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Malte Oberschelp

Die

Hymne des Fußballs

»YOU’LL NEVER WALK ALONE«

Eine Kulturgeschichte

VERLAG DIE WERKSTATT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2013 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Coverabbildung: Imago Sportfoto
Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt, Göttingen

ISBN 978-3-7307-0028-0

Inhalt

You’ll never walk alone (Songtext)

Prolog

Ein Lied für alle Lebenslagen

Budapest

Junger Mann zum Mitreisen gesucht

New York

Der Broadway fährt Karussell

Hollywood

Farborgie in Cinemascope

Liverpool

Vom Cavern Club auf den Kop

Hamburg

Fröhliche Weisen vom Millerntor

Epilog

Die Hymne des Lebens

Anhang

Literaturverzeichnis

I never could have written alone …

Zum Autor

Du wirst niemals alleine geh’n
Wenn du durch einen Sturm gehst
lass den Kopf nicht sinken
und hab keine Angst vor dem Dunkel
Am Ende des Sturms
wartet ein goldener Himmel
und der liebliche Silbergesang der Lerche

Geh voran durch den Wind
Geh voran durch den Regen
Seien deine Träume
auch verwirkt und verweht

Geh voran, geh voran
mit Hoffnung im Herz
Und du wirst niemals alleine geh’n
Du wirst niemals alleine geh’n
(*)
Geh voran, geh voran
mit Hoffnung im Herz
Und du wirst niemals alleine geh’n
Du wirst niemals alleine geh’n

(*) An dieser Stelle wird in der Original-
Musicalfassung die Strophe „Walk on
through the wind ...“ wiederholt

When you walk through a storm
Hold your head up high
And don’t be afraid of the dark
At the end of the storm
Is a golden sky
And the sweet silver song of the lark

Walk on through the wind
Walk on through the rain
Though your dreams
Be tossed and blown

Walk on, walk on
With hope in your heart
And you’ll never walk alone
You’ll never walk alone
(*)
Walk on, walk on
With hope in your heart
And you’ll never walk alone
You’ll never walk alone

„You’ll Never Walk Alone” von Richard Rodgers /
Oscar Hammerstein II
© Williamson Music. Mit freundlicher Genehmigung
von IMAGEM MUSIC GMBH, Berlin

Ein Lied für alle Lebenslagen

Es gibt einen Ort, an dem der Anfang und das Ende dieser Geschichte so nahe beieinander liegen wie nirgendwo sonst. Dieser Ort ist das Heiligengeistfeld in Hamburg.

Am Rande des Feldes, auf dem schon um 1900 Fußball gespielt wurde, steht das Stadion des FC St. Pauli. Hier holten Anfang der 1990er Jahre die Fans den Song „You’ll never walk alone“ nach Deutschland. Das ist das Ende der Geschichte. Für ihren Anfang steht, was dreimal im Jahr neben dem Stadion stattfindet: der Hamburger Dom. Es ist ein traditionsreicher Rummelplatz wie dieser, auf dem der ungarische Schriftsteller Ferenc Molnár vor über 100 Jahren regelmäßig spazieren geht. Im Budapester Stadtwäldchen schaut er den Schaustellern und den Dienstmädchen zu, die sich auf den Karussells vergnügen. 1909 schreibt Ferenc Molnár ein Theaterstück, das auf diesen Beobachtungen basiert: „Liliom“ handelt vom Leben und Sterben des Karussellausrufers Liliom, der sich in eines der Dienstmädchen verliebt.

Dieses Theaterstück bildet den Anfang der langen Geschichte von „You’ll never walk alone“. Weil „Liliom“ auch in den Vereinigten Staaten sehr erfolgreich ist, entsteht 1945 in New York das Musical „Carousel“, dessen Höhepunkt der Song „You’ll never walk alone“ bildet. Die Verfilmung des Musicals sieht Ende der 1950er Jahre der junge Liverpooler Musiker Gerry Marsden. 1963 macht er „You’ll never walk alone“ mit seiner Band Gerry and The Pacemakers zu einem englischen Nummer-eins-Hit, der schon bald darauf von den Fans des FC Liverpool gesungen wird. Von dort aus verbreitet sich der Song auf der britischen Insel und kommt irgendwann auch im Stadion am Rande des Hamburger Heiligengeistfeldes an.

