedrungen sein.

Der erste Raum nach dem Flur war die große Küche, deren Ausstattung ein Makler sicherlich als «rustikalen Bauernstil» bezeichnet hätte. Ein gemauerter offener Kamin mit Abzug in der einen Ecke. Ein robuster Kieferndielenboden, ähnlich breite Holzlatten an der Decke. Ein Brotschieber und ein Küchenwerkzeug, das er nicht kannte, über einer Küchenbank. Zwischen den ansonsten modernen Küchengeräten ein alter schwarzer Holzfeuerofen.

Es waren Osterferien.

Kein Unterricht hatte die Kinder gezwungen, in die Schule zu gehen. Leider, dachte Erik.

Er sah seine Theorie von der Schrotflinte erneut bestätigt, als er den Jungen eingehender betrachtete. Der eine Arm war fast gänzlich von der Schulter abgetrennt worden, und er hatte kleinere Perforierungen am Hals bis hinauf zur Wange. Weit stiebender Schrot. Wie groß war die Entfernung, wenn der Mörder von der Tür aus geschossen hatte? Zwei Meter? Drei? Jedenfalls hatten die tödlichen Projektile ihre Wirkung über den Körper ausbreiten können. Vielleicht waren sie nicht unmittelbar tödlich gewesen, aber der Junge musste dennoch schon nach wenigen Minuten verblutet sein.

Und dann?

Jemand war durch den Raum gerannt, nachdem der Junge erschossen worden war. Ein weiteres Kind. Kleine Fußabdrücke waren in dem Blut rund um den Stuhl zu sehen. Erik blickte hinüber zu dem Raum neben der Küche. Ein kleineres Wohnzimmer. Mit Fernseher und DVD-Player. Hatte der andere Sohn dort gesessen und ferngesehen? Und den Schuss gehört? Vielleicht war er schon beim ersten Knall aufgesprungen. Hatte in der Tür gestanden und gesehen, wie sein Bruder erschossen wurde. War losgerannt. Wohin? Die Spuren führten zur Treppe ins Obergeschoss.

Warum war er nicht auch in der Küche ermordet worden? Musste der Schütze sein Gewehr neu laden? Erik sah sich auf dem Boden um. Soweit er erkennen konnte, lagen hier keine

«Jan Ceder.»

Erik musste sich beherrschten, um nicht zusammenzuzucken. Fredrika hatte sich ihm lautlos von hinten genähert.

«Carlstens haben ihn im Dezember bei der Polizei angezeigt», fuhr Fredrika fort, den Blick auf den toten Jungen am Boden geheftet.

«Und weshalb?»

«Verstoß gegen das Jagdgesetz.»

«Welcher Art?», fragte Erik geduldig.

«Sie haben einen Film abgegeben, der zeigt, dass Ceder einen toten Wolf auf seinem Grundstück hatte.»

«Also wurde er verurteilt?»

«Bußgeld», bekräftigte Fredrika.

Erik nickte vor sich hin.

Ein Jäger.

Eine Flinte.

Natürlich bewies das rein gar nichts, denn in dieser Gegend gab es zahllose Jagdscheine und Gewehre, aber es war immerhin ein Anfang.

«Erst letzten Dienstag hat er ihnen noch gedroht.»

Damit wurde Erik aus seinen Überlegungen gerissen. Hatte er sie richtig verstanden? Mitunter war das nicht so leicht, weil Fredrika nie mehr Informationen von sich gab als unbedingt notwendig, und bisweilen nicht einmal das.

«Ceder?», fragte Erik, um sich zu vergewissern. «Hat den Carlstens noch am Dienstag gedroht?»

Fredrika nickte und drehte sich zum ersten Mal, seit sie in die Küche gekommen war, zu Erik um.

«Vor dem Schwimmbad. Mehrere Zeugen.»

Erik verarbeitete die Informationen schnell. Konnte es so

«Ich möchte mit ihm reden», sagte er zu Fredrika. «Bestell ihn ein.»

Fredrika drehte sich um und verließ die Küche. Erik ging seine Schlussfolgerung noch einmal im Kopf durch, während er den kleinen blutigen Fußspuren zur Treppe folgte.

Drohungen.

Ein Jäger.

