Angelika Wessels

EINSATZ IM ALPSTEIN

Angelika Wessels

EINSATZ
IM
ALPSTEIN

Roman

Appenzeller Verlag

Für Christian

Alle handelnden Personen mit Ausnahme der Bergwirte und ihrer Familien sowie einiger bekannter Persönlichkeiten sind frei erfunden, ebenso ist die Handlung rein fiktiv. Der Realität entsprechen jedoch die Landschaft des Alpsteins, die Berggasthäuser und Bergwirte sowie einige literarische Bezüge. Die Arbeitsweise der Alpinen Rettung orientiert sich ebenfalls an der Realität, enthält jedoch auch fiktive Elemente.

Es existiert keine «Privatschule am Lehn» in Appenzell. Ebenso erfunden sind die Naturforscher Hans Balthasar und Balz von Lehn mit ihren Werken. Es gibt auch keine «Rettungskolonne Alpstein»; die Alpine Rettung Ostschweiz ist in verschiedene Stationen aufgeteilt, das Alpsteingebiet wird von den Rettungs-Stationen Appenzell, Schwägalp, Sax und Wildhaus betreut. Die Erinnerungstafel auf dem Roslenfirst existiert ebenfalls nicht in dieser Form.

Im Anhang finden sich eine Erklärung der Dialekt-Ausdrücke sowie ein Verzeichnis der verwendeten Quellen und Zitate.

DEZEMBER

Der Schnee verschluckte jedes Geräusch. Marco schien es, als drückten die Schneemassen über, unter und neben ihm seinen Körper zusammen, als pressten sie die verbleibende Luft in seine Gehörgänge. Dazu kam die völlige, die absolute Finsternis. Kein Lichtschein drang in sein kaltes Verlies. Marco fürchtete sich, obwohl er das nie zugegeben hätte, schliesslich ging er schon in die fünfte Klasse, da gab man seine Angst nicht mehr so einfach zu.

Doch der Gedanke an den Schnee ringsum, der ihn einschloss, schnürte ihm die Kehle zu. Marco versuchte, sich zu beruhigen. Das Druckgefühl in den Ohren, das war ihm bekannt, das hatte er schon einmal erlebt, als er mit seiner Klasse einen speziellen schalldichten Raum in einem Radiostudio besucht hatte. Marco schluckte, rang nach Luft. Dies hier war aber etwas völlig anderes. Ganz allein, unter dem Schnee begraben. Jede Orientierung war ihm abhandengekommen. Dort, wo seine Skihose unter dem kalten Druck des Schnees nass wurde, war unten. Wie sah es über ihm aus, ausserhalb des Schnees? War es klar? Leuchteten die Sterne? Er hatte zuvor nicht darauf geachtet.

Nicht enden wollende Minuten verstrichen. Marco begann zu frieren, er bewegte den Kopf, die Arme und die Beine, zum Glück war dazu genügend Platz vorhanden. Noch immer diese eigentümliche Stille, dieser Druck in den Ohren. Dann endlich gedämpfte Geräusche, dumpfes Stimmengewirr, das sich näherte, entfernte, wieder näherte und wieder wegbewegte.

Gerade als Marco meinte, es nicht mehr länger auszuhalten, drang ein Scharren aus dem Schnee zu seiner Linken, erst leise, dann immer lauter und deutlicher. Bald war auch ein gedämpftes Japsen zu hören, Hecheln, ein lautes Atmen. Es wurde heller, plötzlich öffnete sich ein Loch, durch das das gleissende Licht starker, sich bewegender Lampen drang. Beinahe gleichzeitig roch Marco den unverkennbaren Geruch nach nassem Hund. Etwas Grosses, Braunes zwängte sich durch das helle Loch und verdunkelte alles für einen Augenblick. Marco besann sich auf das Wursträdchen, das er die ganze Zeit über in der rechten Hand gehalten hatte. Er tastete nach dem heftig wedelnden Schwanz; der Hund drehte sich um, freudig winselnd, leckte erst über Marcos Gesicht, verschluckte dann in Blitzesschnelle das Stück Lyoner, worauf ihn Marco überschwänglich lobte: «Brav, Rico, guter Hund!»

Draussen wurde nun heftig geschaufelt, man hörte Keuchen, das zischende Knirschen der Schaufelblätter, die in den Schnee fuhren. Es wurde noch heller, geblendet schloss Marco die Augen. Eine weibliche Stimme fragte freundlich: «Marco, alles in Ordnung? Geht es dir gut?»

«Ja, prima, danke!» Erleichtert liess er sich aus dem Schneeloch helfen und blinzelte in die Runde.

Eine Frau klopfte ihm kameradschaftlich den Schnee vom Ski-Anzug. «Gut gemacht, Marco!»

Der Junge reichte der Frau, die eine gelb-schwarze Jacke mit reflektierenden Streifen trug, das Funkgerät: «Da, Franziska, ich habe es nicht gebraucht, und die Stirnlampe auch nicht.»

«Tapfer! Sag’s deinem Vater, er steht da drüben bei der Journalistin.»

Im Schein der nun eingeschalteten Stirnlampe, seiner eigenen, die er zum letzten Geburtstag erhalten hatte, stapfte Marco hinüber an den Rand des von hellen Scheinwerfern erleuchteten Schneefelds zu dem Grüppchen von Menschen. Dieses hatte sich um einen jüngeren Mann geschart, der ebenfalls eine gelbschwarze Jacke trug und gerade im Begriff war, der Journalistin der örtlichen Zeitung und den übrigen interessierten Zuschauerinnen und Zuschauern die Funktionsweise eines LVS, eines Lawinenverschütteten-Suchgeräts, zu erklären.

Marcos Mutter, die sich etwas abseits hielt, empfing ihn mit offenen Armen. «Bravo, Marco! Wer hat dich gefunden? Diva?»

«Nein, Rico, Franziskas grosser Schäferhund mit dem etwas längeren Fell.»

«Und? Wie war es im Schneeloch?»

Nun war auch das Interesse der Journalistin geweckt. «Hast du dich als Figurant zur Verfügung gestellt und dich eingraben lassen?»

«Jawohl!»

Und Marco durfte der jungen Frau, die sich eifrig Notizen machte, sein Erlebnis und seine Eindrücke schildern. Währenddessen kommentierte sein Vater den weiteren Verlauf der Lawinenübung: Der Hang wurde von zahlreichen, auf hohen Stangen angebrachten Scheinwerfern hell erleuchtet. Im Schatten hinter den Scheinwerfern standen mehrere Feuerwehrmänner und kontrollierten die Stromzufuhr; in ihrer Nähe brummte ein kleiner tragbarer Generator. Auf einem etwas erhöhten Platz, von dem aus man das ganze ausgeleuchtete Feld überblicken konnte, standen zwei weitere Männer in der gelb-schwarzen Bekleidung der Alpinen Rettung. Der eine gab mit ruhiger Stimme Anweisungen per Funk, der andere trug konzentriert alle Vorgänge und Funde auf einem Kroki des Geländes ein, das er an eine metallene Unterlage geklemmt hatte. Der Mann mit dem Funkgerät wandte sich seinem älteren, graubärtigen Kollegen zu, der noch immer im Begriff war, Einträge auf sein Blatt zu machen: «Was meinst du, Lorenz, sollen wir langsam abbrechen?»

