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Ludger Schenke

Jesus vor dem Dogma

Zur inneren Überzeugungskraft der Worte Jesu

Verlag W. Kohlhammer

 

Umschlagabbildung: Piero della Francesca, Die Taufe Christi, um 1450

 

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher

Satz: wiskom e.K., Friedrichshafen

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-024291-3

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-024292-0

epub:     ISBN 978-3-17-024293-7

mobi:     ISBN 978-3-17-024294-4

Inhaltsverzeichnis

 

  1. Die besprochene Jesusüberlieferung
  2. Vorwort
  3. 1.    Alternative: Jesus ohne Dogma
  4. 2.    Ausgangspunkt: Jesu Urteil über die Menschenwelt
  5.     Jesu wunderbares Kraftgefühl
  6.     Im Banne Johannes des Täufers
  7.     Die Bußpredigt des Täufers
  8.     Die Bußgesinnung Jesu
  9.     Jesus als Täuferjünger
  10.     Über den Täufer
  11.     Kontinuität auch im Gerichtsgedanken?
  12.     Schlauheit in der Krise
  13.     Jesu Urteil über Israel
  14.     Jesus ohne den Täufer
  15.     Jesu neue Perspektive
  16.     Zum Profil Jesu
  17. 3.    Der Grund für Jesu Urteil: Gottes Heiligkeit
  18.     Vom Zorn und begehrlichen Blick
  19.     Analogien
  20.     Die Intention Jesu
  21.     Das Besondere bei Jesus
  22.     Folgerungen
  23.     Über Wahrhaftigkeit
  24.     Von der Würde der Sprache
  25.     Gegen das Schwören
  26.     Zum Profil Jesu
  27. 4.    Neuanfang: Gottes Vergebungsbereitschaft
  28.     Vom Pharisäer und Zöllner
  29.     Das Verhalten Jesu
  30.     Richtet nicht!
  31.     Nochmals: Johannes und Jesus
  32.     Brauchen wir die Gerichtsvorstellung?
  33.     Zum Profil Jesu
  34. 5.    Konsequenzen: Selbst vergeben
  35.     Ein Beispiel: Der erbarmungslose Sklave
  36. 6.    Neue Chance: Gottes überraschende Güte
  37. 7.    Das große Fest: Die Heimkehr des Verlorenen
  38.     Jesus als Autor der Erzählung
  39.     Zum Profil Jesu
  40. 8.    Gottes Verhalten: Wiederfinden macht Freude
  41.     Zum Profil Jesu
  42. 9.    Krisenbewältigung: Entschlossenheit und Torheit
  43.     Beispielhafte Warnung
  44.     Analogien
  45.     Die Erzählung vom törichten Reichen
  46.     Das Gleichnis „Vom großen Festmahl‘
  47.     Das vermutliche Jesusgleichnis
  48. 10.    Die Zukunft: Gottes Reich
  49.        Was wussten Jesu Hörer über Gottes „Reich“?
  50.        Die Zukünftigkeit des „Reiches Gottes“
  51.        Die Seligpreisungen
  52.        Gott gibt die basileia
  53.        Von der selbst wachsenden Saat
  54.        Die Annahme der Botschaft von der basileia
  55.        Wie kommt die basileia?
  56.        Jesu Zuversicht in Gottes Zukunft
  57.        Nähe und Gegenwärtigkeit der basileia
  58.        Der Bezug der basileia zur Gegenwart
  59.        Die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig
  60.        Entschlossenheit für das „Reich Gottes“
  61.        Vom Schatz und von der Perle
  62.        Zum Profil Jesu
  63. 11.    Das Tun entscheidet: Grundsätzliches zur Ethik Jesu
  64.        Jesus und die Tora
  65.        Zur Ehescheidung
  66.        Vom Sabbatgebot
  67. 12.    Die große Umkehrung: Arm und Reich
  68.        Die Wahrheit des Gleichnisses
  69.        Warnungen vor dem Reichtum
  70.        Vom richtigen Gebrauch des Reichtums
  71.        Die Sklaverei des Mammons
  72.        Analogien
  73.        Der „Nutzen“ des Reichtums
  74. 13.    Gebot: Liebe deinen Nächsten
  75.        Das Vorbild Gottes
  76.        „wie dich selbst“
  77.        Die goldene Regel
  78.        Beispielhafte Fremdenliebe
  79.        Das Jesusgleichnis
  80.        Paradox: Der Feind als Nächster
  81.        Der Inhalt
  82.        Analogien
  83.        Die Begründung
  84. 14.    Aggressionsspirale: Überwindung von Bosheit und Gegnerschaft
  85.        Das geforderte Verhalten
  86.        Warum soll man so handeln?
  87.        Analogien
  88.        Zum Profil Jesu
  89. 15.    Konsequenz  en: Vertrauen in Gott als Vater
  90.        Vom vertrauensvollen Bitten
  91.        Analogien
  92.        Worum es geht
  93.        Optimismus: Güte und Recht setzen sich durch
  94.        Beten als Haltung
  95.        Sorglos: Leben aus Gottes Fürsorge
  96.        Analogien
  97.        Ihr seid mehr wert als Vögel und Lilien
  98.        Analogien
  99.        Die Nutzlosigkeit des Sorgens
  100.        Gegen die Angst
  101.        Märtyrerparänese
  102.        Analogien
  103.        Zum Profil Jesu
  104. Nachwort
  105. Literaturverzeichnis
  106. Register

Die besprochene Jesusüberlieferung

nach dem Matthäusevangelium

Mt 3,7-12par 23

Mt 5,21f 45

Mt 5,32 152

Mt 5,33-37 54

Mt 5,36 57

Mt 5,38-42 191

Mt 5,39b 194

Mt 5,40 194

Mt 5,41 193

Mt 5,42 193

Mt 5,44-48 183

Mt 6,7f 213

Mt 6,14f 72

Mt 6,19ff 163

Mt 6,24 165

Mt 6,25-34par 214

Mt 6,26.28b-32b 216

Mt 6,27 219

Mt 6,34 219

Mt 7,1f 64

Mt 7,7-11 203

Mt 8,11f 34

Mt 10,28 222

Mt 10,28-31 220

Mt 11,7-11par 29

Mt 11,12f 29, 140

Mt 12,43-45 19

Mt 13,24-30 127

Mt 13,45f 140

Mt 13,47f 127

Mt 18,3 121

Mt 18,12-14 99

Mt 18,23-33 73

Mt 20,1-15 79

Mt 21,28-31 145

Mt 22,1-14 107

Mt 23,13 121

Mt 27f 45

nach dem Markusevangelium

Mk 2,18a 37

Mk 2,27 153

Mk 3,24ff 18

Mk 4,3-8 129

Mk 4,26-29 124

Mk 4,30-32 137

Mk 8,36f 168

Mk 10,5-9 151

Mk 10,15 123

Mk 10,23.25 139, 162

Mk 10,25 121

Mk 12,30.31 171

Mk 14,25 134

nach dem Lukasevangelium

Lk 3,1-9 23

Lk 6,20f 122

Lk 6,24f 162

Lk 6,27-36 183

Lk 6,29-34 191

Lk 6,31 173

Lk 6,36 171

Lk 10,18 17

Lk 10,23f 135

Lk 10,30-35 174

Lk 11,5-8 208

Lk 11,20 18

Lk 12,16-20 103

Lk 13,2-5 30

Lk 13,6-9 39

Lk 13,20f 137

Lk 14,16-24 107, 108

Lk 15,4-10 99

Lk 15,11-32 86

Lk 16,1-8a 31

Lk 16,16 140

Lk 16,19-31 155

Lk 17,20f 127

Lk 17,34f 127

Lk 18,2-8 208

Lk 18,9-14 60

Lk 21,18 220

Vorwort

 