Eine Schrotflinte.

Er wünschte sich wirklich, dass es so wäre. Erst seit zwei Monaten leitete er das Dezernat für Gewaltdelikte bei der Polizei Värmland, und dies war ein Fall, den er unbedingt rasch gelöst haben wollte. Pia sicher ebenso. Sie würde ihn auffordern, das Verbrechen so schnell wie möglich aufzuklären. Damit die Kommune wieder nach vorn blicken konnte.

Die Fußspuren verblassten immer mehr und verschwanden einige Meter vor der Treppe ganz. Erik legte die Hand auf das weiß lackierte Geländer und ging hinauf.

Im zweiten Stock endete die Treppe in einem länglichen Flur mit drei Türen. Zwei davon standen offen. Erik warf einen kurzen Blick in das linke Zimmer. Ein Etagenbett und verstreute Spielsachen verrieten, dass hier die Jungen gewohnt hatten. Er ging zum Ende des Korridors und hielt erneut inne. Dort, gegen die Tür gelehnt, hinter der vermutlich das Badezimmer lag, saß Emil. Er war schätzungsweise einige Jahre älter als Karin, vielleicht ließ ihn das graue Haar aber auch älter erscheinen. Daran, dass er tot war, bestand allerdings kein Zweifel. Diesmal war es eindeutig Schrot. Mitten in die Brust. Erik stellte sich vor, wie der Mann aus dem

Er sah sich um. Emil hatte offenbar keine Waffe bei sich gehabt. Er musste gehört haben, was im Erdgeschoss passiert war, und dennoch war er vollkommen unbewaffnet aus dem Zimmer gerannt.

Wahrscheinlich fasste man in einer solchen Situation keinen klaren Gedanken. Erik konnte sich nicht einmal vorstellen, wie er reagiert hätte, wenn sich all das bei ihm zu Hause abgespielt hätte. Bei ihnen. Wenn das Pia und ihre gemeinsame Tochter gewesen wären, dort im Untergeschoss.

Er stieg über die Beine des Mannes hinweg und ging in das Schlafzimmer, in dem ein Doppelbett fast den ganzen Raum einnahm. Mindestens zweimal zwei Meter. Groß genug, um auch von Albträumen geplagte Kinder aufzunehmen. Die Überdecke und die Zierkissen lagen ordentlich an ihrem Platz. Rechts und links zwei Nachttische. Eine Kommode mit einem Spiegel an der einen Schmalseite des Raums, an der anderen mehrere Schränke. Die Tür des mittleren stand offen.

Es war Karins Schrank. Kleider, Blusen und Röcke auf Bügeln.

Zwischen den Schuhen auf dem Boden ragten zwei kleine nackte Beine hervor. Erik ging näher.

In der hintersten Ecke saß der zweite Sohn. Eine Decke auf dem Schoß. Als hätte er versucht, sich zu verstecken. War Emil deshalb nicht weitergelaufen? War er dem Sohn begegnet, der die Treppe hinaufstürmte, und hatte ihn zu verstecken versucht?

Ihn retten wollen?

Vergeblich.

Der Schütze hatte ihn gefunden. Er musste dort gestanden haben, wo Erik jetzt stand. Einen knappen Meter von dem

Erik musste sich abwenden. Er hatte schon oft gesehen, wozu Menschen fähig waren, aber das hier …

Die Kinder. Die Schlafanzüge. Die kleinen nackten Beine.

Erik setzte sich auf das gemachte Bett, holte tief Luft und hielt die Tränen zurück. Mit brennenden Augen schwor er sich, denjenigen zu fassen, der das getan hatte. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal einen solchen Vorsatz gefasst zu haben, jedenfalls nie so konkret. Aber er würde denjenigen fassen, der das getan hatte.

Um jeden Preis.

Das war seine neue Angewohnheit. So brauchte er länger, und je weniger er sich in seiner Wohnung aufhielt, desto besser. Er zog ernsthaft in Erwägung umzuziehen, denn er verbrachte ohnehin die meiste Zeit außerhalb seiner vier Wände. Die wenigen Stunden, die er sich dort aufhielt, tigerte er unruhig hin und her. Wenn er irgendwann müde wurde, versuchte er, alle Bücher zu lesen, von denen er immer behauptete, sie längst gelesen zu haben. Doch er war so rastlos, dass er stets schon mit dem nächsten anfing, bevor er das erste beendet hatte. Ein Kapitel hier, ein anderes da, und er ertappte sich ständig dabei, dass seine Gedanken davonschwammen wie Treibholz.

