cover

Evelyn Waugh

Eine Handvoll
Staub

Roman

Aus dem Englischen
von pociao

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1934 bei Chapman and Hall, London,

erschienenen Originalausgabe: ›A Handful of Dust‹

Copyright © 1934 by Evelyn Waugh

All rights reserved

Der Roman erschien im Diogenes Verlag zuerst 1986 als Diogenes Taschenbuch

Die vorliegende Neuübersetzung erschien erstmals 2014 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Foto von Man Ray, ›Lee Miller‹, 1929

(Ausschnitt, koloriert)

Copyright © Man Ray Trust / 2016, ProLitteris, Zürich

Foto: Copyright © Man Ray Trust/ADAGP,

Paris 2014 – Banque d’Images de L’ADAGP

 

 

 

 

Neuübersetzung

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24382 6

ISBN E-Book 978 3 257 60443 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

IDu Côté de Chez Beaver  [9]
IIEnglische Gotik I  [21]
IIIPech für Tony  [97]
IVEnglische Gotik II  [193]
VAuf der Suche nach einer Stadt  [237]
VIDu Côté de Chez Todd  [315]
VIIEnglische Gotik III  [337]

 

[7] Und ich werde dir etwas zeigen, das anders ist als

Der Schatten, der dir morgens nachläuft

Und der Schatten, der sich abends vor dir erhebt

Ich zeige dir die Angst in einer Handvoll Staub

T. S. Eliot, Das öde Land

[9] I

Du Côté de Chez Beaver

[11] »Ist jemand verletzt?«

»Nein, zum Glück nicht«, antwortete Mrs Beaver, »abgesehen von zwei Hausmädchen, die den Kopf verloren haben und durch ein Glasdach in den gepflasterten Hof gesprungen sind. Dabei waren sie gar nicht in Gefahr. Das Feuer ist leider nicht bis zu den Schlafzimmern vorgedrungen, trotzdem müssen sie vermutlich renoviert werden. Alles ist verrußt und mit Wasser vollgesogen. Gott sei Dank hatten sie nur einen dieser altmodischen Feuerlöscher, die wirklich alles ruinieren. Im Grunde kann sich niemand beklagen. Die wichtigsten Räume sind komplett zerstört, und alles war versichert. Sylvia Newport kennt die Leute. Ich muss sie unbedingt noch heute Morgen anrufen, bevor mir die grässliche Mrs Shutter in die Quere kommt.«

Mrs Beaver stand mit dem Rücken zum Kaminfeuer und löffelte ihren allmorgendlichen Joghurt. Sie hielt den Becher unter das Kinn und aß hastig.

»Igitt, schmeckt wirklich scheußlich. Trotzdem wünschte ich, du würdest auch damit anfangen. Du siehst in letzter Zeit so müde aus. Ich wüsste gar nicht, wie ich ohne dieses Zeug den Tag durchstehen sollte.«

»Ich habe ja nicht so viel zu tun wie du, Mumsy.«

»Das stimmt, mein Junge.«

[12] Nach dem Tod seines Vaters war John Beaver mit seiner Mutter in ein Haus in Sussex Gardens gezogen. Kaum etwas darin entsprach dem sparsam-eleganten Interieur, das Mrs Beaver ihren Kunden nahelegte. Es war vollgestopft mit unverkäuflichen Möbeln aus zwei größeren Häusern und erhob keinen Anspruch auf einen bestimmten Stil, am allerwenigsten einen modernen. Die besten Stücke und diejenigen, an denen Mrs Beaver besonders hing, standen in dem L-förmigen Salon im ersten Stock.

Beaver verfügte über ein dunkles kleines Wohnzimmer (im Erdgeschoss, hinter dem Esszimmer) und einen eigenen Telefonanschluss. Eine ältliche Hausangestellte kümmerte sich um seine Wäsche. Außerdem wischte sie Staub, polierte die Möbel und hielt das auf dem Toilettentisch und der Kommode stehende Sammelsurium düsterer, wuchtiger Objekte aus dem Ankleidezimmer seines Vaters in symmetrischer Ordnung, unverwüstliche Geschenke anlässlich seiner Hochzeit und seines einundzwanzigsten Geburtstags, aus Elfenbein, in Messing gefasst, in Schweinsleder gebunden, mit Wappen versehen und mit Gold verziert, Insignien edler Männlichkeit aus spätviktorianischen Tagen: Flachmänner fürs Pferderennen, Flachmänner für die Jagd, Zigarrenetuis, Tabakbehälter, kunstvoll gearbeitete Meerschaumpfeifen, Stiefelknöpfer und Hutbürsten.

Das Personal bestand aus vier Angestellten, alle weiblich und bis auf eine im fortgeschrittenen Alter. Auf die Frage, warum er dort blieb, statt sich eine eigene Wohnung zu nehmen, antwortete Beaver oftmals, weil er glaube, dass seine Mutter ihn gern um sich habe, manchmal aber auch, dass er so mindestens fünf Pfund in der Woche einsparen könne.

[13] Da sein gesamtes Einkommen um die sechs Pfund pro Woche betrug, handelte es sich um eine nicht unerhebliche Summe.

Beaver war fünfundzwanzig Jahre alt. Nach seiner Rückkehr aus Oxford war er bis zum Beginn der Wirtschaftskrise in einer Werbeagentur tätig gewesen. Seitdem hatte niemand eine Beschäftigung für ihn auftun können. Daher schlief er meistens lange und verbrachte einen großen Teil des Tages in der Nähe des Telefons, in der Hoffnung, dass ihn jemand anrief.

Wenn möglich nahm sich Mrs Beaver am Vormittag eine Stunde frei. Sie stand stets pünktlich um neun in ihrem Geschäft und brauchte gegen halb zwölf eine Pause. Wenn kein wichtiger Kunde zu erwarten war, setzte sie sich in ihren Zweisitzer und fuhr heim nach Sussex Gardens. Bis dahin war Beaver normalerweise angekleidet, und der allmorgendliche Plausch mit ihm war ihr zur lieben Gewohnheit geworden.