Es gab eine Zeit, in der Jesus noch nicht als Sohn Gottes galt, der aus dem Himmel herabgekommen und Mensch geworden ist. Das war die Zeit seines irdischen Wirkens und Verkündigens. Gleichwohl haben viele Menschen seiner Botschaft Glauben geschenkt. Sie waren sicher, dass Jesu Worte eine Botschaft Gottes an sie waren und sein Verhalten Gottes eigenes Verhalten abbildete. Darum haben sie den Ruf Jesu zur Umkehr und Erneuerung Israels aufgegriffen. Nicht Jesu Person qualifizierte seine Botschaft, sondern diese, ihre innere Wahrheit und Überzeugungskraft, qualifizierte Jesus. Wurde sie als von Gott kommendes Wort verstanden, dann konnte auch ihr Verkünder mit Gott verbunden werden als sein beauftragter und gesandter Bote, der zudem in seinem Verhalten die Botschaft vorlebte. Wurde ihr die höchste Autorität zuerkannt, dann war damit zugleich die Frage nach der Autorität Jesu gestellt und musste insbesondere im Blick auf sein Verwerfungsschicksal beantwortet werden. Diese christologische Reflexion über Jesus ist also eine Funktion der Anerkennung seiner Botschaft und somit die Antwort auf die Verkündigung des irdischen Jesu, nicht jedoch ihr Inhalt.

Deshalb soll im Folgenden nach der Jesusverkündigung vor dem Dogma gefragt werden, nach der inneren Überzeugungkraft der Erzählungen und Worte Jesu und nach seinem Verhalten, mit dem er seine Botschaft auch vorlebte – noch vor jeder Christologie. Jesu Botschaft spricht für sich selbst. Sie überzeugt aus sich. Ihre Wahrheit ist nicht abhängig von einer zuvor festgestellten Qualifikation ihres Sprechers. Wo immer Jesu Worte und Erzählungen nachgesprochen werden, kann daher ihre Wahrheit aus sich heraus offenbar werden.

Des Weiteren soll hier aufgewiesen werden, dass die Worte und Erzählungen Jesu nicht isoliert werden dürfen, dass sie nicht völlig unvergleichlich sind, vielmehr eingebunden in die prophetische Mahnung, weisheitliche Weisung und apokalyptische Hoffnung Israels. Ziel ist es schließlich darzulegen, dass die gläubige Übernahme der nachösterlichen Christologie nicht Voraussetzung ist, um sich dem Anspruch der Worte und Erzählungen auszusetzen und sie als Wahrheit im Glauben an Gottes Handeln anzuerkennen und anzunehmen. Sie ist die Folge. Wer die Botschaft des irdischen Jesus bejaht hat, wird die christologischen und soteriologischen Folgerungen für Jesu Würde und Wirken verstehen und nachvollziehen können. Sie wollen ja die unbedingte Gültigkeit und Wahrheit der Lebensbotschaft Jesu bestätigen und daran festhalten: Der irdische Jesus hat in seiner Botschaft den Zugang zu Gottes Vergebungshandeln eröffnet. Diese Botschaft durfte nicht verloren gehen. Das geschichtliche Wort Jesu sollte ein ewiges Wort werden.

Dieses Buch hat eine mehr als zwanzigjährige Vorgeschichte. In immer neuen Anläufen habe ich mich während meiner Lehrtätigkeit der Verkündigung Jesu zu nähern versucht, bis hin zu jener Pointierung, die meine Darstellung nun bestimmt. Ich hatte nicht immer vor, meine Überlegungen zu veröffentlichen. Die alte Warnung Kohelets hielt mich zunächst davon ab. Aber gerade die vielen Bücher über Jesus der letzten Jahre haben mich nun doch angetrieben, meine Überlegungen gedruckt erscheinen zu lassen. Denn viele dieser Jesusbücher versuchen, die christologische Dogmatik in die Verkündigung des irdischen Jesus einzutragen. Mein Anliegen ist ein anderes: Ich möchte die Botschaft des irdischen Jesus so zur Geltung bringen, dass sich ihre Wahrheit und Glaubwürdigkeit, die sie aus sich selbst hat, ohne Rückgriff auf die dogmatische Christologie erweist. Auch ein nicht glaubender Leser soll zunächst von dieser Botschaft berührt werden und dann Stellung zu ihrem Verkünder beziehen.

Danken möchte ich dem Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart und hier besonders seinem theologischen Lektor Jürgen Schneider für eine jahrelange vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ohne zu zögern hat er auch diesmal mein Manuskript angenommen und die Drucklegung mit seinem Rat begleitet.

Klein-Winternheim, im September 2013

1.         Alternative: Jesus ohne Dogma

 

Der kirchliche Glaube schwindet mehr und mehr und mit ihm die Akzeptanz seines Christusbildes. Dennoch übt Jesus von Nazareth nach wie vor eine mächtige Faszination aus, auch auf Menschen, die sich von den Kirchen entfernt haben. Sein Leben und seine Botschaft stoßen auf Sympathie, zumindest Interesse. Historisch gesicherte Aussagen über ihn sind gefragt. Doch wir wissen über Jesus und seine Botschaft im Wesentlichen nur durch Texte, die vom christlichen Glauben geprägt wurden.

Wenn nun unser Wissen über Jesus historisches Wissen sein soll, darf es aber nicht vom Glauben abhängig sein. Es muss sich dem kritischen Urteil verdanken und kann die Annahme eines Christusdogmas nicht voraussetzen. Weil viele Menschen nicht mehr vom Glauben herkommen, ist heute deshalb eine historische Vermittlung der Lebensbotschaft Jesu notwendig. Einen solchen Zugang kann die historisch-kritische Exegese leisten. Sie ist der wissenschaftliche Versuch, von Jesus im Modus der Historie zu erzählen, und eröffnet so die Möglichkeit – wenn auch nur ausschnitthaft und in analoger Weise –, in die Position der Hörer des irdischen Jesus zu wechseln und seine Botschaft zu hören, ihren Wahrheitsanspruch zu prüfen und durch Annahme oder Ablehnung Stellung zu ihr zu beziehen. Wahrheitskriterium ist dabei die Botschaft selbst.

Auf eine missionarische Pastoral bezogen kann das heißen: Not tut heute eine Vermittlung der Botschaft Jesu, die nicht vom Christusglauben herkommt, sondern zu ihm hinführt. Um an Christus zu glauben, muss zuerst der Botschaft Jesu geglaubt werden, wie sie historische Rückfrage hinter dem Kerygma der Urgemeinde rekonstruieren kann. Muss sie nicht aus sich und notwendigerweise Gegenstand von Theologie und Verkündigung sein? Oder ist sie nicht aus sich selbst, sondern nur darum bedeutsam, weil sie in das nachösterliche Kerygma aufgenommen und damit zur Botschaft des geglaubten Christus wurde? Verpflichtende Wahrheit zu sein wäre ihr dann wie ein Etikett aufgedrückt worden, als Jesus von Gott zum Christus erhöht und bestätigt wurde. Ihr Wahrheitsanspruch ergäbe sich nicht aus dem geschichtlichen Wort Jesu, so dass jeder, der dieses Wort hört, vor seinen Anspruch gestellt wird, sondern aus der „höheren“ Wahrheit, dass Jesus der „Sohn Gottes“ ist. Während das geschichtliche Wort Jesu der historischen Frage zugänglich bleibt, ist die Erkenntnis der höheren Wahrheit, dass Jesus der „Sohn Gottes“ ist, nur dem Glauben erschwinglich.