«Ja, ich denke, es passt.»

Rasch leerte sich das mittlerweile von zahlreichen Fuss-, Pfoten-, Ski- und Schneeschuhspuren durchzogene Feld. Material wurde zusammengetragen, die Hunde wurden zu den abseits auf der Strasse parkierten Autos geführt. Das Schlagen von Heckklappen, laute Stimmen, Hundegebell, Lachen waren zu hören; die Feuerwehrleute bauten routiniert die Beleuchtung ab. Derweil fuhr ein Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer mit einem Kleinbus hinauf zum nahegelegenen Berggasthaus Ruhesitz, und Einzelne traten im Schein von Stirn- und Taschenlampen den Abstieg nach Brülisau an.

In der hellen, gemütlichen Gaststube verteilten sich alle an die Tische. Feuerwehrleute, Mitglieder der Alpinen Rettung, deren Angehörige und die Besucher, bunt gemischt. Man kannte sich zumeist, und es wurde angeregt diskutiert. Marco verfolgte mit mehreren Kindern und Jugendlichen, wie ein Mitglied der Rettungskolonne der Journalistin die kleinen Recco-Plättchen zeigte. Diese wurden mittlerweile verbreitet in Wintersportbekleidung eingenäht, waren aber auch separat erhältlich. Dank ihnen konnte man vom Helikopter oder vom Boden aus mit Hilfe eines Handgerätes im Falle einer Verschüttung lokalisiert werden.

Gegen zweiundzwanzig Uhr waren die meisten Gäste gegangen. Die Mitglieder der Alpinen Rettung und der Feuerwehr führten noch eine kurze Übungsbesprechung unter der Leitung des Obmanns der Rettungskolonne, Lorenz Grubenmann, durch. Dann verabschiedeten sich die Letzten, gutgelaunt und zumeist auch etwas müde, denn die öffentliche Übung hatte an einem Donnerstag stattgefunden, die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren also direkt von der Arbeit auf dem Platz erschienen. Dem Engagement und der Freude hatte dies jedoch keinen Abbruch getan. Obwohl oder gerade weil diese Einsätze auf ehrenamtlicher Basis erfolgten, konnte die Rettungskolonne auf überaus motivierte Mitglieder zählen. Mit fünfzig aktiven, jederzeit abrufbaren Rettungsleuten war die Rettungskolonne Alpstein die grösste innerhalb der Alpinen Rettung Ostschweiz, einer Sektion der Alpinen Rettung Schweiz, die wiederum als Stiftung vom Schweizer Alpenclub SAC und der Schweizerischen Rettungsflugwacht Rega getragen wurde. Ausser einem Entgelt für die Einsätze erhielten die Bergretterinnen und Bergretter keinerlei Entschädigung, sie waren für ihr persönliches Material, seien dies Ski, Schneeschuhe, Lawinenverschütteten-Suchgeräte, Seile und weiteres technisches Material, selbst verantwortlich; auch die gesamtschweizerisch einheitliche gelb-schwarze Funktionsbekleidung finanzierten sie mehrheitlich selbst. Nachwuchssorgen kannte die Alpine Rettung Alpstein nicht, zudem konnten alle Mitglieder auf das Verständnis ihrer Arbeitgeber zählen, obschon diese ihre Angestellten jederzeit für einen Einsatz freistellen mussten.

An einem Tisch unter einem Ölgemälde ihres ehemaligen Kollegen, Bergführers und Bergmalers Werner Steininger sassen Lorenz Grubenmann und Gianfranco Koller, sein Stellvertreter. Beide vor einem dampfenden Glas Schwarztee.

«Das ist doch gut gelaufen! Und dass es hier im Dezember genügend Schnee hat, ist auch ein Glück», meinte Grubenmann zufrieden, «wenn nur diese öde Bürokratie nicht wäre. Mir graut jetzt schon vor dem Abtippen des Jahresberichts und dem Ausfüllen der Online-Einsatzprotokolle. Für alles braucht man dieses blöde Gerät. Wie ich diese Computerarbeit hasse, diese langweilige, elende Tipperei und Mailerei.»

Er trank einen Schluck, kratzte sich in seinem sorgfältig gestutzten grauen Bart und lehnte sich zurück, sein Gegenüber dabei erwartungsvoll anblickend.

Koller, ein Mann mittleren Alters, der durch seine dunklen Haare und die gebräunte Haut selbst in der Helle der Gaststube etwas düster wirkte, lachte laut. «Warte nur, Lorenz, im Frühling gibt es ja den Versuch mit dem GPS und der computerunterstützten Erfassung, das wird dir so richtig gefallen.»

«Du hast gut lachen, du hast ja Spass daran!»

«Spass? Wie man’s nimmt. Es ist ein Arbeitsinstrument, bei vielem eine Erleichterung, mehr nicht. Nur weil ich mich auch beruflich damit beschäftige, muss mir das noch lange keinen Spass machen.»

«Ach, wenn das nur klappt mit der Stelle, auf die du dich beworben hast, damit du meine Nachfolge antreten kannst.»

«Es ist ohnehin nicht mehr zeitgemäss, die Posten von Obmann und Rettungschef in Personalunion zu übernehmen, gerade bei einer so grossen Station, wie wir es sind. Aber noch habe ich die Stelle nicht! Zudem gebe ich gerne Schule, ich habe den Unterricht in diesem halben Jahr schon richtig vermisst!»

«Aber dein Urlaub und die Arbeit am Nationalfondsprojekt sind doch genau das Richtige?»

«Natürlich, so weiterzuarbeiten, würde mir schon gefallen, aber ich wusste ja von Anfang an, dass das Gletscherforschungsund Archivprojekt zeitlich beschränkt ist. Nun, im Sommer geht’s wieder los, mit der Schule oder eben mit der neuen Stelle im Archiv der Privatschule am Lehn …»

Grubenmann seufzte erneut: «Jetzt bin ich sechsundsechzig, ich mache das seit über zwanzig Jahren. Höchste Zeit, in die zweite Reihe zurückzutreten.»

«Aber Lorenz, wir haben so viele Junge in der Kolonne …»

«Aber niemand will, und ich verstehe das auch. Viele haben Familie und möchten beruflich noch weiterkommen. Da kannst du dir ein solch intensives Engagement einfach nicht mehr leisten. Und dazu diese zeitaufwändigen administrativen Aufgaben und die ganze Verantwortung als Obmann, die Organisation der Übungen – das gibt wohl den Ausschlag.»

