Anita Heine

Die Entführung eines Granatapfels

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Impressum:

© 2014 Verlag Kern

Autorin: Anita Heine

© Inhaltliche Rechte beim Autor

Herstellung: Verlag Kern, Bayreuth

Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de

Titelfoto/​Illustrationen: Erhard Gumprecht

Bild: Kinder-Globus by Shutterstock

Lektorat: Sabine Greiner, www.texte-und-co.de

1. digitale Auflage 2014: Zeilenwert GmbH

ISBN: 9783957160-874

ISBN E-Book: 9783957160690

www.verlag-kern.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Die Entführung eines Granatapfels

Nachwort

Es ist die Küste am Mittelmeer im Norden von Israel. An vielen Strandabschnitten erhebt sie sich und wird von den Menschen genutzt, an ihren fruchtbaren Hängen Häuser zu bauen und Gärten anzulegen. Das hatte einst auch Annes Vater getan. Er kaufte Land und bebaute es. Das Geld dafür hatte er als Fischer verdient. Damals waren die Netze immer voll von Fischen jeder erdenklichen Art und konnten gut verkauft werden. Ohne Gefahr war dieser Beruf jedoch nicht, da man auf dem Meer von schlimmen Wetterkapriolen überrascht werden konnte. Das ist auch heute noch so, nur die Boote sind viel seetüchtiger geworden, sodass sie bei hoher Windstärke, zum Beispiel bei Stärke 11, nicht so leicht kentern, wie das noch vor über 100 Jahren der Fall war.

Aber die Fischer in unserer Geschichte hatten nun leider noch solche einfachen Boote und mussten jederzeit damit rechnen, dass diese den Unwettern nicht standhalten würden.

Genau diese bittere Erfahrung mussten Annas Mann und ihr Vater machen, als beide eines unglückseligen Tages mit dem Boot auf dem Meer zum Fischen unterwegs waren.

Ein großer Sturm kam auf, den man vom Land aus mit Erschrecken und Ohnmacht verfolgen musste. Die Wellen verwandelten sich in mehrere Meter hohe Wogen und spielten mit den Booten, als seien sie Nussschalen. Seitdem waren beide Fischer verschollen, und Anne teilte ihr trauriges Los mit jenen Familien, denen so ein Unglück auch widerfahren war.

Anne war nun ganz allein für ihr Kind verantwortlich und kümmerte sich darüber hinaus um Haus und Garten. Sie arbeitete fleißig und nahm alle Entbehrungen auf sich, damit ihr Sohn Lug und sie ihr Zuhause niemals verlassen müssten. Beide hatten einen hübschen Garten angelegt, den sie pflegten und hegten. Um ihren Sohn und sich ernähren zu können, arbeitete Anne in einer fremden Bauernwirtschaft. Aber auch die Schule, die Lug besuchte, kostete Geld und das hieß für beide, mit allen Dingen, die sie zum Leben brauchten, sparsam umzugehen. Und das gelang ihnen nur, weil sie sich lieb hatten.

Von ihrem Grundstück aus, das sich am grünen Hang der Küste befand, blickten sie über das weite Meer, das sich ihnen in seiner ganzen Schönheit zeigte. Wie viele Unwetter auch bisher vom Meer über das Land gezogen waren, ihr Haus war vor Schaden bewahrt worden. Dafür waren beide sehr dankbar, und voller Fleiß kümmerten sie sich um alles, was das Leben ihnen abforderte.

Allein der Wind war schuld, dass es zu Stürmen kam, davon waren die Menschen von damals fest überzeugt. Nur er war ihrer Meinung nach verantwortlich für das Wetter. Wie sollte es sonst kommen, dass sich zum Beispiel die Meereswellen morgens sanft kräuselten, sich nur ein paar Stunden später plötzlich auftürmten und sich am Abend wieder in eine beinahe glatte Wasseroberfläche verwandelten? Von Wetterkunde hatten die Menschen keine Ahnung. Meteorologen gab es zwar auch schon, doch deren Wissen blieb meistens im Verborgenen. Das Volk verließ sich indessen auf alte Regeln der Natur und zimmerte sich daraus ihr Wettergeschehen, das oft zu Fehleinschätzungen führte.

Wie dem auch sei, jegliche Veränderungen zwischen Wasser und Land gehörten zu ihrem Leben, und das liebten sie wie du und ich.

Das Leben zu meistern, war nicht immer einfach. Beschwerlich wurde es zum Beispiel, wenn Lebensmittel benötigt wurden oder der Doktor von Nöten war. Denn dann mussten sie zum mehrere Kilometer entfernten Ort wandern. Bus und Bahn gab es damals noch nicht und für die Postkutsche fehlte Anne das Geld. Also gingen sie zu Fuß.

