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Martin Thein (Hrsg.)

Fußball, deine Fans

Ein Jahrhundert deutsche Fankultur

VERLAG DIE WERKSTATT

„Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.“

Nick Hornby

Inhalt

Peter Lohmeyer

Vorwort

Teil 1

100 Jahre Fankultur in Deutschland
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Thomas Wark

Beobachtungen von der anderen Tribünenseite

Christian Winkle

Sie lieben nur ein Stück Tuch

Prof. Jo Groebel

Fans. Eine kleine Motivpsychologie

Teil 2

Fankultur in der Vor- und Nachkriegszeit
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Rudolf Oswald

„Von Tschammer und Osten – dein Pokal soll verrosten”

Teil 3

Die Fanlandschaft seit den 1960er Jahren
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Martin Thein interviewt den Kultfan Heino Hassler

40 Jahre für den Club

Anne Hahn und Frank Willmann

Anhang Ost

Nicole Selmer

„Das Grüne ist der Rasen”

Holger W. Sitter

Fans, Fanklubs & Fanfreundschaften

Stefan Viehauser

In München, in ganz Deutschland und Europa

Susanne Hein-Reipen

In guten wie in schlechten Zeiten

Robert Pohl

Getrennt in den Farben – vereint in der Sache!

Teil 4

Deutsche Fans aus der Sicht ausländischer Beobachter
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Jörg Jakob

Deutschland – England

Martin Thein

„Die Bundesliga hat meine Kindheit geprägt“

Roman Beliutin

Das Bild deutscher Fans aus Sicht eines Russen

Kai Tippmann

Italienische Verhältnisse

Teil 5

Im Rausch der Gefühle
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Michael Horeni

Die deutsche Nationalmannschaft und ihre Fans

Elmar Vieregge

Fußballkneipen und Public Viewing

Hardy Grüne

Vom Zauber des Fandaseins im Amateurfußball

Olaf Sundermeyer

Im hässlichen Scheitelpunkt der Kurve

Teil 6

Subkulturen
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Mirko Otto und Volker Herold

Groundhopping

Burkhard Mathiak

Unter Hooligans

Fabian Beyer

Evolution Ultrà

Teil 7

Quo vadis, Fankultur?
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Christoph Burr

Fans gegen Verbände: Das neue Risikospiel?

Daniel Killy

Die Fankultur der Zukunft?

Martin Thein

Gedanken über eine Fankultur von morgen

Autorenangaben

Peter Lohmeyer

Vorwort

Ein Leben lang

Ein nicht wirklich schönes Stadion, aber rappelvoll. DFB-Pokal, damals noch möglich, das Hinspiel. Auf einem Stehplatz dicht an dicht, neben mir zwei Untertagerentner, um die ich mir spätestens beim 4:4 ernste Sorgen mache. Die halbvolle Lord-Extra-Packung längst zerdrückt, weigert sich der eine, überhaupt noch aufs Spielfeld zu blicken, während der andere sprachlos meine Schulter malträtiert. Ich denke nur, hoffentlich halten die das bis zum Abpfiff durch – keine Lust jetzt, die Sanitäter zu holen. Meine Fresse, das Spiel endet 6:6. Der Sprachlose fällt mir um den Hals und meint bloß: „So jung komm wa nich mehr zusammen.“ Recht hat er, denke ich bei mir, und wirklich erleben kannst du so was nur, wenn du auf einer Seite stehst.

Deshalb musst du dich irgendwann entscheiden. Am besten natürlich so früh wie möglich, bevor dich dein Vater oder Onkel durch einen Stadionbesuch manipuliert.

Bei mir war es mit sechs Jahren ganz klar die Farbe des Trikots und ein genialer Rechtsaußen, dessen Flankenläufe ich bei der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko 1970 um vier Uhr früh ungläubig – von meinem Versteck hinter dem braunen Cord-Sofa meiner Eltern aus – bestaunen durfte. LI BU DA, viel zu laut kamen mir die drei magischen Silben über die Lippen, so dass mich mein Vater an meinem linken Ohr schnurstracks ins Kinderzimmer bugsierte. Ich hatte mich entschieden, und wenn man sich mal entschieden hat, dann bleibt man dabei, ein Leben lang.

Mein lieber Kollege Joachim Król hat einmal auf die Frage, was er an mir schätze, geantwortet: „Seine Leidensfähigkeit.“ Ja, das stimmt, die habe ich, also so wie jeder Fan. Also, wie der wahre Fan, der nicht nur leidet, sondern auch liebt. Denn ohne Liebe kein Leid. Und lieben kann man überall, in der Kurve, auf der Haupttribüne, vor dem Fernseher oder am Radio, auch auf der Arbeit, im Urlaub oder am Küchentisch.

Ohne Liebe geht nämlich gar nichts.

Das heißt, wenn wir uns zurückziehen und nicht mehr jubeln, zittern, hoffen, weinen, mitfiebern und schimpfen würden, dann können die Jungs, die da jede Woche für ’ne Menge Kohle ihre Knochen hinhalten, ihre Sachen packen. Wär’ doch Schade, für alle.

Deshalb wollen wir, dass man uns ernst nimmt, dass man uns zuhört, dass man auf uns zählt. Wir wollen einfach nur Respekt. Respekt vor unserer Liebe.

Denn die ist da, ein Leben lang!

Thomas Wark

Beobachtungen von der anderen Tribünenseite

Ich gebe zu, niemals ein Fanatiker gewesen zu sein. War niemals besessen von einer religiösen Idee, von einer politischen Partei, von einem Verein oder einer Mannschaft. Mir waren Menschen immer suspekt, die sich einer Besessenheit hingeben und Idealen und Ideen nacheifern. Ich konnte noch nie etwas empfinden für das Eintauchen in die große, anonyme Masse, die sich doch oft nur von Dogmen leiten lässt. Fanatismus ist ein Hort der Intoleranz, Fanatismus erniedrigt den Andersdenkenden, Fanatismus ist eine eindimensionale Lebensführung. Besteht eines der Phänomene unserer Zeit nicht wieder in der Erkenntnis, wie leicht sich Fanatiker und Eiferer instrumentalisieren und für bestimmte Ideen einspannen lassen? In Dortmund prallen Hunderte von Fans des BVB und von Schalke aufeinander und lassen ihrem Hass aufeinander freien Lauf, die Polizei konstatiert die härtesten Auseinandersetzungen seit Jahren. Der Ursprung eines solchen Vorfalls: Hass und Gewalt als Folge eines emotional hochgeschaukelten Fanatismus, der in der Erniedrigung und Vernichtung des Andersdenkenden seine Erfüllung findet.

