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Erste Auflage März 1999

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter
Verwendung einer Fotografie von Ullstein Bilderdienst
(Renée Sintenis mit Freundin)

ISBN 978-3-89656-573-0

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Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

http://www.querverlag.de

Ohne vielfältige Hilfe wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Danken möchte ich vor allem den SchwulLesbischen Studien (Bremen) und Sappho – Verein zur Förderung von Frauenforschungsprojekten (Zürich) für die finanzielle Unterstützung.

Mit Rat & Tat „vor Ort“ in Wien und sachdienlichen Hinweisen halfen mir besonders Christa Kolodej, Sabine Sobotka, Hannes Sulzenbacher, Andrea Wolf (Wien), ferner Christian Fleck und Hans-Peter Weingand (Graz) sowie Maria K. Herbert Küpper (Köln) las das Manuskript mit juristischem Sachverstand, und Ilona Phlippeau (Berlin) ermutigte und unterstützte mich beharrlich beim Schreiben. Ihnen allen gebührt mein Dank.

Vielleicht

Erinnern

das ist

vielleicht

die qualvollste Art

des Vergessens

und vielleicht

die freundlichste Art

der Linderung

dieser Qual

Erich Fried

Spurensuche

Der 1. April 1940 – es ist ein Montag – sollte kein guter Tag für Marie W. und Lilly „Sara“ R. werden. Plötzlich steht die Kri­minalpolizei vor ihrer Tür. Die Nachbarn haben sie verpfiffen oder – wie es auf wienerisch heißt – vernadert. Beide werden festgenommen, weil sie „in dringendem Verdachte stehen, wider­natürlichen Verkehr gepflogen zu haben. Sie wurden von mehreren Hausparteien von einem Fenster gegenüber ihrer Wohnung beobach­tet.“ So steht es in einem Vermerk der Kriminalpolizeileitstelle Wien. Hinzu kam auch noch ein Verdacht auf „Schleichhandel“.

Was die neugierigen Nachbarn tatsächlich gesehen hatten und warum sie prompt Anzeige erstatteten, wissen wir nicht. Doch eines steht fest: Lilly R. gehörte schon längst zu den Verfolg­ten. Es verging keine Woche nach dem „Anschluß“ – wie die be­schönigende Bezeichnung für die rechtswidrige Eingliederung Österreichs durch Hitler im März 1938 lautete –, ohne daß die einst 200 000 Wiener Jüdinnen und Juden neuen Demütigungen und Entrechtungen ausgesetzt waren. So mußte Lilly R., um nur ein Beispiel zu nennen, seit dem 1. Januar 1939 ihrem Vornamen auf allen offiziellen Papieren den biblischen Namen Sara hinzufü­gen. Eine entwürdigende Kennzeichnung, die sie als Mensch ohne Rechte brandmarkte.

Was also war geschehen an jenem Apriltag, an dem mit der Er­richtung von sieben Alpen- und Donaureichsgauen die Ein­verlei­bung Österreichs ins Deutsche Reich als abgeschlossen galt? Vielleicht hatte sich Lilly R. ein Stück Stoff „organisiert“ – widerrechtlich, denn als Jüdin war sie vom Bezug einer Kleider­karte ausgeschlossen – und ließ sich von ihrer Freundin Marie W., die Miedermacherin war, etwas zuschneidern? Vielleicht hat­ten die Nachbarn, beim sonntäglichen Ersatzkaffee-Klatsch ver­sammelt, sie bei der Anprobe eines neuen Kleides beobachtet und waren neidisch? Oder hatten die bei der Frühlingsluft geöffne­ten Fenster im Schlafzimmer vis-à-vis verdächtige Einblicke ge­währt?

Wir wissen auch nicht, welche Folgen die Denunziation für die 44jährige Marie W. und die 33jährige Lilly R. hatte. Nahm sich die Gestapo des Falles an – auf die ihr eigene, häufig genug todbringende Weise? Oder wurden die beiden Wienerinnen vor Ge­richt gestellt? Schließlich war nicht nur der „Schleichhandel“ in Zeiten zunehmender Rationierung verboten. Frauen, die sexu­elle Handlungen miteinan­der begingen – und unter diesem Ver­dacht waren Marie W. und Lilly R. ja festgenommen worden –, machten sich in Österreich strafbar. Sie wurden durch den §129Ib des Österreichischen Strafgesetzbuches bedroht, der bei „Unzucht zwischen Personen gleichen Geschlechts“ schwe­ren Kerker von einem bis fünf Jahren vorsah. Dies galt auch, nachdem die Nationalsozialisten die „Ostmark“ annektiert hatten – obwohl in Deutschland entsprechende Handlungen unter Frauen straffrei waren und nicht unter §175 des Strafgesetzbuches fielen, der männliche Homosexualität kriminalisierte.