»Wie war es gestern Abend?«

»Audrey hat gegen acht angerufen und mich zum Essen eingeladen. Wir waren zu zehnt im Embassy, ziemlich öde. Danach sind wir noch alle auf eine Party bei einer Frau namens de Trommet gegangen.«

»Du meinst die Amerikanerin, ich kenne sie. Sie hat die Stuhlbezüge aus Toile-de-Jouy noch nicht bezahlt, die wir im April für sie angefertigt haben. Bei mir war es auch langweilig; ich hatte den ganzen Abend kein vernünftiges Blatt und habe am Ende vier Pfund zehn verloren.«

»Arme Mumsy!«

»Zum Lunch bin ich bei Viola Chasm. Und was hast du [14] vor? Ich habe gar keine Anweisungen fürs Essen gegeben, fürchte ich.«

»Bisher noch nichts. Ich kann ja notfalls ins Bratt’s gehen.«

»Aber das ist doch so teuer. Wenn wir Chambers fragen, kann sie dir bestimmt etwas besorgen. Ich war mir sicher, dass du ausgehen würdest.«

»Nun, das kann schon sein. Es ist noch keine zwölf.«

(Die meisten Einladungen erreichten Beaver im letzten Moment, gelegentlich sogar noch später, wenn er bereits vor einer einsamen, auf einem Tablett servierten Mahlzeit saß… »John, Darling, wir haben ein kleines Problem, Sonia ist ohne Reggie gekommen. Bist du so gut und hilfst mir aus der Patsche? Du musst dich allerdings beeilen, wir fangen nämlich gleich an«… Dann stürzte er sich Hals über Kopf ins nächste Taxi, um unter Entschuldigungen nach dem ersten Gang einzutreffen… Zu einer der seltenen Auseinandersetzungen mit seiner Mutter in letzter Zeit war es gekommen, als er eine ihrer Lunch-Partys auf diese Weise verlassen hatte.)

»Was hast du am Wochenende vor?«

»Hetton.«

»Wer ist das noch mal? Ich hab’s vergessen.«

»Tony Last.«

»Ach ja, natürlich. Sie ist reizend, er eher zugeknöpft. Ich wusste gar nicht, dass du sie kennst.«

»Nun, das tue ich eigentlich auch gar nicht. Tony hat mich neulich Abend im Bratt’s Club eingeladen. Vielleicht hat er es schon wieder vergessen.«

»Schick ihnen ein Telegramm und erinnere sie dran. Das ist viel besser als anrufen. So können sie sich nicht so leicht [15] herausreden. Schick es morgen kurz vor dem Aufbruch. Sie schulden mir noch etwas für einen Tisch.«

»Was muss man sonst noch über sie wissen?«

»Wir sind uns oft über den Weg gelaufen, bevor sie heiratete. Brenda Rex hieß sie, Tochter von Lord St. Cloud, sehr heller Typ, fast wie eine Nixe. Die Leute waren ganz verrückt nach ihr, als sie noch jünger war. Jeder glaubte, dass sie eines Tages Jock Grant-Menzies heiraten würde. Tony Last hat sie nicht verdient, fad, wie er ist. Ich schätze, sie beginnt sich allmählich zu langweilen. Die beiden sind jetzt seit fünf oder sechs Jahren verheiratet. Recht vermögend, allerdings geht das ganze Geld für den Erhalt des Hauses drauf. Ich habe es nie gesehen, stelle es mir aber immer riesig und scheußlich vor. Sie haben mindestens ein Kind, vielleicht inzwischen auch mehr.«

»Du bist wundervoll, Mumsy. Du kennst wirklich alle Welt.«

»Das kann sehr nützlich sein. Man muss nur die Ohren spitzen, wenn sich andere Leute unterhalten.«

Mrs Beaver rauchte eine Zigarette und fuhr dann zurück ins Geschäft. Eine Amerikanerin kaufte zwei Patchworkdecken zu je dreißig Guineen, Lady Metroland rief wegen einer Badezimmerstuckatur an, ein unbekannter junger Mann erstand ein Kissen und zahlte in bar. Zwischendurch ging Mrs Beaver in den Keller hinunter, wo zwei trübsinnige junge Mädchen Lampenschirme verpackten. Es war kalt da unten trotz des Ölöfchens, und die Wände waren immer feucht. Die Mädchen stellten sich inzwischen geschickter an, wie sie zu ihrer Befriedigung feststellte, besonders die Kleinere, die mit den Kartons hantierte wie ein Mann.

[16] »So ist es recht«, sagte sie. »Das machen Sie sehr gut, Joyce. Ich werde Ihnen bald interessantere Aufgaben übertragen können.«

»Vielen Dank, Mrs Beaver.«

Trotzdem war es besser, wenn sie noch eine Weile in der Versandabteilung blieben, befand Mrs Beaver, jedenfalls solange sie es aushielten. Keine von beiden hatte genügend Stil, um oben zu arbeiten. Und beide hatten gutes Geld bezahlt, um bei Mrs Beaver in die Lehre zu gehen.

Beaver wartete weiter neben seinem Telefon. Einmal klingelte es, und eine Stimme sagte: »Mr Beaver? Bleiben Sie bitte am Apparat, Sir, Mrs Tipping würde Sie gern sprechen.«

Die anschließende Pause war von freudiger Erwartung erfüllt. Er wusste, dass Mrs Tipping an diesem Tag eine Lunch-Party gab; sie hatten sich am Abend zuvor eine Weile unterhalten, und er hatte einen besonders guten Eindruck auf sie gemacht. Jemand hatte abgesagt…

»Ach, Mr Beaver, es tut mir so leid, Sie belästigen zu müssen. Könnten Sie mir wohl den Namen des jungen Mannes verraten, den Sie mir gestern Abend bei Madame de Trommet vorgestellt haben? Der mit dem rötlichen Schnurrbart? Ich glaube, er ist Abgeordneter.«

»Sie meinen sicher Jock Grant-Menzies.«

»Ja, genau, so hieß er. Wissen Sie zufällig, wo ich ihn erreichen könnte?«

»Er steht im Telefonbuch, aber ich glaube nicht, dass er um diese Zeit zu Hause ist. Vielleicht erwischen Sie ihn gegen eins im Bratt’s. Da ist er fast immer.«

»Jock Grant-Menzies, Bratt’s Club. Haben Sie vielen Dank. [17] Sehr freundlich von Ihnen. Ich hoffe, Sie kommen mich eines Tages besuchen. Auf Wiederhören.«

Danach blieb das Telefon stumm.

Um eins gab Beaver die Hoffnung auf. Er zog seinen Mantel an, griff nach Handschuhen und Melone und machte sich mit sauber eingerolltem Schirm auf den Weg zu seinem Club. Bis Ecke Bond Street nahm er den Bus.

Das Flair von Antiquiertheit, das dem Bratt’s Club aufgrund seiner eleganten georgianischen Fassade und der kunstvoll getäfelten Räume innewohnte, war nur vorgetäuscht, denn er war vor nicht allzu langer Zeit gegründet worden, in der Euphorie unmittelbar nach dem Krieg. Ursprünglich war er als Zuflucht für junge Männer gedacht, die mit ausgestreckten Beinen vor dem Kamin sitzen oder sich beim Kartenspielen vergnügen wollten, ohne die finsteren Blicke älterer Mitglieder auf sich zu ziehen. Doch jetzt kamen diese Gründer selbst in die Jahre; sie waren beleibter, kahlköpfiger und röter im Gesicht als damals, als sie aus dem Kriegsdienst entlassen worden waren. Doch ihre Lebenslust hielt an, und mittlerweile waren sie es, die den Jüngeren vorhielten, als Männer und Gentlemen nichts zu taugen, und sie damit in Verlegenheit brachten.