Der deutsche Schriftsteller Hans Kasper hat das Problem des Fanatismus einmal so beschrieben: „Mit Fanatikern zu diskutieren heißt, mit einer gegnerischen Mannschaft Tauziehen spielen, die ihr Seilende um einen Baum gebunden hat.“

Gänsehautatmosphäre in Dortmund – Operettenpublikum bei Arsenal

Ich gebe zu, niemals ein Fanatiker gewesen zu sein. Ich muss aber auch zugeben, mich dem Fanatismus in der Fußballszene niemals ganz entzogen zu haben. Damals auf dem alten Mönchengladbacher Bökelberg nicht, wo ich als Jugendlicher die Spiele der Borussia am liebsten mitten in der Nordkurve erlebt habe. Und auch heute nicht, wenn ich Samstag für Samstag auf der anderen Seite sitze, in welchem Stadion auch immer. Aus der sicheren Distanz zwischen Reporterplatz und Stehtribüne lässt sich eine klammheimliche Bewunderung für die Fankultur nicht leugnen, im Gegenteil. Ich kann mich begeistern für die fantasievollen und martialischen Choreografien und versuche jedes Mal, so viel wie möglich davon in meinen Berichten zu zeigen. Ich bin angetan vom „Dauer-Support“ in Frankfurt, der in der Saison 2012/13 beim Spiel gegen Borussia Dortmund seine Krönung erfahren hat. Da lag die Eintracht zur Pause hoffnungslos unterlegen mit 0:2 zurück und wurde, als sie nach der Halbzeit zurück auf den Platz kam, doch mit außergewöhnlich guter Stimmung empfangen.

Die Folge war eines dieser extrem intensiven „Gänsehautspiele“, das nach dramatischem Verlauf 3:3 endete und selbst neutrale Kollegen zu einer Wortwahl der Schwärmerei verführte.

Das sind Tage, an denen du nach Hause fährst und dich freust, deinem Beruf nicht in englischen Stadien nachzugehen. In diesem Mutterland des Fußballs, wo die Stimmung nur noch in den Pubs an die legendäre Fankultur erinnert, weil die Eintrittspreise parallel zur totalen Kommerzialisierung der Premier League zu teuer geworden sind. Die Folgen sind unüberhörbar. Als Dortmund 2011 und zuletzt auch Schalke in der Champions League bei Arsenal London spielten, hatte ich Gelegenheit, mit einigen mitgereisten Fans zu sprechen. Die sonst so gespaltenen Lager waren sich in einer Sache absolut einig: Die Unterstützung der Engländer für ihre Mannschaft war peinlich – ein Operettenpublikum, das sich in seiner Sattheit und Selbstzufriedenheit nur dann zu leisen Gesängen durchrang, wenn Dortmunder oder Schalker zu laut zu werden drohten.

Am Abend dieses Frankfurter Fußballfestes wurden mir die Unterschiede zwischen der deutschen Bundesliga und der englischen Premier League mehr als deutlich. Ob Dortmund, Schalke, Frankfurt, Köln, Dresden, Freiburg oder Aue: Fast überall ist mehr los als in englischen Stadien. Detailreich vorbereitete Choreografien, variables Liedgut und nicht selten ebenso humorvolle wie hintergründig formulierte politische Postulate stehen für eine deutsche Fankultur, die Woche für Woche neue Blüten treibt. Es wäre der perfekte Rahmen für den schönsten Sport der Welt, gäbe es nicht auch die andere Seite des deutschen Fanwesens. Dieses aggressive, gewalttätige Potenzial, das es regelmäßig schafft, eine ganze Kultur in Verruf zu bringen. Denn wenn diese Minderheit zuschlägt, gerät ein reflexartiger Mechanismus in Bewegung, an dessen Ende die große Verallgemeinerung steht. Ultras, Pyros, Neonazis, Hooligans, Gewalt, die hässliche Fratze des Fußballs: Eine durch eine stark vereinfachende Einschätzung der Medien desinformierte Öffentlichkeit übernimmt bereitwillig Vorurteile und Vorverurteilungen, die eine ganze Szene an die Wand stellt. Nach den Ausschreitungen beim Pokalspiel zwischen Borussia Dortmund und Dynamo Dresden sowie dem Platzsturm nach dem Relegationsspiel zwischen Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC schien sogar der Fortbestand des Abendlandes auf dem Spiel zu stehen. Es dauerte nicht lange, da gerieten Statistiken in Umlauf, nach denen es noch nie so viel Gewalt in den Stadien gegeben hat wie 2012. Das Szenario wiederholt sich Jahr für Jahr.

Die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) liefert Zahlen, die teilweise unreflektiert von den Medien übernommen werden und in der Öffentlichkeit zu einem Aufschrei führen. Es dauert nicht lange, da lassen wahlkampforientierte Innenminister populistische Forderungen nach härterer Gangart verlautbaren.

Für 2012 hat die ZIS 1.142 Verletzte rund um die Spiele der 1. Bundesliga errechnet – eine Zahl, die erschreckend hoch scheint, in Relation zu anderen großen Ereignissen aber auch anders interpretierbar ist. Die Zahl der Verletzten auf dem Münchner Oktoberfest betrug im selben Jahr 351 bei insgesamt 6,4 Millionen Besuchern.

Zu den Fußballspielen aber kamen mehr als 18 Millionen Besucher! Ähnlich verhält es sich mit den sogenannten Ingewahrsamnahmen: 1.137 dieser Maßnahmen gab es nach diversen Vorkommnissen in oder rund um die Stadien bei insgesamt 757 Spielen, auf dem Oktoberfest waren es 793 an 16 Tagen. Wird Bayern deshalb sein größtes Volksfest verbieten oder müssen die Wirte von jetzt an für die Polizeieinsätze bezahlen?

Ein Bundesligaspiel wird mit durchschnittlich 45.000 Zuschauern berechnet, die Verletztenquote liegt bei zwei pro Begegnung – diese Fakten wünschte ich mir manchmal in den Berichten meiner Kollegen! Aber ein Foto mit Bengalo-Fans auf den Titelseiten und der Frage, ob die Gewalt in den Stadien noch zu stoppen ist, sorgt für mehr Aufsehen als eine Relativierung tendenziöser Statistiken. Kein exklusiver Vorwurf an die Print-Kollegen, auch die Freunde in meiner Redaktion erliegen immer wieder dem populären Mainstream und vermengen scheinbar seriöse Statistiken mit „schrecklichen“ Bengalo-Bildern – viele journalistische Missverständnisse resultieren aus Unkenntnis der Ursachen und Hintergründe.