Genau 50 Jahre ist es dieses Jahr her, dass die Musical-Ballade „You’ll never walk alone“ in Liverpool zu einer Fußball-Hymne wurde. Das ist Anlass genug, sich mit der Geschichte des Songs zu beschäftigen, der im europäischen Fußball ungebrochen populär ist. „You’ll never walk alone“ beschimpft nicht den Gegner und überhöht nicht die eigenen Erfolge. Die Tatsache, dass der Song von jedem Verein in jedem Land gesungen werden könnte und bei so unterschiedlichen Klubs wie Liverpool, Celtic Glasgow, FC St. Pauli, Borussia Dortmund, Eintracht Braunschweig, Austria Wien, FC Brügge und Feyenoord Rotterdam regelmäßig gesungen wird, macht ihn zu der Hymne des Fußballs. Daneben geht es in diesem Buch darum, ein wenig Ordnung in die ausufernde Vielfalt der Zusammenhänge zu bringen, in denen einem das Lied oder auch nur sein Titel inzwischen begegnet – im Fußball und anderswo.

Ein paar Beispiele? Frank Sinatra, von dem im Kapitel Hollywood noch die Rede sein wird, hat „You’ll never walk alone“ 1989 bei der Amtseinführung des republikanischen US-Präsidenten George Bush gesungen. Die Opernsängerin Renée Fleming tat 2009 Gleiches bei der Inauguration des Demokraten Barack Obama. Der Bordcomputer in „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ hat „You’ll never walk alone“ gesampelt, in der Muppets-Show piepste eine Raupe den Song, während sie durch ein sturmumtostes Feld kroch. „You’ll never walk alone“ lief 2001 nach der Drei-Minuten-Meisterschaft von Schalke 04 und bei den Emmy Awards in Los Angeles in Erinnerung an die Toten der Anschläge vom 11. September.

I’ll never walk alone, You’ll never walk alone, We’ll never walk alone. No one walks alone.

Natürlich heißt die offizielle Geschichte des FC Liverpool „You’ll never walk alone“. Und die des FC St. Pauli. Das Buch „And you’ll never walk alone“ wirft den Blick zurück auf die großen Tage des FC Celtic Glasgow im Europapokal. Eine Ausgabe des japanischen Fußballmangas „Whistle“, eine Fußball-Kantate sowie eine Broschüre über die religiöse Bedeutung des Fußballsongs – sie alle tragen den Titel „You’ll never walk alone“.

Aber „You’ll never walk alone“ ist darüber hinaus zu einem Schlagwort geworden, das in jeden Kontext zu passen scheint – und damit, so scheint es, klammheimlich wieder zu seinen Wurzeln jenseits des Fußballs zurückgekehrt ist. „You’ll never walk alone“ heißen ein deutscher Aufsatz über „Das sozialdemokratische Projekt in der globalisierten Welt“, die Autobiografie eines englischen Pfarrers, ein Schweizer Kunstprojekt, ein niederländischer Bildband über die Kulturgeschichte des Schuhs und die Festschrift zum 35-jährigen Jubiläum der Marburger Buchhandlung Roter Stern. Nicht zu vergessen das Buch über das Hotel Bangkok Hilton sowie ein Roman des „Sportfreunde Stiller“-Schlagzeugers Florian Weber.

Der Songtitel ist sogar zum Werbeslogan geworden. In einem TV-Spot des amerikanischen Pampers-Herstellers Procter & Gamble sangen ein Dutzend Mütter den Song, während sie ihre Kinder versorgten. Und auch der britisch-niederländische Konkurrent Unilever warb in einer Anzeige für das Deodorant RexonaMen Sport mit „You’ll never walk alone“.

Wie konnten diese fünf Worte solche Bedeutung bekommen? Es liegt jedenfalls nicht daran, wie der Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer glaubt, dass der Song aus dem englischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert stammt und schon die Soldaten Oliver Cromwells „You’ll never walk alone“ gesungen haben. Die tatsächlichen Gründe für das Doppelleben des Songs als amerikanischer Standard und als europäische Fußballhymne stehen in diesem Buch.

Als habe die Alte mit der Neuen Welt über den Atlantik hinweg Pingpong gespielt – so entsteht der Song „You’ll never walk alone“. Von Budapest nach New York, von New York nach Hollywood, wieder zurück nach Liverpool und schließlich nach Hamburg. Es ist eine Geschichte, in der sich die europäische und amerikanische Populärkultur des 20. Jahrhunderts – Hans Albers und Frank Sinatra, Fritz Lang und Orson Welles, Kurt Weill und Richard Rodgers, Giacomo Puccini und Oscar Hammerstein, Gerry and The Pacemakers und Elvis Presley, Ingrid Bergman und Shirley Jones – gegenseitig auf vielfältige Weise überblenden.

