Abtprimas Notker Wolf

mit Leo G. Linder

Wohin pilgern wir?

Alte Wege und neue Ziele

Inhaltsverzeichnis

Zitat (Psalm)

1. «Ich bin aus meinem Jahrhundert ausgetreten»

2. «Da zog Abraham aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte»

3. «Gott muss nahe bei mir werden und ich nahe bei Gott»

4. «Wie schön und wertvoll ist es, sein Grab zu besuchen!»

5. «Gott möge über die Irrtümer der Pfaffen entscheiden»

6. «Wenn man sie essen sieht, glaubt man, fressende Hunde vor sich zu haben»

7. «Auf den Wegen der Heiligen gibt es Unrecht und Betrug im Überfluss»

8. «Es ist niemand da, dem nicht die Haare zu Berge stehen»

9. «Rom erreichte ich um die Fastenzeit ...»

10. «Dein Leben hat einen Sinn! Du wirst Missionar!»

11. «Bitte komm!» Als Erzabt unterwegs auf Steppenpisten und Bergpfaden

12. «Jeder Tag verlangt nach einer neuen Ich-Anstrengung»

13. «Gäste, die ankommen, empfange man alle wie Christus»

14. «Gönne dich dir selbst!»

15. «Ich hatte keine religiösen Motive»

Literatur

 

Psalm 121

 

Ein Wallfahrtslied

 

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen:

Woher kommt mir Hilfe?

 

Meine Hilfe kommt vom Herrn,

der Himmel und Erde gemacht hat.

 

Er lässt deinen Fuß nicht wanken;

er, der dich behütet, schläft nicht.

 

Nein, der Hüter Israels

schläft und schlummert nicht.

 

Der Herr ist dein Hüter; der Herr gibt dir Schatten:

Er steht dir zur Seite.

 

Bei Tag wird dir die Sonne nicht schaden

noch der Mond in der Nacht.

 

Der Herr behüte dich vor allem Bösen,

er behüte deine Leben.

 

Der Herr behüte dich,

wenn du fortgehst und wiederkommst,

von nun an bis in Ewigkeit.

1. «Ich bin aus meinem Jahrhundert ausgetreten»

Von dem Mut zum Experiment mit sich selbst

Kann man sich den Glauben erlaufen? Erwandern? Erpilgern? Kann man auf einer Pilgerfahrt Gott ganz unbeabsichtigt begegnen – oder überhaupt nicht?

Damals, mit sechzehn Jahren, als ich meine erste Wallfahrt antrat, hätte ich solche Fragen gar nicht verstanden. Der Glaube war unser Antrieb, unser Ansporn – was sonst hätte uns zu einem frommen Unternehmen beflügeln sollen, bei dem man Wind und Wetter und müden Knochen und Blasen an den Füßen trotzen musste? Und Blasen bekam man; die waren bei dem Schuhwerk, in dem wir uns auf den Weg machten, garantiert. Nein, wir verstanden uns als begeisterte Christen, die aus Kirche und Gemeindesaal ausbrechen und sich singend und betend die Landstraße erobern wollten, als wanderndes Gottesvölkchen gewissermaßen, auf dem Weg zu einem verheißungsvollen Ziel. Wobei wir es nicht wirklich auf eine Kraftprobe ankommen lassen wollten. Bei meiner schmächtigen Statur lag mir Heldentum ohnehin fern, auch frommes Heldentum. Mit dem Auto hätten wir unser Ziel in zwei Stunden erreicht. Aber wir wollten den Glauben mit einem besonderen Erlebnis, mit einer körperlichen Anstrengung und anderen Erfahrungen verbinden, die man im gewohnten Gemeindeleben nicht machen konnte, und all das war auch auf den hundertzwanzig Kilometern von München nach Altötting schon zu haben.