In diesem Buch soll es nun darum gehen, wie sich der „Anschluß“ auf die fortgesetzte Strafverfolgung, aber auch auf andere Dis­kriminierungs- und Verfolgungsformen auswirkte. Blieben die Verurteilungen konstant, oder nahmen sie nach 1938 zu? Wurden nun härtere und längere Strafen verhängt? Welche Handlungen er­füllten den Straftatbe­stand, und wieso galten sie überhaupt als strafbar, obwohl weder Mißbrauch vorlag noch Gewalt angewandt wurde? Wie der Staat das Strafrecht als Macht- und Kontrollmit­tel einsetzte, das auch Tugend und Laster definierte, davon wird noch die Rede sein. Ebenso von der Gleichsetzung von Recht mit bürgerlich-heterosexueller Moral.

Vor ein paar Jahren erfuhr ich, daß in österreichischen Archi­ven ein Teil der Strafakten zu §129Ib, die nicht während des Krieges verbrannten oder später vernichtet worden sind, noch aufbewahrt werden. Diese Akten konnten womöglich meine Fragen im Hinblick auf die Verfol­gungspraxis „ostmärkischer“ Gerichte nach 1938 beantworten. Und sie würden, so vermutete ich, auch Rückschlüsse darauf zulassen, wie die Beschuldigten gelebt, wie sie die damalige Situation erlebt hatten. Um es vorwegzunehmen: Keineswegs alle Frauen, die der „Unzucht“ beschuldigt wurden, verstanden oder bezeichneten sich selbst als lesbisch. Nicht nur, weil dieses Wort verpönt war. Auch hetero­sexuelle Frauen wurden mitunter nach §129Ib verurteilt, beispielsweise solche, die als Prostituierte ar­beiteten und auf Wunsch eines Freiers Sex mit einer anderen Frau hatten. Genaugenommen müßte man also von den nach §129Ib Verurteilten sprechen. Abge­sehen davon, daß dies sprachlich umständlich ist, darf man wohl davon ausgehen, daß ein Großteil der nach diesem Paragraphen Angeklagten tatsächlich lesbische Beziehungen hatte. Wenn auch nicht un­bedingt eine lesbische Identität, zumal im heutigen, lifestyle-geprägten, modernen Sinn.

Bis heute mangelt es an Veröffentlichungen über die Strafver­folgung einerseits und die Lebenssituation lesbischer Österrei­cherinnen (und schwuler Österreicher) andererseits, nicht nur im Hinblick auf die NS-Zeit. Zu den Ausnahmen gehört Hanna Hac­kers grundlegende Studie zur weiblichen Homosexualität in Österreich, die den Zeit­raum 1870-1938 umfaßt, Frauen und Freundinnen (Weinheim/Basel 1987), sowie das Buch Homo­sexualität in Öster­reich (Wien 1989). Erwähnt sei noch der von Josef Kohut unter dem Pseudonym Heinz Heger verfaßte auto­bio­graphische Bericht Die Männer mit dem rosa Winkel (Hamburg 1979) – ei­ner der ersten (und ganz wenigen) Augenzeugen­berichte über das Schicksal schwuler KZ-Häftlinge.

Zwar hatte der Grazer Soziologe Christian Fleck Ende der achtziger Jahre ein großangelegtes Projekt mit dem Titel „Soziale Kon­trolle einer Minderheit. Homosexuellenverfolgung in wechselnden politischen Systemen Österreichs“ initiiert. Sein Ziel war es ursprünglich, anhand der überlieferten Strafprozeßakten und mit Hilfe von Interviews Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ausgrenzung einer Minderheit im 20. Jahrhundert und deren „Spiegelung“ in den Identitätsfindungsversuchen heraus­zuarbei­ten. Flecks Projektmitarbeiterin, die Historikerin Andrea Wolf, hat in monatelanger, mühevoller Arbeit rund 1500 Akten von Strafverfahren eingesehen, die zwischen Mitte der dreißiger bis Mitte der fünfziger Jahre vor den vier österreichischen Ober­landes­gerichten Wien, Innsbruck, Linz und Graz nach §129Ib durchge­führt wurden. Sie hat die darin enthaltenen Angaben zu den etwa 4800 Beschuldigten schematisch erfaßt. Zu einer systematischen Auswertung der erhobenen Daten beziehungsweise zu einer Veröf­fentlichung der gewonnenen Ergebnisse ist es jedoch bisher lei­der nicht gekommen. Auch wurde von der geplanten Befragung der Justizopfer Abstand genommen. Bald dürfte es allerdings kaum noch möglich sein, lebensgeschichtliche Interviews mit Zeit­zeugInnen über ihr damaliges Leben durchzuführen.

