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Alex war irgendwo zwischen Oxford und Daventry, als sie auf den Verkehrspolizisten traf.

Eigentlich hätte er ein Geschenk des Himmels sein sollen.

Vor einer Stunde war die Dunkelheit hereingebrochen, und es waren schon zwei Stunden vergangen, seit sie von der völlig verstopften Autobahn M40 abgefahren war, um auf ihrem Weg nach Norden eine andere Route zu nehmen, auf der sie hoffentlich besser durchkam. Da sie ihr Navi dabeihatte, hätte dies eigentlich kein Problem darstellen sollen. Doch wie sich seit ihrer Abfahrt von der Autobahn herausgestellt hatte, waren Navigationsgeräte keinesfalls unfehlbar. Alex hatte das nutzlose Teil inzwischen ausgestellt und in den Fußraum auf der Beifahrerseite geworfen. In Wahrheit war sie versucht gewesen, es mitsamt dem Kabel aus dem Zigarettenanzünder zu reißen, es mehrmals mit dem Display nach unten auf die Lenksäule zu schlagen und alles, was dann noch übrig war, durch das Fenster ihres Opel Corsa nach draußen zu schleudern. Das verdammte Gerät hatte nicht nur Anweisungen gegeben, die überhaupt nichts mit der Geografie der von ihr durchfahrenen Gegend zu tun hatten, sondern zu allem Übel hatte auch noch die Ansagefunktion versagt. Also hatte sie versuchen müssen, den Wagen über kurvenreiche, sich windende schmale Landstraßen zu steuern und dabei gleichzeitig den kleinen leuchtenden Bildschirm im Auge zu behalten (der sich, da die magnetische Halterung kaputt war, im Handschuhfach befand). All das hatte es ihr nicht gerade erleichtert, die Aufnahmen der letzten Meetings von diesem Nachmittag abzuspielen und mit ein paar Überlegungen und Anmerkungen zu versehen, wie sie es sich eigentlich für die Heimfahrt vorgenommen hatte. Zumindest funktionierte der Smartpen einwandfrei, doch Alex hörte kaum noch zu, da sie keinen blassen Schimmer mehr hatte, wo sie war, und sich auf die kurvige Strecke konzentrieren musste. Die Gegend konnte kaum als Wildnis bezeichnet werden, doch im Moment sah sie nichts als Hecken, Wälder, Äcker und Weiden, die sich endlos hinzuziehen schienen. Als sie gegen halb zehn im Rückspiegel plötzlich ein zuckendes Blaulicht wahrnahm, hätte das also eigentlich ein Segen sein müssen. Doch dann warf sie einen Blick auf den Tacho, der ihr sagte, dass sie beinahe achtzig Stundenkilometer fuhr – wenn sie am Lenkrad gestresst war, neigte sie dazu, Gas zu geben (weshalb Joe ihr immer wieder den Kopf wusch). Und als die Scheinwerfer der Verkehrsstreife hinter ihr in einer mehr als nur angedeutet zurechtweisenden Manier mehrmals aufblendeten, wurde ihr bewusst, dass ein Scheißabend sich soeben in einen noch beschisseneren Scheißabend verwandelt hatte.

Sie fuhr in eine Haltebucht am Straßenrand, ließ ihr Fenster herunter und wartete. Schuhsohlen knirschten über den Kies, und eine undeutliche Gestalt näherte sich von dem mit dem blau-gelben Battenburg-Design markierten Wagen, der hinter ihr hergefahren war. Der Polizist leuchtete ihr mit seiner Taschenlampe direkt ins Gesicht. Das war ziemlich rücksichtslos, aber Alex verstand, warum er das tat – sie könnte schließlich irgendeine Verrückte sein. Außerdem war das vielleicht sogar zu ihrem Vorteil. Sie war gerade vierzig geworden, doch mit ihrem naturblonden Haar – das im Moment etwas wild und zerzaust war, was jedoch gerade reizvoll wirken konnte –, ihren hellblauen Augen und ihren stets mit Mascara getuschten Wimpern war sie eine jener Frauen, denen Männer gerne einen Gefallen taten.

»Haben Sie eine Ahnung, wie schnell Sie gerade gefahren sind, Miss?« Er war ein großer Mann, so viel konnte sie hinter dem grellen Schein seiner Lampe erkennen. Das verlieh ihm eine gewisse Autorität.