Sechs breite Rücken versperrten Beaver den Zugang zur Bar. Er machte es sich in einem der Sessel im Vestibül gemütlich, blätterte im New Yorker und wartete darauf, dass jemand auftauchte, den er kannte.

Jock Grant-Menzies kam die Treppe herauf. Die Männer an der Bar begrüßten ihn mit den Worten: »Hallo, Jock, alter Knabe, was trinkst du?«, oder einfach nur mit: »Na, alter [18] Knabe?« Er war zu jung, um im Krieg gekämpft zu haben, doch er kam bei diesen Männern gut an; sie schätzten ihn weit mehr als Beaver, der ihrer Meinung nach gar nicht erst in den Club hätte aufgenommen werden dürfen. Aber Jock blieb stehen, um sich mit Beaver zu unterhalten. »Na, alter Knabe«, sagte er. »Was trinkst du?«

»Bislang noch nichts.« Beaver warf einen Blick auf die Uhr. »Aber jetzt wird es allmählich Zeit. Brandy mit Ginger Ale.«

Jock rief dem Barmann seine Bestellung zu und sagte dann:

»Wer war denn eigentlich die alte Schachtel, die du mir gestern Abend auf der Gesellschaft aufgehalst hast?«

»Sie heißt Mrs Tipping.«

»Dachte ich’s mir doch. Das erklärt alles. Man hat mir unten eine Nachricht übergeben. Jemand mit diesem Namen hat mich zum Mittagessen eingeladen.«

»Gehst du hin?«

»Nein, Lunch-Partys sind nichts für mich. Außerdem habe ich mir heute Morgen schon beim Aufstehen vorgenommen, hier Austern zu essen.«

Der Barmann brachte die Drinks.

»Mr Beaver, meinen Büchern zufolge schulden Sie uns noch zehn Schilling vom letzten Monat, Sir.«

»Ach, vielen Dank, Macdougal, erinnern Sie mich doch bitte bei Gelegenheit daran, ja?«

»Sehr wohl, Sir.«

»Morgen fahre ich nach Hetton«, erklärte Beaver.

»Ach ja? Grüß Tony und Brenda von mir.«

»Wie ist es denn dort so?«

»Sehr ruhig und angenehm.«

[19] »Keine Papier-und-Bleistift-Spiele?«

»O nein, nichts dergleichen. Ein wenig Bridge mit den Nachbarn, Backgammon oder Poker mit niedrigem Einsatz, das ist alles.«

»Komfort?«

»Nicht übel. Es gibt eine Menge zu trinken. Aber zu wenig Badezimmer. Du kannst den ganzen Vormittag im Bett verbringen.«

»Brenda kenne ich noch gar nicht.«

»Sie wird dir gefallen, sie ist großartig. Ich habe schon oft gedacht, dass Tony Last einer der glücklichsten Männer ist, die ich kenne. Er hat ausreichend Geld, liebt sein Haus, hat einen Sohn, in den er vernarrt ist, eine hingebungsvolle Frau und keinerlei Probleme.«

»Beneidenswert! Du kennst nicht zufällig jemanden, der auch hinfährt, oder? Ich dachte, vielleicht könnte mich jemand mitnehmen.«

»Leider nicht, fürchte ich. Mit dem Zug ist es ganz einfach.«

»Ja, aber mit dem Wagen bequemer.«

»Und billiger.«

»Ja, und billiger sicher auch… Tja, ich glaube, ich gehe nach unten zum Lunch. Nimmst du noch einen Drink?«

Beaver stand auf, um zu gehen.

»Ja, ich glaube schon.«

»Na dann. Macdougal. Noch zweimal dasselbe, bitte.«

»Soll ich es anschreiben, Sir?«

»Ja, bitte.«

[20] Später erzählte Jock an der Bar: »Ich habe Beaver dazu gebracht, mir einen Drink zu spendieren.«

»Das hat ihm bestimmt nicht gefallen.«

»Er wäre fast gestorben. Kennt einer von euch sich zufällig mit Schweinezucht aus?«

»Nein. Warum?«

»Weil man mir in meinem Wahlbezirk dauernd damit in den Ohren liegt.«

Beaver ging nach unten, doch ehe er den Speisesaal betrat, bat er den Portier, bei ihm zu Hause anzurufen und zu fragen, ob jemand eine Nachricht für ihn hinterlassen habe.

»Mrs Tipping hat vor ein paar Minuten angerufen und gefragt, ob Sie heute zu ihr zum Mittagessen kommen könnten.«

»Bitte rufen Sie zurück und sagen Sie, mit größtem Vergnügen, es könnte allerdings ein paar Minuten später werden.«

Es war knapp nach halb zwei, als er Bratt’s verließ und zügigen Schrittes in Richtung Hill Street lief.

[21] II

Englische Gotik I

[23] 1

Zwischen den Dörfern Hetton und Compton Last erstreckt sich der weitläufige Park von Hetton Abbey. Ehemals eins der beeindruckendsten Häuser der Grafschaft, wurde es 1864 im gotischen Stil erneuert und ist heute nicht weiter von Bedeutung. Der Park ist jeden Tag bis Sonnenuntergang für die Öffentlichkeit zugänglich; das Haus selbst kann nach schriftlicher Anmeldung ebenfalls besichtigt werden. Es enthält einige sehenswerte Porträts und Möbelstücke. Von der Terrasse aus hat man einen herrlichen Blick.