«Nichts zu ändern! Noch einen Tee?»

«Nein danke, mir reicht’s! Nimmst du mich mit?»

«Selbstverständlich, was sonst.»

«Danke, Gianfranco!»

Seit Grubenmanns Frau vor drei Jahren bei einem Autounfall auf dem Rückweg von einer Tour – Lorenz Grubenmann war Bergführer und sie hatte ihn während der Hochtourenwoche im Wallis begleitet – ums Leben gekommen war, hatte er keinen Wagen mehr gesteuert. Koller wusste, dass er sich vorwarf, nicht schnell genug reagiert zu haben, als der Unfallverursacher ihm in einer Kurve entgegenschleuderte. Er war in die Beifahrerseite gekracht.

Grubenmann besass ein Haus im Dorf mit einer Antikschreinerei, einen Einmannbetrieb; denn vom Führen alleine hätte er nie leben können. Koller, der etwas ausserhalb von Appenzell wohnte, konnte ihn auf dem Heimweg an der Weissbadstrasse absetzen.

Die beiden Männer zahlten, erhoben sich, verabschiedeten sich per Handschlag von Hans und Evelyne Manser, dem jungen, freundlichen Bergwirte-Paar, und traten hinaus in die kalte Dezembernacht.

Es war weit nach zweiundzwanzig Uhr, als Koller zu Hause anlangte. Schon von der Hauptstrasse her hatte er gesehen, dass in der Stube noch Licht brannte, seine Frau also noch auf war. Er rollte langsam die schmale Zufahrtsstrasse hinauf, die als Sackgasse vor einem grossen Bauernhaus endete. Vor dem Stall parkierte er hinter einem alten Fiat Panda, schloss den Volvo Kombi ab und ging im schummrigen Licht einiger Solarlampen, die der Stallwand entlang aus dem Schnee ragten, zum Eingang des alten Gebäudes, das sie von den Eltern seiner Frau geerbt und kurz nach der Hochzeit grösstenteils in Eigenarbeit renoviert hatten.

Ein traditionelles Kreuzfirsthaus, inmitten von Wiesen am Hang gelegen, beschützt von einer hohen Weide auf der Nordseite. Und umgeben von einem etwas verwilderten Garten mit Holunderbüschen, Johannisbeer- und Himbeersträuchern und einem durch eine Haselnuss- und Forsythienhecke abgegrenzten Sitzplatz. Vom Haus aus genoss man eine prächtige Sicht auf das Dorf Appenzell und die Alpsteinkette. Jetzt lag die Landschaft im Dunkel der Winternacht, und auch im Dorf unten brannten nur noch wenige Lichter. Am gegenüberliegenden Hang fuhr mit hellerleuchteten Fenstern eine Zugskomposition der Appenzeller Bahnen vorbei. Das Rattern der Räder drang herüber.

Wie üblich hatte der Wind etwas Schnee vor der Türe mit den metallenen Initialen angehäuft. Sorgsam klopfte Koller seine Bergschuhe an der steinernen Türschwelle ab, bevor er eintrat. Leise klassische Musik war zu hören. Er hängte seine Jacke an den Garderobenständer, tauschte die Bergschuhe gegen ein Paar Crocs, legte den Schlüsselbund auf eine hölzerne Anrichte und betrat dann durch eine schön gearbeitete Holztüre – die ehemalige Haustüre, die Lorenz Grubenmann restauriert und angepasst hatte – die grosse, lange Wohnküche.

«Hallo Gian!», rief seine Frau aus der Stube. «Herr Wild von der Privatschule am Lehn hat angerufen, du sollst zurückrufen, es geht um den Termin für ein Bewerbungsgespräch.»

«Salü Rena! Na, dann rufe ich ihn morgen früh zurück!»

Koller ging zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Mineralwasser, entnahm dann der Vitrine, die beim Fenster am anderen Ende der Küche stand, ein Glas, goss sich Wasser ein und gesellte sich zu seiner Frau, die mittlerweile die Musik ausgeschaltet hatte.

«Was liest du da, Rena?»

«Die neue Biografie von Giovanni Segantini. Ich habe sie heute im Bücherladen gekauft.»

«Ach, du warst noch im Dorf?»

«Ja, und frischer Käse liegt im Kühlschrank. Hast du noch Hunger?»

«Nein, ich habe in der Risi eine Gerstensuppe gegessen, und du weisst ja, wie gut und reichhaltig die ist. Nur Durst. Und müde.»

Er trank von dem kalten Mineralwasser – so direkt aus dem Kühlschrank war es ihm fast zu kalt – und betrachtete seine lesende Frau. Sie lag halb auf dem Sofa, das lange, blonde Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und trank ab und zu aus einem schweren Kristallglas, das vor ihr auf dem grossen Sofatisch stand. Von Zeit zu Zeit schenkte sie sich nach, offenbar automatisch, aus einer Flasche, die sie in Reichweite platziert hatte. Sie trank den Whisky pur, ohne Eis, er war von heller Farbe, Glen Grant, ihr Favorit, wie Koller vermutete.

Selber verspürte er kein Verlangen nach Alkohol. Er war nur müde und sehnte sich danach, sich auszustrecken. Nachdem er das Wasser ausgetrunken hatte, ging er mit dem leeren Glas zurück in die Küche und stellte es in die Spüle. Danach warf er noch einen kurzen Blick in die Stube, wo seine Frau, noch immer in ihr Buch vertieft, auf dem Sofa sass. Koller wünschte ihr eine gute Nacht, tappte ins Bad, duschte kurz und stieg dann hinauf in sein Schlafzimmer. Seit dem Einzug ins Haus schliefen sie in getrennten Zimmern. Denn sowohl er als auch seine Frau arbeiteten oft am Abend: er in seinem Büro mit Blick auf den Alpstein, wo er vorbereitete, korrigierte, an seinen beiden Bildschirmen sass; sie in ihrem Atelier im ausgebauten Stall, unter den grossen Dachfenstern, deren Bewilligung sie ein Höchstmass an Geduld und Ärger gekostet hatte.

Am folgenden Samstag, das Wetter war herrlich, ein klarer, kalter Wintertag, unternahmen Koller und Grubenmann eine Skitour auf die Alp Sigel, um Kollers Einladung zum Bewerbungsgespräch und Grubenmanns nun in den Bereich des Möglichen rückende Entlastung gebührend zu feiern. Dabei hatte Koller wiederum zu bedenken gegeben, dass er ja noch gar nicht sicher sei, ob er die Stelle auch erhalte.

«Also wenn dich Konrad Wild schon persönlich dazu auffordert, dich zu bewerben, dann stehen deine Chancen wohl bestens. Ich glaube, sie nehmen doch lieber einen Einheimischen statt einen Auswärtigen», meinte Grubenmann.