Im Frühjahr 1996 hatte ich die Möglichkeit, einige der ein­schlägigen Prozeßakten einzusehen. Aus finanziellen und zeitli­chen Gründen habe ich mich dabei auf solche Verfahren be­schränkt, die in der Zeit des „Anschlusses“ vor dem Landgericht Wien – als dem zuständigen Gerichtshof erster Instanz – gegen Frauen durchgeführt worden sind. Bekannt ist, daß in den Jahren 1938-1943 in Wien 66 Frauen nach 129I (Sodomie und Homosexua­liät) verurteilt wurden (siehe Tabelle 2 auf S. 140), jedoch ist nur ein Teil dieser Prozeßakten überliefert. Davon konnte ich 23 Strafverfahren mit rund 50 Beschuldigten beziehungsweise Verurteilten einsehen (sowie einige wenige aus den Jahren vor 1938).

Während ich mich Tag für Tag im Wiener Landesarchiv in die ver­gilbten Papiere vertiefte, ließen mich die Schicksale zwischen den Aktendeckeln bald nicht mehr los. Ich fragte mich, was die Frauen wohl empfanden, wenn sie von der Nachbarin oder vom ei­genen Ehemann angezeigt wurden? Was fühlten sie, wenn sie bei der Polizei oder vor Ge­richt über ihr Intimleben Auskunft geben mußten? Wie verteidig­ten sie sich? Was spielte bei einer Verur­teilung – oder einem Freispruch – eine Rolle? Oft habe ich mich beim Lesen der Protokolle auch gefragt, wie ich mich damals verhalten hätte. Hätte ich der Einschüchterung oder gar Miß­handlung während eines Verhörs standgehal­ten? Hätte ich mich vielleicht einer nicht begangenen Tat, die ja als Verbrechen galt, bezichtigt, nur um der Vernehmung zu entrinnen? Hätte ich andere belastet, um meine eigene Haut zu retten? Glücklicher­weise war ich – und hier wäre das Wort von der „Gnade der spä­ten Geburt“ zutreffend – nie in einer Situation, in der ich solche Entscheidungen treffen mußte. Ich maße mir deshalb nicht an, das Verhalten der beschuldigten Frauen zu be- oder verur­teilen. Doch um es verstehen und womöglich erklären zu können, muß das Geschehene zunächst einmal sichtbar gemacht werden. Ich möchte also darstellen, wie Polizei und Justiz vorgingen, wie sich die Frauen in der damaligen Situation verhielten und wel­che Handlungs­spielräume sie hatten, denn sie waren nicht aus­nahms- und unterschiedslos Opfer.

Statistiken – in diesem Fall Kriminalstatistiken – sind wichtig und haben ihre Berechti­gung, doch bleiben die Personen dahinter anonym. Um die Vergangenheit wieder gegenwärtig werden zu las­sen und damit nachvollziehbar zu machen, habe ich zehn Fälle herausgegriffen, die in der Statistik nur als Zahl und namenlos erscheinen. Auf diese Weise war es möglich, Einzel­schicksale darzustellen und Frauen zu Wort kommen zu lassen, die bisher ge­schwiegen haben. Aus gutem Grund, denn wegen der fortgesetzten Diskriminierung nach dem Krieg fühlte sich keine von ihnen veranlaßt, über ihre Erfahrungen zu berichten. Dar­über hinaus gehörten die in diesen Verfahren Beschuldigten fast alle der sozialen Unterschicht an, für die das Schreiben als Verarbeitungsstrategie kaum in Frage kam. Die Zweite Republik, die Gesellschaft, in der sie nach dem Krieg lebten, hatte die Rechtmäßigkeit ihrer strafrechtlichen Verfolgung nie in Frage gestellt, und es bestand kein öffent­liches Interesse, das Tabu zu brechen und die Geschichte die­ser scheinbar unpolitischen Verfolgung aufzuarbeiten.