Meine ersten Kontakte zur Borussenfront

Mein erster beruflicher Kontakt zu einer Fanszene kam 1983 zustande. Ich hatte gerade als freier Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk angefangen, als die Nachrichten über eine bestimmte Gruppe zunahmen. Die Borussenfront beherrschte die Szene in Dortmund und stand stellvertretend für ein Anwachsen der Neonazis im Fußball. Die Fotos von den Jungs auf der alten Südtribüne machten Eindruck, denn die Mittelbuchstaben ihres Namenszugs auf der Brust waren durch SS-Runen ersetzt worden, und um ihren Gründer und Anführer Siegfried Borchert begannen sich Legenden zu ranken. Ich sah einen interessanten Job vor mir und hatte nicht wenig Hoffnung, das immer größer werdende Thema der gewaltbereiten Fans wegen meiner guten Kontakte nach Dortmund griffig bearbeiten zu können. Ich fuhr also nach Dortmund, im Gepäck den Auftrag, 45 möglichst spannende Minuten zu liefern. Die ersten vier Tage meiner Recherchen entwickelten sich ebenso turbulent wie fröhlich. Am ersten Abend Bier und Korn im „Grobschmied“, der damaligen Stammkneipe der Borussenfront. Am zweiten Abend Bier und Korn „Bei Erbse“ – ich trank mit den Guten und Bösen der Dortmunder Fanszene. Tagsüber Interviews mit den Opfern rechter Gewalt rund um den Borsigplatz, abends wieder Bier und Korn.

Bier, Korn und meine flammenden Worte zeigten Wirkung. Die Jungs öffneten sich allmählich. Ihren Anführer, den die Kameraden voller Ehrfurcht nur „SS-Siggi“ nannten, bekam ich allerdings nie zu Gesicht. Die einen glaubten, er habe nach Argentinien verschwinden müssen, andere hingegen versicherten mir, er säße im Knast – schwere Körperverletzung, zum wiederholten Mal.

Im Verlauf meines Interviews im „Grobschmied“ konnte ich sehr bald feststellen, dass ich es mit eher unpolitischen Jungs zu tun hatte. Der Wirt, dessen Namen ich vergessen habe, führte die zwölf bis 14 Jungs, die sich rund um den Tresen gegenüber unserer Kamera versammelt hatten. Sie erzählten gerade so viel, dass sie juristisch nicht belangbar waren. Sie berichteten voller Stolz über ihre „Beulereien“, von ihrem Hass auf Ausländer, von „kleineren Straßenbahnbränden“.

Die, die noch Arbeit hatten, erzählten von ihrer Angst vor der Arbeitslosigkeit. Die, die sozial schon abgerutscht waren, konnten mir glaubhaft schildern, wie es sich anfühlt, wenn man seine Freundin nicht mal auf ein Bier einladen kann und sie deshalb irgendwann mit einem anderen abhaut. Ich habe in dieser Zeit viele Sozialstudien gelesen, die sich mit der großen gesellschaftlichen Relevanz des Fußballs befassten. Ich wollte die Zusammenhänge dieses Massensports wissenschaftlich verstehen lernen. Die insgesamt zwölf Tage in dieser Subkultur aber haben mir mehr gegeben als alle Theorie. Ich erhielt Einblicke in eine Welt, die für mich bis dahin ein Sozialklischee gewesen war und die ich von Berufs wegen bis dahin nur an ihrer Peripherie wahrgenommen hatte. Die Borussenfront auf der einen Seite, zwei Straßen weiter „Erbse“ Erdmann, der mit dieser Gruppe in einem Streit lag, der irgendwann in einem nächtlichen Überfall endete. Dabei haben Mitglieder der Borussenfront Erdmanns Vater, der als Bluter bekannt war, schwer misshandelt. Ob Erdmanns Vater tatsächlich an den Folgen dieses Überfalls gestorben war, konnte die Staatsanwaltschaft nie zweifelsfrei klären. Die Täter bekamen eine Gefängnisstrafe von 18 Monaten.

Bevor ich damals nach Hamburg zurück musste, half mir ein kleiner Zufall, doch noch eine konkrete Verbindung der Borussenfont zur rechten Szene nachzuweisen.

Im Umlauf des Stadions traf ich auf eine Gruppe in damals szenetypischer Kleidung. Grüne und schwarze Bomberjacken mit kariertem Futter, umgeschlagene Jeans, Springerstiefel. Im „Grobschmied“ waren mir diese Jungs nie aufgefallen, und jetzt – weit weg vom strengen Wirt – plauderten die Jungs fast ohne Aufforderung. Nach zwei kleinen Nachfragen gaben sie zu, als Ordner der NPD bei Demonstrationen und Parteiversammlungen eingespannt zu sein. Eine kleine Horde von 18- bis 20-Jährigen, auf der Suche nach dem Kick beim Fußball und nebenbei für „das Gute in Deutschland“ kämpfend. „Juden, Ausländer – alles unsere Feinde“, sprach mir ihr Anführer in die Kamera. Die Story stand, auch wenn mir persönlich ein paar Action-Bilder fehlten. Meine erste lange Hervorbringung hätte schon ein bisschen spektakulärer ausfallen können.

Ein paar Wochen später, meine Reportage „Der Treueste Fan“ war inzwischen gesendet worden, bekam ich eine Ausgabe des Stern in die Hand. Da sah ich sie wieder, die Jungs von der Borussenfront. Sie hatten ihren Bus auf der Autobahn zu einem Spiel in Frankfurt zum Stopp gezwungen. Es gab schwere Ausschreitungen auf der Fahrbahn, Verkehrschaos, Schlägereien. Das Magazin hatte genau die Bilder, die ich mir während der Dreharbeiten in Dortmund gewünscht hatte. Ganze Nächte hatten mein Kameramann und ich unter einer LKW-Plane am Straßenrand gehockt, weil wir gehört hatten, die Borussenfront plane den nächsten Überfall auf einen „Kanackenimbiss“. Ein Anruf im „Grobschmied“, und ich bekam eine Nachhilfestunde in „moderner Medientechnik“.

Ein Reporter des Stern soll sich, ähnlich wie es Günter Wallraff zuvor einige Male erfolgreich praktiziert hatte, undercover in die Borussenfront eingeschlichen haben. Er war im Bus dabei und hatte mit ein paar Kästen Bier den üblichen Ablauf einer Auswärtsfahrt beschleunigt.