Kirche und Theologie stehen heute in der Situation, die Botschaft Jesu in einer Gesellschaft zu verkündigen, die nicht vom Glauben an Jesus Christus geprägt ist. Die Kirche gerät mehr und mehr in die Situation, wie die Urgemeinde die Botschaft Jesu einer nicht glaubenden Umwelt zu verkündigen, zum Glauben an Jesus Christus aufzurufen. Würde die Botschaft Jesu ihre Wahrheit nicht in sich selbst tragen, sondern könnte diese nur dem aufgehen, der den Glauben an Jesus Christus zuvor vollzogen hat, wie sollte dann Jesu Botschaft in dieser Umwelt überhaupt zur Geltung gebracht werden? Wenn sie jedoch ihre Überzeugungskraft in sich selbst trägt, den Hörer also unmittelbar in die Entscheidung stellt, dann kann ihre Weiterverkündigung selbst den Christusglauben wecken und herausfordern.

Wie haben Jesus selbst und die Urgemeinde den Wahrheitsanspruch ihrer Verkündigung begründet? Jesus hat die gnädige Vergebungsbereitschaft Gottes und sein nahes „Reich“ verkündet und die Bedingungen und Forderungen genannt, um dessen teilhaftig zu werden. Wie hat er seine Botschaft begründet? Er hat prophetisch gesprochen, aber nicht als Prophet. Eine Bezugnahme auf eine Berufungsvision oder eine Botenformel suchen wir bei ihm vergebens. Einzig Lk 10,18: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ könnte auf eine Begründung von außen hinweisen. Jesus hat auch nicht mit der Tora argumentiert, schon gar nicht mit dem Anspruch, der Messias oder „Sohn Gottes“ zu sein. Er hat seine Botschaft offenbar überhaupt nicht von einer Instanz außerhalb ihrer selbst legitimiert. War er mithin der Meinung, dass seine Botschaft ihre Wahrheit in sich selbst trägt, eindeutig und überzeugend ist und darum letzte Autorität beanspruchen kann? Dies trifft für seine weisheitlichen Forderungen auf jeden Fall zu, aber auch für seine eschatologische Botschaft. In Lk 11,20 verweist Jesus auf sein exorzistischen Wirken als Evidenzerweis seiner Botschaft von der basileia. Wenn jetzt die Dämonen „durch den Finger Gottes“ ausgetrieben werden, dann ist Gottes „Reich“ zumindest punktuell schon erschienen. Es gilt nach Jesus, die „Zeichen der Zeit“ zu beachten und aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Und in seinen Gleichnissen erweist sich Jesus als ein Meister der Überredungskunst, der seine Hörer von der inneren Wahrheit seiner Geschichten überzeugen will. Das kann nur bedeuten, dass für Jesus seine Botschaft aus sich sprach und keiner Autorität von außen bedurfte. Die Hörer blieben ganz auf seine Botschaft verwiesen, deren Wahrheit sie annehmen oder ablehnen konnten. Dass sie damit auch Stellung zum Träger dieser Botschaft nahmen, ihm Recht gaben oder ihn ablehnten, ist klar. Doch war diese Haltung der Hörer zu Jesus eine Folge ihrer Haltung zu seiner Botschaft. Nirgends forderte Jesus von seinen Hörern zuerst einen Glauben an seine Person, nirgends setzte er bei ihnen ein Bekenntnis zu ihr voraus, das nicht eine Funktion der Anerkennung seiner Botschaft gewesen wäre.

In der nachösterlichen Verkündigung der Urgemeinde trat zur Botschaft Jesu, die die Jünger weiterverkündeten, der Osterglaube hinzu. Er ist die Keimzelle der direkten Christologie, die Jesus als den Christus und Gottessohn bekennt. Wird jetzt der Glaube an Jesus Christus das Erste und die Annahme seiner Botschaft das Zweite? Erhält Jesu Botschaft durch das Osterereignis eine neue Qualität?

Das genau ist die Frage! War die Urgemeinde wirklich der Meinung, die geschichtliche Botschaft Jesu habe durch das Ostergeschehen eine neue Qualität erhalten, die sie vorher nicht hatte? Oder bestätigte dieses nur von Gott her Jesu Botschaft und ihren Wahrheitsanspruch? Freilich scheint es so, dass die Jünger Jesu Botschaft nach Ostern weiterverkündeten, weil Gott Jesus von den Toten auferweckt und in den Himmel erhöht hatte. Dennoch hat Jesu Botschaft in ihren Augen dadurch offenbar keine neue Qualität erhalten. Sie bleibt Jesu Botschaft, allerdings nicht nur des geschichtlich vergangenen, sondern auch des lebendigen und in den Himmel erhöhten Jesus. Er selbst spricht weiter, nun durch den Mund seiner Boten. Ostern garantiert somit die Weiterverkündigung der alten Botschaft Jesu. Es ist eben nicht so, dass im Denken der ersten Jesusboten Wahrheit und Anspruch der Botschaft sich durch Ostern qualitativ verändert hätten. Darum wird von den Hörern auch eine Stellungnahme zu Jesus gefordert (Lk 12,8f), der der irdische und himmlische Jesus zugleich ist. Die nachösterlichen Jesusboten führen also die Botschaft des irdischen Jesus weiter, freilich im Licht ihres neuen Glaubens, und sie beanspruchen, diese Botschaft weiterzuverkünden und pochen auf deren Wahrheit. Durch sie sind auch wir bleibend auf den irdischen Jesus und seine Botschaft verwiesen. Über ihre Wahrheit, die sie in sich trägt, müssen wir nachdenken.

In der Folgezeit setzte ein intensives Nachdenken über Jesus im Licht des Osterglaubens ein. Der Auferweckte und Erhöhte wurde nun Messias/Christos, Menschensohn, Sohn Gottes, Kyrios und Logos genannt. Immer aber war der irdische Jesus in diese Christologie einbezogen: Auch in seinem irdischen Wirken war Jesus der Messias/Christos, Menschensohn, Sohn Gottes, Kyrios und Logos. Der Messias/Christos ist „für uns gestorben“, der Menschensohn war verborgen auf Erden tätig, der Sohn Gottes wirkte Gottes Werke auf Erden, der Kyrios wurde im Irdischen von den himmlischen Mächten erkannt, der „Logos ist Fleisch geworden“. Die Gemeinde, die so spricht, will vom irdischen Jesus sprechen, von seinem Wirken und seiner Botschaft. Die Wahrheit der Botschaft Jesu hängt also für die nachösterliche Reflexion nicht nur von einer nachträglichen göttlichen Bestätigung ab, sondern ruht im geschichtlichen Wirken und der Botschaft Jesu selbst.