Wir liefen also los, in Doppelreihe, am Rand der Landstraße, etwa hundert junge Leute aus verschiedenen Orten, ein Kaplan vorweg. Es war das Jahr 1957, und es war die erste von drei Wallfahrten, die ich nach Altötting unternommen habe. Ich muss dazusagen: Ich gehörte damals der Legio Mariae an. Der Legion Mariens. Ein etwas kriegerischer Name, der sich der Marienbegeisterung der Iren verdankte. Dort, in Irland, war die Legio Mariae in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als katholische Laienbewegung gegründet worden, und was mir daran gefiel, war die Kombination aus regelmäßigem Gebet und strategisch geplantem Einsatz für die Schwachen, für Alte und Kranke. Wer der Legio Mariae beitrat, der musste ran und wollte das auch, der investierte ein Gutteil seiner Freizeit in den Dienst am Nächsten, und ein Nebeneffekt unseres Eifers war diese Wallfahrt zum Marienheiligtum Altötting. Wie man jetzt unschwer errät, hatte ich damals eine Vorliebe für die Muttergottes, und die habe ich mir bis heute bewahrt. Ich gebe zu: Diese Vorliebe entsprang zu keiner Zeit einer hohen Theologie. Sie war und ist Ausdruck einer Alltagsfrömmigkeit, die sich nicht vom Verstand maßregeln lassen will, die schlicht und einfach aus dem Herzen kommt: Maria hat sich als Mutter um Jesus gekümmert, jetzt möge sie sich bitte auch um mich kümmern – so habe ich damals gedacht, so denke ich immer noch.

Gut, wir zogen also über Land, in langer Doppelreihe am Rand der asphaltierten Straße, von Autos weitgehend unbelästigt, denn der Verkehr war Ende der fünfziger Jahre spärlich. Da es zur Pfingstzeit war, mussten wir mit Regengüssen rechnen, hatten deshalb alle unsere Regenschirme dabei, und mit einem dieser Regenschirme dirigierte der Mann an der Spitze auch unseren Wechselgesang. Es wurde nämlich, solange wir liefen, fast ohne Unterlass gebetet und gesungen. Abwechselnd ging der Schirm nach rechts oder nach links, je nachdem, welche Reihe dran war. Das Vaterunser wechselte nach der Hälfte die Seite, das ganze Rosenkranzgebet verteilte sich auf rechts und links, und wenn die eine Reihe sich mit «Gegrüßet seist du, Maria» vernehmen ließ, antwortete die andere Seite mit «Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder». Und zwischendurch Marienlieder und Gotteslob, bis wir das halbe Gesangbuch durchhatten. Es kam vor, dass sich der Himmel verdunkelte und tatsächlich ein Schauer niederging; dann funktionierte die saubere Stimmentrennung nicht mehr, und eine gewisse Konfusion trat ein – was wir lustig fanden. Aufhalten aber konnte uns der Regen nicht.

Vorneweg wurde ein Kreuz geschleppt. Ein schweres Holzkreuz. Das wechselte jeweils nach einer Weile von einer Schulter auf eine andere, und wer es nicht mit großem Geschick ausbalancierte, den warf es um. Wir haben uns ordentlich damit herumgequält. Warum? Vielleicht, um schon mal etwas abzubüßen. Es mag sein, dass wir außerdem ein oder zwei Fahnen dabeihatten. Sicher bin ich mir nicht, aber wenn es so war, dann haben wir sie nicht als Triumphzeichen verstanden, sondern als weithin sichtbaren Ausdruck unserer Freude. Denn Freude hat es uns allen gemacht, das Laufen und Beten und Singen und Schleppen; die Pausen nicht zu vergessen, die Verschnaufpausen im kühlen und – was uns bisweilen noch willkommener war – trockenen Innenraum einer Kirche, mitunter auch an einem Wegkreuz oder einem Waldrand, wo man sich wieder sammelte, betete und meditierte oder einfach plauderte, bis die letzten Nachzügler eingetrudelt waren.

Ich erinnere mich gut, und ich erinnere mich gern an diese frühen Wallfahrten, und in besonders angenehmer Erinnerung sind mir die Übernachtungen geblieben. Am Ende des ersten Tages kamen wir in einer Schule unter, die von Schwestern geleitet wurde. Matratzen und Luftmatratzen waren in den Klassenräumen ausgelegt, und vor dem Schlafengehen bewirteten uns die freundlichen Ordensfrauen mit Malventee, wobei es jedes Mal hieß: «Darf ich noch etwas lauwarm nachgießen?» Und da wir in diesem Fall alle beisammen und noch durchaus munter waren, wurden nun zur Abwechslung weltliche Lieder gesungen, harmlose Fahrtenlieder, die sich unser Kaplan gleichwohl tagsüber streng verbeten hatte.