»Ja … tut mir leid. Ich weiß, dass es keine Entschuldigung ist, aber ich habe mich verfahren und bin spät dran.« Das war immer der Moment, in dem die Sache schiefgehen konnte. Als Vertriebsleiterin, die jede sich ihr bietende Gelegenheit nutzen musste, hatte Alex nie ein Problem damit, ihr Aussehen auszuspielen. Doch ihr war sehr wohl bewusst, dass ihr Liverpooler Akzent ihr außerhalb von Merseyside zum Nachteil gereichen konnte. Deshalb hatte sie es sich zur Regel gemacht, ihn abzumildern, doch sie bezweifelte, dass sie ihn ausreichend unterdrücken konnte, um einen verstimmten Polizeibeamten beeindrucken zu können. Also fügte sie schnell hinzu: »All diese dunklen Straßen, und nirgendwo ein Schild … um ehrlich zu sein, bin ich ein bisschen nervös geworden.«

»Wie heißen Sie?«

»Alexa Goddard.«

»Und wo kommen Sie her, Alexa – als ob ich das nicht längst wüsste?«

Das ärgerte sie, doch sie blieb höflich. »Aus Liverpool.«

»Dann sind Sie ziemlich weit weg von Hause.«

»Sie sagen es. Ich war auf der Life Science 2012 in Oxford. Ich verkaufe Arzneimittel. Ich war um sechs Uhr fertig und sollte schon seit einer Ewigkeit zu Hause sein, aber nördlich von Bicester gab es einen üblen Unfall, also bin ich abgefahren und habe versucht, mich zur M1 durchzuschlagen.«

»Haben Sie Alkohol getrunken?«

»Nein … Wie ich sagte: Ich habe gearbeitet.«

»Können Sie sich irgendwie ausweisen?«

»Ich habe nur meinen Führerschein dabei. Die Versicherung und meine TÜV-Bescheinigung würde ich auf einem Polizeirevier im Norden nachreichen … Ist das okay?«

»Wie ich sehe, scheint Ihnen die Prozedur nicht ganz unbekannt zu sein.«

Auch das ärgerte sie. Sie versuchte, ihn hinter dem Strahl seiner Lampe genauer in Augenschein zu nehmen, und erhaschte einen Blick auf eine weiße Kappe der Verkehrspolizei, ein weißes Hemd unter einer schwarzen stichsicheren Weste sowie ein an der Schulter befestigtes Funkgerät. Außerdem sah sie kurzes schwarzes Haar und ein entschlossenes Kinn. Er sprach fast ohne Akzent, jedoch mit dem leicht singenden Tonfall der Midlandsbewohner.

»Der Führerschein reicht fürs Erste«, sagte er.

Sie langte in den Fußraum auf der Beifahrerseite, fummelte in ihrer Handtasche herum und registrierte, dass er die Taschenlampe ein wenig gesenkt hatte und den Blick über sie streichen ließ.

Sie fand ihr Portemonnaie, nahm ihren Führerschein heraus und reichte ihn durchs Fenster. Er gab ihre Daten per Funk an einen Kollegen weiter und wechselte noch einige Sätze mit ihm. Es kam ihr vor, als vergingen mehrere Minuten.

»Wie ich höre, haben Sie in diesem Jahr schon sechs Punkte wegen Geschwindigkeitsüberschreitung kassiert«, stellte er fest.

Sie lächelte zerknirscht. »Ich bin viel im Auto unterwegs.«

»Dann sind Sie also beruflich auf Ihr Auto angewiesen. Insofern sollten Sie sich noch mehr vor Verstößen hüten als der Durchschnittsautofahrer.«

»Es sind vor allem die Blitzgeräte. Man kann kaum irgendwo langfahren, ohne geblitzt zu werden.«

Er reichte ihr den Führerschein zurück. »Die Blitzgeräte stehen nicht ohne Grund da. Ich bin Ihnen mehr als sechs Kilometer gefolgt, und Sie sind nahezu durchgehend achtzig Stundenkilometer gefahren. Erlaubt waren fünfzig. Wenn Sie bei dieser Geschwindigkeit jemanden umgenietet hätten, würde Ihnen jetzt kein Bußgeld winken … sondern eine Gefängnisstrafe. In gewisser Weise tue ich Ihnen also einen Gefallen, oder?«

Da hatte er vermutlich recht, dachte Alex und fühlte sich noch ein wenig schuldiger.

Er hielt inne. Obwohl er den Lichtstrahl der Taschenlampe auf ihr Gesicht gerichtet hatte, hatte sie erneut das deutliche und ziemlich unangenehme Gefühl, dass er ihre Oberschenkel anstierte, die unter ihrem knielangen Rock ein Stück weit zum Vorschein kamen.

»Wenn ich Ihnen wie vorgesehen einen Strafzettel verpasse«, sagte er, »kassieren Sie noch mal drei Punkte. Dann haben Sie also schon neun. Ein weiterer Verstoß, und Sie sind Ihren Lappen los.«

»Ich weiß …«

»Das bedeutet, dass Sie bei jeder Fahrt – nicht nur, wenn Sie berufsmäßig unterwegs sind, sondern auch, wenn Sie mit Ihrem Mann und Ihren Kindern irgendwohin fahren – sozusagen auf Bewährung hinterm Lenkrad sitzen. Ihnen wird jedes Mal das Herz in die Hose rutschen, wenn Sie angehalten werden. Sie werden ständig in Sorge sein, Ihren Job zu verlieren.«

Das alles war Alex sehr wohl bewusst, aber sie wünschte, dass er endlich zur Sache käme. Schön, sie hatte gegen die Vorschriften verstoßen und würde nun die Konsequenzen tragen müssen. Aber das konnte sie auch tun, ohne sich von jemandem, der klang, als wäre er noch keine dreißig, eine Standpauke halten lassen zu müssen.