Daher ist dieses Buch kein klassisches Fußballbuch. Es geht auch um die Kaffeehaus-Tradition in Österreich-Ungarn, um die jüdische Emigration nach Amerika, die Geschichte des Broadway-Musicals, die Erfindung des Cinemascope-Verfahrens und die Liverpooler Beatmusik-Szene der frühen 1960er Jahre. Dafür entschädigen die letzten beiden Kapitel, in denen der FC Liverpool und der FC St. Pauli im Vordergrund stehen. Überhaupt spielt die Stadt Hamburg, auch das sei gesagt, von Zeit zu Zeit so etwas wie die heimliche Hauptrolle.

Darüber hinaus erzählt dieses Buch auch die vergessene jüdische Geschichte von „You’ll never walk alone“: Der ungarische Jude Ferenc Molnár schreibt das Theaterstück, der Wiener Jude Alfred Polgar verhilft ihm mit seiner Übersetzung zum Durchbruch, der amerikanische Jude Richard Rodgers und sein Partner Oscar Hammerstein, dessen Vorfahren deutsche Juden waren, machen aus dem Theaterstück das Musical. Und ohne den englischen Juden Brian Epstein wäre die „You’ll never walk alone“-Version, die vor genau 50 Jahren aufgenommen wurde und ins Stadion des FC Liverpool gelangte, überhaupt nicht auf den Markt gekommen.

So steckt in „You’ll never walk alone“ nicht nur der klassische jüdische Broadway und die ausgelöschte deutsch-jüdische Symbiose Österreich-Ungarns, wie sie Friedrich Torberg in seinen Büchern „Die Tante Jolesch“ und „Die Erben der Tante Jolesch“ so unnachahmlich beschrieben hat. Vielleicht kann man die Tatsache, dass dieser Song heute in deutschen Fußballstadien gesungen wird, auch als einen Kommentar zur Geschichte des Landes verstehen, das seine jüdischen Fußballer 1933 aus den Vereinen ausschloss und seinen jüdischen Nationalspieler Julius Hirsch 1943 nach Auschwitz deportierte.

Wenn in Hamburg Dom ist und der FC St. Pauli ein Heimspiel hat, dann geraten der Anfang und das Ende dieser Geschichte auf das Lebhafteste durcheinander. Dann laufen die Fans, die im Millerntor-Stadion vielleicht eben noch „You’ll never walk alone“ angestimmt haben, an Riesenrad, Schießbude und Geisterbahn vorbei. Nur wenige bleiben vor dem altmodischen Karussell stehen, auf dem die Pferdchen im Kreis fahren und allenfalls ein paar Kinder auf die nächste Runde warten. Und wenn der Lärm der neumodischen Fahrgeschäfte nebenan weniger laut wäre, während sie die kreischenden Menschen gen Himmel schleudern, und die Lichter weniger grell, vielleicht würde dann für einen Augenblick aufscheinen, wie der Karussellausrufer Liliom und das Dienstmädchen Julie sich hier gerade begegnen.

Budapest

Junger Mann zum Mitreisen gesucht

Die Geschichte von Liliom und Julie beginnt mit einem hässlichen Gerücht. Der berühmteste Schriftsteller der Stadt soll seine Frau und seine kleine Tochter geschlagen haben? Heute würde man sagen: ein Fall für die Behörden. Vielleicht würden besorgte Nachbarn das Jugendamt alarmieren, ein Richter spricht dem Mann ein Hausverbot aus, Frau und Kind finden Zuflucht bei Verwandten oder im Frauenhaus. Und der Fall kommt zu den Akten.

Doch solche Behörden gibt es 1907 in Budapest nicht. Der Fall kommt nicht zu den Akten, sondern in die Zeitung. Für die Klatschkolumnisten und Literaten in den Kaffeehäusern der Stadt gibt es damals nur ein Thema: die Ehe von Ferenc Molnár und Margit Vészi. Der Schriftsteller und Theaterautor, dessen Komödie „Der Teufel“ gerade weltweit Furore macht, hat die Tochter eines einflussreichen Journalisten erst 1906 geheiratet. Ein Jahr später wird die gemeinsame Tochter Márta geboren, doch die Ehe ist bereits zerrüttet.

Prompt tauchen die ersten Gerüchte auf, Molnár habe Frau und Tochter geschlagen. Heute würde ein Prominenter in einer solchen Situation sagen: Das ist eine Kampagne der Medien. Molnár verteidigt sich in der Zeitung. Er veröffentlicht im Blatt „Budapesti Napló“ ein Feuilleton mit dem Titel „Das Schlummermärchen“, das die Geschichte eines groben, aber liebevollen Vaters erzählt. Mit anderen Worten: Ferenc Molnár beschreibt sich selbst.