Koller, der neben seinem Freund das tiefverschneite Brüeltobel hinaufspurte, sagte nur lachend: «So, so, glaubst du?» Er erinnerte sich, dass der Posten als naturwissenschaftlicher Archivar bereits an einen bayerischen Archivar vergeben gewesen war, dessen Vertrag aber schon vor Stellenantritt aufgelöst wurde, weil der Mann an seinem vorherigen Arbeitsplatz unschätzbar wertvolle alte Schriften hatte mitlaufen lassen. Das war einige Tage lang Dorfgespräch gewesen.

Ihre Tourenski-Bindungen klackten in der Stille. Bald passierten sie das geschlossene, verlassen im Schatten liegende Berggasthaus Plattenbödeli, arbeiteten sich durch die sonnenbeschienene Waldlichtung des Chrutzugs hinauf, als Erste an diesem Tag. Nur Tierspuren kreuzten ab und zu die Lichtung. Oben, als sie das kleine Waldstück durchquert hatten, hielten sie sich rechts, den lawinengefährlichen Hang, durch den der Sommerweg führte, umgehend. Links von ihnen standen die ersten Hütten, beinahe schwarz gegen den wolkenlosen Himmel und den gleissenden Schnee. Die beiden Männer erreichten sie rasch, lehnten die Ski mit den Fellen gegen die Sonne und setzten sich auf die Holzbank an die erwärmte Hauswand.

Grubenmann förderte aus seinem Rucksack eine kleine, lindgrüne Isolierflasche zutage, aus der er einen Dôle Blanche in durchsichtige Plastikbecher goss, während Koller Brot, Käse und Trockenfleisch auf die Tische vor ihnen legte, die aus dem untersten Teil umgedrehter und gerade abgesägter Baumstämme bestanden.

Vor ihnen tat sich das Innere des Alpsteins in seiner ganzen winterlichen Pracht auf. Die nahen, unberührten Schneeflächen leuchteten, die Alphütten standen geduckt in der weissen Fläche, und über ihnen erhoben sich die näheren und ferneren Gipfel: Vor dem Zackenkranz der weiter entfernten Berge im Osten über dem Rheintal standen der Kamor, der Hohe Kasten mit dem Drehrestaurant und der markanten Antenne. Daran schlossen sich der jetzt verschneite, abweisend wirkende Grat zur Stauberen an, die Felsbastionen von Stauberenkanzel, Hüsern, Hochhus über blauschattigen Flanken. Über der Saxerlücke ragten steil die Zacken der Kreuzberge empor, gefolgt vom schöngeschwungenen Grat des Roslenfirsts mit dem weithin sichtbaren Steinmann, den einladend herüberglitzernden Hängen des Chreialpfirsts, den schroffen Wänden der Widderalpstöck, einem Zipfelchen der Felswände der Dreifaltigkeit, der markanten Gestalt der Marwees. Darüber war noch ein Teil des Altmanns zu sehen.

Schweigend betrachteten die beiden Männer das Panorama, genossen die Wärme an der Hüttenwand, den Wein und das Essen, voller Vorfreude auf den letzten Teil des Aufstiegs über weite Hänge und die Genuss versprechende Abfahrt über den Chüeboden. Jeder der Gipfel, die sie sahen, hatte für sie eine Bedeutung, jeder Weg barg unzählige Erinnerungen: Erinnerungen an gemeinsame Klettertouren, Wanderungen, Übungen, Einsätze; Erinnerungen an Momente grössten Glücks, aber auch an die Tragödien, die sich in diesen Bergen abgespielt hatten. Obwohl weitgereist, Grubenmann als Bergführer, Koller als Geograf, zog es beide immer wieder in den Alpstein, ohne dass sie dabei jemals das Gefühl des Überdrusses verspürt hätten.

Sie packten schnell zusammen, und bald zogen sie ihre Spur in Richtung des Grates, dorthin, wo der Berg mit senkrechten Felswänden ins Tal nach Wasserauen abfiel und wo sich eine noch weitere Aussicht nach Westen und Norden hin eröffnete: hinunter zum gefrorenen Seealpsee, um den sich Marwees, Rossmad, Säntis, Hängeten, Schäfler und Ebenalp gruppierten und weit hinaus, von den Hügeln des Appenzellerlandes bis hinüber zum Bodensee und noch weiter. Das ganze Land glänzte in seinem weissen Mantel, als würde es von innen heraus beleuchtet.

Jauchzend wedelten sie durch den stiebenden Schnee, ein einziges Schweben und Gleiten.

«Du solltest den dunklen Anzug anziehen. Und eine Krawatte», sagte Rena, als Koller sich an einem hellen Spätnachmittag für das Bewerbungsgespräch bereitmachte.

«Was?»

«Du weisst doch, dass die da oben eine Kleiderordnung haben.»

«Die da oben … wie das tönt! Vielleicht sollte ich es mir doch noch einmal überlegen mit diesem Angebot, wenn ich mir das nun dauernd anhören muss.»

«Zieh trotzdem den Anzug an.»

«Ja hast du denn gedacht, ich erscheine dort im Berghäs

«Bei dir weiss man nie!»

«Hör mal!»

Etwas genervt suchte Koller eine passende Krawatte zu dem gutgeschnittenen Anzug und dem weissen Hemd. Das Jackett spannte etwas über dem Bauch. Überhaupt trug er den Anzug nur bei seltenen Gelegenheiten, der Maturafeier, dem Weihnachtsgottesdienst, früher bei Sitzungen des Bezirksrates.

Nun würde er einen neuen Anzug brauchen, womöglich sogar mehrere. Nach und nach wurde ihm bewusst, welche Aufgaben auf ihn zukamen. Falls er die Stelle erhielt, musste er am Gymnasium kündigen, wo er seit fünfzehn Jahren Geografie unterrichtete. Er fühlte sich seinem langjährigen Arbeitgeber durchaus verpflichtet, wie es überhaupt seine Art war, sich auf eine beinahe altmodische Weise verpflichtet zu fühlen. Vielleicht konnte er das Ganze auch auf eine für alle zufriedenstellende Art lösen, das hing von seinem jungen Fachkollegen Urs ab, der sich schon seit Jahren mehr Stunden wünschte.

Als Koller, noch immer etwas abwesend und nachdenklich, die Küche betrat, sah ihn Rena amüsiert an.

«Freu dich doch, Gian. Wenn’s nichts wird, hast du immerhin deinen Wert auf dem Arbeitsmarkt überprüft. Gut siehst du aus. Steht dir, solltest du öfter tragen. Meinst du nicht, es wäre wieder einmal an der Zeit, zum Frisör zu gehen?»

Nun wurde Koller doch wütend. «Selbst wenn ich die Stelle kriege: Verbiegen lasse ich mich nicht!»

«Was haben denn deine Haare damit zu tun, dass du dich nicht verbiegen lässt?»

«Gerade du musst so was sagen!»