Diese Passage aus einem Reiseführer für die Grafschaft vermochte Tony Last nicht übermäßig zu verstimmen. Es hatte schon unfreundlichere Äußerungen gegeben. Seine Tante Frances, die infolge ihrer gnadenlos strengen Erziehung zu einer verbitterten Person geworden war, vertrat die Ansicht, Mr Pecksniff habe sich beim Entwurf des Hauses bestimmt vom Plan eines seiner Schüler für den Bau eines Waisenhauses leiten lassen. Trotzdem gab es keinen glasierten Ziegelstein und keine Keramikfliese im Haus, die Tony nicht ans Herz gewachsen wäre. In mancherlei Hinsicht lohnte es sich nicht, einem solchen Haus vorzustehen, das war ihm klar, aber bei welchem großen Anwesen war das anders? Es entsprach auch nicht gerade modernen Vorstellungen von [24] Bequemlichkeit; viele kleine Verbesserungen standen an, die er in Angriff nehmen würde, sobald die Erbschaftssteuer abbezahlt wäre. Doch der allgemeine Eindruck und die Atmosphäre des Hauses, die Zinnen, die sich vor dem Himmel abzeichneten, der zentrale Uhrturm, dessen viertelstündliches Läuten den festen Schlaf seiner Bewohner voraussetzte, das sakrale Dämmerlicht in der großen Eingangshalle, deren Kreuzgratgewölbe mit einem Waffelmuster in Rot und Gold bemalt war, die Säulen aus poliertem Granit mit weinumrankten Kapitellen, tagsüber halbwegs erleuchtet von Spitzbogenfenstern aus wappengeschmücktem Buntglas, abends hingegen von einem gewaltigen Gaskandelaber aus Messing und Schmiedeeisen, der mittlerweile ans Stromnetz angeschlossen und mit zwanzig elektrischen Birnen ausgestattet war, die Schwaden heißer Luft, die plötzlich von unten durch die kleeblattförmigen Gusseisengitter des antiquierten Heizapparats im Keller aufstiegen, die höhlenartige Kühle in abgelegenen Gängen, wo er, um Koks zu sparen, die Heizungsrohre hatte zudrehen lassen, der Speisesaal mit seinem Stichbalkendach und der Sängerempore aus Pechkiefernholz, die Schlafzimmer, jedes mit Bettgestellen aus Messing und einem Fries in gotischer Schrift geschmückt, benannt nach Malory, Yseult, Elaine, Mordred und Merlin, Gawaine und Bedivere, Lancelot, Perceval, Tristram und Galahad, sein eigenes Ankleidezimmer, Morgan le Fay, und Brendas Zimmer, Guinevere, wo das Bett auf einem Podest stand und die Wände mit Gobelins geschmückt waren, der Kamin, der einem Grabmahl aus dem dreizehnten Jahrhundert nachempfunden war, und die Fenster, aus denen man an Tagen mit besonders guter Sicht die Türme sechs verschiedener Kirchen sehen konnte – [25] all diese Dinge, die ihn seit seiner Kindheit umgaben, waren für Tony ein Quell stetiger Freude und Zufriedenheit; sie erfüllten ihn mit zärtlichen Erinnerungen und Besitzerstolz.

Dabei waren sie keineswegs in Mode, das war ihm völlig klar. Vor zwanzig Jahren hatten die Leute Fachwerk und altes Zinnzeug gemocht, jetzt waren es Amphoren und Kolonnaden, aber eines Tages, vielleicht noch zu John Andrews Lebzeiten, würde die öffentliche Meinung Hetton wieder seinen rechtmäßigen Status einräumen. Schon jetzt bezeichnete man es als »anregend«, und ein sehr höflicher junger Mann hatte um die Erlaubnis gebeten, es für eine Architekturzeitschrift fotografieren zu dürfen.

Die Zimmerdecke des Morgan le Fay war nicht im besten Zustand. Um den Eindruck einer Kassettendecke zu vermitteln, hatte man ein Gitterwerk aus blau-golden gestreiften Zierleisten auf den Putz genagelt und die Flächen dazwischen abwechselnd mit Tudor-Rosen und Bourbonen-Lilien geschmückt. Doch in einer Ecke war Feuchtigkeit eingedrungen und hatte einen großen Fleck hinterlassen, wo die Vergoldung verblasst und die Farbe abgeblättert war. An einer anderen Stelle hatten sich die Leisten verzogen und vom Gips gelöst. In den stillen zehn Minuten zwischen Aufwachen und Klingeln lag Tony im Bett, betrachtete diese Mängel und beschloss wieder einmal, sie beseitigen zu lassen. Er fragte sich, wie schwierig es wohl wäre, heutzutage geeignete Handwerker für eine so anspruchsvolle Arbeit zu finden.

Morgan le Fay war sein Zimmer, seit er nicht mehr bei seiner Amme schlief. Man hatte ihn dort untergebracht, in [26] Rufweite zu seinen Eltern (unzertrennlich im Guinevere), da er lange an Alpträumen gelitten hatte. Seit er hier eingezogen war, hatte er nichts mehr aus dem Raum entfernt, doch jedes Jahr etwas hinzugefügt, so dass es jetzt so etwas wie eine Galerie darstellte, in der jede Phase seiner Kindheit und Jugend vertreten war – das gerahmte Bild eines Schlachtschiffs, dessen Kanonen Feuer und Rauch spien (eine farbige Beilage aus Chums); ein Gruppenfoto aus seinem Internat, eine Vitrine, die er »Das Museum« nannte, vollgestopft mit den Früchten unzähliger halbherzig betriebener Hobbys: Vogeleier, Schmetterlinge, Fossilien, Münzen; seine Eltern in einem ledernen Diptychon, das in den verschiedenen Internaten auf seinem Nachttisch gestanden hatte, Brenda vor acht Jahren, als er versuchte, sich mit ihr zu verloben; Brenda mit John, aufgenommen gleich nach dessen Taufe; eine Aquatinta von Hetton, wie es ausgesehen hatte, bevor sein Urgroßvater es abgerissen hatte, und ein paar Regale mit Büchern, darunter Bevis, Basteln mit Holz, Das große Zauberbuch, Junge Gäste oder Mr Salteenas Plan, Rechte und Pflichten von Grundbesitzern und Pächtern und In einem anderen Land.

In ganz England quälten sich die Menschen mit Mühe aus den Betten. Tony aber lag zehn Minuten da und plante behaglich die Instandsetzung seiner Zimmerdecke. Dann griff er nach der Klingelschnur.

»Ist Ihre Ladyschaft schon wach?«

»Seit einer Viertelstunde, Sir.«

»Dann frühstücke ich bei ihr.«

Er streifte den Morgenmantel über, schlüpfte in seine Hausschuhe und ging hinüber ins Guinevere.

[27] Brenda saß in ihrem erhöhten Bett.

Sie hatte auf einem modernen Bett bestanden. Das Tablett lag neben ihr, die Bettdecke war übersät mit Umschlägen, Briefen und Tageszeitungen. Ihr Kopf lehnte an einem winzigen blauen Kissen. Ohne Make-up war ihr Gesicht beinahe farblos, perlrosa, ein Farbton, der sich kaum von dem ihrer Arme oder des Dekolletees abhob.

»Nun?«, meinte Tony.

»Küsschen!«

Er setzte sich neben das Tablett am Kopfende, sie beugte sich zu ihm hinüber (eine Wassernymphe, aufgestiegen aus der bodenlosen Tiefe klaren Wassers). Dann wandte sie die Lippen ab und rieb sich wie eine Katze an seiner Wange. Das war eine ihrer Angewohnheiten.

»Irgendetwas Interessantes?«

Er nahm ein paar Briefe in die Hand.