Selbst Frauen langweilten ihn. Er flirtete weiterhin, weil es ihn etwas ablenkte, aber er war selbst darüber erstaunt, wie selten er den Weg zu Ende ging. Das sah ihm nicht ähnlich.

Aber der Anblick von Ursula auf dem Boden …

Er ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Das Blut, das sich ausgebreitet hatte, aus dem rechten Auge gesickert war wie aus einer geplatzten Tüte, ihr Haar, mit schmierigem Rot verklebt. Im Flur glaubte er noch immer den süßlichen Geruch von Blut wahrzunehmen, trotz all des Klorins, mit dem er den Boden geschrubbt hatte.

Also ging er jeden Tag ins Büro. Er brauchte die Arbeit. Einen Fall, idealerweise so kompliziert und anspruchsvoll, dass er all seine Konzentration erforderte.

Torkel bekam Sebastian noch weniger zu Gesicht, aber das war vielleicht auch ganz gut so.

Torkel liebte Ursula, und als der Schuss sie durchbohrt hatte, war sie bei Sebastian gewesen. In seinem Flur war ihr Körper wie leblos zu Boden gesackt. Sebastian hatte das Gefühl, Torkel würde ihm das Geschehene bis in alle Ewigkeit übel nehmen, auch wenn sie das Thema bisher geschickt mieden, wenn sie sich ein seltenes Mal doch begegneten.

Liebte Sebastian Ursula? Vor langer Zeit hatte er es wohl einmal getan. Aber sein erster Gedanke, als er den Schuss gehört und sie im Flur hatte liegen sehen, war schäbig gewesen. Und nicht von Panik verzerrt, sondern klar und deutlich, und alles andere als liebevoll.

Verdammt, wie lästig!

Eine Frau, die er seit vielen Jahren kannte. Eine Frau, der er nähergekommen war, der er sich mehr geöffnet hatte als jeder anderen, lag sterbend auf seinem Boden, und seine erste Reaktion war: Verdammt, wie lästig.

Er kannte diesen Gedanken nur zu gut.

So dachte er über das meiste: Konflikte, anhängliche Frauen, langweilige Arbeitsaufgaben, soziale Verpflichtungen. In diesen Zusammenhängen war das auch nur natürlich, ja, sogar gut.

Aber in einem solchem Moment – in seinem Flur, nach dem Schuss …

Dass Vanja von Zeit zu Zeit vorbeischaute, war momentan seine einzige Freude. Sie war der eigentliche Grund dafür, dass er noch ins Büro kam.

In letzter Zeit hatte sich ihr Verhältnis gebessert. Der Schock über die Enthüllung, dass Valdemar nicht ihr biologischer Vater war, hatte ihr Leben auf den Kopf gestellt. Das lenkte sie von dem Verdacht ab, dass Sebastian etwas mit ihrer gescheiterten Bewerbung für die FBI-Ausbildung zu tun gehabt haben könnte. Es schien, als hätte sie keine Kraft mehr, dieser Befürchtung weiter nachzugehen.

Was eine menschliche Reaktion war, denn nur die wenigsten schafften es, sich so heftig mit allen zu streiten, wie sie es gerade tat. Einen Mehrfrontenkrieg zu führen. Da war es besser, zumindest einen zerbrechlichen Frieden mit jemandem zu schließen.

Außerdem hatte Sebastian konsequent daran festgehalten, dass er in keiner Weise involviert gewesen sei. Zweimal hatte er das Auswahlkomitee angefleht und seinen Mitgliedern erklärt, wie falsch ihre Entscheidung gewesen sei. Natürlich hatte er beide Male dafür gesorgt, dass Vanja auf Umwegen von seinen tapferen Versuchen erfahren hatte. Doch die Kommission hatte sich nicht von ihrem Beschluss abbringen lassen. Er stand fest, und Vanja Lithner war herzlich eingeladen, sich beim nächsten Mal wieder zu bewerben, wenn in Quantico ein neuer Platz frei wurde. Sein Einsatz hatte sich trotzdem ausgezahlt.