Vor diesem Hintergrund erwiesen sich die Akten als wertvolle Quelle für die Geschichts­schreibung, denn die Prozesse individualisieren Geschichte, das heißt, sie markieren je­nen Punkt, in dem die Zeitgeschichte mit einer persönlichen Lebensgeschichte zu einer Einheit ver­schmilzt.

Unproblematisch ist der Umgang mit diesen Quellen jedoch nicht. Sie stammen alle aus den Jahren der NS-Diktatur, das heißt, es gibt keine Zeugnisse oder Aussagen der Betroffenen aus der Nachkriegszeit, die das Geschehen im nachhinein kommentieren und möglicherweise relativieren würden. Auch enden die Akten mit der Strafverbüßung oder gegebenenfalls dem Freispruch; sie enthalten also in der Regel keine Informationen über das wei­tere Leben. Zur Verfügung standen mir nur noch die dürftigen Auskünfte des Einwohnermeldeamtes.

Keine der Frauen, die in diesen Fallgeschichten zu Wort kommen, habe ich persönlich kennen­gelernt. Dies macht es sehr schwie­rig, die Perspektive der Justizopfer angemessen zu rekonstruie­ren. Ich weiß von ihnen nur aus staubigen Ak­ten, kenne nur das, was sie vor der Polizei oder dem Gericht aussagten. Die Verneh­mung dürfte von den meisten als einschüchternd, wenn nicht als bedrohlich erlebt worden sein. Abgesehen von ganz weni­gen in den Akten enthaltenen Selbstzeugnissen (z.B. beschlagnahmte Briefe), die als authentisch gelten können, sind die Aussagen der Beschuldigten also zum einen durch die Verhörsituation ge­prägt, zum anderen tragen die Protokollaussagen die Hand­schrift des Polizei- und Justizapparates. Das zeigt sich auch an dem Voyeurismus, der in allen Akten ganz offen zutage tritt, an der fast genüßlichen Wiedergabe pikanter Details aus dem Intimleben. Und es erwies sich als schwierig, die Dinge beim Namen zu nennen, ohne diesen Voyeurismus zu reproduzieren.

Bei den Aussagen handelt es sich in der Regel nicht um wört­liche Zitate der Frauen, sondern um die polizeiliche oder rich­terliche Version, die die Frauen mit ihrer Unterschrift „absegnen“ mußten. Die Protokolle lassen deshalb nur bedingt Rückschlüsse auf das Selbst­verständnis zu – auch im Hinblick auf die sexuelle Identität. Es ist naheliegend, daß die Frauen bei der Ver­nehmung entsprechende Fragen leugneten oder verneinten, denn ein Bekenntnis zum Lesbischsein wäre wohl einem Schuldeingeständnis gleichgekommen.

Ein weiteres Problem beim Rekonstruieren der Verfahren lag darin, daß die Aussagen der Beschuldigten nicht selten wider­sprüchlich sind, das heißt, Frau A schildert den Vorfall anders als Frau B, oder aber Frau X widerruft ihr am Vortag gemachtes Geständnis. Was stimmt denn nun? Was ist tatsächlich passiert? habe ich mich beim Lesen der Akten, bei der Vielzahl von Ver­hör- und Ermittlungsprotokollen, oft gefragt. Nicht immer gab es darauf eine eindeutige Ant­wort, aber vielleicht ist es ebenso wichtig, Fragen zu stellen, da sich Antworten leicht als falsch erweisen können. So habe ich die mir am wahr­scheinlichsten erscheinende Version der Geschehnisse darge­stellt, ohne Widersprüchliches zu unterschlagen; auf eine Fik­tionalisierung habe ich dabei bis auf wenige Dialoge verzich­tet. Zwar läßt sich alles durch Aussagen in den Protokollen be­legen, doch können die Fallgeschichten letztendlich nur eine Annäherung an das sein, was sich in Wirklichkeit, die ja stets subjektiv unterschiedlich erlebt wird, zugetragen haben mag. Doch nun genug der Vorrede – lassen wir die Frauen selbst zu Wort kommen.