»Nein. Mama möchte, dass Nanny ihr Johns Maße schickt. Sie strickt ihm etwas zu Weihnachten. Und der Bürgermeister fragt an, ob ich nächsten Monat irgendwas einweihen kann. Das muss ich doch nicht, oder?«

»Es wäre nicht schlecht; wir haben ihm schon lange keinen Gefallen mehr getan.«

»Na gut, aber dann musst du die Rede schreiben. Ich bin allmählich zu alt für die mädchenhafte Ansprache, die ich immer zu allem verwendet habe. Angela will wissen, ob wir über Silvester zu ihr kommen.«

»Die Antwort ist einfach. Nein, ganz sicher nicht.«

»Dachte ich mir… obwohl es sich anhört, als könnte es eine lustige Party werden.«

»Fahr nur, wenn du willst. Ich kann unmöglich weg.«

[28] »Schon gut. Ich wusste, dass du nein sagen würdest, schon bevor ich den Umschlag geöffnet hatte.«

»Was ist lustig daran, mitten im Winter nach Yorkshire zu fahren?«

»Jetzt reg dich doch nicht auf, Liebling. Ich weiß, dass wir nicht fahren. Ich mache ja deswegen auch kein Theater. Ich dachte nur, zur Abwechslung mal bei jemand anderem zu essen könnte ganz nett sein.«

Brendas Mädchen kam mit dem zweiten Tablett. Er ließ es ans Fenster stellen und begann, seine Post zu öffnen. Dann sah er aus dem Fenster. Nur vier von sechs Kirchtürmen waren heute Morgen sichtbar. »Wenn ich es recht bedenke, kann ich an dem Wochenende vielleicht doch weg«, sagte er plötzlich.

»Wäre es nicht grässlich langweilig für dich, Liebling?«

»Ach, ich glaube nicht.«

Während er frühstückte, las Brenda ihm aus der Zeitung vor. »Reggie hat schon wieder eine Rede gehalten… Was für ein außergewöhnliches Bild von Babe und Jock… Eine Frau in Amerika hat Zwillinge von zwei verschiedenen Männern zur Welt gebracht. Hättest du das für möglich gehalten?… Schon wieder zwei Burschen im Gasofen… Ein kleines Mädchen wurde auf einem Friedhof mit einem Schnürsenkel erwürgt… Das Stück, das wir neulich gesehen haben, das über den Gutshof, ist abgesetzt worden.« Am Ende las sie ihm den Fortsetzungsroman vor. Er zündete seine Pfeife an. »Ich glaube, du hörst gar nicht zu. Warum will Sylvia nicht, dass Rupert den Brief bekommt?«

»Wie? Ach so, sie vertraut Rupert einfach nicht.«

»Wusste ich es doch! Es gibt gar keine Figur namens Rupert in der Geschichte. Ich lese dir nie wieder etwas vor!«

[29] »Ehrlich gesagt habe ich gerade nachgedacht.«

»Ach.«

»Ich habe darüber nachgedacht, wie herrlich es ist, dass heute Samstagmorgen ist und wir niemanden übers Wochenende erwarten.«

»Oh, findest du?«

»Du nicht?«

»Na ja, ich denke manchmal, dass es einfach sinnlos ist, ein so großes Haus zu haben, ohne hin und wieder ein paar Leute einzuladen.«

»Sinnlos? Ich weiß nicht, was du damit meinst. Ich halte das Haus doch nicht deshalb instand, damit ein Haufen Langweiler herkommt, um den neuesten Tratsch zu verbreiten. Wir haben immer hier gelebt, und ich hoffe, dass John das Ganze eines Tages übernehmen kann. Man ist seinen Angestellten gegenüber verpflichtet, aber auch dem Besitz. Es gehört zweifellos zum englischen Leben, und es wäre ein ernsthafter Verlust, wenn… « Plötzlich hielt Tony inne und warf einen Blick auf das Bett. Brenda lag mit dem Gesicht in den Kissen vergraben da, nur ein Büschel Haar lugte aus den Laken.

»O Gott«, seufzte sie. »Womit habe ich das bloß verdient?«

»Bin ich mal wieder schwülstig?«

Sie drehte sich auf die Seite, so dass ihre Nase und ein Auge sichtbar wurden. »O nein, Liebling. Nicht schwülstig. Das könntest du gar nicht sein.«

»Tut mir leid.«

Brenda setzte sich auf. »Und bitte, ich habe es nicht so gemeint. Ich bin auch riesig froh, dass niemand kommt.«

[30] (Solche Szenen häuslichen Humors waren seit sieben Jahren ein mehr oder weniger fester Bestandteil von Tonys und Brendas Leben.)

Draußen herrschte das übliche milde englische Wetter, Nebelschwaden in den Senken und fahler Sonnenschein auf den Hügeln. Im Wäldchen tropfte es kaum noch, denn es gab keine Blätter mehr, die den letzten Regen abgefangen hätten, doch das Unterholz war feucht, dunkel in den Schatten, funkelnd, wenn die Sonne es streifte. Die Wege waren aufgeweicht, und in den Gräben hatten sich Rinnsale gebildet.

Während Ben das Hindernis aufbaute, saß John Andrew feierlich und steif wie ein Life Guard auf seinem Pony. Thunderclap war ein Geschenk von Onkel Reggie zu Johns sechstem Geburtstag gewesen. Nach längerer Beratschlagung hatte John der Stute auch den Namen gegeben. Ursprünglich hatte sie Christabelle geheißen, doch Ben zufolge passte das mehr zu einem Hund als zu einem Pferd. Ben hatte einen hellen Rotschimmel namens Thunderclap gekannt, der zwei Reiter getötet und vier Jahre in Folge alle Hindernisrennen in der Gegend gewonnen hatte. Es sei ein hübsches kleines Pferd gewesen, sagte Ben, bis es sich eines Tages bei der Jagd aufspießte und erschossen werden musste. Ben kannte unzählige Geschichten von Pferden. Eins hieß Zero; mit ihm hatte er bei einem Rennen in Chester einmal fünf Pfund gewonnen, bei einer Quote von zehn zu drei. Ein anderes Mal ging es um ein Maultier namens Peppermint, das damals im Krieg die Rumration der gesamten Kompanie ausgesoffen hatte und daran gestorben war. Aber John wollte [31] sein Pony nicht nach einem betrunkenen Maultier nennen. Deshalb hatten sie sich, trotz der unerschütterlichen Gelassenheit des Tieres, am Ende für Thunderclap entschieden.

Thunderclap war eine dunkelbraune Stute mit einem langen Schweif und ebensolcher Mähne. Ihre Beine hatte Ben so zottelig gelassen, wie sie waren. Im Moment graste sie und schien nicht einmal zu bemerken, dass John ihren Kopf hochzuziehen versuchte. In der Zeit vor Thunderclap war Reiten eine schwierige Angelegenheit gewesen. Er war auf einem kleinen Shetlandpony namens Bunny um die Koppel getrabt, während Nanny am Zügel hing und keuchend nebenher lief. Jetzt war das Reiten Männersache. Nanny saß mit ihrem Häkelzeug in einiger Entfernung auf einem Faltstuhl, außer Hörweite. Ben hatte eine seiner neuen Stellung entsprechende Beförderung bekommen. Der einstige Pferdeknecht hatte nun sichtlich das Gebaren eines Stallmeisters angenommen. Das Halstuch war von einer Halsbinde und einer mit einem Fuchskopf geschmückten Krawattennadel abgelöst worden. Er war ein Mann, der auch in anderen Teilen des Landes Erfahrungen gesammelt hatte.

