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Olaf Blaschke

Die Kirchen und der

Nationalsozialismus

Reclam

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© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2014

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960560-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019211-5

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

I.  Europas Kirchen in Europas Diktaturen (1917–1945)

Kontroverse 1: Christentum und Faschismus: Unvereinbarkeit oder Affinität?

II.  Kirchen und Konfessionalismus in der Weimarer Republik (1919–1933)

1. Konfessionelle Milieus in der Demokratie ohne Demokraten

2. Ende des Parlamentarismus 1930, Führersehnsucht und Brünings autoritäres Regime

3. Hitlers christliche Wähler

Kontroverse 2: Der Nationalsozialismus als Ersatzreligion?

III.  »Nationale Revolution« und Umwälzung in den Kirchen (1933)

1. Kehrtwende im Katholizismus und Reichskonkordat

2. Überanpassung im Protestantismus: Die Deutschen Christen

3. Die Verfolgung von Regimegegnern, Sozialisten, Christen und Juden

Kontroverse 3: Das Reichskonkordat: »Teufelspakt« oder Verteidigungslinie?

IV.  Orientierungssuche und »Kirchenkampf« (1933–1935)

1. Angriff auf die Milieustrukturen und kirchlichen Vorfeldorganisationen

2. Die Verfolgung von Geistlichen, kirchentreuen Beamten und Politikern

3. Auseinandersetzung mit Rosenbergs Mythus und dem Neuheidentum

4. Der »Kirchenkampf«

Kontroverse 4: Entkonfessionalisierung der Volksgemeinschaft – Vorwand oder Faktor?

V.  Die Zurückdrängung der Kirchen in der Prominenzphase des Regimes (1935–1939)

1. ›Adolf-Kurve‹ und Kirchenaustritte

2. Schärfere Pfarrerverfolgung

3. Geschlechtergeschichtliche Prägungen des »Kirchenkampfes«

4. Amtskirchliche Proteste

5. Der »Anschluss« und das Christentum in Österreich

6. Judenverfolgung und brennende Synagogen

Kontroverse 5: Christentum, Antisemitismus und Judenverfolgung

VI.  Vier christliche Positionierungsmöglichkeiten

1. Christlich-antiklerikale Gottgläubige

2. Nationalsozialistische Christen

3. Konsens, Anpassung und Ambivalenz

4. Resistenz

Kontroverse 6: Widerstand und Resistenz – oder Kollaboration und Konsens?

VII.  Die Kirchen im Krieg (1939–1941)

1. Hoffnung auf den Burgfrieden

2. Der gerechte und der Vernichtungskrieg

3. Protest gegen Eugenik und Euthanasie

4. Weitere Zurückdrängung der Kirchen

Kontroverse 7: »Endlösung der Kirchenfrage« – Intention oder Radikalisierung?

VIII.  Die Kirchen im Weltkrieg (1941–1945)

1. Kämpfen für das Vaterland bei wachsender Distanz zum Regime

2. Der Genozid und die Wannsee-Konferenz

3. Christen im Widerstand vom 20. Juli 1944

Kontroverse 8: Die Christen und die Judenvernichtung – Mittäter, Opfer, schweigende Zuschauer?

IX.  Triumphieren und Vertuschen: Kirchliche Vergangenheitspolitik seit 1945

1. Schuldbekenntnisse in Trümmern

2. Hilfe für NS-Täter und Verurteilte

3. Die schleppende Aufarbeitung

Kontroverse 9 und Resümee: Versagen oder Bewährung der Kirchen?