Er ist dafür bekannt, gegenüber Frauen dominant, besitzergreifend und eifersüchtig zu sein. Insofern ist das „Schlummermärchen“ nicht nur eine öffentliche Rechtfertigung, sondern auch ein verstecktes Schuldeingeständnis. Die Vorwürfe beschäftigen Molnár. Als er 1909 einen Stoff für sein nächstes Stück sucht, findet er ihn – wie fast immer – bei sich selbst: „Das Schlummermärchen“ wird zur Grundlage seines berühmtesten Theaterstücks, „Liliom“.

„Hätte er nichts weiter geschrieben als die herbsüße Legende vom unsterblichen Himmels-Hallodri Liliom: Er stünde im kleinen Kreis der großen Tragikomödien-Dichter auf unkündbarem Platz“, hat Friedrich Torberg über Molnár geschrieben. Tatsächlich ist „Liliom“ einer der großen Stoffe des 20. Jahrhunderts und wird heute als einziges von Molnárs 41 Theaterstücken noch regelmäßig gespielt. Die „Vorstadtlegende in sieben Bildern“ war in Europas Hauptstädten und am Broadway ein Erfolg, sie wird in drei Ländern viermal verfilmt und zum Musical umgearbeitet, das den Song „You’ll never walk alone“ hervorbringt. Sogar auf die Couch ist Molnárs Bühnenfigur gelegt worden (Gregory Stragnell: A psychopathological Study of Franz Molnár’s „Liliom“, „Psychoanalytical Review“, 9. Januar 1922, Seite 40-49). „Liliom“ macht seinen Autor zu einem der schillerndsten und im wahrsten Sinne europäischen Schriftsteller seiner Zeit.

Ferenc Molnár wird am 12. Januar 1878 als Ferenc Neumann in Budapest geboren. Seine Eltern gehören zur assimilierten jüdischen Mittelschicht. Der Vater ist ein bekannter Arzt, der zeitweise für ein Unternehmen Gustave Eiffels arbeitet. Budapest, das damals zu Österreich-Ungarn gehört, ist eine zweisprachige Metropole: Die Beamten und die jüdische Mittelschicht sprechen neben Ungarisch auch Deutsch, es gibt allein neun deutschsprachige Zeitungen in der Stadt. Und gerade das jüdische Bürgertum nimmt im Geschäfts- und Kulturleben der Stadt eine hervorragende Rolle ein. In den Budapester Zeitungsredaktionen ist es ebenfalls zahlreich vertreten. Dort beginnt auch Ferenc Molnárs Karriere.

Nach dem Abitur nimmt er zunächst ein Jurastudium an der Budapester Universität auf. Doch anstatt zu lernen, treibt Molnár sich lieber im Café Central herum, einem der bekanntesten Kaffeehäuser der Stadt. Das „österreichisch-ungarischste aller Produktionszentren“, wie Friedrich Torberg das Kaffeehaus definiert hat, ist traditionell Treffpunkt von Literaten und Künstlern. Hier wird bis in die Nacht geraucht, diskutiert, getrunken, Karten gespielt, geschrieben – und über Fußball diskutiert. Stets halten die Kellner Papier und Stift bereit, falls einer der Gäste die Idee zu einem Roman, einem Theaterstück oder einer Mannschaftsaufstellung hat. Die Kulturgeschichte der Donaumonarchie ist ohne die Institution Kaffeehaus nicht zu schreiben.

Um seinen Sohn aus dem studienfeindlichen Milieu zu entfernen, schickt der Vater ihn auf die Universität nach Genf. Auch das funktioniert nicht wirklich. In den zwei Semestern, die Molnár in der Westschweiz verbringt, schickt er erste journalistische Texte an Budapester Zeitungen. Und er findet die Zeit, nach Paris ins Theater zu fahren. Hier kommt Molnár zum ersten Mal mit der französischen Boulevard-Komödie in Kontakt – eine wichtige Erfahrung.

Direkt nach der Rückkehr aus Genf nimmt Ferenc Neumann 1896 den Namen Molnár an. Ein Allerweltsname, Molnár bedeutet „Müller“; aber ein ungarischer. „Die Ungarisierung seines Namens bedeutete nicht, daß er sich seiner jüdischen Abstammung schämte, dahinter steckte vielmehr Patriotismus“, schreibt Georg Kövary in „Der Dramatiker Franz Molnár“. Viele ungarische Juden ändern um diese Zeit ihre Namen. 1896 wird in Budapest das tausendjährige Bestehen Ungarns gefeiert, eine Welle des Patriotismus schwappt durch das Land.