»Es gibt natürlich auch noch eine andere Möglichkeit«, fuhr er fort.

»Ach ja?« Sie versuchte, nicht zu hoffnungsvoll zu klingen.

»Es gibt Mittel und Wege, die es Ihnen ersparen, ein Bußgeld zu bezahlen und Punkte wegen überhöhter Geschwindigkeit zu kassieren.«

»Ich verstehe …« Ihr Mut sank. Sie wusste sofort, worauf er anspielte. Seine Körpersprache verriet ihn irgendwie, die Art, wie er sich plötzlich zu ihr herabbeugte, in der Hoffnung, dass ihr sein männlicher Duft in die Nase stieg. Sie wusste, dass sie eigentlich empört sein sollte, doch sie war einfach zu erschöpft. »Ich frage mich, was für Mittel und Wege das sein mögen?«, entgegnete sie.

»Nein, das tun Sie nicht.« Sein Tonfall wurde weicher, obwohl immer noch eine gewisse Entschlossenheit in seiner Stimme mitschwang. »Eine weltgewandte Frau wie Sie, die schon überall war. Und schon alles gemacht hat … und wahrscheinlich sogar noch mehr als das.«

Sie schaute zu ihm auf und erhaschte einen Blick auf eine blasse Sichel grinsender Zähne hinter dem Schein seiner Taschenlampe. »Nebenbei sind Sie auch noch ein richtiger Charmeur, was?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich treffe so viele Frauen, die das Bedürfnis nach Gesellschaft haben. Sie tun mir einfach leid. Ich kann nicht anders … Ich will ihnen immer eine zweite Chance geben. Einige sind natürlich zu blöd, diese Chance zu nutzen. Aber es liegt ganz bei Ihnen.« Er kehrte unanständig schnell wieder zu seinem geschäftsmäßigen Ton zurück. »Die Alternative ist, dass Sie es auf die übliche Art begleichen … und den Preis zahlen.«

»Nur interessehalber«, sagte sie, »wo hatten Sie denn vor, mir diese zweite Chance zu gewähren?«

Er leuchtete mit seiner Taschenlampe an ihr vorbei in den hinteren Bereich des Corsa, doch die Rückbank war mit jeder Menge Kartons vollgestellt, aus denen Broschüren hervorquollen, ganz zu schweigen von ihrem Blazer und den Lackleder-High-Heels, die sie drei lange, ihre Zehen quälende Tage am Messestand getragen hatte. »Ein bisschen eng da hinten, was?« Er grinste noch breiter. »Zum Glück gibt es in meinem Wagen Platz genug.«

»Um ganz im Klaren zu sein«, sagte sie, »ich meine, reden wir nicht um den heißen Brei herum … wobei ich den Eindruck habe, dass Sie sowieso lieber direkt zur Sache kommen, oder?«

»Tja, kann man so sagen.« Er lachte leise in sich hinein, vielleicht erleichtert festzustellen, dass sie genau das mit allen Wassern gewaschene Mädel war, das er sich erhofft hatte.

»Nur um absolut sicher zu sein, was für einen Deal wir hier abschließen … Ich gehe mit Ihnen in diesen Streifenwagen, lasse Sie eine Nummer mit mir schieben, und im Gegenzug verpassen Sie mir keinen Strafzettel für zu schnelles Fahren. Genau genommen vergessen Sie das Ganze ein für alle Mal, richtig?«

»So läuft es normalerweise ab.«

»Normalerweise? Verstehe … Sie haben sich dieses Verfahren also zur Gewohnheit gemacht.«

»Trägt dazu bei, dass die endlosen langweiligen Schichten schneller rumgehen.«

»Okay … hm …«

»Eine Bedingung.« Er gluckste erneut, ein gefühlloses, trockenes Lachen. »Sie müssen die High Heels tragen, die Sie da hinten im Wagen haben. Wenn Sie diese Lusttöter anhaben, bin ich nicht interessiert.« Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf ihre Füße, die momentan in den geschmacklosen weißen Sneakers steckten, die sie immer auf langen Autofahrten trug.

»Tja, wir wollen natürlich nicht, dass Sie nicht interessiert sind …«

»Und für den Fall, dass Sie Probleme bei der Entscheidungsfindung haben sollten …« Zum ersten Mal strahlte er sich mit der Taschenlampe selber an und offenbarte dunkle Augenbrauen, eine markante Adlernase, grüne Augen, die während des Tages zweifellos hinter einer Sonnenbrille verborgen waren, sowie ein mattes, wölfisches Lächeln – nicht gerade filmstarmäßig, aber irgendwie durchaus ganz ansehnlich. »Das erwartet Sie.«

»Cool«, erwiderte Alex. »Und nur damit Sie wissen, was Sie erwartet