Am nächsten Abend wurden wir auf Privatleute verteilt, die sich – so war das damals – geehrt fühlten, junge Wallfahrer beherbergen zu dürfen. Der Name des Dorfs will mir nicht mehr einfallen, wohl aber erinnere ich mich deutlich an das Glück, das mir und meinem Freund (der heute Abt in Ostafrika ist) in jener zweiten Nacht beschieden war: In einem Krämerladen etwas außerhalb der Ortschaft erwartete uns eine liebe alte Dame mit Franzbranntwein und Heftpflaster und einem guten Essen. Sie ließ es sich nicht nehmen, unsere geschundenen Füße eigenhändig einzureiben und die Blasen vom Laufen in den harten Lederschuhen selbst zu verarzten, so besorgt war sie um uns. Auch die zwei Betten in der Schlafkammer über ihrem Tante-Emma-Laden sehe ich noch vor mir: alte Holzkistenbetten mit dreiteiliger Matratze und Plumeaus, in denen man schier ertrank. Hundemüde, wie wir waren, haben wir vorzüglich darin geschlafen.

Am späten Vormittag des dritten Tages war unser Ziel erreicht: Altötting, das traditionsreiche bayerische Marienheiligtum, auch damals schon der bedeutendste Wallfahrtsort in Deutschland. Und es tat gut, am Ziel zu sein. Allerdings wollten wir uns nicht gleich der Hochstimmung der Ankunft überlassen und drehten mit unserem Kreuz auf der Schulter noch etliche Runden um die Wallfahrtskirche, bevor wir uns auf dem Vorplatz der Basilika mit einer zweiten Pilgerschar aus Regensburg vereinigten. Als wir dann in die Basilika einzogen, waren wir eine ansehnliche Truppe. Die machte schon was her.

Den anschließenden Gottesdienst habe ich als erhebendes Erlebnis im Gedächtnis. Wir feierten die Messe als eine Gemeinschaft von jungen Leuten, die alle das Gleiche durchgemacht hatten, in der jeder die Erinnerungen an die Strapazen – und die Gebete – der letzten Tage mit dem anderen teilte. Und in die Genugtuung, nun am Ziel zu sein, dürfte sich ebenfalls bei jedem ein Quäntchen Stolz gemischt haben. Nach der Messe löste sich alles auf, das heißt, wir verteilten uns auf die umliegenden Wirtschaften, tranken unser erstes Bier, taten uns an Weißwürsten und hausgemachten Brezen gütlich, schrieben um die Wette Ansichtskarten und machten uns schließlich auf den Heimweg, vom Bahnhof aus, mit dem Zug. Mir steht noch das schwere Holzkreuz im Gang vor unserem Abteil vor Augen.

Ich befürchte, die Geschichte meiner ersten Wallfahrten wird ziemlich harmlos und doch irgendwie befremdlich in den Ohren moderner Menschen klingen, antiquiert wahrscheinlich und beinahe rührend. Und ich gebe zu: Der Anblick, den wir seinerzeit geboten haben, und der fromme Überschwang, mit dem wir unsere Lieder und Gebete zum nicht immer blauen bayerischen Himmel gesandt haben, das alles unterscheidet sich beträchtlich von dem Bild, das heutige Pilger mit ihren Hightechschuhen und Spezialrucksäcken bieten, wenn sie still für sich oder in kleinen Gruppen auf einer der mittlerweile so beliebten alten Pilgerrouten unterwegs sind, Hunderte von Kilometern vor sich und dabei so kräftig ausschreitend, dass ich selbst nicht lange mithalten könnte. Doch scheint mir die eine Art des Pilgerns mit der anderen mehr zu tun zu haben, als man auf den ersten Blick vermuten sollte. Sicher, unsere Wallfahrten damals waren Demonstrationen unseres Glaubens, und dass dieser Glaube eine fröhliche Angelegenheit war, durfte jeder mitbekommen. Aber was mir als beglückend daran in Erinnerung geblieben ist, sind Erfahrungen, die ein ungläubiger Mensch genauso schön gefunden hätte.