Ebenfalls 1896 wird Molnár bei der Zeitung „Budapesti Napló“ als Übersetzer französischer Texte eingestellt. Hier ist József Vészi, sein zukünftiger Schwiegervater, Herausgeber und Chefredakteur. Molnár gelingt es rasch, in die reguläre Redaktion aufzusteigen. Zunächst als Gerichtsreporter, dann als Feuilletonist. Damals verstand man unter Feuilleton nicht den Kulturteil einer Zeitung, sondern eine inhaltlich freischwebende, kurze Textform, die ein aktuelles Ereignis zum Anlass allgemeinen Räsonierens hernimmt. Auf diesem Gebiet, das höchstes Ansehen genießt, entwickelt sich Molnár in den folgenden Jahren zum brillanten Stilisten und einem der bekanntesten Journalisten Budapests. In seinen Skizzen, die häufig aufgeschnappte oder ausgedachte Dialoge enthalten, wird Molnár zum Chronisten der Stadt.

Budapest entwickelt sich zwischen 1870 und 1900 von einer kleinen Großstadt zu einer Millionenmetropole. Die Industrialisierung schafft unermesslichen Reichtum und prächtige Gebäude, aber auch großes Elend in den Arbeiterquartieren. Molnárs Feuilletons umfassen das gesamte gesellschaftliche Spektrum: Er beobachtet die Lethargie des Adels, die Saturiertheit der Mittelschicht, den Antisemitismus des Kleinbürgertums, die Alltagssorgen des Proletariats. Als ehemaligem Gerichtsreporter ist ihm nichts Menschliches fremd.

Die soziale Kritik schlägt sich auch in den Romanen und Erzählungen nieder, die Molnár zu schreiben beginnt. Nebenbei übersetzt er für das Budapester Lustspieltheater französische Komödien. Der Direktor des Theaters, ein eifriger Leser seiner dialoglastigen Feuilletons, gibt bei Molnár schließlich selber ein Stück in Auftrag. Als „Der Herr Verteidiger“ am 10. April 1902 uraufgeführt wird, ist es das erste ungarische Theaterstück, das am Lustspieltheater läuft – eine Sensation. Molnárs zweite Komödie „Józsi“ ist ebenfalls sehr erfolgreich, und bereits sein drittes Stück „Der Teufel“ macht ihn 1907 zum international gefeierten Theaterautor.

Die Variation des Faust-Stoffes handelt von einem Mann, der seiner verheirateten Jugendliebe wiederbegegnet. Der Teufel bringt als charmanter Conférencier gleichsam das Unbewusste der Personen an die Oberfläche, indem er sie animiert, ihren Begierden zu folgen. Auch diese Komödie besitzt eine autobiografische Dimension: Molnár hat eine Affäre mit der natürlich verheirateten Schauspielerin Irén Varsányi und duelliert sich sogar mit deren Ehemann.

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Unumstrittener Trendsetter der
Budapester Boheme: der junge
Ferenc Molnár.

„Der Teufel“ wird 1908 in Wien, Berlin, Paris, Rom und New York zum Publikumsrenner. Nie zuvor fand ein ungarischer Autor so viel Anklang im Ausland und hatte daheim so großen Einfluss. „Molnár war ein typisches Produkt der patriotischen Generation jüdischer Intellektueller, die nicht nur mit hohem Tempo voranschritten, sondern auch Haltungen, literarischen Stil und künstlerischen Geschmack diktierten“, schreibt Clara Györgyey über den Autor. Und der ist in der jungen Budapester Boheme der unumstrittene Trendsetter.

Kein Ereignis verdeutlicht seinen Status besser als die Eröffnung des Café New York. Der Besitzer des Cafés händigt Molnár persönlich den Schlüssel aus, der wirft ihn in die Donau und demonstriert solcherart, dass das Kaffeehaus niemals schließen werde. Im Café New York etabliert Molnár mit Schriftstellern, Malern und Komponisten einen künstlerischen Hofstaat. „Molnárs Missfallen gegenüber einem Theaterstück, Roman oder Musikstück konnte einen schwerwiegenden Effekt auf dessen weitere Karriere haben“, schreibt der amerikanische Dramatiker S. N. Behrman, der Molnár 1946 für den „New Yorker“ porträtiert. „Wenn er einem jungen Mann jedoch Talent bescheinigte, verschaffte dem das rasch Kontakte.“ Die Künstlergruppe wird in der ganzen Stadt als die sogenannte New York Crowd bekannt.

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