Rena Koller hatte sich, schon lange, bevor sie sich kennen lernten, ihr von Natur aus dunkles, gelocktes Haar glätten und blond färben lassen, aus Protest gegen all das typisch Appenzellische, ja beinahe südländisch Dunkle, wie sie sagte. Das hatte er nie ganz begriffen, haderte er doch keineswegs mit seiner Herkunft oder Zugehörigkeit, ganz im Gegensatz zu seiner Frau, die nicht müde wurde zu kritisieren, zu hinterfragen, zu leiden, zu Unzufriedenheit oder gar Melancholie zu neigen, was im Übrigen ebenfalls als landestypisch galt. Ihre Haare färbte sie regelmässig nach, und Koller hatte auf ihrem Scheitel nie auch nur die Spur eines dunklen Ansatzes gesehen.

Offenbar war sie just nicht in Stimmung für eine längere Diskussion, sondern wandte sich nur lachend ab. Unwillig trat Koller nochmals vor den Spiegel und fuhr sich pro forma mit dem Kamm durch seine widerspenstigen Haare, überprüfte den Sitz der Krawatte. Als er das Badezimmer verlassen wollte, stand seine Frau im Türrahmen und betrachtete ihn, ernst geworden.

«Gian, ich wünsche dir von Herzen, dass es klappt, das wäre doch das Richtige. Und du möchtest Lorenz doch auch gerne entlasten und noch mehr Verantwortung übernehmen.»

«Ich strebe sicher nicht nach mehr Verantwortung, aber einer muss es ja machen. Lorenz hat es lange genug und sehr gut gemacht.»

«Auch du wirst es sehr gut machen, Gian.»

Sie begleitete ihn vor die Türe, sah zu, wie er sorgfältig die dreckigen Stellen auf dem Weg zum betonierten Parkplatz umging und in den Wagen stieg. Er winkte kurz, bevor er wendete und davonfuhr. Sie verfolgte, wie der grosse, braune Wagen langsam die noch teilweise mit Schnee bedeckte Strasse hinabglitt, sah, wie ihr Mann den Blinker stellte, wartete, bis er unten in die Hauptstrasse eingebogen und aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Dann ging sie zurück ins Haus.

Obwohl Koller das Gebäude schon seit Jahrzehnten kannte, beeindruckten ihn einmal mehr dessen Lage und Dimension. Gebaut als Herrenhaus unter der ehemaligen, im 15. Jahrhundert zerstörten Burg Clanx, erhob sich der trotz seiner Grösse nicht wuchtig wirkende Bau hoch am Hang über Appenzell. Er hatte, im Gegensatz zur weiter oben liegenden Burg, die Befreiungskriege unbeschadet überstanden und diente, nach einer wechselvollen Vergangenheit und wechselnden Besitzern, nun als Privatschule; dies in friedlicher Koexistenz mit dem christlich geprägten, mittlerweile staatlichen Gymnasium, an dem erst vor wenigen Jahren der letzte Kapuziner-Lehrer abgezogen worden war; nun unterrichteten am Gymnasium weltliche Lehrkräfte.

Beide Schulen genossen einen ausgezeichneten Ruf. Gar manche Appenzeller Familie schickte ihre Kinder zur Ausbildung in die Privatschule am Lehn, sei es, weil sie mit der christlichen Ausrichtung des Gymnasiums nicht einverstanden war, was überaus selten und zumeist bei Zugezogenen der Fall war, oder sei es, in der Mehrzahl der Fälle, dass das internationale Renommee der Privatschule noch bessere Zukunftsperspektiven eröffnete. Beide Schulen boten die kantonale Matura an, ebenso neuerdings auch Programme zur Begabtenförderung.

Die Strasse, die sich aus dem Lehn-Quartier den Hang hinaufzog, war schwarz geräumt, ebenso die etwas schmalere und steilere Zufahrt zur Schule. Koller schaltete in den zweiten Gang und bog langsam auf den halbleeren, grosszügig dimensionierten Parkplatz ein. Sein recht wuchtiger Volvo wirkte beinahe klein gegen die übrigen Karossen, die an diesem späten Freitagnachmittag noch dastanden. Die Verwalterin fuhr einen auffälligen Porsche Cayenne – als Zugeständnis an die hügelige Lage ihres Arbeitsortes –, ihr Gatte bevorzugte den rustikaleren Charme eines grossen goldenen Land Cruisers.

Koller rief sich in Erinnerung, was er über die Schulleitung wusste: Beide, sowohl Konrad Wild, ein Einheimischer, dessen Eltern die Schule schon mit Erfolg geleitet hatten, als auch seine Frau, Ewa Lendenmann Wild, waren bekannte Grössen in der Appenzeller Gesellschaft. Er jovial, kunstbeflissen und weltgewandt, mit besten Beziehungen zu europäischen Grossunternehmen, weitgereister Sammler moderner Malerei – auch Rena hatte ihm eines ihrer Werke verkauft – und Doyen des örtlichen Kunstmuseums.

Sie, einer begüterten Aargauer Industriellenfamilie entstammend, von ihren Eltern früh in ein Internat am Genfersee abgeschoben, eine kühle Technokratin von unverbindlicher Freundlichkeit mit besonderem Flair für Finanzielles, pingelig und kontrollsüchtig. So schien es auch nichts weiter als logisch, dass sie den Verwaltungsteil der Schule leitete, während ihr Mann für das Pädagogische verantwortlich war. Die beiden erwachsenen Söhne studierten im Ausland, die Ehe bot zu keinerlei Gerüchten Anlass. Gegensätze zogen sich offenbar an.

Dass sich dies auch äusserlich bewahrheitete, konnte Koller feststellen, als die Sekretärin ihn zu Wilds Büro führte. Das Ehepaar empfing ihn unter der Türe. Konrad Wild reichte ihm lächelnd die Hand. Er trug einen hellgrauen Massanzug, in dem ein anderer Mann wohl dandyhaft gewirkt hätte, und der seine Leibesfülle nur ungenügend zu kaschieren vermochte. Das Gesicht des Schulleiters war rund, mit einer fleischigen Nase und vollen Lippen. Die ganze Gestalt verströmte etwas Behäbiges, Bäurisches, Authentisch-Sympathisches. Auch die Verwalterin trug Hellgrau, ein Business-Kostüm von raffinierter Schlichtheit, dazu Pumps mit schwindelerregend hohen Absätzen. Koller stellte sich vor, wie sie mit diesen Absätzen die Pedale des geländegängigen Porsche bediente, verkniff sich den Gedanken aber umgehend. Im Gegensatz zu ihrem Mann war sie schlank, fast hager, und von gepflegter Blässe. Falls sie geschminkt war, dann so diskret, dass es Koller nicht auffiel.

Beide lächelten ihm freundlich entgegen. Man schüttelte einander die Hand, und Wild erklärte unternehmungslustig: «Schauen wir uns doch erst einmal um! Waren Sie schon einmal hier, Herr Koller?»

«Ja, vor Jahren, aber nur kurz, ich habe ja regelmässig bei den Mathematik-Aufnahmeprüfungen ausgeholfen.»