Weder Tony noch Brenda gingen auf die Jagd, sie hofften aber sehr, dass John entsprechende Neigungen entwickelte. Ben sah eine Zeit voraus, in der die Ställe voll waren und er selbst die Aufsicht innehatte. Mr Last war nicht der Mann, der sich jemand von außerhalb dafür suchte.

Ben hatte zwei Pfähle mit Eisenhaken versehen und einen weißgetünchten Querbalken hineingehängt. Damit errichtete er mitten auf dem Feld ein etwa zwei Fuß hohes Hindernis.

»Geh es ganz ruhig an. Am besten galoppierst du langsam [32] darauf zu, und wenn sie springt, beugst du dich im Sattel vor, und schon fliegst du drüber weg wie ein Vogel. Halt geradewegs auf den Balken zu.«

Thunderclap trabte los, galoppierte zwei Schritte und besann sich eines Besseren. Kurz vor dem Sprung fiel sie wieder in den Trab und machte einen Schlenker um das Hindernis herum. John geriet aus dem Gleichgewicht, ließ die Zügel los und klammerte sich mit beiden Händen an die Mähne. Dann warf er einen schuldbewussten Blick zu Ben hinüber, der sagte: »Wozu hast du wohl deine gottverdammten Schenkel? Hier, nimm das und zieh ihr kurz vor dem Sprung eins drüber.« Damit reichte er John eine Gerte.

Nanny saß am Gatter und las den Brief ihrer Schwester noch einmal.

John lenkte Thunderclap zurück und versuchte erneut zu springen. Dieses Mal hielt er schnurgerade auf das Hindernis zu.

»Die Schenkel ran!«, rief Ben. John trat dem Pony kräftig in die Flanken und verlor die Steigbügel. Ben fuchtelte mit den Armen, als wollte er die Krähen verscheuchen. Thunderclap sprang, John flog aus dem Sattel und landete rücklings im Gras.

Nanny sprang beunruhigt auf. »Oh, was ist geschehen, Mr Hacket, ist er verletzt?«

»Alles in Ordnung«, sagte Ben.

»Mir ist nichts passiert«, sagte John, »ich glaube, sie hat getänzelt.«

»Von wegen getänzelt, das kannst du deiner Großmutter erzählen! Du hast bloß die gottverdammten Schenkel geöffnet und bist auf dem Hintern gelandet. Halt beim [33] nächsten Mal die Zügel fest. Sonst gehst du bei der Jagd noch leer aus.«

Beim dritten Mal schaffte es John über das Hindernis, atemlos und unsicher, mit einem losen Steigbügel und eine Hand erneut in der Mähne verkrallt, aber er saß noch im Sattel.

»Und – wie fühlt sich das an? Du bist drüber weggesegelt wie eine Schwalbe. Willst du noch mal?«

Noch zwei Mal übersprang John auf Thunderclap den niedrigen Balken, dann rief Nanny, es sei Zeit für ihn, hineinzugehen und seine Milch zu trinken. Doch zuerst brachten sie das Pony zurück in den Stall. »Ach, du liebe Güte, sieh dir deine Jacke an, sie ist ja völlig verdreckt!«, schimpfte Nanny.

»Bald wirst du den ersten Preis in Aintree gewinnen«, sagte Ben.

»Schönen Tag, Mr Hacket.«

»Schönen Tag, Miss.«

»Wiedersehn, Ben, darf ich heute Abend vorbeikommen und zugucken, wie du die Pferde auf dem Gut versorgst?«

»Das kann ich nicht entscheiden. Frag Nanny. Aber ich sag dir was, das graue Kutschpferd hat Würmer. Willst du zusehen, wie ich ihm ein Medikament gebe?«

»O ja, bitte, Nanny, darf ich?«

»Das musst du deine Mutter fragen. Und jetzt komm, für heute hast du genug von Pferden gehabt.«

»Man kann gar nicht genug von Pferden haben«, antwortete John. »Nie im Leben.« Auf dem Weg zum Haus fragte er: »Darf ich heute meine Milch in Mummys Zimmer trinken?«

[34] »Das kommt drauf an.«

Nannys Antworten waren immer ausweichend – »Das wird sich finden«, »Mal sehen!« oder »Wer viel fragt, bekommt viele Antworten« –, ganz anders als Bens entschiedene, unmissverständliche Stellungnahmen.

»Worauf denn?«

»Auf allerlei.«

»Sag mir nur eins.«

»Zum Beispiel, dass du keine dummen Fragen stellst.«

»Blöde Schlampe!«

»John! Wie kannst du es wagen? Was sagst du da?«

Entzückt über die Wirkung seiner Bemerkung, riss sich John von ihrer Hand los, tanzte vor ihr her und sang »Blöde Schlampe! Blöde Schlampe!«, bis sie den Nebeneingang erreichten. Unter dem Vordach nahm Nanny ihm stumm die Gamaschen ab. Ihre Verbissenheit ernüchterte ihn ein wenig.

»Geh sofort ins Kinderzimmer«, sagte sie. »Und ich erzähle das jetzt gleich deiner Mutter.«

»Bitte Nanny, ich weiß nicht, was es bedeutet, aber ich habe es nicht so gemeint.«

»Geh sofort hinauf ins Kinderzimmer.«

Brenda war dabei, sich zu schminken.

»So läuft das, seit Ben Hacket angefangen hat, ihm das Reiten beizubringen, Mylady, und nichts hat geholfen.«

Brenda spuckte in die Wimperntusche. »Aber Nanny, was genau hat er denn gesagt?«

»Das möchte ich lieber nicht wiederholen, Mylady.«

»Unsinn, Sie müssen es mir sagen. Sonst denke ich vielleicht etwas viel Schlimmeres, als was es tatsächlich war.«

[35] »Schlimmer hätte es unmöglich sein können… er hat mich blöde Schlampe genannt, Mylady.«

Brenda verbarg ihr belustigtes Grinsen unter einem Schminktuch. »Das hat er gesagt?«

»Mehrmals. Er ist den ganzen Weg vor mir hergetanzt und hat es gesungen.«

»Verstehe… nun, Sie haben gut daran getan, mir das zu berichten.«

»Vielen Dank, Mylady, und da wir gerade davon sprechen… vielleicht sollte ich Ihnen sagen, dass Ben Hacket mit dem Kind beim Reiten viel zu schnell vorwärtsmacht, finde ich. Es ist sehr gefährlich. Heute Morgen ist der Junge gestürzt, und es hätte böse enden können.«

»Na gut, Nanny, ich werde mit Mr Last darüber sprechen.«

Sie sprach mit Tony. Beide lachten sehr über den Vorfall. »Liebling«, sagte sie schließlich. »Du musst mit ihm sprechen. Du kannst viel besser ernst bleiben als ich.«

»Ich dachte, es wäre nett, wenn man Schlampe zu jemandem sagt«, protestierte John. »Außerdem benutzt Ben den Ausdruck immer.«