Einige Tage nach seinem letzten Versuch war er ihr zufällig auf dem Flur in die Arme gelaufen. Sie war sanfter als früher. Wirkte müde, nicht in demselben Maß kampfeslustig, nicht mehr bereit, bei der ersten Gelegenheit zuzubeißen. Sie grüßte ihn sogar. Sie habe davon gehört, dass er sich bei der

Sie waren sich nähergekommen. Nicht so nah wie vorher, aber dennoch. Es war ein Anfang, und nach dieser Begegnung waren seine Gedanken an Ursula weniger intensiv.

Er hatte seinen Fokus wiedergefunden.

Vanja.

Draußen war der Frühling weit fortgeschritten, obwohl es erst April war. Seit über einer Woche war es nun schon warm, und man bekam einen Vorgeschmack auf den Frühsommer. Dennoch fühlte Vanja sich innerlich ausgekühlt. Verlassen. Ihr Vater war nicht länger ihr Vater. Und ihre Mutter machte sie ratlos.

Wer war ihr eigentlich geblieben?

Billy nicht. Nicht mehr. Sie waren einmal wie Geschwister gewesen, hatten sich jedoch entfremdet. Er ging voll und ganz in der Beziehung mit seiner Verlobten My auf, die Vanja bisher nur flüchtig kennengelernt hatte, obwohl die beiden schon seit einem Jahr zusammen waren. Und jetzt würden sie offenbar bald heiraten. Vanja wusste nicht einmal, ob sie eingeladen werden würde.

Torkel, ihren Chef und Mentor, traf sie ebenfalls nicht mehr so oft. Nach der Sache mit Ursula kam er nicht gerade häufig ins Büro. Sie machte sich sogar Gedanken, ob er vielleicht ganz aufhören wollte. Manchmal hatte sie das Gefühl – bei den wenigen Gelegenheiten, wenn sie sich doch einmal begegneten.

Wen hatte sie noch, der ihr nahestand?

Die Liste war kurz.

Lächerlich kurz.

Jonathan, ihr Exfreund, der sich hin und wieder in der

Vielleicht auch ein paar Kollegen, mit denen sie auf der Polizeischule gewesen war und die sie hin und wieder traf, die aber alle mitten in der Familienplanung steckten.

Und dann Sebastian Bergman.

Hätte ihr jemand damals, als sie zum ersten Mal in Västerås zusammenarbeiteten, erzählt, wie oft sie sich einmal sehen würden, hätte sie laut gelacht. Die Behauptung wäre ihr viel zu absurd erschienen, um überhaupt darauf einzugehen. Damals trieb er sie abwechselnd in den Wahnsinn und an den Rand der Erschöpfung. Aber jetzt ertappte sie sich mitunter dabei, ihn zu vermissen. Wie hatte es dazu kommen können? Wie war ein sexsüchtiger, narzisstischer Kriminalpsychologe auf ihrer lächerlich kurzen Liste gelandet?

Das lag nicht nur an dem Mangel an Alternativen, obwohl es vielleicht einfacher gewesen wäre, ihn von der Liste zu streichen, wenn es in ihrem Leben andere Menschen gegeben hätte, die ihr wirklich nahestanden.

Es gab auch einen anderen Grund.

Sie redete gern mit ihm. Er, der zu anderen unmöglich, rücksichtslos und herablassend sein konnte, war ihr gegenüber aufmerksam und verständnisvoll. Er, der andere Frauen wie Trophäen jagte, ohne einen Gedanken an ihre Gefühle zu verschwenden, nahm bei ihr Rücksicht. Sie verstand nicht, warum, aber er tat es. Ernsthaft. Das konnte er nicht verbergen.

Aber durfte sie ihm wirklich trauen? Er war allzu oft allzu nah dran, wenn irgendein Mist passierte.

Zu nah an den Beweisen, die zu der Anklage gegen Valdemar geführt hatten.