«Ah ja! Kommen Sie, Herr Koller, schliesslich will man sehen, wo man in Zukunft einen grossen Teil seiner Zeit verbringt, nicht wahr?»

Über alte Holztreppen mit gedrechselten Handläufen ging es durch leere Gänge hinauf in das oberste Geschoss. Koller war bemüht, nicht die Orientierung zu verlieren. Das Gebäude war noch weitläufiger, als es die Aussenansicht vermuten liess. Es roch nach altem Gemäuer, teurem Holz, nach kühlen Räumen hinter dicken Wänden, ein klein wenig nach einem unauffälligen Putzmittel und einer Ahnung von Essensduft, der aus der Mensa im Erdgeschoss stammen musste. Endlich schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben, die letzte grosse Türe am Ende des Ganges, neben der auf einer kleinen Messingtafel in schwarzen geschwungenen Buchstaben «Bibliothek und Archiv» stand. Wild schloss die Türe auf, er wartete einen Augenblick, bevor er sie aufstiess, eine massive Holztüre mit einer aufwändigen Einlegearbeit.

Der Kontrast hätte nicht grösser sein können: hier der Gang mit seinem Steinboden und den reichverzierten Holzdecken, den alten Gemälden an den Wänden, den schweren Türen, und nun dies: Ein hoher, heller, moderner Raum, in den der Abglanz der tiefstehenden Sonne durch meterhohe Glasflächen fiel, Fenster, die bis zum Boden reichten. Der Eingangsbereich spärlich möbliert, nur einige grazil wirkende Stühle und Tischchen neben dem breiten Pult der Bibliothekarin, auf dem ein ebenfalls graziler, grosser Flachbildschirm stand. Weiter hinten Regale in lockeren Reihen, moderne schwarze Kunstledersessel, die sich bis weit in den Saal zogen, der die gesamte Gebäudebreite einnahm. Am Saalende befand sich ein dunkler Kubus, dessen Türe einladend offen stand.

Koller trat ans Fenster, den Blick über den Talgrund von Appenzell und auf das Bergpanorama gerichtet, das sich vor ihm ausbreitete. Er sah all die bekannten Gipfel, die entfernt und doch so unendlich nah und vertraut die Fensterflächen füllten. Er betrachtete die sonnenbeschienenen Hänge der Fähneren und der Alp Soll, die leuchtenden Felsen der Alp Sigel …

«Das ist nicht fair», murmelte er.

Wild lachte schallend. «Ich weiss, Herr Koller, ich weiss, deshalb habe ich es Ihnen vorher auch gezeigt.»

Die Verwalterin stand hinter Koller, während die Männer aus dem Fenster blickten und andächtig schwiegen. Es bedurfte keiner Worte; um Koller war es geschehen. Hatte er am Morgen noch Zweifel gehabt, nun waren sie ausgeräumt. Er wandte sich um und sah die Verwalterin mit einem strahlenden Lächeln an, das ihn um Jahre jünger wirken liess.

«Wunderschön, dieser Raum. Und dieser Ausblick!»

Die Verwalterin lächelte zurück, wobei das Lächeln ihre Augen nicht erreichte. «Ja, der Raum ist architektonisch wirklich gelungen. Bedenken Sie aber bei aller Begeisterung, dass der grösste Teil der Arbeit im Archiv anfällt.» Dabei wies sie auf den schwarzen Würfel am Ende des Raums.

Koller nickte und meinte leichthin: «Umso besser, dann lenkt einen das Panorama nicht ab.»

Sie besichtigten das Archiv, die technischen Einrichtungen: eine ältere Mikrofilmanlage, einen modernen, sehr grossen Scanner, den leistungsfähigen Computer. Wild wies kurz auf die Wände, in denen sich in hohen Regalen Lederrücken an Lederrücken der Nachlass der Naturforscher vom Lehn türmte: des Vaters, Hans Balthasar von Lehn, und des Sohnes Balthasar, genannt Balz von Lehn.

Das Büro des Schulleiters war eine gemütliche Stube mit Buchgestellen an den Wänden. Bücher lagen auf Stühlen, in einer Ecke stand, verloren und seltsam deplatziert wirkend, ein Laptop.

«Bitte nehmen Sie Platz!»

Wild dirigierte Koller zu einem grossen, runden Holztisch, seine Frau rückte etwas näher zu ihrem Mann. Es folgte eine eher freundschaftliche Unterhaltung denn ein eigentliches Vorstellungsgespräch. Kollers Ausbildung und Kenntnisse schienen zu passen, auch wenn er darauf hinwies, dass er sich in Kanada und in der Schweiz vor allem mit Quellen aus der Neuzeit beschäftigt habe, dass sein Latein wohl etwas eingerostet und er zudem kein ausgebildeter Archivar sei. Da er sich aber ohnehin auf die Digitalisierung und naturwissenschaftliche Aufarbeitung der Werke konzentrieren sollte und sich im historischen Bereich auf die Unterstützung der Bibliothekarin und Geschichtslehrerin Marianne Dörig verlassen konnte, war dies kein Hindernis. Er erklärte sich auch gerne bereit, einen Kurs zu besuchen, um Frau Dörig in der Bibliothek vertreten zu können.

«Mir ist besonders wichtig, Herr Koller, dass diese Arbeit von einer naturwissenschaftlich geschulten, neutralen und integren Persönlichkeit erledigt wird. Darum hatten wir uns ja zuerst auch für einen auswärtigen Kandidaten entschieden», erklärte Ewa Lendenmann Wild.

«Nun, ich habe zwar meine Kindheit im Bündnerland verbracht, gelte hier aber doch als Einheimischer.»

«Herr Koller, deshalb habe ich sicher keine Bedenken», beruhigte der Schulleiter. «Sie sind mir vorbehaltlos empfohlen worden. Sie geniessen grossen Respekt, nicht zuletzt auch wegen Ihres ehrenamtlichen Engagements. Sie waren im Bezirksrat, im Vorstand des Museumsvereins, Sie sind Mitglied der Rettungskolonne …»

«Ja, dies liegt mir doch etwas auf dem Magen …»

«Hören Sie, bei der Funktion, die Sie hier bekleiden, ist eine ständige Präsenz nicht Pflicht. Ich weiss, wie das ist. Und ich weiss auch, dass Lorenz Grubenmann gerne sähe, wenn Sie seine Nachfolge als Obmann und Rettungschef übernähmen.»

Koller wollte etwas einwenden.

Doch Wild hinderte ihn mit einer Handbewegung. «Ich hätte nichts dagegen.»