Statt erst nach der Ankunft auf einem der Frankfurter Busparkplätze zielorientiert nach möglichen Gegnern für die obligatorischen Schlägereien Ausschau zu halten, kamen die etwa 60 Dortmunder schon auf der Autobahn der Aufforderung des Kollegen nach und machten Randale. Ein Journalist des Stern soll die Ausschreitungen geplant und schließlich initiiert haben – so erklärten mir Mitglieder der Borussenfront den Ablauf der Bustour. Ich begann zu verstehen, wie Medien funktionieren, auch wenn ich die ganze Geschichte nicht glauben mochte. Eigentlich, so hörte ich aus dem „Grobschmied“, wollten sie gar nicht mehr mit mir reden, weil ich auch nur einer von der „Lügenpresse“ war. Aber diese „angezettelte Bambule“ auf der A 45 sei selbst für sie eine Nummer zu groß, und das wollten sie jetzt mal loswerden.

Es war das letzte Mal, dass ich damals, im Herbst 1983, Kontakt zur Borussenfront hatte. Später lernte ich in Hamburg einen Fotografen kennen, der mir bestätigte, wie das auf der A 45 abgelaufen war. Er selbst war scharf auf die Fotos gewesen und hätte sie gerne eigenhändig gemacht, um seine noch junge berufliche Laufbahn schneller in Gang zu bringen.

Meine Kontakte in die Fanszene schliefen allmählich ein, es gab in den Jahren danach so viele andere interessante Themen, mit denen ich mich beschäftigen wollte. Erst als mein Sohn Mitte der 1990er Jahre in das Alter kam, ein vehementes Verlangen nach seinem ersten Stadionbesuch zu zeigen, änderten sich die Dinge wieder. Ich nahm ihn mit, und ich erinnere mich genau daran, wie ich versuchte, ihm bestimmte Regeln und Mechanismen des schönsten Spiels der Welt zu erklären. Da saßen wir also, stolzer Vater und neugieriger Sohn, auf der Tribüne, und ich musste doch sehr bald feststellen, dass es ihn so gut wie gar nicht interessierte, ob der Freiburger Abwehr mit lang geschlagenen Diagonalbällen beizukommen sein würde oder nicht. Der Bengel hatte nur Augen für die Stehtribüne. Mit diesem Tag begann auch ich, mich wieder mehr für den anderen Teil der großen deutschen Fußballkultur zu interessieren. Mit 11Freunde kam ein Magazin auf den Markt, das es in dieser Form vorher nicht gegeben hatte. Die Perspektive der Fans auf das wöchentliche Geschehen stand im Mittelpunkt und ging über die Grenzen der Bundesliga hinaus. Abseitige Storys, viel Kult und manchmal auch ein bisschen Fußballkitsch – da konnte man auch lachen, wenn man selbst in der Fernsehkritik wieder etwas auf die Mütze bekommen hatte. Der Fußballfan bekam eine neue Plattform, nonkonformistisch und politisch, emanzipiert und ernst genommen, historisch und aktuell.

Die Lage im Spätherbst 2012

Im Spätherbst 2012 häuften sich auch in 11Freunde wieder die Berichte über die Zunahme des Einflusses der Neonazi-Szene in den Fußball. Im WDR entdeckte ich frische Bilder der Borussenfront, es gab sie wieder, wenn auch die SS-Runen von den Trikots verschwunden waren – die eindeutige Symbolik ist geblieben. Ich beschloss, wieder nach Dortmund zu fahren. Den „Grobschmied“ gibt es nicht mehr, die Jungs von damals sind auch nicht mehr aufzutreiben. SS-Siggi ist heute Kreisvorsitzender der neugegründeten Partei „Die Rechte“. Das Stadion ist größer, der BVB zu einem bedeutenderen Verein geworden. Allein auf der Südtribüne stehen jetzt fast 25.000 Fans, 60 bis 100 davon sollen dieses Gesamtkunstwerk als Rekrutierungsfläche für rechte Parteien oder Kameradschaften benutzen. Altes Thema, neuer Bericht: also wieder Recherche, wieder heimliche Interviews und wieder jede Mende Empörung in der Öffentlichkeit über die Wiedergeburt der Nazis in Dortmund.

Auch dieses Mal haben wir bekennende Neonazis und Opfer rechter Gewalt vor die Kamera bekommen, 29 Jahre nach meinem ersten Dreh in Dortmund hat sich also vordergründig nichts geändert.

Wie das nun mal so ist, wenn der Fanatismus die große anonyme Masse als Versteck wählt und von hier aus seinen eindimensionalen Weg einschlägt.

Am Ende der neuen Story in der ZDF-„Sportreportage“ konnten wir nicht klären, ob das Problem mit der Gefahr von rechts größer geworden ist oder nicht. Wir konnten aber wieder zu einem sorgfältigeren Umgang mit dem Thema auffordern. 60 bis 100 Neonazis: Wenn 0,2 bis 0,3 Prozent aller Zuschauer auf der Südtribüne in Dortmund einen rechtsradikalen Hintergrund haben, dann werden die selbstreinigenden Kräfte das Problem schon in den Griff bekommen können. 100 Jahre Fankultur in Deutschland haben schon ganz andere Sachen erlebt, davon können Sie sich in jedem Kapitel dieses Buchs einen Eindruck verschaffen.

Christian Winkle

Sie lieben nur ein Stück Tuch

Von den Fans der Blauen und Grünen im Circus Maximus

Eine Historie der Fankultur(en)

„Geht ihr aber ins Stadion, wer könnte da noch das Geschrei und den Lärm und die Aufregungen schildern, die Verrenkungen und Verfärbungen und zahllosen schweren Schmähungen, die ihr ausstoßt! […] Warum seid ihr so erregt? Was für ein Eifer ist das? […] Es geht nicht um ein Königreich, nicht um eine Frau, nicht um Leben und Tod.“ Dion Chrysostomos, griechischer Redner und Schriftsteller, im 1. oder 2. Jahrhundert nach Christus (32,74f.)

Das fast abfällige Zitat des antiken Redners Dion Chrysostomos könnte auch von einem Zeitgenossen stammen und sich an Zuschauer eines Fußballspiels richten. Doch richtet sich die Kritik an die Zuschauer der Wagenrennen im ägyptischen Alexandria der römischen Kaiserzeit und liegt somit fast 2.000 Jahre zurück. Zwar sind nicht alle Zuschauer Fans, doch spricht aus dem Zitat des Dion Chrysostomos das Unverständnis vieler antiker Intellektueller für die Sportbegeisterung der Massen. Es stellt sich die Frage, ob eine so weit zurückliegende Äußerung für die deutsche Fankultur der vergangenen hundert Jahre überhaupt von Wert sein kann? Ist die kritische Haltung damaliger Eliten mit der heutiger zu vergleichen? Kann man für die antiken Kulturen überhaupt von einer Fankultur sprechen und wenn ja, welchen Beitrag kann die wissenschaftliche Aufarbeitung für die Gegenwart leisten? Diese und andere Fragen werden im Folgenden angesprochen.