Dafür nahmen beide besonders gern den Weg am Strand entlang, da Muscheln und manchmal auch winzige Bröckchen von Bernstein am Ufer gefunden wurden. Diese kleinen Schätze wurden in den Einkaufskorb gelegt. Dabei verging die Zeit auf vergnügliche Weise und eins, zwei, drei waren Anne und Lug am Krämerladen angelangt. Für die vielen Lebensmittel, die sie nun einkauften, wurde jedoch der Korb wieder dringend benötigt. Also musste dieser wieder von allen gefundenen Dingen befreit werden. Die kleinen goldgelben Bernsteinstücke steckte Lug jedoch in seine Hosentasche, denn sie stellten, wie heute auch, eine kleine Kostbarkeit dar. Alles andere fand links und rechts der Ladentür seinen Platz. Mit der Zeit entstanden auf diese Weise hübsche Hügelchen, die nur aus Sand und Muscheln bestanden. Das freute besonders die kleinen Kinder des Ortes, die damit spielten, während ihre Mütter einkauften.

Und was die Schule betraf, so machte Lug der lange Weg dahin gar nichts aus, denn nur dort konnte er Schreiben, Lesen und Rechnen erlernen. Seine Mama Anne hatte leider keinen Unterricht nehmen können, denn in ihrer Kindheit war das Lernen nur in Kreisen reicher Leute üblich, da kam der Lehrer höchstpersönlich in die Häuser. Aber Lug, der seine Mama so sehr lieb hatte, wollte ihr schon alles beibringen, was er nun selbst erlernen konnte, das nahm er sich ganz fest vor.

Das Leben in ihrer wunderschönen Heimat war gut zu ertragen und voller Hoffnung sahen die beiden Menschen in ihre Zukunft. Es hatte bisher auch gar keinen Grund gegeben, angstvoll zu sein, denn beide waren froh, einander zu haben. Ihrem Leben einen guten Sinn zu geben, war ihr Ziel.

Nur dieses plötzlich aufkommende Gewitter war daran schuld, dass ihre Zuversicht empfindlich gestört wurde. Mit Blitz und Donner, dazu noch mit heftigen Windböen hatte es ihr einziges kostbares Granatapfelbäumchen vernichtet, das Mama Anne vor gar nicht langer Zeit gepflanzt hatte, nachdem sie es vom Strand mitgebracht hatte, um es vor dem Verwelken zu retten. Am Strand, ja dort stand sie oft, als ihre Trauer noch so weh tat und sie immerzu auf das Meer hinausschaute, um ein Zeichen ihrer dort draußen verschwundenen Lieben zu erspähen. Das sich nächtlich immerzu drehende Licht des Leuchtturmes schien plötzlich ein solches zu sein. Sein heller Schein fiel zwar wie immer in den Sand, auf dem sie stand, doch niemals sah sie dieses Zweiglein, auch gestern noch nicht, das heute wie eine Vision zu ihren Füßen wuchs. Ein fast winziges doch schon dunkelgrünes Baumpflänzchen, das sich offenbar mühte, aus seinem kargen Standort nach oben zu wachsen. Doch schien dies ohne Sinn, denn niemals verfügte der Sand über die erforderlichen Nährstoffe, die zum weiteren Gedeihen des kleinen Schösslings notwendig gewesen wären. Anne grub es aus und pflanzte es in ihrem Gärtchen wieder ein. Auf sonderbare Weise schenkte ihr diese Handlung Trost, und ihre Trauer wich einer Entschlusskraft, die ihre und ihre Sohnes Zukunft betraf. „Lug und ich werden uns darum kümmern. Wer weiß, was uns da heran wachsen wird.“ Dieser winzige junge Trieb bildete schnell Wurzeln in der Erde vor ihrem Haus, wuchs gar schnell und verwandelte sich in ein stämmiges Bäumchen, das alsbald seine erste prächtige Frucht bekam. „Es geht nicht mit rechten Dingen zu“, meinte Mama Anne. Wie konnte es sein, dass das Bäumchen so jung und zierlich noch, schon einen so großen und bildschönen Apfel hervorbringen konnte?

„Wir nehmen ihn als ein besonderes Geschenk an, für das wir sehr dankbar sind“, sprach die stolze Mama zu ihrem kleinen Sohn, der ganz ihrer Meinung war und sogleich die Gießkanne herbeiholte, um auf diese Art dem Bäumchen Dank zu zollen. „Recht so, Lug“, lobte ihn die Mutter. „Du hast mich verstanden und wirst eines Tages einen perfekten Gärtner abgeben.“