Für einen Augenblick herrschte Schweigen, dann ergänzte Wild: «Da wäre noch eine Sache. Selbstverständlich können Sie nein sagen, und es wäre auch nur vorübergehend: Unsere Geografielehrerin, Frau Dürst, ist schwanger und möchte gerne eine etwas längere Babypause einlegen. Es ist ihr zweites Kind, und wir haben das schon beim ersten erfolgreich so gehandhabt. Ihr Mann arbeitet ja nur halbtags, und es ist auch nur ein kleines Pensum …»

Ewa Lendenmann Wild warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu, wohl wegen der privaten Informationen, wie Koller vermutete.

«Ein halbes Jahr mit der Matura-Klasse, ein Jahr mit einer ersten Klasse. Letztes Mal haben wir eine auswärtige Stellvertretung eingestellt. Eine interne Lösung wäre natürlich ideal. Hätten Sie eventuell Interesse? Sie sind ja Geograf. Und am Gymi unterrichten Sie ja auch Geografie.»

«Warum nicht? Wie gross wäre denn dieses Pensum?»

«Im Moment nur vier Lektionen. Es ist günstig, zwei Klassen haben abgeschlossen, und Frau Dürst hat dieses Semester noch ein paar Lektionen vorübergehend ihrem Kollegen abgegeben.»

«Ich werde es mir überlegen. Aber wenn es in Ihrem Sinne ist, mache ich das natürlich gerne.»

Wild lächelte zufrieden.

«Augenblick», warf seine Frau ein. «Für diese Lektionen gilt aber die Anwesenheitspflicht, insbesondere, wenn Sie Prüfungen durchführen; die Maturaprüfungen würden Sie ja auch abnehmen. Da können Sie nicht alles stehen und liegen lassen und davonrennen. Das sollten Sie bedenken.»

So konziliant der Gesichtsausdruck der Verwalterin war, so hart wirkten ihre Worte.

«Frau Lendenmann, dessen bin ich mir bewusst, ich kenne diese Situation ja vom Kollegi, ich kann Ihnen also zusichern …»

«Versprechen Sie lieber nichts, was Sie dann nicht halten können.» Nun war auch ihr Gesichtsausdruck hart geworden, keine Spur mehr von der anfänglichen Freundlichkeit.

Der Schulleiter erhob sich abrupt, reichte Koller lächelnd die Hand. «Also, wenn Sie wollen … Sie hören von uns!»

Koller gab beiden die Hand. Wilds Händedruck war fest, seine Handinnenflächen waren warm und trocken. Bei der Verwalterin beschlich Koller jedoch das Gefühl, er berühre den legendären toten Hamster, wobei er sich noch eher eine überfahrene Kröte vorstellte. Bei dieser Dame konnte er wohl nicht auf Entgegenkommen hoffen. Eine Hypothek!

«Und, wie ist es gelaufen?», fragte Rena Koller ihren Mann, kaum war dieser zur Türe hinein.

«Tja, das ist immer etwas schwierig einzuschätzen, und sie haben die Stelle auch noch öffentlich ausgeschrieben. Sicher gibt es weitere Bewerber.»

«Quatsch, wenn dich Wild schon persönlich anfragt! Die wollen dich und niemand anderes.»

«Ja, das schien mir auch so. Zudem könnte ich im ersten Jahr sogar noch vier Lektionen von Milena Dürst übernehmen. Sie macht wieder eine Babypause.»

«Ach ja, ihr Zweites.»

«Und ich könnte Lorenz entlasten, da wird er wohl einen Freudensprung machen.»

«Siehst du, du denkst auch, du hast die Stelle.»

«Ja, ich denke schon.»

«Und sonst?»

«Was sonst?»

«Erzähl mal, was hat er so gefragt?»

«Nun, Konrad Wild und seine Frau waren da. Sie haben mir zuerst die Bibliothek und das Archiv gezeigt, die IT-Einrichtungen und die sonstige Technik, erwartungsgemäss natürlich vom Besten, ansonsten war es eher ein zwangloses Gespräch, ausser …»

«Ausser?»

«Ewa Lendenmann Wild.» Koller benutzte den Doppelnamen mit süffisantem Unterton. «Sie war nicht so begeistert wie ihr Mann.»

«Inwiefern?»

«Sie scheint mir generell etwas kühler veranlagt zu sein und will wohl alles unter ihrer Kontrolle haben, darum hat sie wohl auch Bedenken wegen des Geografieunterrichts. Jedenfalls hat sie betont, dass irgendwelche Einsätze während des Unterrichts, vor allem aber während Prüfungen, nicht in Frage kommen. Das ist auch kein Problem. Lorenz kann einspringen. Und wir sind auch genügend Leute. Ich habe ihr zugesichert, dass da kein Konflikt entsteht. Das wollte sie aber nicht annehmen. Sie hat gemeint, ich solle nichts versprechen, was ich nicht halten könne.»

«Hat sie das so gesagt?»

«Ja, ziemlich wörtlich. Aber das macht nichts, das wird wohl kein Problem sein …»

«Diese Schnepfe!»

«Aber Rena, nur deshalb? Als Verwalterin muss sie doch auf so etwas achten. Und du kennst sie ja gar nicht.»

«Und ob ich sie kenne!»

«Wie bitte? Und warum hast du mir das nicht vorher gesagt?»

«Ich wollte, dass du unvoreingenommen an dieses Gespräch gehst.»

«Aber vielleicht wäre es sinnvoll gewesen zu wissen …»

«Kaum!»

«Warum bist du dir da so sicher? Eigentlich war sie ganz freundlich, und ich sage nochmals: Schliesslich ist es ihre Aufgabe als Verwalterin, für den ordentlichen Ablauf des Schulalltags zu sorgen.»

«Mir war von Anfang an klar, dass ihr das Heu nicht auf derselben Bühne habt. Ich kenne die Ewa – ja, stell dir vor, ich bin sogar per Du mit ihr – schon seit Jahren. Eine Weile lang hat sie mit ihrem Mann an jeder Hundsverlochete teilgenommen, bis ihr das zu dumm wurde. Sie hat wohl ein Interesse am gesellschaftlichen Leben, auch an Mode, aber Kultur zum Beispiel bedeutet ihr gar nichts, und die Menschheit im Allgemeinen wohl auch nicht. An der letzten Lesung im Bücherladen hat sie den Autor angesehen, als wolle sie ihn in Eis verwandeln, und Bücher scheinen eine allergische Reaktion bei ihr auszulösen – es sei denn, es handle sich um Rechnungsbücher oder ökonomische Fachliteratur. Hingegen treibt sie hingebungsvoll Fitness, habe ich gehört. Und das Finanzielle hat sie hervorragend im Griff. Ihren Mann offenbar nicht immer. Der hat immerhin noch richtig menschliche Züge.»

«Ja, meine Sympathien waren auch schnell verteilt.»

«Kennst du übrigens ihren Spitznamen? Nein? Lady Zyankali, schon seit Jahren. Ich weiss es von Judith, ihre Tochter war ja am Lehn.»

«Nicht unpassend.»

«Ich fände Medusa passender. Ihr Blick könne, heisst es, alle versteinern oder vereisen, trotz ihres ständig zur Schau getragenen Lächelns.»

