Fernando Pessoa
Oh Lissabon, du meine Heimstatt
Der Dichter als Flaneur
Übersetzt von Inés Koebel
FISCHER E-Books
Eine Sammlung von Pessoas schönsten Texten
im Angesicht seiner Stadt,
ausgewählt von Marie-Luise Flammersfeld
Mit Zeichnungen von Júlio Pomar
Fernando Pessoa (1888–1935), der wohl bedeutendste moderne Dichter Portugals, ist auch bei uns mit dem ›Buch der Unruhe‹ bekannt geworden. Er gehört zu den großen literarischen Erneuerern, ist nicht nur der Begründer der modernen Dichtung seines Landes, sondern eine der Schlüsselfiguren in der Entwicklung der zeitgenössischen Dichtung überhaupt. Er schuf nicht nur Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, sondern Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme. Er gab seinem vielfältig gespaltenen Ich die Namen Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos und eben Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie »Person, Maske, Fiktion, Niemand« bedeutet.
Inés Koebel, geboren in Bamberg, arbeitete als Buchhändlerin und freie Feature-Autorin. Sie übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Französischen und Portugiesischen, hat den Band ›Brasilien erzählt‹ (S. Fischer 1994) editiert und ist Mitherausgeberin der neuen Pessoa Werkausgabe. Neben dem ›Buch der Unruhe‹ hat sie die Gedichte von Álvaro de Campos, Alberto Caeiro und Ricardo Reis übertragen sowie Baron von Teive und sein statisches Drama ›Der Seemann‹.
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Rothfos & Gabler, Hamburg Zeichnung: © José de Guimarães, Fernando Pessoa, 1995, Serigraphie, 56 x 76cm
Neuausgabe des Titels, der 2009 im Ammann Verlag, Zürich, erschienen ist.
Herausgegeben von Egon Ammann und Marie-Luise Flammersfeld.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
© Júlio Pomar für die Zeichnungen
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403321-1
Welch wollüstig […], übersinnliches Vergnügen, bisweilen nachts durch die Straßen der Stadt zu streifen und von meiner Seele aus die Häuserzeilen zu betrachten, die unterschiedlichen Bauwerke, die architektonischen Details, das Licht in Fenstern, die Blumentöpfe, die jeden Balkon anders erscheinen lassen – welch unmittelbare, große Freude empfinde ich, wenn beim Anblick all dessen über die Lippen meines Bewußtseins der erlösende Schrei kommt: Nichts, nichts von alledem ist wirklich!
BdU, S. 228
Ziellos durchstreife ich die ruhigen Straßen, gehe, bis mein Körper müde ist wie meine Seele, bis mich jener äußerste, vertraute Schmerz schmerzt, der es genießt, daß man ihn spürt, sich selbst bemitleidet, unbestimmbar mütterlich, melodisch.
BdU, S. 141
Ah, die ersten Minuten in den Cafés unbekannter Städte!
Das Ankommen frühmorgens an Kais oder Bahnhöfen
Erfüllt von einer ruhigen, klaren Stille!
Die ersten Passanten in den Straßen der Ankunftsstädte …
Und der besondere Klang des Verrinnens der Stunden während der Reise …
Die Busse, die Elektrischen oder Automobile …
Der ungewohnte Anblick der Straßen unbekannter Orte …
Der Friede, den sie ausstrahlen für unseren Schmerz …
Das fröhliche Getümmel für unsere Traurigkeit
Die fehlende Monotonie für unser müdes Herz! …
Die Plätze klar umrissen quadratisch und groß,
Die Straßen mit ihren am Ende zusammenlaufenden Häuserreihen,
Die unerwartet reizvollen Seitenstraßen,
Und durch all dies hindurch, wie etwas Flutendes, das nie über die Ufer tritt,
Bewegung, Bewegung,
Etwas Schnelles, Menschliches, Buntes, das vorübergeht und bleibt …
Die Häfen mit ihren reglosen Schiffen,
Allzu reglosen Schiffen,
Umringt von kleinen Booten, in Warteposition …
AdC, S. 79
Ich liebe den Tejo, weil eine große Stadt an seinem Ufer liegt. Ich genieße den Himmel, weil ich ihn von dem vierten Stockwerk einer Straße der Unterstadt aus sehe. Nichts können Landleben oder Natur mir geben, das der unebenmäßigen Erhabenheit der stillen Stadt im Mondlicht, von Graça oder São Pedro de Alcântara aus gesehen, gleichkäme. Und kein Blumenstrauß hat für mich je die farbige Vielfalt Lissabons im Sonnenlicht.