Noch vor gut zwanzig Jahren hätte die kritische Haltung des antiken Redners auch bei vielen Historikern und Bildungsbürgern besonders in Bezug auf Fußball Zustimmung gefunden. Inzwischen jedoch haben die „Kinder der Bundesliga“ die Lehrstühle an den Universitäten erreicht, und dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Forschung, die seit geraumer Zeit wieder Interesse an der Sportgeschichte und auch am Fußball gefunden hat, wie beispielsweise der von Wolfram Pyta herausgegebene Sammelband „Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland“ (Münster 2004) zeigt.

Dass der Fußball mitten in der Universität angekommen ist, erfuhr der Autor dieses Beitrags auch in Sitzungen universitärer Gremien. Da kann es unmittelbar vor der Europa- oder Weltmeisterschaft schon mal vorkommen, dass bei der Terminierung von Vorträgen und Sitzungen durch die Intervention der Mehrheit der Professoren alles so weit wie möglich am Spielplan des Turniers ausgerichtet wird. Bei der Terminierung von Vorträgen auf ein sportliches und gar auf ein fußballerisches Ereignis Rücksicht zu nehmen, ja dies sogar in den Vordergrund zu stellen, wäre in den 1960er bis 1980er Jahren für viele Geisteswissenschaftler wohl undenkbar gewesen. Heute haben die „Kinder der Bundesliga“, jene „seit den frühen 1960er Jahren mit einer expandierenden Sportberichterstattung aufgewachsenen Alterskohorten, für welche die ‚Sportschau‘, Franz Beckenbauer und Günter Netzer, die Olympischen Spiele 1972 in München sowie die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land zu den vergemeinschaftenden Medienereignissen zählen“1, höhere Weihen erfahren. Sie leiten Fakultäten, Institute, Lehrstühle und haben in ihrer Jugend oder bei universitären Fußballturnieren selbst gegen den Ball getreten.

Mit welchen Fragen beschäftigen sich jedoch Wissenschaftler, wenn sie sich mit Fans auseinandersetzen? Eine schwierige Frage, denn bei allen sportlichen Veranstaltungen seit der Antike gibt es zwar Zuschauer, aber ab wann kann man von Fans sprechen, und was unterscheidet den Fan vom Zuschauer?

Der Begriff „Fan“ als Kurzform des englischen „fanatic“ ist letztlich auf das lateinische „fanaticus“ von lateinisch „fanum“ (ein heiliger, der Gottheit geweihter Ort) zurückzuführen. „Fanaticus“ kann mit „von einer Gottheit in Entzückung geraten, in Raserei versetzt“ oder einfach „begeistert, schwärmerisch, fanatisch“ oder „rasend“ übersetzt werden. Deutlich ist also in der lateinischen Sprache und damit in der römischen Antike der Bezug auf den religiösen Bereich. Im Englischen bezeichnet „Fan“ seit dem 19. Jahrhundert den Anhänger und besonders den Sportanhänger. Aber was ist mit dieser Begriffserklärung gewonnen? Der „Fan“ als Sportanhänger wäre damit eine Schöpfung des späten 19. Jahrhunderts und für den Historiker, der sich mit der Geschichte der Fankultur beschäftigt, auch nur für diesen Zeitraum und die Moderne nutzbar. Doch was beschreibt der Begriff „Fan“ eigentlich? Hier lohnt ein Blick auf die Definition der jüngeren Soziologie: „Fantum“ ist eine längerfristige, leidenschaftliche „Beziehung zu einem externen, öffentlichen Objekt bei Investition von Zeit und Geld“2. Das Objekt der Leidenschaft ist hier bewusst offen gehalten, denn auch wenn dieser Beitrag sich mit dem Sportfan beschäftigt, gibt es eine Vielzahl von möglichen Objekten, z. B. aus dem Bereich der Musik. Die oben vorgenommene Definition, so man sie akzeptiert und den jeweiligen historischen Bedingungen anpasst, erlaubt eine Untersuchung des Phänomens für alle historischen Epochen. Die Geschichte der Fankultur(en) jedoch ist jung und hat erst mit dem Aufschwung der Sportgeschichte das Interesse der Historiker auf sich gezogen. Selbst die Literatur zu den Zuschauern von Sportveranstaltungen, die ja keineswegs Fans sein müssen, ist ausgesprochen begrenzt3 und vor allem auf das 20. Jahrhundert beschränkt. Wenn der Sportzuschauer seit den 1970er Jahren immer wieder in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Betrachtungen rückt, so doch häufig reduziert auf die Themen Gewalt und Aggression, verbunden mit dem Interesse der Soziologie und Psychologie am Massenverhalten4. Von Fankulturen im Plural muss nun aber gesprochen werden, wenn man die ersten Olympischen Spiele 776 v. Chr. als Ausgangspunkt nimmt und somit auf eine fast dreitausendjährige Geschichte des Sports blickt. Dieser Artikel spielt am Beispiel der Wagenrennen der römischen Kaiserzeit Ähnlichkeiten und Unterschiede des Phänomens „Fan“ im Sport durch.

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Mosaikdarstellung eines Wagenrennens aus der Villa des Herodes Atticus in Griechenland beim heutigen Eva Dolianon. Foto: Christian Winkle