»Das sollte er lieber nicht tun.«

»Ich mag Ben lieber als sonst jemand auf der Welt. Und ich glaube, er ist auch schlauer.«

»Du weißt doch wohl selbst, dass du ihn nicht lieber hast als deine Mutter.«

»O doch, viel, viel lieber.«

Tony fand, dass es Zeit wurde, das Geplänkel zu beenden und die Predigt zu halten, auf die er sich vorbereitet hatte. »Jetzt hör mal zu, John. Es war sehr ungehörig, Nanny als [36] blöde Schlampe zu bezeichnen. Erstens, weil es nicht höflich ihr gegenüber ist. Denk nur daran, was sie Tag für Tag für dich tut.«

»Dafür wird sie ja bezahlt.«

»Du hältst jetzt zur Abwechslung den Mund! Zweitens, weil du ein Wort benutzt hast, das deinem Alter und deinem Stand nicht angemessen ist. Arme Leute benutzen gewisse Ausdrücke, die Gentlemen nicht in den Mund nehmen. Du bist ein Gentleman. Wenn du groß bist, wird dieses Haus dir gehören und noch vieles mehr. Du musst lernen, dich so auszudrücken wie jemand, der all diese Dinge besitzen wird, und anständig zu den Leuten zu sein, die nicht so gut dran sind wie du, vor allem zu Frauen. Hast du das verstanden?«

»Ist Ben nicht so gut dran wie ich?«

»Das tut nichts zur Sache. Und jetzt gehst du nach oben, entschuldigst dich bei Nanny und versprichst, diesen Ausdruck nie wieder zu benutzen.«

»Na gut.«

»Und weil du heute so ungezogen warst, wirst du morgen nicht reiten.«

»Morgen ist Sonntag.«

»Dann eben übermorgen.«

»Aber du hast morgen gesagt. Das ist unfair.«

»Hör auf zu quengeln, John! Wenn du nicht hörst, bringe ich Thunderclap zurück zu Onkel Reggie und erkläre ihm, dass du meiner Ansicht nach nicht fähig bist, ein Pferd zu halten. Das fändest du nicht schön, oder?«

»Was sollte Onkel Reggie mit ihr machen? Sie könnte ihn gar nicht tragen. Außerdem ist er ständig auf Reisen.«

»Er würde sie einem anderen kleinen Jungen schenken. [37] Aber das interessiert jetzt niemanden. Jetzt lauf und entschuldige dich bei Nanny.«

An der Tür sagte John: »Das Reiten am Montag geht doch in Ordnung, oder? Du hast morgen gesagt.«

»Na gut.«

»Hurra! Thunderclap hat sich heute sehr gut gemacht. Wir sind über einen hohen Balken gesprungen. Zuerst wollte sie nicht, und dann ist sie wie ein Vogel drübergeflogen.«

»Und du bist nicht gestürzt?«

»Doch, einmal. Es war nicht Thunderclaps Schuld. Ich hatte die gottverdammten Schenkel vergessen und bin auf dem Hintern gelandet.«

»Und – wie lief die Lektion?«, fragte Brenda.

»Miserabel. Hundsmiserabel.«

»Nanny ist eifersüchtig auf Ben, das ist alles.«

»Könnte sein, dass wir beide es auch bald sind.«

Sie nahmen das Mittagessen an einem kleinen runden Tisch in der Mitte des Speisesaals ein. Anscheinend war es unmöglich, in diesem Raum eine gleichbleibende Temperatur zu halten. Während eine Seite in der glühenden Hitze des offenen Kamins schmorte, zog es auf der anderen dermaßen aus allen Ecken und Enden, dass man fast erfror. Brenda hatte unzählige Experimente mit Wandschirmen und einem tragbaren elektrischen Heizkörper angestellt, ohne großen Erfolg. Selbst heute war es trotz des milden Wetters draußen eiskalt im Speisesaal.

Obwohl Brenda und Tony gesund und ungewöhnlich schlank waren, hielten beide Diät. Es machte ihre Mahlzeiten interessanter und bewahrte sie vor den unzivilisierten [38] Extremen, die so gefährlich für einsame Esser sind: maßlose Völlerei oder unregelmäßige Mahlzeiten, die aus Rührei und Tartar-Schnittchen bestehen. Im Augenblick hatten sie sich die Kombination von Eiweiß und Stärke während derselben Mahlzeit verboten. Sie besaßen eine gedruckte Tabelle, der sie entnehmen konnten, welche Speisen Eiweiß und welche Stärke enthielten. Die meisten normalen Gerichte bestanden offenbar aus beidem, so dass es Brenda und Tony viel Spaß machte, ihr Menü zusammenzustellen. Gewöhnlich endete es damit, dass eine der Speisen zum Joker erklärt wurde.

»Das ist bestimmt sehr bekömmlich.«

»Ja, Liebling, und wenn wir das hier satthaben, könnten wir es mit einer alphabetischen Diät versuchen und jeden Tag nur Dinge zu uns nehmen, die mit demselben Buchstaben anfangen. A wäre schlimm, es gäbe nur Apfelsinenmarmelade und Aal in Aspik… Was hast du heute Nachmittag vor?«

»Nicht viel. Carter kommt um fünf vorbei, um ein paar Dinge zu besprechen. Vielleicht fahre ich nach dem Essen nach Pigstanton. Ich glaube, wir haben einen Pächter für Lowater, aber der Hof hat eine Weile leer gestanden, und ich will mir einmal anschauen, was dort alles gemacht werden müsste.«

»Ich hätte nichts dagegen, ins Kino zu gehen.«

»Na schön. Lowater kann auch bis Montag warten.«

»Und anschließend könnten wir noch bei Woolworth’s vorbeifahren, ja?«

Angesichts von Brendas Charme und Tonys gesundem Menschenverstand war es nicht verwunderlich, dass ihre Freunde sie als Paar betrachteten, dem es außergewöhnlich gut gelang, die Probleme des Zusammenlebens zu lösen.

[39] Die Pastete ohne Proteine war nicht sehr verlockend.