Anmerkungen

Verzeichnis der Karten

Abkürzungen

Zitierte Quellen und Literatur

Register

Zum Autor

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Einleitung

Bald wird er 100 Jahre alt sein, der Streit über die Beziehung von Kirche und Faschismus. Wie sollten sich gläubige Europäer gegenüber dieser nach dem Ersten Weltkrieg anschwellenden Bewegung verhalten? Wenn kluge Zeitgenossen und Historiker so lange schon mit dem Thema ringen, ist dann nicht längst alles gesagt und geklärt? Wozu noch ein weiteres Buch? Seit langer Zeit ist einmal ein mittlerer Überblick fällig, der beide Konfessionen im Blick behält und einen Pfad durch das Forschungsdickicht schlägt. Er geht zurück auf die Vorlesung »Widerstand oder Kollaboration? Die Christen im Dritten Reich«, gehalten im Sommer 2008 an der Universität Trier. Jedes Themenkapitel schloss mit einer damit verbundenen Kontroverse ab. Die Vorlesung in Heidelberg weitete die Perspektive 2012 international aus. Die Ergebnisse liegen hiermit vor.1

Leider lässt sich nicht das eine vortreffliche Werk empfehlen, in dem alles steht. Entweder sind die Bücher unverdaulich dick oder winzige Appetithappen von 120 Seiten. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, kam in zwei Bänden nur bis 1934. Nach seinem Tod 1985 setzten seine Schüler das Großprojekt fort. Gerhard Besier erreichte 2001 das Jahr 1937. Der Rest fehlt bis heute. Kann man Studierenden »den Scholder« in drei Bänden mit 2610 Seiten oder gar Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder (3387 Seiten) zumuten? Eher empfiehlt sich als Einstieg Heinz Hürten, Deutsche Katholiken 1918–1945 – trotz des apologetischen Obertons immer noch wertvoll –, daneben für die evangelische Kirche Kurt Meier, Kreuz und Hakenkreuz.

Viele Bücher täuschen nur vor, es ginge um die Kirche und den Nationalsozialismus. Die aufreizend schmalen Bändchen von Alexander Gross und Gerhard Hartmann handeln ausschließlich vom Katholizismus, während bei Christoph Strohm 2011 der Protestantismus dominiert. Die meisten Bücher beschränken sich auf eine einzige Konfession, meist diejenige, der die Autoren angehören. Hier kennen sie sich aus und wollen verteidigend oder kritisch wirken. Werden beide Kirchengemeinschaften untersucht, dann in abwechselnden Kapiteln streng voneinander getrennt, wie in Scholders Inhaltsverzeichnis auf den ersten Blick ersichtlich.2

Kein Tag vergeht ohne ein neues Buch zum Nationalsozialismus. Für seinen dritten Band verwendete Besier über 1300 Titel. Synthesen bündeln die unzähligen Einzelforschungen, denen sie sich verdanken. Im Verlauf der Zeit verändern sich die Perspektiven. Neu erschlossene Quellen, wie aus den 2003 geöffneten Archiven des Vatikans, erlauben bessere Einsichten in vergangenes Geschehen.

Synthesen können neue Interpretationen anbieten und Akzente setzen, ohne dem manchmal akkusatorischen Ton bestimmter Medien oder der überwiegend apologetischen Literatur zu folgen. In Hunderten von Bänden der 1955 gegründeten Evangelischen Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes und der 1962 entstandenen (katholischen) Kommission für Zeitgeschichte konnten konfessionell gebundene Historiker jeweils ihre Position verteidigen. Anhänger von Großgruppen möchten diese gerne in einem positiven Licht erscheinen lassen. Das ist überaus verständlich. Während Fachhistoriker ihre Kirche gegen Vorwürfe kirchenkritischer Schriftsteller, Journalisten und Historiker abschirmen, leben Medien jedoch vom Verkauf skandalträchtiger Geschichten: Warum hat der Papst zur Judenvernichtung geschwiegen? Solche Fragen polarisieren. So geht es mit den neuesten »Wahrheiten« hin und her und sind ständig neue Überblicke notwendig, um das Dickicht zu lichten. Schnellen provokante Autoren wie Daniel J. Goldhagen in die Bestsellerlisten, beherrschen apologetische Titel den seriösen Buchmarkt. Der Autor dieses Buches bekennt an dieser Stelle, in der Tradition der historisch-kritischen Sozialgeschichte zu stehen, die den Auftrag der Aufklärung jeder Apologetik vorzieht.