„Das Publikum ist der eigentliche Nährboden“5 des antiken Wettkampfs und Sports. Die antike Begeisterung für den Sportwettkampf oder dem Sport vergleichbare Wettkämpfe, wie die Gladiatorenspiele der römischen Zeit, sind heute durch Bücher und Kinofilme einer weiten Öffentlichkeit bekannt. Die griechischen Wettkämpfe zu Ehren des Zeus in Olympia waren bei Weitem nicht die einzigen, wenn auch die bedeutendsten. Viele griechische Städte hatten eigene Spiele. Die Entstehung der griechischen Wettkampfkultur und damit des Sports ist eng an die Lebensweise und Kultur der griechischen Aristokratie geknüpft und auch an den jeweiligen Anlass, z. B. Totenfeiern oder Gastmähler. Die Wettkämpfe entstanden aus dem Geist, sich zu messen und den Besten finden zu wollen. Die Gewinner vor allem der panhellenischen Spiele in Olympia, Nemea, Isthmia und Delphi genossen in der griechischen Welt und besonders in ihren Heimatstädten hohes Ansehen, das bis hin zur kultischen Verehrung führen konnte. Während der griechische Wettkampf in seinem Ursprung eine Sache der griechischen Aristokratie war, waren die Stars der römischen Arenen, wie des Circus Maximus oder des Kolosseums, von niedrigem sozialen Stand. Das hinderte das Publikum jedoch nicht, die herausragenden Wagenlenker oder Gladiatoren zu verehren und wie heutige Stars zu feiern.6 Über die Beliebtheit der Spiele legen die vielen Abbildungen von Gladiatoren Zeugnis ab, z. B. auf ganz alltäglichen Gegenständen wie Öllämpchen, den, wenn es nach der Fundhäufigkeit geht, Cola-Dosen der Antike. Wie heute David Beckham mag sich manch ein Gladiator gefühlt haben, wenn man die Graffiti aus Pompeji anführt. Da wird der Gladiator Celadus als „Sehnsuchtsseufzer der Mädchen“ oder „Sehnsucht und Schwarm der Mädchen“ bezeichnet.7

Doch können die Zuschauer antiker Wettkämpfe, so z. B. der Olympischen Spiele, trotz der bezeugten emotionalen Reaktionen und der Verehrung siegreicher Sporthelden noch nicht als „Fans“ bezeichnet werden. Dafür wäre eine langfristige und leidenschaftliche Beziehung zu „einem externen, öffentlichen Objekt“8 nachzuweisen, was angesichts der im Verhältnis zur neuen und neuesten Geschichte als eher dürftig zu bezeichnenden Quellenlage zum antiken Zuschauer problematisch erscheint9.

Ballsportarten wie den Fußball, der heute in Europa 62 Mio. Spieler, 224.000 Fußballklubs, 53 Nationalmannschaften und mehrere hundert Millionen Fans hat10, gab es in der Antike nicht. Die Wagenrennen der römischen Zeit, besonders präsent durch die Darstellung im Kinoklassiker „Ben Hur“, haben im Circus Maximus in Rom, im ägyptischen Alexandria oder im byzantinischen Konstantinopel jedoch ähnliche Massen in ihren Bann gezogen. Enormes Interesse verdienen diese Wagenrennen aber nicht nur wegen der großen Zahl an Zuschauern, sondern auch, weil hier durchaus eine bestimmte Form der Fankultur zu fassen ist. Plinius der Jüngere schreibt zu den Wagenrennen im kaiserzeitlichen Rom des ersten Jahrhunderts nach Christus:

„Es gab Zirkusspiele, und diese Art der Schaustellung hat für mich nicht den geringsten Reiz. Nichts Neues, keine Abwechslung, nichts, was einmal gesehen zu haben nicht genügte. Umso mehr wundert es mich, dass so viele Tausende so kindisch immer wieder rennende Pferde und auf den Rennwagen stehende Männer zu sehen verlangen. Wenn jedenfalls die Schnelligkeit der Pferde oder die Kunstfertigkeit der Lenker sie interessierte, wollte ich noch nichts sagen; jetzt aber begünstigen sie nur ein Stück Tuch, lieben nur ein Stück Tuch, und ließe man während des Laufs, mitten im Kampf, die Farben ihre Plätze tauschen, dann würde auch ihr Eifer und ihre Gunst den Platz wechseln und sich unversehens abwenden von jenen Lenkern, jenen Pferden, die sie schon von Weitem kennen, die sie beim Namen rufen. Solchen Reiz, solche Wirkung hat ein einziger billiger Rock – ich übergehe sie beim Pöbel, der noch billiger ist als der Rock, aber auch bei manchen ernstzunehmenden Männern. Wenn ich bedenke, dass sie bei einer so seichten, albernen, eintönigen Sache herumsitzen und nicht genug bekommen können, dann macht es mir doch einiges Vergnügen, dass mir das kein Vergnügen macht.“11

Der selbst wohl kaum als Fan zu bezeichnende Plinius beschreibt aus einer kritischen und teilweise verachtenden Haltung heraus die Anhängerschaft der Wagenrennen. Eine Haltung, die, wie oben erwähnt, bis vor wenigen Jahren noch bei weiten Teilen deutscher Eliten in verschiedenen Abstufungen vertreten wurde. Inzwischen aber geht die Sport- und insbesondere die Fußballbegeisterung quer durch alle Schichten der deutschen Gesellschaft.

Die Loyalität und Verehrung der von Plinius beschriebenen Zuschauer galt demnach nicht nur einzelnen Fahrern der Pferdegespanne, sondern vor allem dem Team. Genau jenes meint Plinius, wenn er davon spricht, dass die Zuschauer nur ein Stück Tuch lieben. Gemeint sind damit die Farben der vielfach in den antiken Quellen bezeugten Circusparteien, den Roten, Grünen, Blauen und Weißen, die mit dem Trikot oder den traditionellen Farben der heutigen Fußballteams vergleichbar sind. Plinius sieht in den Fans allein die emotionale Bindung zu einer jener Circusparteien oder Teams und nicht zu den Fahrern oder Pferden. Denn auch wenn diese die Farbe und damit das Team wechseln würden, blieben die Anhänger der Farbe, also ihrem Team, treu und würden sich von den vorher heißgeliebten Pferden und Wagenlenkern abwenden.

Lassen wir die polemische Kritik des Plinius beiseite. Auch wenn die jeweils zeitgenössische Kritik am Fan ein interessantes Thema wäre, können wir eine auffallende Parallele zum heutigen Fußball, bei dem ja der Fußballverein Objekt der Fanbeziehung ist, konstatieren. Einzelne Fans der römischen Wagenrennen sind nur schwer zu greifen. Die römischen Kaiser wie Caligula, Titus oder Domitian outeten sich aber immer wieder als Anhänger einer der vier Circusparteien, deren Wirken durchaus politische Dimensionen hatte und das bis hin zu gewaltsamen, bürgerkriegsähnlichen Unruhen wie im Januar des Jahres 532 in Konstantinopel führen konnte. Trotz der Sympathie und des Fantums mancher Kaiser für die hauptsächlich blaue oder grüne Circuspartei blieb der eigene Auftritt als Wagenlenker für die Angehörigen der Eliten eine Ausnahme. Auftritte der Kaiser als Wagenlenker in der Öffentlichkeit sind auf die in der antiken Geschichtsschreibung häufig als schlechte oder gar „wahnsinnige“ Kaiser beschriebenen Herrscher beschränkt. Für einen römischen Senator, also die Spitze der Gesellschaft, war es völlig unangebracht, selbst in einem der viel umjubelten Wagenrennen anzutreten. Eine ähnliche distanzierte, wenn nicht gar feindliche Haltung gegenüber dem Fußball ist auch bei den europäischen Eliten zu Beginn der Geschichte des Fußballs festzustellen. Diese Haltung hinderte jedoch Teile der römischen Oberschicht nicht daran, sich im täglichen Leben mit Gegenständen und Bildern der Circusparteien zu umgeben. Ein schönes Beispiel aus dem ersten Jahrhundert nach Christus ist das recht große Fußbodenmosaik einer römischen Villa, das alle vier Circusparteien abbildet: jeweils ein Wagenlenker, gekleidet in einer der vier Circusfarben mit einem Pferd12: eine andere und sehr viel kostspieligere Form der Fankultur als etwa die heute gerne gekaufte Bettwäsche des Lieblingsvereins.