Allein schon, wie gelassen man mit einem Mal wird, mit wie viel Humor man die ganzen Widrigkeiten des Unternehmens auf die leichte Schulter nimmt, die schmerzenden Füße, die patschnassen Socken nach einem ergiebigen Schauer – als Pilger geht es einem eben doch um etwas anderes, etwas Höheres und Ernsteres, selbst wenn man dabei gar keinen Gedanken an Gott verschwendet. Uns hat jedenfalls keine Unbill etwas ausgemacht, und wenn einem doch mal der Mut zu sinken drohte, wurde er von Leidensgefährten mit stabilerem Gemüt wieder aufgemuntert.

Dann das Erlebnis der Gastfreundschaft. Von wildfremden Menschen bewirtet und umsorgt zu werden, so wie wir die mütterliche Fürsorge der alten Krämersfrau erfahren haben. Als Pilger ist man stets auf Fremde angewiesen, erlebt diese Abhängigkeit aber nicht unwillig als Einschränkung der eigenen Freiheit, sondern erleichtert als vertrauensvolle Hingabe an die Großmut anderer. Wem solche Gastfreundschaft widerfahren ist, der vergisst sie sein Leben lang nicht mehr.

Und schließlich das Gemeinschaftserlebnis. Gewiss, uns hat die Gemeinsamkeit im Gebet besonders tief beeindruckt und die Erfahrung, als Gläubige nicht allein zu sein, mit einer großen Zahl von Gleichgesinnten auf ein gemeinsames Ziel zuzusteuern. Aber ich weiß aus Erzählungen, dass heutige Pilger dieses Gemeinschaftsgefühl ähnlich beglückend empfinden, wenn sie sich unterwegs mit Zufallsbekanntschaften für ein paar Tage zusammentun, miteinander laufen und miteinander Rast machen und abends in einer Runde beisammensitzen. Solidarität ist wohl das Wort, das die Lust am Pilgern am treffendsten erklärt, dieser ursprüngliche, selbstverständliche menschliche Zusammenhalt. Wenn ich an unsere Wallfahrten zurückdenke, spüre ich jedenfalls noch einmal die Freude, die uns damals vom ersten bis zum letzten Augenblick erfüllt hat, und sie speist sich ganz wesentlich aus den Begegnungen mit Menschen, die mir dieses Gefühl von Zusammenhalt vermittelt haben.

Was ist also mit dem Glauben? Kann man sich ihn tatsächlich erlaufen? Oder ist der Glaube womöglich gar keine Voraussetzung dafür, mit Gewinn für sein Leben zu pilgern? Kann einen am Ende der ganze religiöse Kram überhaupt kaltlassen, und man kehrt doch als Veränderter von einer Pilgerreise zurück?

Denn dass man sich von einer Pilgerreise etwas verspricht, etwas, das einen in der Seele berührt, möglichst tief, möglichst nachhaltig, das scheint mir heute nicht anders zu sein als früher, in den Blütezeiten der mittelalterlichen Pilgerei. Ob man dabei einer Verheißung folgt oder bloß einer inneren Unruhe nachgibt, ist für den Erfolg einer solchen Reise wahrscheinlich nicht einmal entscheidend. Immer schon hatten die Menschen die verschiedensten Gründe dafür, aufzubrechen, auch wenn der Glaube in früheren Zeiten stets beteiligt war, bei guten wie bei schlechten Christen. Der größte Unterschied zwischen Früher und Heute scheint mir der zu sein: Heute steht im Vordergrund die Suche – früher die Gewissheit, zu finden.

Und das ist merkwürdig. Denn was läge uns heute ferner, als unsere kostbare Zeit mit Suchen zu verschwenden? Fällt denn die Suche – umständlich und zeitraubend, wie sie ist – dieser Tage nicht dem Ideal der Mühelosigkeit zum Opfer? Suchen – wozu? Es ist praktisch unmöglich geworden, seinen Bestimmungsort zu verfehlen. Da wird einem im Alltag jede Suche erspart, Navigationsgeräte nehmen uns wie Kinder bei der Hand, und fast immer hat man die Gewähr, anzukommen, die Ziele mögen noch so fern liegen. Jede Suche lässt sich abkürzen, und Informationen erhalten wir auf Knopfdruck. Eigentlich leben wir also in einer Welt, in der sich niemand mehr mit Suchen aufhalten will – und dank des technischen Fortschritts auch nicht mehr aufzuhalten braucht.