Hier sollen nicht nur die Amtskirchenführer behandelt werden, sondern auch die Kirchen mit ihren normalen Anhängern. Viele Überblicke konzentrieren sich auf die Entscheidungen hoher Kirchenfunktionäre, auf Kirchenverfassungsgeschichte oder einen einzigen Papst. Die amtskirchliche Ebene ist unabdingbar für das Verständnis dieses Themas. Nimmt man jedoch das kirchliche Selbstverständnis von der Gemeinschaft der Gläubigen ernst, muss eine Geschichte der Kirchen auch die Kirchenmitglieder erfassen. Wer konfessionell vergleichen will, muss in der einen Hand immer ein Werk über Protestanten, in der anderen eines über Katholiken halten, muss Meier und Hürten lesen. Treten beide Konfessionen meist in getrennten Büchern oder Kapiteln auf, soll hier versucht werden, problemorientiert vorzugehen und sie nicht derart separat zu untersuchen. Freilich, wegen ihrer je unterschiedlichen Ausgangsposition und ihrer eigenen Geschichte mit dem und im Nationalsozialismus erlauben sich sinnvolle Trennungen. Der römische Katholizismus hatte einen Papst, eine hierarchische Kirchenstruktur sowie gewisse Milieutraditionen. Dagegen zeigten sich die 28 protestantischen Landeskirchen zersplittert und viel empfänglicher für NS-Parolen. Die offenkundigen Unterschiede lassen sich jedoch umso besser herausarbeiten, wenn man sich nicht nur mit einer Konfession alleine befasst. Unter den Bedingungen der totalitären Versuchung gab es auch Gemeinsamkeiten. Um ihnen auf die Spur zu kommen, muss man gelegentlich eine höhere Abstraktionsebene einnehmen. Die Frage nach Widerstand und Kollaboration stellte sich für beide Konfessionen.

Nicht nur der methodologische Konfessionalismus ist zu überwinden, sondern auch die konventionelle nationale Fixiertheit. Der Blick auf andere Diktaturen weitet den Horizont für mögliche Handlungsspielräume der Christen in Deutschland ab 1933. Lange vorher schon waren die Kirchen in der Sowjetunion, Ungarn, Italien und Portugal unter den Einfluss autoritärer Regime geraten. Die Bedrückung in sozialistischen, laizistischen und Räteregimen machte Angst. Deshalb lohnt der Vergleich mit anderen Regimen. Aus ihnen zogen Christen und Nationalsozialisten ihre Lehren, sei es als Orientierung, sei es als Warnung.

Unsere nach Themenschwerpunkten chronologisch gestaffelte und problemorientierte Analyse beginnt mit einem groben europäischen Überblick, durchmisst die Weimarer Republik, widmet sich in fünf Phasen der Diktatur und befragt am Ende die Vergangenheitspolitik ab 1945. Jedes Kapitel wird durch eine ihm verwandte Kontroverse vertieft und abgeschlossen.

Über allem schwebt gewissermaßen die Hauptkontroverse zwischen Unvereinbarkeit und Affinität, Ferne und Nähe zum Faschismus. Den Vertretern der Unvereinbarkeitsthese sind Kreuz und Hakenkreuz Gegensätze. Die Kirchen waren Opfer, die Täter unkirchlich. Diese Großkontroverse spiegelt sich in etlichen Unterkontroversen wider, die Varianten des Bemühens sind, den Abstand zwischen Christentum und Nationalsozialismus zu vermessen. Dagegen sieht die Affinitätsthese manche Überschneidungsflächen.

Diese Grundkontroverse trägt eminent zur Identität von Kirchenmitgliedern bei, die sich mit ihren Vorfahren auf der Seite der Guten sehen wollen. Beide Positionen werden in neueren Veröffentlichungen weitergetragen. Hartmann zog 2007 das Resümee: »Die katholische Kirche hat insgesamt die nationalsozialistische Herausforderung in Theorie – d. h. in der weltanschaulichen Auseinandersetzung – und in der Praxis gemeistert.« Die evangelische Historiographie ist bis heute geprägt von der Formel des »Kirchenkampfes«.