Hinter den Zirkusparteien stehen anfänglich reiche Angehörige der Oberschicht, sogenannte Ritter, deren Aufgabe es war, die jeweiligen Teams für die Spiele zu organisieren und vorzubereiten, also die Pferde zu trainieren, die Wagenlenker auszusuchen und alles Weitere, was ein Rennstall benötigt, zu beschaffen – selbstverständlich mit der Erwartung von reichen Gewinnen. Gegen Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus scheinen diese Circusparteien immer mehr feste Anhänger in der Bevölkerung Roms gewonnen zu haben, die man dann auch als Fans bezeichnen kann. Es entstand eine dauerhafte und leidenschaftliche Bindung von Teilen der römischen Bevölkerung zu einer der vier Circusparteien. Die Äußerung des Plinius ist sogar die erste aus der Antike, welche die vier „factiones“ (lat. für „Parteien“) und ihre Farben sowie das Ausmaß der Begeisterung und die Form der Anhängerschaft deutlich macht. Die vier Circusparteien sind demnach wohl mit Recht als ein augenfälliges Beispiel für Fankultur zu bezeichnen, auch wenn sie in den folgenden Jahrhunderten ihren Charakter änderten.

Sicherlich bemerkenswert ist auch die Haltung des Plinius, der zumindest noch Verständnis dafür aufbringen könnte, wenn sich die Zuschauer für die „Schnelligkeit der Pferde oder die Kunstfertigkeit der Lenker“ interessieren würden. Eine interessante Äußerung, da sie eine auch heute noch anzutreffende Haltung zu Sportwettkämpfen verkörpert, die diese nicht als ein spannungsgeladenes und emotionales Ereignis sieht, ja sogar die Emotionen der Zuschauer und die Identifikation mit dem Geschehen im Stadion ablehnt und das Ganze wie Plinius mehr unter rationalen Gesichtspunkten betrachtet, etwa die Leistung der Wagenlenker und Pferde bzw. im Fußball die Leistung der Spieler und Mannschaften.

Die Wagenrennen der römischen und byzantinischen Zeit sind zwar ein recht gut erforschtes Gebiet13, doch bleiben viele Fragen zu den Zuschauern anderer sportlicher Darbietungen offen. Beispielsweise welche vergemeinschaftende, identitätsbildende Wirkung das gemeinsame Betrachten von Sportwettkämpfen hatte, welche Beziehung zwischen Sport und Politik besteht, welches Körperbild und welche Emotionen an sportliche Wettkämpfe geknüpft sind und welche Rolle der Zuschauer spielte und unter diesen die Fans. Fragen über Fragen, denen aber allen eines gemeinsam ist: das neu erwachte Interesse der Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Rolle des Zuschauers und Fans im Sport im Bewusstsein der eigenen Faszination für beispielsweise oder vor allem den Fußball.

Fußnoten

1   W. Pyta: Geschichtswissenschaft und Sport, in: GWU 61 (2010), 388.

2   Th. Schmidt-Lux: Geschichte der Fans, in: J. Roose, M. S. Schäfer, T. Schmidt-Lux (Hrsg.): Fans – Soziologische Perspektiven. Wiesbaden 2010, S. 47. Genauer die Definition der Herausgeber in der Einleitung S. 11f.

3   Einen kurzen Überblick bietet M. Krüger: Eine kurze Kulturgeschichte der Sportzuschauer, in: B. Strauß (Hrsg.): Sportzuschauer. Göttingen u. a. 2012, 19-39. Weiterhin ein Standardwerk ist A. Guttmann: Sports Spectators. New York 1986; für die Altertumswissenschaften seien hier nur zwei Aufsätze genannt: I. Weiler: Zum Verhalten der Zuschauer bei Wettkämpfen in der Alten Welt, in: E. Kornexl (Hrsg.): Spektrum der Sportwissenschaften. Wien 1987, 43-59; I. F. Gold: Das Publikum bei Wettkämpfen in der Alten Welt, in: M. Messing u. a. (Hrsg.): Olympischer Dreiklang. Werte – Geschichte – Zeitgeist. Mainz 2004, 207-226.

4   Ein neueres Beispiel für die zunehmend erkannten Potenziale, die der Fußball der Forschung bietet, das sich eben nicht nur mit den negativen Seiten des Fußballs beschäftigt, vielmehr mit der europäischen Dimension, ist das von der EU geförderte Projekt „Football Research in an Enlarged Europe“ (FREE) – Identity dynamics, perception patterns and cultural change in Europe’s most prominent form of popular culture. Das Projekt „basiert auf der Überzeugung, dass Fußball ein bis dato nicht ausgeschöpftes Potential besitzt, europäische Wahrnehmungsmuster und Identitätsdynamiken des 21. Jahrhunderts auszudrücken. Es untersucht auf innovative Weise, inwiefern die Frage nach der Wahrnehmung und Akzeptanz der Anderen innerhalb Europas beantwortet werden kann“ (http://www.free-project.eu).

5   S. Laser: Sport und Spiel. Göttingen 1987, 83.

6   Zu den Gladiatoren siehe u. a. Th. Weidemann: Kaiser und Gladiatoren. Die Macht der Spiele im antiken Rom. Darmstadt 2001.

7   Bei den genannten Inschriften handelt es sich um CIL CIL IV 4397 und 4356, zu den Gladiatorenspielen in Pompeji s. L. Jacobelli: Gladiators at Pompeii. Los Angeles 2003.

8   Siehe Fußnote 4.

9   Die Quellen zum Zuschauerwesen in der Antike sind auf vorbildliche Weise in einer Datenbank der Universität Graz gesammelt: http://www-gewi.uni-graz.at/spectatores/.