In der Welt der mittelalterlichen Pilger hingegen … In deren Welt war es nie ausgemacht, ob man je hinfinden würde, nach Rom, Santiago de Compostela oder Jerusalem, ob man jemals sein Ziel erreichen würde – und häufig musste man sich seinen Weg mühsam suchen. Das Gelingen einer Pilgerreise stand in den Sternen. Dennoch sind die Pilgerwege unserer Zeit voller Menschen, die auf der Suche sind, während die Pilgerwege der Vergangenheit von Menschen bevölkert waren, die keinen Zweifel daran hatten, zu finden. Sie wussten, was sie am Ende ihres langen Weges erwartete, nämlich in aller Regel ein Heiliger, der Trost und Vergebung, neue Kraft und vielleicht sogar Erlösung von unheilbaren Gebrechen für sie bereithielt – mithin etwas, das jede Mühe lohnte. Genauso war es uns als jugendlichen Altötting-Pilgern noch vollkommen klar gewesen, am Ende unseres kurzen Weges die Muttergottes zu finden, also die, unter deren besonderen Schutz wir uns gestellt hatten.

Was erhofft sich der moderne Pilger von seiner Reise? Was glaubt er am Ende seines Weges zu finden? Schwer zu sagen. In den meisten Fällen wohl nichts Bestimmtes. Mit dem Verlust der Glaubenszuversicht in unserer Zeit ist auch die Ausstrahlung der Heiligen verblasst – nicht jedoch die Faszination gewisser Pilgerorte, und das ist eine weitere Merkwürdigkeit. Mögen sich viele vom Besuch eines Heiligengrabs, einer Madonna nicht das Geringste mehr versprechen, der Pilgerfreude tut das keinen Abbruch. Wie seit tausend Jahren und mehr geben die Heiligen auch heute noch die Pilgerziele vor, und das, obwohl mitunter ernsthafte Zweifel angebracht sind. Wer möchte zum Beispiel darauf wetten, dass im spanischen Santiago de Compostela tatsächlich der Leichnam des Apostels Jakobus liegt? Schon im späten Mittelalter galt das nicht mehr als ausgemacht.

Sicher, es gibt sie immer noch, die persönlichen Lieblingsheiligen, und ihre Grabstätten haben weiterhin Zulauf. Der heilige Franz von Assisi zieht wie eh und je die Pilger an, auch der besonders in Italien verehrte heilige Antonius von Padua. Unter den zeitgenössischen Heiligen hat Padre Pio wahrscheinlich die größte Schar von Anhängern, ein kerniger, unverblümter Franziskaner, der im bitterarmen Süden Italiens Krankenhäuser gebaut hat und bereits zu Lebzeiten im Ruf der Heiligkeit stand. Und auch die Muttergottes, die Madonna, die Jungfrau, kann nach wie vor auf einen festen Stamm gläubiger Verehrer zählen. Doch gerade unter den zahlreichen Sankt-Jakobs-Pilgern unserer Tage dürften sich nicht viele finden, die diesem Jakobus einen wirklichen Wert für ihr Leben beimessen.

Dennoch – und das ist die nächste Merkwürdigkeit – erfüllen die Heiligen nach wie vor einen Zweck. Denn ohne Heilige gäbe es keine Pilgerziele, und jeder Pilger, ob gläubig oder nicht, bewegt sich auf einen Heiligen zu. Praktische Orientierungshilfe für Suchende zu leisten – dazu sind die Heiligen also immer noch gut. Und diese zielgerichtete Bewegung, dieses Verfolgen eines vorgegebenen, nicht selbst gewählten Ziels, unterscheidet das Pilgern grundsätzlich vom Wandern. Als Pilger steht man sozusagen stets im Bann eines Heiligen, selbst wenn er einem persönlich nichts bedeutet.