BdU, S. 59
Was ist reisen, und wozu dient es? Jeder Sonnenuntergang ist ein Sonnenuntergang, um ihn zu sehen, muß man nicht nach Konstantinopel. Und das Gefühl der Befreiung, das vom Reisen ausgeht? Das kann ich ebenso haben, wenn ich von Lissabon nach Benfica, in die Vorstadt, fahre, und zwar sehr viel intensiver als einer, der von Lissabon nach China reist, denn ist die Befreiung nicht in mir, erlange ich sie nirgendwo.
BdU, S. 142
Hohe Hügel der Stadt! Große Baukunst, steile Hänge, die sie festhalten und noch größer machen, bunte Zusammenballung stufenförmig ansteigender Gebäude, die das Licht aus Schatten und Bränden webt – ihr seid heute, ihr seid ich, weil ich euch sehe, ihr seid morgen, was [ich sein werde?], und ich liebe euch, an der Reling stehend, als kreuzten einander zwei Schiffe und hinterließen eine ungekannte Sehnsucht.
BdU, S. 108
Habe ich viele Träume geschlafen, laufe ich offenen Auges, doch noch immer in ihrem Bannkreis und ihrer Sicherheit, durch die Straßen. Ich staune, wie ich automatisch einen Fuß vor den anderen setze und mich keiner erkennt. Denn ich gehe durchs Alltagsleben fest an der Hand meiner Astral-Amme, und meine Schritte auf der Straße fallen und hallen zusammen mit den unergründlichen Absichten meiner Schlafphantasie. Und doch gehe ich sicher, strauchle nicht, reagiere richtig, existiere.
BdU, S. 120
He da, ihr Straßen, he da, ihr Plätze, he da ho, la foule!
Alles, was vorübergeht, alles, was stehenbleibt vor den Schaufenstern!
Kaufleute, Müßiggänger, übertrieben gut gekleidete Hochstapler,
Klar erkennbare Mitglieder aristokratischer Clubs,
Abgerissene zwielichtige Gestalten; Familienoberhäupter, annähernd glücklich
Und väterlich bis zur goldenen Kette, die sich über ihrer Weste spannt
Von Tasche zu Tasche!
Alles, was vorübergeht, alles, was vorübergeht und nie vorübergeht!
Allzu auffällige Gegenwart der Kokotten,
Reizvolle Durchschnittlichkeit (wer weiß, was sich dahinter verbirgt?)
Der Bürgersfrauen, meist Mutter und Tochter,
Die zielstrebig durch die Straßen gehen,
Die falsche weibliche Anmut der vorüberschlendernden Päderasten,
Und all die nur eleganten Leute, die promenieren und sich zeigen
Und alles in allem eine Seele haben im Innern!
(Ach, wie gern wär ich souteneur von alledem!)
AdC, S. 49
Ach, daß ich nicht alle Menschen bin und von allem Teil!
AdC, S. 59
Wahrhaft weise ist, wer die Kraft zur Höhe in den Muskeln hat und in seiner Einsicht den Aufstieg ablehnt. Mit seinem Blick besitzt er alle Berge, mit seiner Position alle Täler. Die auf den Gipfeln goldene Sonne wird für ihn noch goldener sein als für den, der ihr in der Höhe ausgesetzt ist; und das hohe Schloß im Wald ist schöner für den, der es vom Tal aus betrachtet, als für den, der es in den Sälen, die ihm zum Gefängnis werden, vergißt.
Mit diesen Gedanken tröste ich mich, da ich mich nicht mit dem Leben trösten kann. Und das Sinnbild verschmilzt mit der Wirklichkeit, wenn ich, mit Leib und Seele Flaneur in diesen Straßen der Unterstadt zum Tejo hin, die hellen Höhen Lissabons wie fremden Ruhm erstrahlen sehe, im vielfältigen Licht einer Sonne, die bereits nicht mehr untergeht.
BdU, S. 85
Und nur ein Weg führt zum Leben, das Leben …
AdC, S. 229
Nach all den Regentagen holt der Himmel erneut sein Blau zurück aus dem Versteck in die hohen weiten Räume. Zwischen den Straßen, auf denen Pfützen schlafen wie ländliche Tümpel, und der klaren, kühlen Heiterkeit in den Lüften herrscht ein Gegensatz, der die schmutzigen Straßen angenehm und den winterlich banalen Himmel frühlingshaft erscheinen läßt. Es ist Sonntag, und ich habe nichts zu tun. Selbst das Träumen lockt mich nicht, so schön ist der Tag. Ich genieße ihn aufrichtig und mit all meinen Sinnen, denen sich mein Verstand ergibt. Ich gehe spazieren wie ein befreiter Kassierer. Ich fühle mich alt, nur um mich freudig jünger werden zu fühlen.