Eine beschwipste Geschichte

Ostermontag 1939. Elisabeth G. trifft sich mit ihrer Freundin Henriette M., genannt Jetty. Vor ein paar Monaten haben sich die beiden Frauen kennengelernt, und sie verstanden sich auf Anhieb. An diesem Feiertag wollen sie sich amüsieren und gehen in den Prater, fahren Karussell und trinken ein paar Seidel Bier. Später schlendern sie in den 5. Bezirk und kehren noch im Gasthaus Schauer ein. Die Zeit vergeht wie im Flug. „Kann ich wieder mit zu dir kommen?“ fragt die blonde, zierliche Henri­ette M. die Freundin. „Es ist schon nach Mitternacht.“ In den 10. Bezirk, wo Jetty zusammen mit ihrer Mutter und ihrem zwei­einhalbjährigen Sohn wohnt, fährt keine Straßenbahn mehr. „Gern“, antwortet Elisabeth G., „aber wir müssen leise sein. Du weißt ja, der Baumann hat solche Lauscher!“ Sie zeichnet rie­sige Ohren in die Luft. „Was der immer alles hört!“ Die 23jährige Elisabeth G. hakt sich bei der vier Jahre älteren Freundin ein, und sie machen sich auf den Weg in die Einsied­lergasse, wo Elisabeth G. ein Kabinett – ein kleines Zimmer – be­wohnt. Eine eigene Wohnung kann sich die ledige Hausgehilfin aus dem Burgenland, die von Gelegenheitsarbeiten lebt und der­zeit arbeitslos ist, nicht leisten. So zog sie im November 1938 bei dem Musiker Baumann, einem Witwer, und seiner Mutter zur Untermiete ein.

„Ich hab einen ganz schönen Schwips“, kichert Jetty, als Elisa­beth die Wohnungstür aufschließt. „Pst“ entgegnet diese, legt den Zeigefinger auf die Lippen und schiebt Jetty über den Flur in ihr Zimmer. Nachdem sie die Kleider abgelegt haben, fallen sie ins Bett. Im Nebenzimmer liegt Baumann wach. Die Wände sind dünn und haben Ohren. Die alte Matratze quietscht bei jeder Be­wegung. Baumann hört, wie es zu Zärtlichkeiten zwischen den beiden Frauen kommt. Er geht in die Küche und holt sich ein Glas Wasser. An Schlaf ist für ihn nicht mehr zu denken. „Der werd ich’s heimzahlen. Erst beklaut sie uns, und dann noch so was!“ geht es ihm durch den Kopf, und er entschließt sich, eine alte Rechnung zu begleichen.

Am nächsten Morgen geht er zur nahegelegenen Kripo und erstat­tet Anzeige. „Ich habe durch Beobachtung festgestellt, daß diese Frau lesbisch veranlagt ist“, gibt er empört zu Proto­koll. „In der Nacht kommen mit ihr öfters Mädchen in die Woh­nung, und ich konnte durch Hören feststellen, daß sich die Frauen erotisch betätigen, denn man hört aus dem Zimmer lautes Seufzen und Stöhnen. Auch hat mir die Freundin der G., eine Käthe W., erzählt, daß ihr bekannt ist, daß die G. lesbischen Verkehr pflegt. Die G. geht keinem Erwerb nach und lebt von den Geschenken, die sie von ihren Bekanntschaften (weiblicher Na­tur) erhält.“ Außerdem habe Elisabeth G. seiner Mutter ver­schiedene Wäschestücke entwendet und diese im Pfandhaus Do­rotheum versetzt. Im Februar 1939 hatte Frau Baumann den Dieb­stahl entdeckt, und Elisabeth G. – zur Rede gestellt und ge­ständig – versprach, den Schaden gutzumachen und auszuziehen. Doch bis Ostern hatte sie dieses Versprechen nicht eingelöst, und Frau Baumann war folglich nicht gut auf ihre Unter­mieterin zu sprechen: „Die G. führt ein Nichtstuerleben, schläft bis mittags, raucht Zigaretten und hat sich tadellose neue Unterwä­sche angeschafft, obwohl sie nichts verdient“, gab sie später zu Protokoll.

Aufgrund der Anzeige von Herrn Baumann beginnt die Kripo mit ihren Ermittlungen. Vorläufig nimmt sie am nächsten Tag – es ist der 12. April 1939 – die beiden Freundinnen fest – was beim Ver­dacht einer Straftat zulässig war. Henriette M. gesteht, daß es in der Nacht von Ostermontag zu Dienstag erstmalig zwischen ih­nen zu „erotischen Berührungen“ gekommen sei, daß sie selbst aber Elisabeth G. „nicht unsittlich berührt“ habe und diese die treibende Kraft gewesen sei. Henriette M. bittet um Haftentlas­sung, da sie sich um ihren Sohn kümmern muß und sonst ihre Stellung als Hilfsarbeiterin in einer Papierfabrik verlieren würde. Nach zwei Wochen wird sie, die seit März 1939 der NS-Frauenschaft, der für Leitungs- und Schulungsaufgaben zuständi­gen Führerinnenorganisation angehört, freigelassen, während Elisabeth G. in Haft bleiben muß.