Diesen Gedanken vollziehen die Evangelisten bei ihrem Nachdenken über Jesus dann ausdrücklich. Sie wollen die Geschichte des irdischen Jesus erzählen. Freilich sehen sie dabei von ihrem Glauben nicht ab. Aber sie erzählen die Geschichte Jesu nicht so, dass darin nur der Glaube selbst seinen Ausdruck fände. Die erzählte Geschichte des irdischen Jesus geht vielmehr dem Glauben voraus. Sie fordert die Entscheidung des Glaubens oder des Unglaubens heraus. Autorität und Wahrheit tragen Person und Botschaft des irdischen Jesus somit auch nach den Evangelisten in sich selbst. Nicht erst der Glaube macht Jesu Wirken und Reden bedeutungsvoll, sie sind es in sich, und der Glaube bleibt Antwort. Auch der Unglaube entscheidet sich an der Botschaft des irdischen Jesus, indem er mit dem Anspruch seiner Botschaft konfrontiert wird und sie ablehnt. Verstockung und „Hartherzigkeit“ beziehen sich nach den Evangelisten auf die Botschaft des irdischen Jesus. Trotz ihrer „gläubigen“ Darstellungsweise wollen also die Evangelisten ihre Leser vor den irdischen Jesus stellen. Sie sind überzeugt, dass die Wahrheit seiner Botschaft aus sich selbst überzeugend und unabweisbar ist. Nicht weil Jesus der „Sohn Gottes“ ist, ist sie wahr, sondern weil sie die Wahrheit ist, bekennt der Glaube Jesus als den Messias und „Sohn Gottes“.

Aus all dem ergibt sich: Christliche Glaubensreflexion ist offenbar ihrem Wesen nach bleibend auf den irdischen Jesus und seine Botschaft zurückverwiesen. Der zwingende Grund dafür ist das Wirken und die Botschaft des irdischen Jesus selbst.

Ist die historische Rückfrage nach Jesus und seiner Botschaft im Rahmen von Theologie und kirchlicher Praxis notwendig? Bisher haben wir gesehen, dass die Rückfrage nach dem irdischen Jesus in der Urgemeinde und in den Evangelien immer erfolgt ist. Aber diese Rückfrage war nicht historisch im Sinn unseres neuzeitlichen Begriffs von historischer Wissenschaft. Sie erfolgte stets im Licht des Glaubens. Doch gilt es zu bedenken: Zumindest die ersten nachösterlichen Zeugen konnten sich unmittelbar auf den irdischen Jesus berufen, den sie gekannt und gehört hatten und dem sie persönlich nachgefolgt waren. Ihre Weiterverkündigung der Botschaft des irdischen Jesus im Licht des Osterglaubens musste den Hörern als authentisches Zeugnis gelten. Die erste nachösterliche Verkündigung hatte eine historische Rückfrage nach Jesus im neuzeitlichen Sinn gar nicht nötig, weil die Jesusboten der ersten Zeit unmittelbare Zeugen des irdischen Jesus waren. Auch die Evangelisten griffen auf solche Zeugnisse zurück, die ihnen als authentische und unmittelbare Zeugnisse über den irdischen Jesus galten.

Unser Nachdenken über Jesus ist jedoch nicht vom unmittelbaren Eindruck des Wirkens und der Botschaft des irdischen Jesus geprägt, wie noch bei den ersten Jesusboten. Die Neuzeit hat uns aber ein neues historisches Bewusstsein und reflektierte Methoden historischer Rückfrage erbracht, die beide genutzt werden müssen. Auch die Evangelisten haben „historisch“ nach dem irdischen Jesus und seiner Botschaft gefragt, allerdings mit den Mitteln der antiken Geschichtsschreibung. Wir würden ihrem Verständnis untreu, wollten wir die historische Rückfrage nach Jesus als unerheblich abtun. Sie haben mit ihren Mitteln streng daran festgehalten, dass der irdische Jesus und seine Botschaft dem Glauben vorgeordnet sind. Dieser Grundsatz scheint wesentlich für ihre Theologie zu sein und darf nicht aufgehoben werden. Wenn er noch heute gültig ist, dann ist die historisch-kritische Rückfrage nach der Botschaft Jesu und seinem Verhalten notwendig. Wenn die Lebensbotschaft des irdischen Jesus ihre Wahrheit in sich selbst trug, dann kann ihre historische Rekonstruktion auch den heutigen Menschen vor die Entscheidung stellen, diese Wahrheit anzuerkennen oder abzulehnen. In diesem Sinn ist historisches Nachdenken über Jesus heute nicht nur eine nützliche, aber zusätzliche Übung, sondern kann der erste Schritt hin zum Glauben sein.

Historisch-kritisches Nachdenken über Jesus bietet die Chance, heute neu der überzeugenden und glaubwürdigen Wahrheit der Botschaft Jesu zu begegnen, die nicht abhängig ist von einer höheren „ewigen Wahrheit“. Allerdings dürfen wir uns nicht verschweigen, dass auch historisch-kritische Rückfrage nicht voraussetzungslos und schon gar nicht neutral ist. Wie bereits die unmittelbaren Hörer Jesu seine Botschaft in unterschiedlicher, durch ihre persönliche Geschichte beeinflusster Betroffenheit gehört und beurteilt haben, so wird auch heute die Wahrnehmung und das Urteil zuerst des historisch-kritischen Forschers und dann ebenso des modernen Hörers von vielen Faktoren beeinflusst. Recht und Aufgabe des kirchlich gebundenen historischen Forschers ist zweifellos in besonderer Weise die sympathisierende Darstellung der Lebensbotschaft Jesu. Doch ist solche Darstellung keine Beeinflussung des Hörers. Zwar will sie um Zustimmung werben; doch das hat Jesus selbst auch getan. Trotz einer sympathisierenden Darstellung bleibt die freie Entscheidung der Botschaft Jesu und ihrem Wahrheitsanspruch gegenüber in Glaube und Unglaube möglich.

Das historisch-kritische Nachdenken über Jesus ist aber noch aus einem anderen Grund notwendig. Dieser ist die Kehrseite der durch die historisch-kritische Rückfrage ermöglichten, reflektierten Unmittelbarkeit zu Jesus. Unser neuzeitliches historisches Bewusstsein hat uns die Evangelienerzählungen als unmittelbaren Zugang zum irdischen Jesus und zu seiner Botschaft entzogen. Wenn das Nachdenken über den irdischen Jesus und seine Botschaft aber notwendig ist für den Glaubensvollzug, wenn diese auch für uns der Grund des Glaubens sind, dann muss unser Nachdenken über Jesus hinter die Evangelien kritisch zurückfragen. Es muss sogar noch hinter die früheste nachösterliche Verkündigung der Boten Jesu zurückfragen, obwohl die Botschaft des irdischen Jesus in diese Verkündigung eingegangen und einzig aus ihr kritisch zu erheben ist. Unser historisches Bewusstsein und Gewissen zwingen dazu, nicht der Verdacht möglicher „Verfälschung“ durch die nachösterlichen Boten. Es zwingt dazu auch das theologische Gewissen, weil auch unser Glaube Antwort auf den irdischen Jesus und seine Botschaft sein muss. Seine Botschaft muss der Mittelpunkt der christlichen Verkündigung bleiben. An ihr müssen sich Glaube oder Unglaube frei entscheiden können.