BdU, S. 148
Mein Bewußtsein von dieser Stadt ist im Innersten mein Bewußtsein von mir selbst.
Mit einem Mal erinnere ich mich an meine Kindheit, als ich den Morgen über der Stadt aufgehen sah, wie ich ihn heute nicht mehr sehen kann. Damals ging er nicht für mich auf, sondern für das Leben, denn damals war ich, da ich nicht bewußt lebte, das Leben. Ich sah den Morgen und freute mich; heute sehe ich den Morgen, freue mich und werde traurig. Das Kind ist geblieben, aber es ist verstummt. Ich sehe noch immer, wie ich gesehen habe, aber hinter den Augen sehe ich mich sehen; das allein genügt, und die Sonne verschattet sich mir, das Grün der Bäume altert, und die Blumen welken, noch bevor sie erblühen. Ja, früher einmal war ich hier zu Hause; heute stehe ich vor jeder Landschaft, so neu sie für mich auch sein mag, als Fremdling, als Gast und Pilger, allem fremd, was ich höre und sehe, alt an mir selbst.
BdU, S. 378
Weise ist, wer seine Existenz eintönig gestaltet, dann nämlich besitzt jeder kleine Zwischenfall das Privileg eines Wunders. Der Löwenjäger erlebt kein Abenteuer über den dritten Löwen hinaus. Für meinen eintönigen Koch hat eine Ohrfeigenszene auf der Straße immer noch etwas von einer bescheidenen Apokalypse.
Wer nie aus Lissabon herausgekommen ist, fährt mit der Straßenbahn in den Vorort Benfica, schier in die Unendlichkeit, und wenn er eines Tages nach Sintra fährt, meint er, er sei bis zum Mars gereist. Der Reisende, der die ganze Erde durcheilt hat, findet nach 5000 Meilen nichts Neues mehr, denn er kann nur neue Dinge finden; Neues und wieder Neues, Altes im ewig Neuen, denn der abstrakte Begriff der Neuheit ist schon bei der nächsten Neuheit im Meer zurückgeblieben.
Ein Mensch kann, wenn er denn wirklich weise ist, das gesamte Schauspiel der Welt von einem Stuhl aus genießen, ohne lesen zu können, ohne mit jemandem zu reden, nur seine Sinne gebrauchend und mit einer Seele begabt, die nicht traurig zu sein versteht.
BdU, S. 178
Daß ich kein römischer Kaiser geworden bin, kann mich nicht sonderlich kümmern, wohl aber kann es mir überaus leid tun, nie auch nur ein Wort an die Näherin gerichtet zu haben, die immer gegen neun um die rechte Straßenecke biegt.
BdU, S. 147
Der schwarze Himmel tief im Süden des Tejo stand in finsterem Kontrast zu den lebhaft weißen Schwingen der rastlos umherfliegenden Möwen. Der Tag jedoch sah nicht mehr nach Gewitter aus. Die gesamte Masse des drohenden Regens war auf die andere Flußseite abgezogen, und die Unterstadt, noch von dem wenigen Regen feucht, lächelte vom Boden bis zum Himmel, der im Norden noch etwas bläßlich zu bläuen begann. Die Frühlingsfrische strahlte leichte Kühle aus. (…)
Die Trostlosigkeit rührt von einem leblos grauen Himmel; hier und dort zerfetzen ihn Wolken, noch schwärzer als die Farbe des Himmels. Ich spüre keinen Wind, doch ist er da, und die gegenüberliegende Flußseite wirkt wie eine lange Insel, hinter der man – großer, verlassener Tejo! – das wahre andere Ufer konturlos in der Ferne erblickt. (…)
Und plötzlich spüre ich hier die Kälte von dort. Sie berührt meinen Körper, steigt auf aus meinen Knochen. Ich atme tief und erwache. Der Mann, der meinen Weg unter den Arkaden neben der Börse kreuzt, schaut mich mit dem Mißtrauen eines Menschen an, der nichts zu erklären vermag. Der schwarze Himmel zog sich zusammen und senkte sich noch tiefer über das südliche Ufer.
BdU, S. 60