Ein Pilgerweg ist eben kein gewöhnlicher Weg. Alles steht hier im Zeichen einer langen, christlichen Vorgeschichte. Auch auf einem Wanderpfad sind vor uns schon Menschen gegangen, aber sie haben uns nichts hinterlassen. Auf einem Pilgerweg jedoch reiht man sich ein in einen unsichtbaren Strom von Menschen, die ein klares Ziel vor Augen hatten, die von einem starken Glauben beflügelt waren, die diesen Weg in vielen Jahrhunderten mit ihrer Hoffnung getränkt haben. Auf einem solchen Weg kommt man gewissermaßen in Berührung mit der grenzenlosen Sehnsucht und der unermesslichen Hoffnung, die Menschen zu allen Zeiten mit dem Heiligen, dem Göttlichen verbunden haben. Auf Pilgerwegen wird man gleichsam Teil einer Menschheitsfamilie, mit der man nicht unbedingt denselben Glauben, aber dieselben Hoffnungen und Lebensträume gemeinsam hat. Als Pilger ist man deshalb nie allein. Und vielleicht geht mit jedem Schritt auf diesem Weg auch etwas von der Zuversicht unserer frühen Vorläufer auf uns über – der Zuversicht, zu finden. Mit anderen Worten: Auch wenn man es als Einzelner betreibt, stiftet Pilgern eine Gemeinsamkeit, über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg. So könnte sich auch die Solidarität erklären, die ein Pilger unterwegs immer wieder erlebt, jener Zusammenhalt, der auch mir von den kleinen Wallfahrten meiner Jugend als schönste Erfahrung in Erinnerung geblieben ist.

Kann man sich den Glauben also doch erlaufen? Den Glauben vielleicht nicht, würde ich sagen, aber einen Glauben bestimmt. Ich will zwar nicht ausschließen, dass der eine oder andere, der mit Kirche und Gott gebrochen hat, am Ende seiner Pilgerreise tatsächlich zum einfachen Glauben seiner Kindheit zurückfindet oder zu neuen Einsichten über Wahrheit und Wert des Glaubens gelangt. Die meisten jedoch dürften den Erfolg ihrer Pilgerfahrt nicht als Bekehrung oder Läuterung im christlichen Sinne beschreiben, wohl aber gern bestätigen, dass sie innerlich beruhigt oder gestärkt von ihrer Reise zurückgekehrt sind. Als Verwandelte, mit neu erwachtem Vertrauen zum Leben und zu den Mitmenschen vielleicht, mit wiedergefundenem Selbstvertrauen womöglich. Vertrauen und Selbstvertrauen aber sind Elemente einer gläubigen Grundhaltung – und wenn ein Mensch diese Erfahrung macht, dann hat sich für ihn eine Hoffnung erfüllt, die Menschen zu allen Zeiten mit dem Pilgern verbunden haben. Dann ist etwas mit ihm geschehen, obwohl er einer Zeit angehört, die die Mühe des Suchens scheut und für Heilige kaum noch Verwendung hat. Und das allein ist für mich schon ein kleines Wunder.

Einer, der das erlebt hat, ist Bruno. Ich will seine Geschichte am Ende dieses Kapitels kurz skizzieren, weil sich daran zwei Aspekte des Pilgerns aufzeigen lassen, die bisher noch nicht zur Sprache kamen. Bruno war Abteilungsleiter in einem großen deutschen Unternehmen, bevor er mit neunundfünfzig Jahren in den Ruhestand versetzt wurde. Aber er fand keine Ruhe. Er hielt es daheim nicht aus. Da brach er auf, allein, und lief die zweitausenddreihundert Kilometer von München nach Santiago de Compostela an einem Stück, in sechsundneunzig Tagesetappen. Es sei eine wichtige Erfahrung für ihn gewesen, sagte er. Und ein großer Gewinn. Als zufriedener Mensch sei er zurückgekehrt.

Nun braucht man zunächst einmal keine spirituelle Erklärung für diesen Wandel heranzuziehen – allein das Unterwegssein kann in einer Lebenskrise viel bewirken. Durch das Gehen gerät in Bewegung, was sich über Monate oder Jahre im Kopf zusammengeballt hat. Der starre Zusammenhang der quälenden Gedanken lockert sich, das Denken gerät in Fluss, irgendwann reißen die Gedanken mit einem aus, und im besten Fall entsteht allmählich ein neues Bild vom eigenen Leben im Kopf. Und dann: Die tägliche Schinderei lenkt vom eigenen Unglück ab. Das Ausschreiten in der freien Natur wird ohnehin als befreiend empfunden. Und mit den verschiedenen Lebens- und Leidensgeschichten, die man im Laufe der Zeit zu hören bekommt, locken die Weggefährten einen ebenfalls aus seinem Käfig heraus. Kurz: Man hört auf, um sich selbst zu kreisen. All das stimmt. Und doch gibt es in Brunos Geschichte einen Punkt, der über diese praktischen Vorzüge des Pilgerns hinausweist. Einen Punkt, den er selbst in einer Nebenbemerkung so formuliert hat: «Ich wollte einfach mal in eine andere Welt kommen.»