Da wir die historische Kritik an den Evangelien nicht von vornherein im Glauben überspringen dürfen, da wir auch der historischen Wahrheit verpflichtet sind, da Glaube die historische Kritikfähigkeit unseres Verstandes und unser neuzeitlich geprägtes historisches Bewusstsein nicht einfach aufheben und ersetzen kann, können wir die „Erzählung“ der Evangelien nicht mehr mit der uns vorgegebenen Geschichte der Person und Botschaft des irdischen Jesus gleichsetzen. Darum muss nicht nur das historische, sondern auch das theologische Bemühen darauf gerichtet sein, durch ein neues historisches Nachdenken die aus sich selbst überzeugende und glaubwürdige Wahrheit der Botschaft des irdischen Jesus nachzusprechen. Wenn wir wirklich überzeugt sind, dass die Botschaft Jesu wahr ist, dann müssen wir diese Botschaft und ihre Wahrheit auch in historischer Rekonstruktion zur Geltung bringen, dies insbesondere im Blick auf solche Menschen, die noch nicht zur Glaubensantwort gefunden haben. Denen aber, die zur bewussten Glaubensantwort schon gefunden haben, muss die Lebensbotschaft des irdischen Jesus immer wieder vorgestellt werden als die Wahrheit, auf die der Glaube reflektierend antwortet. Die Evangelien erhalten dann einen neuen Stellenwert als Zeugnisse solch gelungener Erinnerung der Botschaft des irdischen Jesus.

In diesem Sinn muss Theologie und Verkündigung historisch nach Jesus und seiner Botschaft zurückfragen. Es geht dabei um die historische Darstellung der Botschaft Jesu und um den Nachvollzug des in ihr selbst enthaltenen Wahrheits- und Sinnanspruchs. Ich wiederhole meine Feststellung: Not tut eine christliche Verkündigung der Lebensbotschaft Jesu, die nicht vom Dogma des Christusglaubens herkommt, sondern zu ihm hinführt. Nur die historische Darlegung der Botschaft und des Wirkens Jesu und der Aufweis ihrer inneren Sinnhaftigkeit, überzeugenden Geschlossenheit und glaubwürdigen Konsequenz auf der Basis der historischen Kritik kann diese Forderung erfüllen.

2.         Ausgangspunkt: Jesu Urteil über die Menschenwelt

Jesu wunderbares Kraftgefühl

Es gibt ein Jesuswort, das von den meisten Exegeten für authentisch gehalten wird. Es wirkt wie ein Fanfarenstoß und bringt ohne Zweifel die Anschauung und den Impuls zum Ausdruck, die das Wirken Jesu prägten. Darum wählen auch wir es als Ausgangspunkt.

Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen. (Lk 10,18)

Es kann offen bleiben, ob sich Jesus hier lediglich einer bildhaften Ausdrucksweise bedient oder von einem Visionserlebnis Kunde gibt. In jedem Fall bringt das Wort die Anschauung zum Ausdruck, dass Satan jetzt entmachtet ist. Seiner Herrschaft wurde das Rückgrat gebrochen. Das Wort spricht wohl von einem Entscheidungskampf im Himmel zwischen Gott und Satan, oder zwischen Michael, dem Fürsten des Lichts, und Belial, dem Fürsten der Finsternis. Zumindest drückt es aus, dass Satan seine Rolle als Ankläger Israels vor Gott endgültig verloren hat (vgl. Hiob 1,6-12; 2,1-6; Sach 3,1; Ps 109,6; äthHen 40,7; Jub 1,20; 48,15.18). Jesus steht hier in der Tradition der Apokalyptik, in der die Menschheitsgeschichte einschließlich der Geschichte Israels als ein einziger Abfall von Gottes Willen angesehen wurde. Die von den Menschen zu verantwortende Geschichte war zutiefst durch das Böse, durch Satan und die Seinen geprägt. Aus solch pessimistischer Beurteilung entstehen Vorstellungen, dem unaufhaltsam näher rückenden Vernichtungsgericht Gottes über die Geschichte gehe ein gewaltiger Kampf der satanischen Mächte und der von ihnen beherrschten Menschen gegen die himmlischen Heere Gottes und ihre menschlichen Verbündeten voraus. In diesem Kampf wird Satan endgültig besiegt und gebunden. Danach wird Gott sein „Reich“ für das von allen Sündern und Ungerechten gereinigte Israel aufrichten. Kennzeichen des „Reiches Gottes“ wird sein, dass es dann keinen Satan mehr geben wird (AssMos 10,1.7-10; TestDan 5,10-13; Jub 23,29; 1QM passim; vgl. Offb 12,7-10).

Im Horizont dieses Wortes ist Jesu Tätigkeit als Exorzist zu sehen. Den im Himmel entschiedenen Kampf gegen Satan setzt Jesus auf Erden fort. Hier ist der Kampfplatz, auf dem der „heilige Krieg“ gegen Satans Gefolgschaft weitergeht. Die Vorstellung vom Wirken dämonischer Mächte, die dem Menschen auflauern, um ihm zu schaden, war allgemein wirksam. Er war die naivere, volkstümlichere Art jenes Pessimismus, mit dem die Apokalyptiker die vom Bösen beherrschte Menschheitsgeschichte betrachteten. Höchste Form dämonischer Schädigung war die Besessenheit. In ihr wurde ein Mensch zum wehrlosen Opfer des Bösen. Hier manifestierte sich Satans Macht und Herrschaft im Menschen. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf Jesu Wirken, dass er vor solch dämonisch Besessenen nicht haltmachte, sie nicht dem in ihnen hausenden „Bösen“ überließ. Er befreite sie.

Trotz des Wortes vom Satanssturz war Jesus sich bewusst, dass Satan den Kampfplatz noch nicht endgültig geräumt hat. Seine Gefolgschaft hält ihn noch besetzt. Aus Mt 12,25f (vgl. Mk 3,24ff) geht hervor, dass Jesus die Macht Satans als „Reich“ gedacht hat, in dem Satan den Oberbefehl über die Dämonen hat.

Jedes Reich, das mit sich selbst entzweit ist,

wird verwüstet,

und keine Stadt und kein Haus, die mit sich selbst entzweit sind, werden bestehen bleiben.

Und wenn der eine Satan den andern austreibt,

so ist er mit sich selbst entzweit.

Wie wird dann sein Reich bestehen?

Niemand aber kann in das Haus des Starken hineingehen und ihm den Hausrat rauben,

wenn er nicht zuvor den Starken bindet;

erst dann wird er sein Haus ausrauben.

(Vgl. 1QH 4,24; 3,16)

Jesus deutet hier sein exorzistisches Wirken als Vollzug der bereits erfolgten Niederlage Satans. Was Gott im Himmel durch den Satanssturz bereits eingeleitet hat (die Bindung des Starken), das setzt Jesus auf Erden durch seine Exorzismen fort (das Ausrauben des Hausrats des Starken).

In einem anderen Wort Jesu begegnet uns ein endzeitliches Kraftgefühl ohnegleichen, das Jesus von Beginn seines öffentlichen Wirkens an erfüllt haben muss.