Zu nah an Persson Riddarstolpe und dem Gutachten, das

Aber wie sie es auch drehte und wendete, sie konnte einfach keinen rationalen Grund dafür finden, warum Sebastian ihr Leben zerstören wollte. Vielleicht war es tatsächlich so, wie er beharrlich behauptete, und es waren reine Zufälle. Nur dass Vanja in ihrem Job eines sicher gelernt hatte: Die Anzahl der Zufälle war begrenzt. Wurden es zu viele, verwandelten sie sich in Indizien. Das Mögliche wurde unwahrscheinlich.

Und die Zufälle rings um Sebastian hatten diese Grenze fast erreicht. Aber vielleicht hatten sie sie noch nicht überschritten.

Vanja brauchte ihn.

Sie war so einsam in diesem Moment.

Mit einem «überhaupt nichts» beantwortete er die Frage, was er über den Mord erzählen könne, und schob die Eingangstür auf. Er nickte Kristina und Dennis hinter der Rezeption zu und kramte gerade seine Schlüsselkarte hervor, als sein Handy klingelte. Während er die Karte durch das Lesegerät zog und den vierstelligen Code eingab, der ihm Zutritt zum Revier verschaffte, nahm er den Anruf von Pia entgegen.

«Ist das wahr?», fragte sie anstelle einer Begrüßung. Erik meinte einen leisen Vorwurf herauszuhören, weil sie es von jemand anderem erfahren hatte als ihm. «Eine Familie? Man hat eine ganze Familie erschossen?»

«Ja.»

«Wo? Und wen?»

«Ein Stück außerhalb von Storbråten, Carlsten hieß die Familie.»

«Wisst ihr, wer das getan hat?»

«Wir haben einen … keinen Verdächtigen, aber eine Person, die die Familie bedroht hat.»

Erik zögerte nicht einmal. Er erzählte seiner Frau fast immer jedes Detail aus den laufenden Ermittlungen, und bisher hatte sie alles stets vertraulich behandelt.

«Jan Ceder.»

«Den kenne ich nicht.»

«Wir hatten schon mit ihm zu tun. Ich werde gleich mit ihm sprechen.»

Pia seufzte tief, und Erik konnte sich genau vorstellen, wie sie am Fenster ihres Büros im zweiten Stock der Kommunalverwaltung stand und auf die Ebereschen vor dem Coop auf der Tingshusgatan sah.

«Die Zeitungen werden sich darauf stürzen», meinte sie mit einem weiteren bekümmerten Seufzen.

«Das ist nicht sicher, bisher sind nur das VF und die Nya Wermlands hier.» Er sagte das, weil er annahm, dass sie es hören wollte, nicht weil er es glaubte.

Natürlich würden sie alle darüber schreiben.

Innerhalb kürzester Zeit würden die drei Reporter vor dem Revier Gesellschaft von ihren Kollegen aus Karlstad und Konkurrenz von den großen Zeitungen aus Stockholm bekommen. Vermutlich auch vom Fernsehen. Vielleicht sogar aus Norwegen.

«Kannst du dich an Åmsele erinnern?», fragte Pia trocken und machte ihm so augenblicklich klar, dass sie seinen Versuch, sie zu trösten, durchschaut hatte. Natürlich erinnerte er sich an Åmsele. Ein Mord an einer Familie, der nahe einem Friedhof begangen worden war. Drei Tote wegen eines gestohlenen Fahrrads. Damals war Erik im ersten Jahr auf der Polizeischule. Alle hatten in den Zeitungen, im Radio und im Fernsehen die Jagd auf Juha Valjakkala und seine Freundin Marita quer durch ganz Schweden verfolgt. «Das ist über

Erik ging in die kleine Teeküche, nahm sich eine Tasse, stellte sie auf das Gitter der Kaffeemaschine und drückte auf «Cappuccino». Eine plötzliche Müdigkeit erfasste ihn. Er verlor allmählich die Geduld mit Pia. Sie war nicht dort gewesen. In dem Haus. Hatte nicht in der hintersten Ecke des Schranks den kleinen Jungen gesehen, der im Herbst in die Schule kommen sollte. Und auch nicht seinen Bruder, im Schlafanzug, beim Frühstück erschossen.

Sie hatte sie nicht gesehen.

Das Blut gesehen.

Die Sinnlosigkeit.