Fünf Minuten später wurde ihnen ein Telegramm überbracht. Tony öffnete es und sagte: »Verdammt!«

»Schlechte Nachrichten?«

»Es ist wirklich schrecklich. Sieh dir das an.«

»Ankomme 15 : 18 Uhr freue mich auf Besuch. Beaver«, las Brenda und fragte: »Wer ist Beaver?«

»Ein junger Mann.«

»Klingt doch nicht übel.«

»Oh, warte nur, bis du ihn siehst.«

»Warum kommt er her? Hast du ihn eingeladen?«

»Vermutlich, wenn auch nicht direkt. Eines Abends war ich im Bratt’s, und er war der Einzige, der außer mir da war. Wir haben zusammen etwas getrunken, und er erwähnte, dass er das Haus gern einmal sehen würde…«

»Bestimmt warst du beschwipst.«

»Nicht wirklich, aber ich hätte nie gedacht, dass er mich beim Wort nehmen würde.«

»Tja, geschieht dir recht. Das kommt davon, wenn man geschäftlich nach London fährt und mich hier allein zurücklässt… Wer ist er denn eigentlich?«

»Nur ein junger Mann. Seine Mutter führt diesen Laden.«

»Ach ja, ich kenne sie. Sie ist grässlich. Da fällt mir ein, wir schulden ihr noch Geld.«

»Am besten rufen wir ihn an und sagen, dass wir krank sind.«

»Zu spät, er sitzt bereits im Zug und schert sich einen Dreck um Stärke und Proteine bei seinem Great Western Lunch für dreieinhalb Schilling… Wie auch immer, er kann [40] Galahad nehmen. Wer da schläft, kommt nie wieder – das Bett muss eine Tortur sein.«

»Was um alles in der Welt sollen wir mit ihm machen? Es ist zu spät, um noch jemanden einzuladen.«

»Fahr du nach Pigstanton. Ich kümmere mich um ihn. Allein ist es einfacher. Heute Abend können wir mit ihm ins Kino gehen, und morgen kann er sich das Haus ansehen. Wenn wir Glück haben, nimmt er den Abendzug zurück. Muss er am Montagmorgen zur Arbeit?«

»Keine Ahnung.«

Drei Uhr achtzehn war keine günstige Ankunftszeit. Man kam gegen Viertel vor vier im Haus an, und wenn man fremd war, so wie Beaver, konnte die Zeit bis zum Tee ein wenig unangenehm sein, doch ohne Tony, der sie befangen machte, wurde Brenda mit solchen Situationen glänzend fertig. Und Beaver war so selten irgendwo wirklich willkommen, dass er gar nicht merkte, wie zurückhaltend er empfangen wurde.

Sie empfing ihn im sogenannten Herrenzimmer; in mancher Hinsicht war es der am wenigsten düstere Raum im Haus. »Wie schön, dass Sie kommen konnten«, sagte sie. »Aber ich muss Ihnen gleich sagen, dass wir keine Gesellschaft geben. Sie werden sich bestimmt grässlich langweilen… Tony hatte noch etwas zu erledigen, er wird aber bald wieder da sein… War es voll im Zug? Samstags ist es das oft… Hätten Sie Lust auf einen kleinen Spaziergang? Es wird bald dunkel, und wir könnten ein wenig die Sonne genießen, solange es noch geht…« und so weiter. In Tonys Gegenwart wäre es schwierig gewesen, denn hätte sie zufällig seinen Blick gekreuzt, wäre es mit ihrer Rolle als Schlossherrin [41] vorbei gewesen. Beaver war es gewohnt, Konversation zu machen, und so traten sie gemeinsam durch die Balkontür ins Freie, gingen die Stufen der Terrasse hinab in den Garten und kamen durch die Orangerie zurück, ohne auch nur einen Anflug von Verlegenheit. Sie ertappte sich sogar dabei, wie sie Beaver erzählte, seine Mutter sei eine ihrer ältesten Freundinnen.

Tony war rechtzeitig zum Tee zurück. Er entschuldigte sich bei seinem Gast, nicht zu Hause gewesen zu sein, um ihn willkommen zu heißen, und verließ gleich darauf erneut das Zimmer, um mit seinem Verwalter zu sprechen.

Brenda erkundigte sich nach London und den bevorstehenden Partys. Beaver kannte sich bestens aus.

»Polly Cockpurse gibt demnächst eine.«

»Ja, ich weiß.«

»Sind Sie auch da?«

»Ich glaube nicht. Wir gehen heutzutage nur noch selten aus.«

Die Witze der letzten sechs Wochen waren alle neu für Brenda. Beaver hatte sie so oft erzählt, dass sie inzwischen perfekt geschliffen waren, und er gab sie sehr wirkungsvoll zum Besten. Außerdem berichtete er ihr von zahlreichen Veränderungen in ihrem Freundeskreis.

»Wie geht es Mary und Simon?«

»Ach, wussten Sie das nicht? Sie haben sich getrennt.«

»Wann?«

»Angefangen hat es in Österreich, im Sommer…«

»Und Billy Angmering?«

»Ist unsterblich verliebt in eine junge Frau namens Sheila Shrub.«

[42] »Und die Helm-Hubbards?«

»Auch da kriselt es… Daisy hat ein neues Restaurant eröffnet. Es ist ein großer Erfolg… und es gibt einen neuen Nachtclub namens The Warren…«

»Meine Güte«, sagte Brenda schließlich, »wie gut sich alle Welt amüsiert!«

Nach dem Tee wurde John Andrew hereingeführt und riss die Führung des Gesprächs schnell an sich. »Sehr erfreut«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass Sie kommen. Daddy meinte, er hätte endlich mal ein Wochenende für sich. Jagen Sie?«

»Ich habe es lange nicht mehr versucht.«

»Ben sagt, es wäre vernünftig, wenn jeder es täte, der es sich leisten kann, zum Nutzen des Landes.«

»Vielleicht kann ich es mir nicht leisten.«

»Sind Sie arm?«

»Bitte hören Sie nicht auf ihn, Mr Beaver!«

»Ja, sehr sogar.«

»Arm genug, um andere Leute blöde Schlampen zu nennen?«

»Ja, durchaus.«

»Wie sind Sie denn so arm geworden?«

»Ich war es schon immer.«

»Ach so.« John verlor das Interesse an dem Thema. »Das graue Kutschpferd vom Gut hat Würmer.«

»Woher weißt du das?«

»Ben hat es gesagt. Außerdem reicht ein Blick auf seinen Mist.«

»Liebe Güte!«, mischte sich Brenda ein. »Was würde bloß Nanny sagen, wenn sie dich so reden hörte?«

[43] »Wie alt sind Sie?«

»Fünfundzwanzig. Und du?«

»Und was machen Sie?«

»Nicht viel.«

»Ich an Ihrer Stelle würde mir eine Arbeit suchen und Geld verdienen. Dann könnten Sie auch zur Jagd gehen.«

»Aber dann könnte ich nicht mehr andere Leute als Schlampen bezeichnen.«

»Ich weiß nicht, warum das so wichtig sein sollte.«

(Später, beim Abendessen im Kinderzimmer, sagte John: »Ich glaube, Mr Beaver ist ziemlich blöd, findest du nicht?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Nanny.

»Ich glaube, er ist der blödeste Mensch, der je bei uns zu Besuch war.«

»Vergleiche sind abscheulich.«

»Er hat überhaupt nichts Nettes an sich. Er hat eine blöde Stimme und ein blödes Gesicht und eine blöde Nase.« John stimmte einen liturgischen Singsang an. »Blöde Füße und blöde Zehen, blöder Kopf und blöde Kleider…«

»Jetzt iss endlich auf«, sagte Nanny.)