Wenn ich (aber) mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist doch das Reich Gottes wirklich zu euch durchgedrungen. (Lk 11,20)

Die Wiedergabe des Sinns ist nicht einfach. Die Art der Gegenwart des „Reiches“, die hier ausgedrückt wird, hat ein überraschendes Moment. Die Formulierung setzt die Zukünftigkeit des „Reiches“ grundsätzlich voraus und deutet auf seine unvermutete und partielle Erfahrbarkeit hin. Wo die Dämonen vertrieben werden und damit einen Teil ihres „Reiches“ verlieren, da rückt Gottes „Reich“ Stück für Stück voran. Es wird geradezu ein räumlicher Vorgang beschrieben

Jesus interpretiert hier seine Exorzismen und setzt sie zum „Reich Gottes“ in Beziehung: Dieses ist in jenen schon unvermutet durchgedrungen. Dennoch hebt das Wort die Zukünftigkeit des „Reiches“ nicht auf. Dieses wird ja gerade dadurch gekennzeichnet sein, dass es keinen Satan mehr geben und somit auch kein Exorzismus mehr nötig sein wird. Jesus legt so die verborgenen Dimensionen seines irdischen Wirkens offen, indem er darauf hinweist, dass die Zukunft in der Gegenwart bereits anfanghaft wirksam ist. Gottes Entschluss zur Machtergreifung, der den Sturz Satans schon herbeigeführt hat, wirkt sich auch in Jesu Exorzismen aus. Doch diese Episoden sind noch nicht das „Reich Gottes“, sondern Hinweise darauf, dass etwas im Gang ist und sich schon ausbreitet

Die Interpretation der Exorzismen durch Jesus in Lk 11,20 ist evident. Es liegt auf der Hand, dass Gott dort am Werk ist, wo der Böse flieht, wo der Mensch aus Unterdrückung und Besessenheit befreit wird. Satan räumt nicht freiwillig seinen Platz und gibt nicht ohne Zwang seine Herrschaft preis. Lk 11,20 braucht aber nicht exklusiv auf Jesu Vollmachtsanspruch gedeutet zu werden. Nicht weil Jesus es ist, der die Dämonen austreibt, ist in den Exorzismen Gottes Reich wirksam, sondern weil in ihnen Gottes Finger (vgl. Ex 8,15) sich auswirkt. Wo immer durch Exorzismen sichtbar wird, dass die Heerscharen Satans weichen, da bricht sich Gott Bahn. Ganz gewiss in den Exorzismen Jesu, aber nicht nur da:

Wenn ich durch Beelzebul die Dämonen austreibe,

durch wen treiben dann eure Söhne sie aus? (Lk 11,19)

Auch im Wirken jüdischer Exorzisten, wenn sie die Dämonen wirksam bekämpfen, vor allem aber in den Exorzismen der Jünger (Lk 10,9.17) breitet sich das zukünftige „Reich“ schon aus. Sein endgültiges Kommen aber steht noch aus, und erst die Zukunft wird es herbeibringen. Noch können Satan und die Dämonen, die jetzt fliehen müssen, wiederkommen.

Wenn aber der unreine Geist aus dem Menschen ausgefahren ist, durchzieht er wasserlose Orte und sucht eine Ruhestätte und findet keine. Dann sagt er: Ich will in mein Haus zurückkehren, aus dem ich weggegangen bin.

Und wenn er kommt, findet er es leer, gesäubert und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt sieben andere Geister mit sich, die schlimmer sind als er, und sie ziehen ein und wohnen dort; und es wird nachher mit jenem Menschen schlimmer sein als vorher. So wird es auch mit diesem bösen Geschlecht sein. (Mt 12,43-45)

Im Banne Johannes des Täufers

Das Kraftgefühl, in dem Jesus sein exorzistisches Wirken mit dem Andrängen des Reiches Gottes verbunden sah, dürfte ihm irgendwann zuteil geworden sein. Er besaß es nicht von Natur aus und von Anfang an. Dagegen spricht schon die Tatsache, dass Jesus nicht von jeher exorzistisch gewirkt hat. Mehr noch spricht dagegen die Form des Wortes, in dem er sein Kraftgefühl ausdrückt. Er verweist auf eine Vision („ich sah …“) – ob real oder bildhaft – und macht dadurch deutlich, dass der geschaute Vorgang ihm nicht von jeher bewusst war. Wo aber war sein Ausgangspunkt?

Wir wollen nur vom Menschen Jesus sprechen, der als Mensch wie wir alle kein ewiges Bewusstsein haben konnte, sondern lernen musste. Dazu brauchte er eine Zeit der Abgeschiedenheit und Konzentration, um das zu werden, was er dann wurde, um jene Theologie zuerst einmal zu durchdenken und genial in Sprache zu fassen, die die Menschheit ihm verdankt, um seine kühnen Gleichnisse und Bildworte, seine pointierten Weisheitssprüche und Mahnworte schon einmal zu buchstabieren und auszuprobieren? Wir sollten ihm also diese Zeit des Nachsinnens und Reifens zubilligen, eine Zeit, in der er die heiligen Schriften las, darüber Gespräche führte oder einfach meditierte. Ob das zu Hause in Nazaret möglich war? Neben einer anstrengenden Handwerkertätigkeit am Bau?

Die erste historisch sichere Nachricht über Jesus, die wir haben, ist sein Kommen zu Johannes dem Täufer und der Empfang der Taufe. Wir wissen zwar nicht nichts, aber doch nicht viel über die Vorgeschichte Jesu. Über seine Geburt und Kindheit erzählen Legenden, die historisch schwer auswertbar sind. Seine Jugend und die frühen Mannesjahre liegen für uns im völligen Dunkeln. Erst mit seinem Kommen zu Johannes tritt er in Erscheinung. Jesus war bei Beginn seiner öffentlichen Tätigkeit angeblich etwa dreißig Jahre alt (Lk 3,23). Offen bleibt aber, in welchem Alter er zu Johannes dem Täufer kam. Könnte das schon früher gewesen sein? Jedenfalls sollte man ein Fragezeichen hinter der Vermutung machen, Jesus sei mit etwa dreißig Jahren von Nazaret aus zu Johannes dem Täufer aufgebrochen, er habe sein Handwerk und sein bisheriges „bürgerliches“ Leben aufgegeben, um nun etwas anderes, seine eigentliche Mission zu beginnen. Hat Jesus überhaupt je ein „bürgerliches“ Leben geführt? So wenig wir über seine Vorgeschichte wissen, eines ist doch gewiss: Obwohl schon um die dreißig Jahre alt (oder weniger), ist er nicht verheiratet. Das ist für damalige Verhältnisse ungewöhnlich und weist nicht auf ein „bürgerliches“ Vorleben hin. Ein eheloses Leben lag zwar nicht gänzlich außerhalb der gesellschaftlichen Norm, aber es kennzeichnete doch eine „Sonderexistenz“. Neben Jesus kennen wir zwei solcher „Sonderlinge“ im Neuen Testament: Johannes den Täufer und Paulus. Ist Jesus vielleicht schon in jungen Jahren zu Johannes dem Täufer gekommen und in dessen Kreis zu dem geworden, als den die Menschheit ihn kennt? Hat er sich länger beim Täufer aufgehalten, als wir gemeinhin annehmen, und ist bei ihm zu einem „Sonderling“ geworden, den seine Familie (später?) für „verrückt“ erklärt hat (vgl. Mk 3,21)?

