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Nächtlicher Alleingang

geschrieben von Karin Bachmann
illustriert von Adrian Tobler

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2. Auflage 2004

© 2002 SJW Schweizerisches Jugendschriftenwerk

Abdruck des Inhalts, auch auszugsweise und fotomechanisch, nur mit Einverständnis des Verlags

Die Autorin           Karin Bachmann

Schreiben ist nicht mein Beruf, sondern ein

Hobby, das ich sehr liebe. Gelernt habe ich

Augenoptikerin. Meine grossen Leidenschaften sind Sprachen und das Reisen. Die Freundschaften, die ich mit Menschen aus verschiedenen Ländern knüpfen konnte, sind mir sehr wichtig. Besonders mit Neuseeland und Japan fühle ich mich stark verbunden.

Der Illustrator             Adrian Tobler

Geboren 1965

Grafikausbildung an der

Schule für Gestaltung, Zürich

lebt und arbeitet als Grafiker

und Illustrator in Zürich

E-ISBN 978-3-7269-0726-6

Bestellen bei: www.sjw.ch

Balmer Bücherdienst AG • 8840 Einsiedeln

Tel. 055 418 89 69 • Fax 055 418 89 58

Der Mann, der aussah wie Walter Matthau mit seinem Knautschgesicht, knallte den Hörer auf die Gabel und verliess die Telefonzelle. Draussen wartete sein Kollege, der einem Schwergewichtspreisboxer glich.

«Was hat er gesagt?», wollte er wissen.

Der andere brummte missmutig: «Wir sollen den Bruch trotzdem durchziehen und zwar noch vor Ende der Uhrmacherferien.»

«Aber Benny hat doch das Bein gebrochen! Wie gelangen wir ohne ihn hinein?»

«Das sei unser Problem. Der Kerl hat doch keine Ahnung!»

«Hast du ihm gesagt, dass der Durchschlupf für einen Mann in Normalgrösse zu klein ist?»

«Wir müssen für Ersatz sorgen, sonst sucht er jemand anderen.»

Das Knautschgesicht fluchte vor sich hin.

Da fiel sein Blick auf ein buntes Plakat im Schaufenster. Er stutzte. «Was ist los? Ist dir nicht gut?», erkundigte sich der Preisboxer.

Sein Kumpan schüttelte den Kopf: «Im Gegenteil! Ich habe da eine Idee... »

Samstag

Lukas trat aus dem Zwielicht der Bahnhofshalle in den grellen Julinachmittag hinaus. Der dunkelblonde Junge wischte sich den Schweiss von der Stirn und stellte den Tramper-Rucksack auf den Boden. Unsicher schaute er sich um. Sein Onkel, der ihn abholen sollte, war nirgends zu entdecken.

Das also war Biel-Bienne. Auf den ersten Blick fiel die Zweisprachigkeit der Stadt gar nicht auf. Während der ganzen Reise hatte sich Lukas gefragt: «Wie reagiere ich bloss, falls mich jemand auf Französisch anspricht?» Eine Männerstimme liess ihn zusammenfahren.

«Eh, hallo. Ça geits?»

«Momou, ça geit, merci. Und dir?»

Lukas starrte den Mann und die Frau entgeistert an, die sich zur Begrüssung rechts und links auf die Wange küssten. Das war ja noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Hiess «bilingue» etwa, dass Deutsch und Französisch vermischt wurden? Wie sollte er sich hier zurechtfinden, wenn ihn sein Onkel nicht abholte?

«Salut, Lukas. Ça geits?»

Das gleichaltrige Mädchen, das vor ihm stand, war sonnengebräunt, trug einen bunten Sommerrock und Stoffschuhe. Die braunen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

«Sprichst du Deutsch?», stotterte Lukas vor Aufregung.

Das Mädchen lachte: «Das ist doch der hiesige Gruss.»

«Ach so! Ça geit, merci. Und dir?»

«Hey, pas mal! Du lernst schnell. Inzwischen hast du wahrscheinlich gemerkt, dass ich Nicole bin.»

Lukas nickte. «Konnte dein Vater nicht kommen?»

«Doch, aber er hat keinen Parkplatz gefunden. Er dreht eine Runde um den Block und holt uns dort drüben ab.»

In diesem Moment hielt einige Meter entfernt ein Auto. Ein Mann und ein Junge stiegen aus.

Lukas erkannte den Onkel und Alain, Nicoles jüngeren Bruder. Seine Augen funkelten neugierig hinter einer flippig blauen Brille. «Man findet in dieser Stadt keinen Parkplatz! Ab nächster Woche, wenn die Uhrmacherferien voll im Gang sind, wird es besser», entschuldigte sich Onkel Peter, kam herbei, um Lukas richtig zu begrüssen und das Gepäck zu verstauen. Bereits warteten zwei Autos auf einen frei werdenden Platz. Schnell stiegen die vier ein und fuhren los. «Wie du weisst, sind wir umgezogen», erklärte der Onkel, während er den Wagen durch den Verkehr steuerte. «Wir wohnen jetzt in Erlach. In etwa zwanzig Minuten sind wir dort.» Lukas blickte durchs Fenster, aber die Rebberge und Winzerdörfer, die den See säumten, zogen an ihm vorüber, ohne dass er sie wahrnahm. Er musste zur Familie des Onkels, weil seine Mutter im Krankenhaus lag. Bei einer Routineuntersuchung war ein Knoten zum Vorschein gekommen. Die Mutter wurde sofort ins Krankenhaus eingewiesen und er «in die Ferien» geschickt. Lukas hatte Angst, denn seine Grossmutter war an Krebs gestorben.

Kurz vor Le Landeron klingelte Onkel Peters Handy.

«Antworte du bitte, Alain. Dann brauche ich nicht anzuhalten.»

«Es ist das Museum. Es sei wichtig», rapportierte der Junge.

«Ich rufe zurück, sobald wir zu Hause sind.»

Nachdem Alain das Gespräch beendet hatte, drehte er sich um und erklärte: «Papa hat extrem viel mit einer neuen Ausstellung zu tun.»