Agnes Sapper


Die Familie Pfäffling

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-944869-46-9


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Kapitel 1 - Wir schließen Bekanntschaft



Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in die äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die Infanteriekaserne, sehen den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz. Aber vor diesem, etwas zurück von der Straße, steht noch ein letztes Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem Schreiner Hartwig, bei dem der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie in Miete wohnt.

Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz für Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen fröhlich herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf den obersten Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist sicher kein anderer als Frieder Pfäffling.

Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer Pfäffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht, war schon frühzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und Hefte zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. 

Die lange Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich die Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas näher in die Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, hätte sein Ziel am schnellsten erreichen können, aber das kleine runde Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu lassen als die andern.

Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch die Mutter zurück, und Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen, sowie die treue Walburg, die in der Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das für ein Sturm gewesen, bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht hatte, und was für eine Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie ordnend und räumend von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich zu Mute. Sie war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde, fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun die Mutter sich der Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen hatte sie ganz verlernt. 

So ging sie hinunter in den Hof, wo die großen Balken lagen. Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den glatten Balken kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten und sie ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie ging weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete, war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die Harmonika sei eine alte Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte sie auch die Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen - fast zum weinen!

Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: "Elschen, flink, Essig holen!"

Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße hinunter, zwar nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum nächsten Kaufmann.

Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau. Es waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben. Sie war eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute Erhaltung des Besitzes. 

Als diesen Morgen die Pfäfflinge nacheinander die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach einigen Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen herunterpoltern," sagte der Hausherr.

"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja rücksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie müssen immer springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen auf die abgetretenen Stellen."

"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt, was es um so eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu kündigen brächtest du doch nicht übers Herz."

"Nein, nie! Aber du auch nicht."

"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue Böden bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die Stufen, aber sie blieben doch abgetreten.

Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren die Zwillingsschwestern, die elfjährigen, Marie und Anna, die der Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. 

So rief auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen und machen gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei Großen, jetzt muß ich entgegen laufen."

Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnügen entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden Händen gefaßt und alle drängten der Treppe zu, als die Türe der untern Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brüder ihre Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein.

So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet ein wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?"

Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan," fuhr die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr mir in einem Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau mußte es ja wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen, der Mutter Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten! "Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an, langsam und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und Anna mit Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen können, der verweilte noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl am öftesten."

"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und indem er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den guten Willen haben sie, was kann man mehr verlangen?

Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn ins Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!"

Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin und hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der Musikschule zu berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so öfter lief ihm eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen großen Händen, was immer das Zeichen war, zu Tisch zu gehen. 

Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken und einen Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet sprach. Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete sich darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu."

Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, aber das Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des Wintersemesters.

"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben."

"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf ich nimmer mitbringen."

"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand."

"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben."

"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln."

"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend."

So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, umdrängten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der kleine Volksschüler, hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten.

Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen, indem er hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer war. Dort wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die er prüfen sollte. Aber es währte nicht lang, so folgten ihm seine drei Lateinschüler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht anschaffen, ihr müßt eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. 

Woher sollte denn so viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen, aber jetzt reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine kleine Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß auch noch etwas übrig bleiben," bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr gibt es sonst gleich wieder Tränen. Leinwand zu einem Nähtuch wollen sie, ob das wohl recht viel kostet?"

So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab und waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. Es blieb kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade.

Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen sich wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu ihrem Mann in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen saßen.

"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist höchste Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue Schüler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein könnten wir nicht leben."

"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr zuversichtlich klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es sorgliche Gedanken im Herzen bewegte.

In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene Fenster und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der sie von den Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, sagte genug.

"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling, "daran ist wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die Treppe heraufkam - ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene Stufen - streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber vergißt!"

Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern schon fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins Zimmer lief, um seine Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd vor Aufregung dabei, während er seine Hefte zusammenpackte, rief immer verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß davoneilte. Auf halber Treppe blieb er aber noch einmal stehen und rief kläglich herauf: "Mutter, was soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid," rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße hinunter und rief in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach - es war leicht zu erraten, was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er um die Ecke der Frühlingsstraße bog.

Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in seinen Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in Versuchung führen. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten zwei Jahren, an dem er sie nicht benützt hat. Er ist ein kleiner Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es nicht und das ist gut und von den Geschwistern hört er auch keine Schmeicheleien, sie ärgern sich ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich hätte auch nur einen Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber daß er seine Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das ist doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun wurde die Harmonika eingeschlossen.

War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als letzter heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen Schwester, was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt, und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es glimpflich abgehen würde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht und die neuen waren oft scharf. 

Als nun endlich der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch an. Aber das Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn der Vater war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein zürnendes Gesicht und die weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für Frieder. Aber Herr Pfäffling ging ans Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar nicht auf die Kinder. 

Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, denn sie hatte immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter Stimme. So erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte, sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen müssen, ja und dann - dann stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot und dick. "Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der große. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm, der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war ein Lügner und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen, du bekommst deine Harmonika wieder, aber ... "

Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im Bügelzimmer das Klingeln gehört und ihr seid vornen und achtet nicht darauf!" Schuldbewußt liefen die der Türe am nächsten Stehenden hinaus und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkündend: "Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fräulein ist da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll.

"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und Else fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut, die hören sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz zufrieden, daß wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling, "wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen, sie tut's um den halben Lohn. Und wieviel tut sie uns! Es ist traurig, zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muß sie sich mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde ich ihr den doppelten geben." 

Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man gesprochen hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große Brett voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche hereintrug. Walburg war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und ihr Gesicht hatte einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. 