Und darum eben geht es beim Pilgern, vor allem anderen und auch heute noch: um einen Aufbruch und Ausbruch aus seiner alten Welt, einen – wenn auch nur vorübergehenden – Bruch mit ihren Gewohnheiten, ihren Bequemlichkeiten, ihren Bindungen und Verpflichtungen, einen Ausstieg aus den geordneten oder ungeordneten Verhältnissen seines alltäglichen Lebens, auch ein einstweiliges Ausscheiden aus seiner Zeit mit ihren schnellen Antworten und schnellen Lösungen und schnellen Ortswechseln. Pilgern setzt mithin den Mut voraus, ein Experiment mit sich selbst zu wagen. Und das ist ein durch und durch christlicher Mut.

Die Pilger des Mittelalters mussten Abschied nehmen von allem, was ihnen vertraut war. Monatelang, manchmal jahrelang waren sie unterwegs, wenn sie nach Rom, Santiago de Compostela oder Jerusalem pilgerten, und in dieser Zeit führten sie ein anderes, ein unstetes und unsicheres Leben, stechender Sonne oder strömendem Regen ausgesetzt, Halsabschneidern, Wegelagerern oder einer feindseligen Bevölkerung ausgeliefert. Die Pilgerführer jener Zeit sind gespickt mit Warnungen; bisweilen raten sie sogar, genau benannte Herbergen zu meiden, weil man als Pilger dort ausgeplündert werde. Kurzum: Pilgern war riskant, und die Gefahr, niemals anzukommen, real. Man entschloss sich damals also zu einem radikalen Ausstieg auf Zeit mit ungewissem Ausgang, und ein Hauch dieser Radikalität ist noch in den Geschichten moderner Pilger wie Bruno zu verspüren, der immerhin mehr als drei Monate lang mit dem Ausstieg aus dem gewohnten Leben Ernst gemacht hat.

Wenn wir den Bogen jetzt etwas weiter spannen, kommen wir schnell zu den großen Heiligengestalten Europas. Denn in der Geschichte des Christentums war es oft so: Wer etwas verändern, grundsätzlich verändern wollte, der begann mit sich selbst. Der setzte sein altes Leben nicht fort, der ging auf Distanz zu seiner Zeit, ließ vieles oder alles hinter sich, brach die Brücken zu seinem bisherigen Dasein ab. Er hatte den Mut zum Experiment mit sich selbst.

Ausgestiegen ist der heilige Franz von Assisi, einer der großen Revolutionäre des Christentums, der von sich gesagt hat: «Ich bin aus meinem Jahrhundert ausgetreten.» Da ist es, das Pilgermotiv des Ausbruchs – den heiligen Franz hat es dazu geführt, sich so konsequent der Liebe Gottes auszuliefern wie kaum ein anderer. Mit seiner Zeit gebrochen hat auch der heilige Benedikt von Nursia, der Gründer unseres Ordens. Von Rom, wo er im 5. Jahrhundert als junger Mann studierte, zog er sich in die unwirtliche Einsamkeit der Sabiner Berge zurück und lebte dort drei Jahre lang als Eremit in einer Grotte, bevor er eine Reihe von Klöstern ins Leben rief, jedes davon als Gegenwelt gedacht, als Gegengewicht zu dem, was sich an Verrohung und Lieblosigkeit innerhalb der Zivilisation seiner Epoche ausbreitete. Man könnte die Liste der christlichen Aussteiger beliebig fortsetzen. Und bei allen würde man auf eine Antriebskraft stoßen, die die erstaunliche Radikalität ihres Bruchs mit dem Altbekannten und allseits Üblichen erklärt: Um der Liebe und um der Wahrheit willen machten sie nicht mehr mit. Um der Liebe und der Wahrheit willen lösten sie sich aus den Zwängen der Zeit, der herrschenden Verhältnisse, des herrschenden Denkens.