«Ich verstehe ja, dass das nicht gut ist», sagte er und bemühte sich, die Irritation in seiner Stimme zu verbergen, «aber es sind vier Menschen gestorben. Darunter zwei Kinder. Wie das den Zuzug in der Kommune beeinflusst, sollte doch eher zweitrangig sein, meinst du nicht?»

Sie reagierte mit Schweigen. Die Maschine hatte ihre Arbeit getan, und er nahm seine Tasse. Nippte an dem leider nicht sonderlich heißen Getränk. Der Kaffee in Karlstad war besser.

«Du hast recht», sagte sie nach einer Weile. «Es tut mir leid, ich muss furchtbar egozentrisch geklungen haben.»

«Du hast engagiert geklungen», antwortete er. Wie immer, wenn sie einknickte und um Entschuldigung bat, wich seine Irritation einem schlechten Gewissen. «Wie üblich», fügte er hinzu.

«Werdet ihr jemanden hinzurufen?», fragte sie und klang wieder so zielstrebig wie üblich.

«Was genau meinst du?»

«Nein, das hatte ich eigentlich nicht vor, jedenfalls jetzt noch nicht.»

Weiter hinten im Flur steckte Fredrika den Kopf aus der Tür. Ihr Blick verriet deutlich, dass sie der Meinung war, er solle sich augenblicklich von seinem Gesprächspartner verabschieden, wer auch immer es war, und zu ihr kommen. Erik gehorchte ihrem stummen Befehl.

«Ich muss jetzt aufhören, wir reden heute Abend weiter. Küsschen!»

Er steckte das Telefon in die Tasche, stellte die noch fast volle Tasse ab und ging mit schnellen Schritten zu Fredrikas Büro, um sich über den aktuellen Stand in Kenntnis zu setzen.

«Hallo, ist etwas passiert?», fragte er und beschleunigte voller Besorgnis seine letzten Schritte.

Im ersten Moment schien sie ihm gar nicht antworten zu wollen, sie blieb nur schweigend stehen und betrachtete ihn. All ihre Kraft schien in dem Blick aus ihren schönen blauen Augen zu liegen, denn als die Worte schließlich aus ihrem Mund kamen, klangen sie so schwach und brüchig, als hätten sie unterwegs Schaden genommen.

«Mama … hat mir erzählt, wer mein Vater war», brachte sie hervor.

Sebastian wurde innerlich eiskalt. Darauf war er nicht vorbereitet.

Auf den unmöglichen Moment.

Seine Gedanken überschlugen sich.

Anna hatte doch wohl nicht die Wahrheit gesagt? Bisher hatte sie sich immer geweigert, ihm zu helfen. Sollte sie es jetzt doch getan haben?

«Weißt du, was sie mir gezeigt hat?», fuhr Vanja fort, als hätte sie seine Frage nicht gehört, diesmal jedoch mit festerer Stimme.

«Keine Ahnung», gelang es ihm zu antworten, während er spürte, wie die schlimmste Panik wieder abflaute. Offenbar war er noch einmal davongekommen. So würde sie nicht mit ihm reden, wenn Anna die Wahrheit enthüllt hätte. So gut kannte er Vanja inzwischen. Sie war – im Gegensatz zu ihm – keine gute Lügnerin.

«Ein Grab. Sie hat mir ein Grab gezeigt.»

«Ein Grab?»

«Mm. Er ist tot. 1981 gestorben, hat sie gesagt. Hans Åke Andersson hieß er.»

«Hans Åke Andersson?»

Sebastian versuchte, die Information rasch zu verarbeiten. Anna imponierte ihm ein bisschen. Ihr war es gelungen, Vanja einen Vater zu präsentieren und ihn im selben Moment für tot zu erklären. Das war eine beachtliche kreative Leistung. Vanja beeindruckte das eindeutig nicht im selben Maße.

«Anscheinend war das irgendjemand, mit dem sie etwas hatte und der keine Verantwortung übernehmen wollte, als sie mit mir schwanger war», fuhr sie fort und schüttelte den Kopf. «Und als Valdemar in ihrem Leben auftauchte, haben sie einfach beschlossen, mir niemals von ihm zu erzählen.»

«Niemals?»