Als niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfäfflinge wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen, und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt über die ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling, "wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann ... " "Dann wird sie kolossal reich," vollendete Karl.

Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als Schülerin angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das Fräulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als sei es noch ein dummes Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer, wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zählte das Geld auf den Tisch. 

'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein. Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling seinen Bericht und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drückten sich an die Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen Kleid durch die Frühlingsstraße rauschte, begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als ein Fräulein zu sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?" fragte Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig herauszubuchstabieren, er lautete: Frau Privatiere Vernagelding.

Kapitel 3 - Der Leonidenschwarm



Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau Pfäffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob sie gerne das Geschirr in der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten alle, daß diese Arbeiten geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden konnte.

Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten sorgen, daß in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war. Das hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher Tätigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich mühsam ein Sprungseil zu spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. 

Darauf hatte er ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten. Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem Militärturnplatz, nur daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte. Frieder wurde herbeigeholt. Er war für einen Achtjährigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine leichtfüßigen Brüder. 

Es zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden spannen mußte, und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das Seil, anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht übel, um so weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der Kleine nur so umgehen kann mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele Soldaten zugehört, da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule."

"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?"

"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine Mitschüler." Frieder machte große Augen. Daheim war eigentlich immer nur eine Stimme des Ärgers über sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie hören würden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin. 

Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander entfernt von allen Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es unbescheiden vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, während seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er, "vor dem Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren und die Füße werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft. Man hört auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite, leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz unheimlich, sage ich euch. 

Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue, wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem Bogen über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn, dachte ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzählst du das nicht, sie meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim und die hatten es auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen hat ihr Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15. November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der Leonidenschwarm. In manchen Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach Mitternacht und man sehe es nur selten so schön wie in der vergangenen Nacht, weil die Novembernächte meistens trüb seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis."

Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle mit einem Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das praktische Hausmütterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die Haustüre wird nachts geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen. 

Der Vater wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei Nacht gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften nicht so zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der Winternacht aushalten könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt hätte, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder versicherten, daß sie lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte die kleine Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte wohl durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur so eine halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf das Gespräch zurückzukommen. 

Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte er, daß am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren. Wenn es nun doch möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen Haus wurde und die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu sehen, ob etwas zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer fliegenden Kugel gesehen zu haben.

Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht einmal mehr Lust zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern.

Plötzlich ging die Türe leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles: "Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde geflüstert; das große warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder zu. Mit klopfendem Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, die Stiefel in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches Geräusch, nicht ohne Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht ohne metallenen Klang im Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen.

Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas gehört. Sie wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber sie hatte das Gefühl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte sich im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten Ton der sich schließenden Haustüre und dann ein Flüstern außerhalb derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es jemand mit gutem Gewissen, der mochte klingeln.

Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In wunderbarer Klarheit wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so schön gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen wäre," sagte Karl, "so würde mich's doch nicht reuen, daß ich aufgestanden bin." "Mich reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, daß einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die stehen da droben alle so fest!"

"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. Ein heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen dahin und war dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine Strecke gewesen sein, größer als das ganze Deutsche Reich. Staunend sahen die Kinder hinauf: da—schon wieder eine Sternschnuppe, größer als die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder eine. 

Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich sichtbar, es war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich aber von Westen herauf immer größere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne zu verdunkeln. Endlich kam das Gewölk bis an die Himmelsgegend, von der die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den staunenden Blicken nicht länger das schöne Schauspiel vergönnt sein sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze Herrlichkeit.

Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto, "nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die Brüder empfanden auf einmal, daß es kalt war und sie selbst müd und schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu schlüpfen, mußte köstlich sein! Also kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu.

"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er."

"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da draußen bleiben in der Kälte!"

Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an die Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von innen verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte Karl, drehte den Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte und drückte gegen die Türe, aber die gab nicht nach.

"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr.

"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch, es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in Ordnung, was hält die Türe zu?"

In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand hat etwas vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder den Riegel vorgeschoben."

"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen: "Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!"

"Aber er hat es doch erlaubt!"

"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?"

"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen."

"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein, wer hätte es sonst tun sollen?"

Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln dürfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon schlafen."

So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so stockfinster gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre! Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal reicht doch nicht für drei, ihr könnt ihn haben und ich laufe lieber hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, in drei Jahren muß ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das Tuch, wanderte stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben. Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was war denn das? Er kam näher zu den Brüdern her - wahrhaftig, Otto schluchzte und weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fühlte sich Karl als Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett," sagte er sich, "sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die Marianne wach rufen können, damit sie uns ausriegelt." Da waren die Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen lag, und nun galt es so laut zu rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so leise, daß Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne, Marianne," klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber umgekehrt, als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und die Hausleute wachten auf.

Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun möchte man wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten Türe. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich, keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus, lauschte - sah nichts, hörte nichts und schloß das Fenster. Eine gute Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt stehen. "Wir wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es unbegreiflich, daß die Schwestern so fest schliefen.

"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern draußen sein in der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie besser!" und leise öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid Ihr es, Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen sie dreistimmig, näherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt." Die Hausfrau erschrak. So hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen hatte sie gedacht, denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, aber nicht an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten.

"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur hinaus?"

"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie vorwurfsvoll und schloß das Fenster.

"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr, "was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da schwärmen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen Morgen?"

Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist. Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts geschlossen bleibt, dann hört ja alles auf. Für solche Mietsleute bedanke ich mich!"

Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob den Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit so verächtlichem Blick, daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung entfiel, sie standen vor ihm wie das böse Gewissen. Er schob sie von der Türe weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er ruhig und deutlich den einen Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten Januar sei ihm die Wohnung gekündigt."