10 Quelle: http://www.uni-stuttgart.de/hing/forschung/schwerpunkte/FREE.html.

11 Plin. min. epist. 9, 6,1-3; Plinius der Jüngere war römischer Politiker und Redner.

12 Das Mosaik aus der Villa di Baccano ist heute im Museo Nazionale Romano all Terme in Rom ausgestellt.

13 A. Cameron: Circus Factions. Blues and Greens at Rome and Byzantium. Oxford 1976.

Prof. Jo Groebel

Fans. Eine kleine Motivpsychologie

Auf den allerersten Blick verbindet man mit dem Begriff „Fan“ hysterisch kreischende Teenager vorwiegend weiblichen Geschlechts. Dieses Phänomen ist so alt wie die Popgeschichte des 20. Jahrhunderts und reicht zurück bis zu Frank Sinatra und Johnny Ray, den Beatles und den Rolling Stones, den Monkees, später Boygroups wie Take That und aktueller Justin Bieber. „Fan“, abgeleitet von „Fanatic“ (deutsch: der beziehungsweise die Fanatische), steht für völlige Hingabe an das Idol, für jemanden, der einen großen Teil der täglichen Gedanken und Energien dem Idol widmet und jedwede Regung des Bewunderungsobjekts kultisch verehrt. Vermutlich spielen gerade bei jüngeren Mädchen erste erotische Regungen eine Rolle, die daher harmlos bleiben, weil es so gut wie nie zu einer realen, damit potenziell verschreckenden Begegnung kommt.

Doch auch die Männer haben ihre Fandomäne, hier ist es vor allem der Sport, in Deutschland und vielen weiteren Ländern besonders der Fußball, der weitreichende Emotionen weckt. Erotik dürfte hier selten eine Rolle spielen, höchstens indirekt. Neben dem Können und der Identifikation mit dem Verein sind es die Trophäen und Symbole, die den Ballstar auszeichnen und ihn zu einem nachahmenswerten Menschen machen: Stärke, Geld, Autos, „Bräute“, also nach wie vor von vielen anerkannte gesellschaftliche (männliche) Werte.

Inzwischen wird das Fan-Sein nicht mehr primär kritisch oder lächelnd-abschätzig bewertet, man akzeptiert, dass der Enthusiasmus gegenüber einem Idol viele positive Aspekte beinhaltet: Ablenkung von einem manchmal grauen Alltag, Suche nach Positivvorbildern, meist schlicht und einfach Lust auf harmlose Begeisterung.

Dabei sind die Hintergründe recht komplex, die Motivlagen lassen sich über mehrere Eigenschaften der einzelnen Person, ihrer Bezugsgruppe und der Gesellschaft insgesamt beschreiben, siehe die Fanmotivmatrix:

DIE FANMOTIVMATRIX

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© Jo Groebel 2012

Die sehr wissenschaftlich aussehende Matrix lässt sich recht einfach auf den Fanalltag übertragen. Einerseits kennzeichnet sie die verschiedenen Motivlagen eines Menschen: Jeder sucht ein gewisses Maß an positiver Erregung, damit das Leben nicht so langweilig ist. Dass wir ein gutes Gefühl mögen, ist fast selbstverständlich. Und ohne aktive Suche nach Information wären wir gar nicht lebensfähig. Natürlich sind wir auch alle eingebettet in eine Gemeinschaft, soziales Verhalten gehört zu den Triebfedern jeder Biografie. Und als aktive Menschen sind wir interessiert, etwas zu tun, unsere Ideen durch Handeln und Aktivität umzusetzen. Und schließlich: Ohne Ethik wären wir ebenfalls nicht überlebensfähig. Überträgt man all das nun auf eine Analyse der Fans, dann kann man diese genannten Bereiche wiederum aufteilen in das Verhalten jedes einzelnen Fans, das in der Fangruppe und schließlich in die ihn umgebende Gesellschaft und Kultur, also all das, was insgesamt in Deutschland und anderen Ländern an Meinungen und Lebensstilen existiert. Konkret heißt das dann für unser Thema:

Zwar kann man sich Fans auch im stillen Kämmerlein vorstellen, doch meist dürften sie eingebettet sein in verschiedene soziale und gesellschaftliche Bezüge. Vermutlich ist sogar die Dynamik innerhalb einer Fangruppe, bei der man sich gegenseitig verstärkt und aufschaukelt, ein zentrales Motiv für die Bewunderung von Idolen. Entsprechend lässt sich die Fanmotivation einerseits nach den verschiedenen sozialen Kontexten einteilen, also Individuum, Gruppe, Gesellschaft, siehe oben, andererseits nach den unterschiedlichen psychologischen Prozessen, die dabei eine Rolle spielen.

Jedes Fan-Sein beginnt mit der Begeisterung, die auch den Körper in Aufregung versetzt. Der Anblick des Idols, des geliebten Vereins geht mit einer beschleunigten Herzrate einher, bei der direkten Begegnung sogar mit feuchten Händen. In der Fachsprache nennt man das die physiologische Erregung. Sie ist messbar, zugleich wird die Erregungskurve des Einzelnen durch Ansteckung in der Gruppe weiter erhöht, dabei wieder gefördert durch die jeweilige Erlebnis- und Fankultur auf nationalem oder gar grenzüberschreitendem Niveau. Manche Soziologen sprechen gar von der Erlebnisgesellschaft, ein möglichst hohes Maß an ständiger Begeisterung ist zu einer Art Norm geworden. Die Sozialpsychologie hat in entsprechenden Analysen vielfach gezeigt, dass im Zusammensein mit anderen die Erregung immer noch weiter zunimmt, der besondere körperliche Zustand jedes Einzelnen im Fußballstadion ist ein plausibles Beispiel dafür.

Allerdings sprechen wir nicht von einem rein automatischen Verlauf, ohne Inhalt würde die Begeisterung ins Leere laufen. Dieser Inhalt ist die Begeisterung für ein konkretes gelungenes Spiel, für eine bestimmte Musikrichtung, vor allem aber für eine konkrete Person oder zumindest einen Verein. Hier entsteht auf der Gefühlsebene die Bindung durch Bewunderung der Eigenschaften des Vorbildes, hier schafft die Fangruppe durch gegenseitige Verstärkung erst den Kern der sozialen Dimension der Zuneigung zum Begeisterungsobjekt. Das alles wird in einer hochdifferenzierten Medienkultur weiter gefördert. Merchandising, Fanpublikationen, Fernseh- und Onlineangebote schaffen in Wechselbeziehungen zueinander die Kultur des Enthusiasmus, die vermutlich zu den stärksten Triebfedern für Fans gehört.