Andere Wissenschaftler sowie kirchliche Schuldbekenntnisse sprechen vom »Versagen« der Christen. Alexander Gross kam 2004 zu dem Schluss, insgesamt hätten auch die Katholiken zur »Stabilisierung des Dritten Reiches beigetragen«. Goldhagen behauptete sogar, beide Kirchen hätten über Jahrhunderte den Antisemitismus geschürt, der zum Holocaust geführt habe, folglich seien die Christen Mittäter. Papst Pius XII. (1939–1958) – »Kollaborateur der Nationalsozialisten« – habe trotz sicherer Informationen über den Massenmord geschwiegen.3

In Goldhagens unzumutbar unwissenschaftlichem Buch kommt der Begriff »Kollaboration« vor. Allgemein üblich ist aber der Begriff »Widerstand«. An ihn ist man gewöhnt. In allen Büchern über die NS-Diktatur gibt es ein Kapitel »Widerstand«. Sucht man nach den Kirchen, findet man sie genau dort und oft nur dort. Das Widerstandskapitel scheint der natürliche Ort für sie zu sein. Das erfahren schon die Schüler in den Informationen zur politischen Bildung. Im Heft über den Nationalsozialismus tauchen die Kirchen unter den Rubriken »Der Kampf gegen die Kirchen« sowie »Der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime in Deutschland« auf.4 Auch die Multiplikatorenbücher der Bundeszentrale für politische Bildung, die Enzyklopädie des Nationalsozialismus sowie jüngste Studienbücher verhandeln die Kirchen im Kapitel über den Widerstand.5

Warum werden die Kirchen bis heute so selbstverständlich unter Widerstand und Unvereinbarkeit statt unter Kollaboration und Konsens einsortiert? Kirchenvertreter wie etwa Wilhelm Niemöller selber haben diese Zuordnung 1945 initiiert – mit anhaltendem Erfolg. Ähnliches gelang den Militärs, als sie nach Kriegsende die Legende von der sauberen Wehrmacht verankerten, die bis zur Wehrmachtsausstellung 1999 hielt. Auch das Auswärtige Amt präsentierte sich als halb im Widerstand, bis diese Chimäre im Oktober 2010 platzte. Und die saubere Kirche? Über 90 % der 69 Mio. Deutschen bildeten – trotz der bis 1939 steigenden Kirchenaustrittszahlen – als Kirchenmitglieder die von der Amtskirche geführte Kirche. Konnte eine winzige Minderheit gottloser Nazis diese Mehrheit terrorisieren? Dieses Bild gefiel vielen Deutschen sehr seit dem 8. Mai 1945, obwohl zwei Drittel der NSDAP-Mitglieder Kirchenmitglieder waren. Heute hat sich die Vorstellung vom Terrorregime zunehmend in Richtung Zustimmungsdiktatur verschoben. Konsenssituationen zwischen Nationalsozialismus und Kirchenmitgliedern werden identifiziert. Der Automatismus, mit dem Christen kurzerhand unter die Rubrik Widerstand fallen, steht in Frage. Die von der Literatur genährte Erzählung von Widerstand und Martyrium erhellt nur einen Bruchteil der komplexeren Realität.

Kollaboration oder Widerstand, Affinität oder Unvereinbarkeit, Täter oder Opfer, Mitverbrecher oder Mitverfolgte – die Debatte über diese Positionen hält an. Bis heute gehört die Bewertung des Verhaltens der katholischen Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus zu den großen Streitfragen der Zeitgeschichtsforschung. Auch die schillernde Rolle des Protestantismus bleibt umstritten, wenn auch auf kleinerer Flamme. Der Kultstatus des heroischen »Kirchenkampfes« als Erinnerungsort für den kollektiven Seelenfrieden verblasst. Diese Kontroversen bieten ein vorzügliches geschichtswissenschaftliches Exerzierfeld, um in Schule und Universität den sachlichen Umgang mit zwei so gegensätzlichen Positionen zu üben.