Übereinstimmend gibt Elisabeth G. bei ihrer Vernehmung am 14. April die vorgeworfenen nächtlichen „lesbischen Handlungen“ so­wie den Wäschediebstahl zu: „Die Henriette M. ließ sich von mir onanieren, weil ich ihr damals so lange zugeredet habe.“ Sie beteuert aber, „in lesbischer Hinsicht ansonsten mit niemandem zu tun gehabt“ zu haben. Zwei Tage später, am 16. April, wider­ruft sie jedoch ihr Geständnis, das sie nur auf Druck des Kri­minalbeamten Rudolf Sturm gemacht habe, „weil dieser mir zure­dete, ich solle ein Geständnis ablegen, dann könnten ich und die M. bestimmt freigehen. Der Kriminalbeamte schickte mich dann in dieselbe Zelle der Henriette M. und sagte, ich solle ihr zureden, daß auch sie ein Geständnis ablege. Ich habe ihr dann solange zugeredet, bis sie sich entschloß, ein falsches Geständnis abzulegen. Ich bin durchaus nicht lesbisch veran­lagt. Ich habe zwei außereheliche Kinder, davon ist eines ge­storben. Der Vater des Kindes ist Karl H., mit dem ich bis vor einem Jahr verkehrte. Früher verkehrte ich mit Franz S., der mich mit Tripper infizierte.“ Zur Ausheilung ihrer Krankheit wurde sie damals für fünf Monate in die 1922 gegründete „Heilanstalt für geschlechtskranke Frauen“ in Klosterneuburg nördlich von Wien eingewiesen – eine Maßnahme, die nach den österreichischen Bestimmungen über die Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Geschlechtskrankheiten von 1918 zulässig war.

„Ich und meine Mutter hatten schon seit längerer Zeit den Ver­dacht, daß die G. lesbisch verkehre“, bekräftigte Baumann am 24. April 1939 vor dem Untersuchungsrichter Dr. Schulz seine bisherige Aussage. „Die Jetty schlief am Ostersonntag und Ostermontag bei der G. Als ich in der Nacht des Ostermontag in die Küche ging, hörte ich aus dem anstoßenden Kabinett der G. ein rhythmisches Krachen des Bettes und ein Seufzen. Ich war überzeugt, daß hier jemand geschlechtlich verkehre. Meine Mut­ter sah am nächsten Morgen die G. mit der Jetty im Bette lie­gen. Schon früher einmal hatte ich in der Nacht dieselben Ge­räusche aus dem Kabinett gehört und hatte dies der G. vorgehal­ten. Diese behauptete, sie habe einen Mann bei sich gehabt. Der betreffende Mann aber bestritt, bei ihr geschlafen zu haben. Ich glaube, daß die G. mit der Jetty ein Verhältnis hatte. Sie trafen sich regelmäßig um 1/2 1 Uhr mittags und 6 Uhr abends im Kaffeehaus.“ Auch die Obsthändlerin Käthe W., so Baumann, habe ihm gegenüber behauptet, daß „die G. mit Frauen verkehre“.

Die 36jährige Käthe W., die auf dem Wochenmarkt arbeitete und Elisabeth G. von dort kannte, sagte aus, daß sie „von Leuten am Naschmarkt gehört habe, daß die G. eine Warme ist. Ich selbst war vor etwa zwei Jahren als Zeugin in einem Prozeß gegen die G. und eine gewisse Ledwine K. wegen lesbischen Verkehrs beim Landgericht für Strafsachen Wien II vorgeladen. Die K. wurde verurteilt, die G. freigesprochen.“

Aufgrund des Tatverdachts leitete die Staatsanwaltschaft nun von Amts wegen die weiteren Schritte ein. Als Strafverfolgungs­behörde oblag ihr nicht nur die Leitung des Ermittlungsverfah­rens beim Verdacht einer Straftat, sondern u.a. auch die Ankla­geerhebung. Da die Verfahren vor dem Landgericht üblicherweise von einem Einzelrichter durchgeführt wurden, stellte die Staatsanwaltschaft in diesen Fällen einen sogenannten Strafantrag, der sich von der Anklageschrift nur durch das Fehlen einer inhalt­lichen Begründung unterschied.