Johannes, den die Leute einfach den Täufer nennen, trat irgendwo in Peräa, dem Herrschaftsgebiet des Königs Herodes Antipas auf, am unteren Lauf des Jordan oder an einem seiner Wasser führenden Nebenbäche nahe der Wüste. Seine Tauftätigkeit charakterisiert ihn. Die Johannestaufe ist unableitbar; weder die Proselytentaufe – ein nur Heiden vorbehaltener Initiationsritus – noch die wiederholbaren Waschungen und Tauchbäder von Qumran zur Erlangung levitischer Reinheit kommen als Leitbilder in Frage. In beiden Fällen fehlt zudem ein Täufer. So muss die Johannestaufe als originärer Ritus des Täufers Johannes gelten, wahrscheinlich aus dem Gegenbild der „Feuertaufe“ des Gerichts heraus entwickelt.

Wer dem Ruf des Täufers Folge leisten wollte, musste sich auf den Weg machen und ihn in der Wüste aufsuchen. Ein Asket war er, der einsam in der Wüste lebte und so seinen Abscheu vor der Kultur der Städte und des bewohnten Landes zum Ausdruck brachte. Er ernährte sich von dem, was ihm die Wüste als Nahrung bot (Mk 1,6), wie einst Israel in der Wüste sich hatte von Gott ernähren lassen. Dort erwartete er das Kommen Gottes zum Heil (vgl. Jes 40,3f; 43,19f; Hos 2,14; 12,10; Mi 7,14f). Dorthin lockte er die Umkehrwilligen aus Israel, damit sie die sühnende Taufe empfingen und so aus dem drohenden Gericht gerettet würden.

Im Umfeld des Täufers spielte offenbar das Buch Maleachi eine besonders wichtige Rolle. Hier sind die Themen seiner Predigt vorgezeichnet. Darum wollen wir einige Texte aus Maleachi hier zur Kenntnis nehmen.

Denn ich, der Herr, habe mich nicht geändert,

und ihr, Söhne Jakobs, seid noch immer dieselben.

Seit den Tagen eurer Väter seid ihr von meinen Satzungen abgewichen und habt sie nicht gehalten.

Kehret um zu mir, so will ich zu euch umkehren,

spricht der Herr der Heerscharen.

Ihr fragt: „Wieso sollen wir umkehren?“ - Betrügt je ein Mensch die Gottheit, dass ihr mich betrügt?

Und ihr fragt: „Worin haben wir dich betrogen?“ -

In Zehnten und Abgabe!

Vom Fluch seid ihr getroffen, und doch betrügt ihr mich, ihr, das ganze Volk.

(Mal 3,6-9)

Wer wird den Tag seines Kommens ertragen?

Und wer wird bestehen, wenn er erscheint?

Denn er ist wie das Feuer des Schmelzers

und wie die Lauge der Wäscher.

Er wird sich setzen, zu schmelzen und zu reinigen;

er wird die Söhne Levis reinigen,

wird sie läutern wie Gold und wie Silber…

Ich nahe mich euch zum Gericht

und werde ungesäumt Zeuge sein wider die Zauberer

und wider die Ehebrecher,

wider die Meineidigen und wider die, die dem Tagelöhner, der Witwe und der Waise Gewalt antun

und den Fremdling bedrücken,

wider sie alle, die mich nicht fürchten,

spricht der Herr der Heerscharen …

Denn siehe, es kommt der Tag, brennend wie ein Ofen,

und alle Übermütigen und alle, die gottlos handeln,

werden wie Stoppeln sein; und der Tag, der da kommt,

wird sie in Brand stecken,

spricht der Herr der Heerscharen,

dass von ihnen weder Wurzel noch Zweig übrig bleibt. (Mal 3,2-5; 4,1)

Ein Sohn ehrt seinen Vater, und ein Knecht fürchtet seinen Herrn. Bin ich nun Vater, wo ist meine Ehre?

Bin ich Herr, wo ist die Furcht vor mir?

spricht der Herr der Heerscharen zu euch,

ihr Priester, die ihr meinen Namen verachtet.

Und ihr fragt noch:

„Wieso haben wir deinen Namen verachtet?“

Ihr bringt auf meinen Altar verunreinigtes Brot und fragt: „Womit haben wir es verunreinigt?“ -

Damit, dass ihr denkt:

„Den Tisch des Herrn darf man gering achten.“

Und wenn ihr ein blindes Tier zum Opfer bringt, schadet das etwa nichts? Oder wenn ihr ein lahmes und krankes opfert, schadet das etwa nichts?

Bring es doch deinem Statthalter! - Ob er wohl Freude daran hat oder ob er dir gewogen sein wird?

spricht der Herr der Heerscharen.

Und nun versuchet einmal, Gott (mit solchen Gaben) freundlich zu stimmen, da wird er uns schon gnädig sein! Von eurer Hand ist solches geschehen,

kann er da einem von euch gewogen sein?

spricht der Herr der Heerscharen.

O dass doch einer von euch die Türen (des Tempels) verschlösse, dass ihr nicht umsonst auf meinem Altar das Feuer entfachtet!

Ich habe kein Wohlgefallen an euch, spricht der Herr der Heerscharen, und Opfergabe aus eurer Hand mag ich nicht. Denn vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang ist mein Name groß unter den Völkern, und allerorten wird meinem Namen reine Opfergabe verbrannt; denn groß ist mein Name unter den Völkern, spricht der Herr der Heerscharen.

Ihr aber entweiht ihn, indem ihr denkt:

„Den Tisch des Herrn darf man beflecken

und seine Speise gering achten.“

Ihr sagt: „Sieh, welch eine Mühsal!“ und ihr verachtet mich, spricht der Herr der Heerscharen…

Denn ein großer König bin ich, spricht der Herr der Heerscharen, und gefürchtet ist mein Name unter den Völkern.

Und nun, ihr Priester, ergeht über euch dieser Beschluss: Wenn ihr nicht hört und nicht darauf achtet, meinem Namen die Ehre zu geben, spricht der Herr der Heerscharen, so lasse ich den Fluch wider euch los und wandle in Fluch euren Segen.

Ja, ich habe ihn schon in Fluch verwandelt, weil ihr nicht darauf achtet. Siehe, ich schlage euch den Arm ab und werfe euch Kot ins Gesicht, den Kot eurer Festopfer, und man wird euch zu ihm hinausbringen.

Und ihr werdet erkennen, dass ich diesen Beschluss über euch gesandt habe, weil zwischen mir und Levi ein Bund besteht, spricht der Herr der Heerscharen.

Darin bestand mein Bund mit ihm, dass ich ihm Leben und Heil gab und dass er in Ehrfurcht vor meinem Namen sich beugte. Wahrhafte Weisung war in seinem Munde, und kein Trug fand sich auf seinen Lippen.

In Frieden und Aufrichtigkeit wandelte er mit mir,

und viele hielt er von Schuld zurück.

Denn die Lippen des Priesters bewahren Erkenntnis,

und Weisung sucht man von seinem Munde,

ist er doch der Bote des Herrn der Heerscharen.

Ihr aber seid vom Weg abgewichen,

habt viele zu Fall gebracht durch eure Weisung;

ihr habt den Bund Levis verderbt,

spricht der Herr der Heerscharen.