«Dann lass sie uns also Medusa nennen!»

«Aber Gian!», tadelte ihn Rena mit gespieltem Ernst. «Noch bist du nicht einmal eingestellt und teilst die Menschen schon ein. Aber natürlich hast du recht. Stell dir vor, was ich mit – eben – der Medusa beim letzten Treffen der Frauen-Kulturgruppe erlebt habe, als wir die aktuelle Ausstellung im Liner-Museum besucht haben: die grosse Zeller-Retrospektive. Porträts, vor allem aber Appenzeller Landschaften. Wunderbare Bilder! Gleichzeitig mit uns, der Frauen-Kulturgruppe, besuchte auch ein kleines Grüppchen, eine Wohngruppe aus der ‹Steig›, die Ausstellung. Die Jugendlichen gerieten in helle Begeisterung ob der Bilder, der eine oder andere hat wohl einen Hof erkannt oder glaubte, einen Verwandten oder eine Kuh eines Onkels zu entdecken, einige versanken richtig in der Betrachtung der Bilder. Kein Wunder, sogar aus jeder Tier-Darstellung leuchtet die Persönlichkeit der Kuh oder des Bläss. Also diese Meisterschaft, wie Zeller die wesentlichen Merkmale eingefangen hat, die Individualität. Einfach grossartig!

Aber eben, die Ewa: Einer der jungen Männer wollte einem der Betreuer etwas zeigen, vielleicht den Hof, auf dem er aufgewachsen ist, was weiss ich. Er war jedenfalls völlig aus dem Häuschen, er rotierte geradezu, gab glucksende Laute von sich. In seiner Begeisterung hat er offenbar die Ewa leicht touchiert, ohne dies zu bemerken. Und diese ist dann, blass und schmallippig vor Empörung, sofort zum Konservator geeilt und hat die umgehende und auch zukünftige Entfernung dieser ‹Behinderten› aus der Ausstellung verlangt. Solche Leute schadeten doch dem Ruf und dem Ansehen des Appenzellerlandes. Sie jedenfalls habe sich in ihrer innigen Betrachtung der Kunstwerke in höchstem Masse gestört gefühlt. Der Konservator – das kannst du mir glauben, ich habe ihn bewundert – hat die Situation mit ein paar geschickt gewählten Worten entschärft und die Ewa ganz schön in die Schranken gewiesen. Sie hat das aber offenbar nicht mal bemerkt vor lauter Empörung.»

Koller seufzte.

Rena, ihre eigene damalige Empörung wohl noch ganz präsent, ergänzte: «Das allein wäre schon schlimm genug gewesen. Was mich aber am meisten erzürnt hat und ehrlich gesagt immer noch erzürnt, ist die Tatsache, dass ihr Kunst und Kultur überhaupt nichts bedeuten. Zellers Bilder: nett. Die Porträts, die Kühe, die Häämetli: auch nett. Liner senior: Geht ja noch, man sieht zumindest, was dargestellt wird. Beim Sohn schon weniger. Tagwerkers und Signers Ballone, die die Säntis-Silhouette in der Arboner Bucht präsentierten: Blödsinn! Steiningers Fählensee-Bilder: Immerhin, man erkennt den Fählensee. Seine abstrakteren Werke: Blödsinn! Sein grandioses Fählenalp-Bild auf dem Hohen Kasten – du erinnerst dich daran – mit dem Blick Richtung Häderen, mit dem Schnee und den rippenartig aperen Geländebögen: Was soll das? Blödsinn! Roswitha Doerig: Was soll denn das darstellen, gar nichts?

Ich frage mich einfach, warum sie in einer Kulturgruppe dabei ist, wenn sie eine solch enge Sicht von Kunst vertritt. Alles, was sie nicht versteht, ist a priori Blödsinn. Und dann erst diese Heuchelei: Innige Betrachtung! Dass ich nicht lache! Dazu ist sie gar nicht fähig. Die Bilder interessieren sie gar nicht, höchstens deren Wert auf dem Kunstmarkt. Und dann ist sie auch noch der Überzeugung, für die Betrachtung von Kunst seien nicht alle Menschen geeignet. Für sie ist das nach wie vor eine elitäre Sache. Das hat mich am meisten geärgert: Diese arrogante Heuchelei! Jeder der Jugendlichen von der Stääg hatte tausendmal mehr Empfindungen, Gefühle und auch Erkenntnisse beim Betrachten dieser Bilder. Und vor allem tausendmal mehr Recht, die Ausstellung zu besuchen, als diese dumme Schnepfe!»

Koller lachte herzlich. «Ei, Rena, da gehst du aber streng ins Gericht mit der Medusa!»

Seiner Frau war es offenbar nicht ums Lachen. «Ganz ehrlich, Gianfranco, ich finde das zum Kotzen. Ich hätte sie am liebsten geohrfeigt.»

«Meinst du nicht, alle haben so gedacht wie du und der Konservator?»

«Doch, natürlich! Sind ja auch alles halbwegs vernünftige und anständige Leute.»

«Siehst du, das ist doch Strafe genug.»

«Wie meinst du das? Sie hat doch nicht einmal bemerkt, dass sie sich völlig daneben benimmt. Und wenn, dann wäre es ihr sicher wurst!»

«Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich glaube vielmehr, dass sie Probleme damit hat, wenn etwas nicht nach ihrer Vorstellung und ihrem Muster abläuft. Soviel ich weiss – Dorftratsch –, ist sie in ihrer Kindheit und Jugend oft herumgeschoben worden, hat eine lange Zeit im Internat verbracht. Das findest du häufig, dass solche Leute einen gewissen Knacks haben, Verlustangst, Kontrollwahn und was es sonst noch alles gibt. Womöglich ist sie auch einfach unsicher und benimmt sich darum so, sie kann sich vielleicht selbst nicht leiden und wirkt darum so arrogant …»

«So ein Unsinn! Sie hat ganz einfach Freude daran, andere Menschen in den Senkel zu stellen und zu quälen. Stell dir die Szene im Museum doch vor! Oder denk an das, was sie dir wegen deiner Zusicherung gesagt hat, es entstünde kein Konflikt zwischen deinen Unterrichtsverpflichtungen und allfälligen Einsätzen. Das ist doch reine Boshaftigkeit.»

«Oder Unvermögen, menschliches? Rena, niemand ist nur gut oder nur schlecht. Das ist eine zu einfache Weltsicht.»

Sie sah ihn so böse an, als sollte alleine ihr Gesichtsausdruck seine Aussage Lügen strafen.

«Deine philanthropischen Neigungen in Ehren, Gian, aber bei ihr täuschst du dich gewaltig. Wenn die könnte, wie sie wollte, würde sie uns alle krepieren lassen und sich daran noch aufgeilen.»

«Das ist wirklich nicht mein Thema», meinte Koller peinlich berührt und begann, den Tisch zu decken.