«Nein. Sie behauptet, sie hätte mich nicht verletzen wollen. Vor allem deshalb nicht, weil Hans Åke Andersson acht Monate nach meiner Geburt starb und keine weiteren Angehörigen hatte.»

«Sie muss mich wirklich für dumm halten. Nach mehreren Monaten zaubert sie plötzlich den Namen eines Mannes aus dem Hut, und passenderweise stellt sich heraus, dass dieser Mann tot ist. Ob sie wirklich gedacht hat, dass ich darauf hereinfalle?»

Sebastian ahnte, dass es eine rhetorische Frage war, und hielt lieber den Mund. Vanja erwartete ohnehin keine Antwort. Die Worte strömten nur so aus ihr heraus, aufgestauter Ärger, der lediglich darauf wartete, den Damm zu durchbrechen.

«Warum hat sie mir das verdammte Grab nicht schon früher gezeigt? Warum hat sie mehrere Monate gewartet?»

«Ich weiß es nicht», antwortete Sebastian wahrheitsgemäß.

«Aber ich weiß es. Weil es eine dämliche Lüge ist. Sie versucht nur … den Deckel über allem zu schließen. Damit ich mich mit ihnen versöhne.»

Sebastian schwieg weiter. Er wusste nicht genau, welche Strategie er wählen sollte. Sollte er Anna in Schutz nehmen? Ihr helfen, indem er Vanja dazu brachte, ihr die Lüge abzukaufen, oder stattdessen lieber Vanjas Skepsis nähren? Einen weiteren Keil zwischen die beiden treiben? Seine Lage war schwierig, aber er war zu einer Entscheidung gezwungen. Vanja schüttelte den Kopf und holte tief Luft, um sich selbst zu beruhigen. «Das Einzige, was mich auch nur ansatzweise dazu bringen würde, ihnen irgendwann einmal zu verzeihen, wäre, wenn sie ehrlich zu mir sind. Mit dem Lügen aufhören. Verstehst du?»

Sebastian beschloss, Vanja zu unterstützen. Das erschien ihm das Beste zu sein. So gewann er Zeit. Und vor allem Nähe.

«Ich schaffe es nicht mehr, mich mit dir zu streiten», sagte Vanja leise und sah ihn aufrichtig und mit feuchten Augen an. «Ich schaffe es nicht, gegen alle Welt zu kämpfen. Das geht nicht.»

«Du brauchst nicht gegen mich kämpfen», antwortete er so zurückhaltend wie möglich. Vanja nickte schwach, in ihrem Blick lag ein ehrliches Flehen.

«Dann musst du mir eines sagen: Hattest du etwas damit zu tun, dass Riddarstolpe mir keine Empfehlung für das FBI ausgesprochen hat? Hast du dafür gesorgt, dass ich den Eignungstest nicht bestehe?»

Sebastian musste sich anstrengen, seine Überraschung nicht zu zeigen. Wie kamen sie denn jetzt wieder auf dieses Thema?

«Das habe ich doch schon gesagt», antwortete er, um erneut Zeit zu gewinnen und sich zu sammeln.

«Sag es noch einmal», erwiderte Vanja und hatte den Blick fest auf ihn gerichtet. «Ehrlich. Ich würde es leichter verkraften, wenn es so wäre, als wenn Menschen, die ich mag, mich weiterhin anlügen.»

Sebastian sah sie so eindringlich an, wie er nur konnte. Wenn so viel auf dem Spiel stand, fiel ihm das leicht.

«Nein», log er und bemerkte erfreut, dass seine Stimme ein wenig vom Ernst der Stunde gebrochen war. «Ich schwöre, dass ich damit nichts zu tun hatte.»

Er registrierte, wie sie ausatmete, wie ihre Schultern vor Erleichterung sanken, und ihm wurde warm vor Stolz. Wenn er sich nur konzentrierte, war er ein irrsinnig guter Lügner. Vermutlich hätte er sie sogar davon überzeugen können, dass die Erde eine Scheibe war.

«Du brauchst nicht mehr zu sagen. Ich habe beschlossen, dir zu glauben.»

Sebastian erwachte jäh aus seiner wiederbelebten Selbstgefälligkeit. Was hatte sie da gesagt? Sie habe beschlossen, ihm zu glauben.