Darum habe auch ich euch verächtlich und niedrig gemacht vor dem ganzen Volke, gleichwie ihr meine Wege nicht haltet, sondern die Person anseht bei der Weisung. (Mal 1,6-2,9)

Die Bußpredigt des Täufers

Die Bußpredigt Johannes des Täufers können wir aus Mt 3,7-rekonstruieren. Das Stück ist knapp gestaltet und stellt wahrscheinlich eine geformte und pointierte Kurzfassung der Umkehrpredigt des Johannes mit appellativem Charakter dar. Diese Überlieferung diente vielleicht den Mitarbeitern des Täufers dazu, auf seine Person und Botschaft hinzuweisen. Ist auch Jesus durch sie auf Johannes aufmerksam geworden? Oder gehörte er gar zu seinem Mitarbeiterstab?

Wir haben ein Traditionsstück aus Kreisen der Täuferjünger vor uns, das später christlich durch Zusätze auf Jesus hin interpretiert worden ist. Zu den Zusätzen gehört die Unterlegenheitsaussage „der nach mir Kommende ist stärker als ich, ich bin nicht würdig, seine Sandalen zu tragen“. Diese Aussage wurde erst nötig, sobald der Kommende auf eine Person gedeutet wurde, die dem Täufer vergleichbar war, also in der nachösterlichen Gemeinde. Sie hat den Kommenden mit Jesus identifiziert und musste dann deutlich machen, dass der Täufer weit unter Jesus rangiert. Ursprünglich war jedoch mit dem Kommenden der endzeitliche Richter benannt: Gott selbst oder der „himmlische Menschensohn“. Eine Betonung der Unterlegenheit des Täufers war gar nicht erforderlich. Sie verstand sich von selbst. Christliches Interpretament ist auch noch die Wendung „in heiligem Geist“, die die Feuertaufe ergänzt. Das Feuer wird auch in Mt 3,10.12 erwähnt: es vernichtet das Unfruchtbare. Daher ist die Feuertaufe eindeutig Bild für das Gericht. Insofern besteht eine Spannung zu „in heiligem Geist“.

Das Überlieferungsstück könnte so ausgesehen haben:

Schlangenbrut, ihr! Wer hat euch gelehrt, ihr würdet dem kommenden Zorngericht entfliehen?

Bringt nun Frucht, würdig der Umkehr!

Und meint ja nicht, bei euch sagen zu können:

Wir haben Abraham als Vater.

Ich sage euch nämlich: Gott kann dem Abraham

aus diesen Steinen da Kinder erwecken.

Doch schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt. Jeder Baum nun, der keine gute Frucht trägt,

wird ausgehauen und ins Feuer geworfen werden.

Ich taufe euch zwar mit Wasser [zur Umkehr],

der Kommende aber

wird euch in [Sturm und] Feuer taufen.

Er hat die Wurfschaufel in seiner Hand,

und er wird seine Tenne gründlich reinigen.

Seinen Weizen wird er in seine Scheune sammeln,

die Spreu aber in unauslöschlichem Feuer verbrennen.

Ein schrilles, düsteres Stück, das jeden Israeliten, jeden Abraham-Nachkommen ansprang, provozierend, ja beleidigend: „Schlangenbrut, ihr!“ Dieses Schimpfwort war auf alle gemünzt, nicht nur auf eine Gruppe von Gegnern, Pharisäer oder Priester. Allen in Israel, die aufgrund des Abraham-Bundes keinen Zweifel hatten, dass sie im Gericht bestehen würden und für Gottes Endheil vorgesehen waren (vgl. TestAss 7,7; 4Esr 3,13-15; TestLev 15,4), sollte es einen Schlag versetzen. Jedem Abraham-Kind sollte klar vor Augen gestellt werden: „Der Ruf zur Umkehr geht dich an!“ So sollte die Erneuerung Israels, die Rückwendung zu Jahwes heiligem Willen in Gang gebracht werden. Die Willigen sollten sich auf den Weg zu Johannes machen, um seine Umkehrtaufe auf sich zu nehmen.

Was war das Erschreckende an dieser Predigt? Dass Jahwe Gericht über die Gottlosen halten würde, war allen bewusst. Und dass den Gottlosen Vernichtung drohte, dem stimmten alle zu. Doch wer war gottlos? Die Heiden gewiss, und dann noch jene in Israel, die dem Abraham-Bund abgeschworen hatten, die wie die Heiden lebten, gierig nach Luxus, Besitz und Macht. Aber die vielen, die Abraham ihren Vater nannten, recht und schlecht nach den Satzungen lebten, waren sie nicht Gerechte, die im Gericht triumphieren würden? Freilich, sie waren in ihrem Tun nicht vollkommen, doch würden Abrahams Verdienste ihnen helfen im Gericht. Hatte Gott ihm nicht ein Versprechen gegeben hinsichtlich seiner Nachkommenschaft?

Hier riss die Predigt des Johannes den Boden unter den Füßen weg: Wer ohne Frucht bleibt, ist im Gericht verloren. Nur das eigene Tun zählt, nicht Abrahams Verdienst. Für Unfruchtbare ist selbst Abrahams Fürsprache machtlos. Die leibliche Abstammung von ihm wie auch das Lippenbekenntnis zu ihm nützen nichts. Sich auf ihn zu berufen, ohne selbst Frucht zu bringen, ist Wahn. Wirklicher Nachkomme Abrahams ist nur, wer wie er vor Gott heilig wandelt (Gen 17,1). Aber wer kann sündlos bleiben, wenn sich die Sünden ungesühnt im Land aufhäufen? Wer Frucht bringen, wenn ganz Israel vor Gott unrein ist? Die Vorbereitungen zur Ausrottung der Unfruchtbaren sind bereits getroffen, die Wurzeln freigelegt, die Axt liegt schon an der Stelle, in die sie fahren soll. Es fehlt nur noch, dass zum Schlag ausgeholt wird (Mt 3,10; vgl. Ez 21,1-5; Mal 3,23). Die Ernte ist fast zu Ende; nur die letzte Arbeit, die Scheidung zwischen Frucht und Spreu muss noch verrichtet werden. Dazu hat Gott die Schaufel schon in die Hand genommen. Gleich wird er mit der Reinigung seiner Tenne, der Scheidung zwischen Weizen und Spreu, beginnen (Mt 3,12; vgl. Mal 3,19).

Beide Bilder aus dem bäuerlichen Alltag stellen die atemberaubende Nähe des drohenden Gerichts vor Augen. Jeden Augenblick kann es hereinbrechen. Es verbleibt kaum noch eine Frist. Beide Bildworte enden mit der Ansage der Vernichtung des Fruchtlosen im Feuer. Auf ihr liegt der Ton. Ohne Zweifel ist das Gericht der Horizont der Botschaft des Täufers. Ist es auch sein Inhalt? Will er ausschließlich, gar apodiktisch das Gericht über ganz Israel ankündigen? Das trifft nicht zu, denn auch der Heilsaspekt ist bei ihm präsent; man darf ihn nicht herunterspielen. Die unfruchtbaren Bäume stehen inmitten von fruchttragenden, die Spreu ist mit dem Weizen vermischt. Die fruchttragenden Bäume sind von der Ausrottung nicht betroffen, und der Weizen wird in die Scheune eingebracht. Das darf nicht unterschlagen werden. Der Gedanke an ein endzeitliches Heil ist ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Doch wer gehört zu den fruchttragenden Bäumen? Wer gehört zum Weizen?

Bringt nun Frucht, würdig der Umkehr!“