Schließlich ist auch jeder Mönch ein Aussteiger. Das Leben im Kloster ist ein ständiger Ausstieg, und als Mönch bin ich zeitlebens in der Situation des Pilgers, der seine Familie, seine Freunde, seine Verwandtschaft zurücklässt, vieles aufgibt, was für ihn selbst einmal zum Leben gehört hat, und täglich aufbricht, um etwas Größeres zu finden. Es fällt mir daher nicht schwer, mein ganzes Leben als Pilgerreise zu verstehen – meinen Wechsel in die Welt des Klosters vor langer Zeit, die Stationen und Begegnungen auf meinem Weg als Mönch und Abt und all die anderen Erfahrungen, die man macht, wenn man ein Ziel vor Augen hat.

Von dieser lebenslangen Pilgerreise möchte ich in diesem Buch einiges erzählen. Darüber hinaus werde ich andere Pilger mit ihren Erlebnissen zu Wort kommen lassen, Stimmen aus der Vergangenheit und Stimmen aus der Gegenwart, und irgendwann wird auch Bruno mit seiner ganzen Geschichte an der Reihe sein. All diese Zeugen haben es auf den Pilgerwegen Europas weiter gebracht als ich, denn nach meinem Eintritt ins Kloster blieb mir zum Pilgern kaum noch Zeit – wenn man die zahllosen Reisen, die ich als Erzabt von Sankt Ottilien und später als Abtprimas in alle Welt unternommen habe, nicht als eine weitere Form der Pilgerreise gelten lassen will (Papst Johannes Paul II. hat seine Reisen so verstanden, und Benedikt XVI. tut es auch). Nach Santiago de Compostela wäre ich gern gepilgert, hatte es mir für den Herbst des Jahres 1977 auch fest vorgenommen. Da wurde ich im Oktober zum Erzabt gewählt, und mit Plänen dieser Art war es vorbei.

Die abenteuerlichsten Erfahrungsberichte in diesem Buch stammen, wie nicht anders zu erwarten, aus dem späten Mittelalter, nämlich von einem niederrheinischen Ritter und einer Engländerin. Der Ritter ist Arnold von Harff, der 1496 zu einer Pilgerfahrt nach Jerusalem aufbrach und unterwegs ein ungebührlich reges Interesse für die muslimische Welt des Vorderen Orients entwickelte. Die Engländerin ist Margery Kempe, die 1413 eine Reise ins Heilige Land antrat und unter dramatischen Umständen schließlich bis nach Santiago de Compostela gelangte. In ihren jeweiligen Aufzeichnungen treten ihre Motive übrigens deutlich zutage, und es zeigt sich wieder einmal, wie unterschiedlich auch damals schon die Beweggründe für eine solche Pilgerfahrt waren: Neugier und Abenteuerlust dürften für Arnold von Harff den Ausschlag gegeben haben, während Margery Kempe offenkundig Glaubenserfahrungen und fromme Ekstase suchte. Solche Augenzeugenberichte sind für uns nicht zuletzt deshalb wertvoll, weil sie uns verraten, in welche Tradition wir uns als Pilger heute stellen.

Ich will aber nicht allein auf die großen, klassischen Pilgerziele eingehen. Auch unbekanntere Pilgerorte haben ihre bisweilen dramatische Geschichte – das Örtchen Wilsnack an der Elbe ist ein Beispiel dafür. Auch Wallfahrten zu Pilgerstätten außerhalb Europas, in Afrika und Lateinamerika, sollen in dieses Buch einfließen, die Wallfahrten zu den heiligen Stätten des christlichen Äthiopiens etwa und die große Indiowallfahrt zum schwarzen Christus von Tila in Südmexiko. Sie können uns eine Ahnung davon vermitteln, mit welcher Inbrunst das Pilgern einst auch bei uns betrieben wurde, welche Massen ein Heiliger zu mobilisieren vermochte. Und schließlich will ich nicht vergessen, dass Pilgern keine christliche Besonderheit ist. Es muss ein menschliches Grundbedürfnis sein, an heiligen Orten die Präsenz des Göttlichen zu verspüren, denn fast jede Religion kennt Wallfahrten zu solchen Orten – die Hadsch nach Mekka ist nur die bekannteste davon. All diese Beispiele, Berichte und Zeugnisse aus der Welt des Pilgerns werden uns immer wieder Gelegenheit bieten, tiefer in das Geheimnis des Pilgerns einzudringen. Was Sie auf den folgenden Seiten erwartet, sind also, kurz gesagt, Pilgererfahrungen aus mehr als anderthalb Jahrtausenden und Lebenserfahrungen aus neunundsechzig Jahren.