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Über dieses Buch

Mats und sein Hund Samson sind beste Freunde. Als Samson krank wird, bricht für Mats eine Welt zusammen. Er läuft von zu Hause fort und nimmt Samson mit auf eine abenteuerliche Reise zu Opa Windschief. Denn der weiß bestimmt auch diesmal Rat! Eine berührende Geschichte über eine große Freundschaft zwischen einem mutigen Jungen und seinem Hund: Annette Mierswa erzählt einfühlsam, voller Poesie und Herzenswärme von einer abenteuerlichen Reise, von Abschied, Sehnsucht und Glück.

Die Autorin

Annette Mierswa, geboren 1969 in Mannheim, tätig für Film, Theater und Zeitung, arbeitet jetzt als freie Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Hamburg.

Annette Mierswa
Samsons Reise

Inhalt

Über dieses Buch
Prolog
Samsons Reise
Opa Windschief
Wo liegt Himmelingen?
Die »Galoppine«
Willkommen in der Wildnis!
Welche Farbe hat der Tod?
Echte Erfinderkunst
Der Tod ist weiß wie Schnee
In der Höhle
Wie beerdigt man einen Hund?
Lunas Geheimnis

Impressum

Gewidmet den Hunden meines Lebens:

Pattex, der an uns klebte;
Athos, der Streuner aus Griechenland;
Zombie aus dem Tierheim, dessen flehender Blick mich erreichte;
und Ossi, der eigentlich Schotte war und bei uns eine neue Heimat fand.
Mit allen verband mich eine Freundschaft, die keiner Worte bedurfte.

Prolog

»Samson war mein Bruder und der beste Hund der Welt.

Wir waren gleich alt, aber er ist nur zehn geworden, in Menschenjahren ungefähr siebzig. Also schon ein Opa.

Ohne Samson hätte ich es nicht ausgehalten. Mama lebte auf einem anderen Planeten, und Papa war ganz weg.

Jetzt ist auch Samson fort. Es fühlt sich merkwürdig an in mir drin, leer, wie in einem Schokoladenweihnachtsmann. Auch mit so einem zerbrechlichen Rand, den man leicht eindrücken kann.

Ich wollte Samson neben Papa beerdigen. Das gab vielleicht einen Aufstand. Das ist verboten, hat Mama gesagt. Warum?, habe ich gefragt. Es ist eben verboten. Samson war schließlich kein Mensch. Ja und? Samson gehört doch zu unserer Familie.

Ich verstehe das nicht. Ich habe dann Samsons Lieblingsspielzeug, den alten Schuh, heimlich in Papas Grab verbuddelt. Nicht einmal Mama weiß davon.

Wenn ich groß bin, will ich Erfinder werden, wie mein Opa. Dann erfinde ich einen Apparat, der die Hunde- in Menschensprache übersetzt und umgekehrt. Ich hab Samson zwar immer verstanden. Und er wusste auch, was mit mir los war, aber bei Erwachsenen scheint das kaum zu klappen. Ich hoffe, ich verlerne das nie. Manchmal spreche ich mit Hunden auf der Straße, um nicht aus der Übung zu kommen. Und es klappt.

Als der Tierarzt damals Samson alleine auf die Reise schicken wollte, da hat mein Hundebruder mir ganz klar zu verstehen gegeben, dass er mich dabeihaben wollte … Und so haben wir das dann auch gemacht.«

Samsons Reise

»Samson geht auf eine lange Reise.« Der Doktor nahm die Brille ab und sah Mats an. »Du wirst dich von ihm verabschieden müssen.«

»Wenn er verreist, gehe ich mit ihm.« Mats blickte entschlossen zurück.

»Nein, Mats, das ist eine Reise, die muss Samson ganz alleine machen.«

Mats’ Mutter Eva legte ihre Hände auf die Schultern ihres Sohnes. »Samson ist sehr krank. Es ist Zeit für ihn zu gehen. Wir sollten …«

Mats schubste ihre Hände herunter und rannte aus der Praxis. Er ließ sich im Vorgarten auf den Rasen fallen und vergrub das Gesicht in seinen Armen. Nein, Samson alleinlassen, sich von ihm verabschieden? Das kam gar nicht infrage. Er riss ein Gänseblümchen ab und zupfte die Blütenblätter aus. Eine große feuchte Nase stupste ihn an.

»Samson!« Mats drückte den Hund fest an sich. »Mein Sammy, ich lass dich nicht allein.« Er kraulte das Fell hinter Samsons Ohren und forschte in den glänzenden Hundeaugen, in denen sich das glühende Rot des nahenden Sonnenuntergangs spiegelte.

Mats erinnerte sich an Lagerfeuer, an denen sie singend und jaulend gesessen hatten, während das Seewasser leise ans Ufer geplätschert und die Dunkelheit sanft über ihre Schultern gekrochen war wie ein schwarzer Zaubermantel. Er dachte an heiße Sommernächte, die er bei Samson auf dem Fußboden verbracht hatte und in denen er von seinem gleichmäßigen Atem in den Schlaf gewiegt worden war.

Und da war noch etwas in Samsons Augen, ein Funkeln wie von einem Meer aus Wunderkerzen, die in weiter Ferne einen Tanz aufführten.

Plötzlich sprang Mats auf, lachte Samson an und schnalzte mit der Zunge: »Ich hab’s. Wir verreisen doch zusammen. Wie früher.«

Mats kuschelte sich wieder an ihn und strich zärtlich durch sein Fell.

Eva verließ die Tierarztpraxis und kam auf die beiden zu. »Da seid ihr ja!« Sie ging vor Mats in die Hocke und machte eine besorgte Miene, versuchte aber zu lächeln. »Na, wie wäre es mit einem Eis?«

Mats dachte eine Weile nach, bevor er antwortete, wägte ab, wie viel Zeit ihm noch zum Packen bliebe. »Können wir machen.« Er musste ohnehin warten, bis seine Mutter im Bett war, denn sie würde ihm die Reise niemals erlauben.

Sie schlenderten die Straße entlang, und Samson trottete mühsam neben Mats her. Wie ein Pinguin bewegte er erst die rechte Körperhälfte ein Stück weiter, danach die linke, immer beide Beine einer Seite auf einmal. Es sah ein wenig so aus, als wäre er wie ein Spielzeug aufgezogen worden, so gleichförmig wackelte er voran. Dabei hing ihm die Zunge weit aus dem Maul. Ab und zu hielt er inne, hob den Kopf ein wenig, um zu sehen, ob Mats auf ihn wartete, und setzte sich dann langsam wieder in Bewegung.

Mats hatte sich in den letzten Wochen schon an die neue Gemütlichkeit seines Hundes gewöhnt und blieb automatisch stehen, wenn Samson es tat. Er sah sich nicht einmal nach ihm um. Er wusste blind, wann er anhalten musste. Für die zweihundert Meter bis zur Eisdiele brauchten sie fünf Minuten. Eine Schildkröte wäre schneller gewesen.

Mats holte einen Becher aus der Tasche und verschwand in der Eisdiele. Als er zurückkam, lag Samson auf dem Boden und schlief. Mats stellte den mit Wasser gefüllten Becher vor ihm ab und streichelte über sein Fell, dieses Fell, das ihm vertraut war wie eine zweite Haut. Jeden Morgen war es das Erste, was er berührte, und am Abend das Letzte, woran er sich kuschelte.

Samson bewegte sich nicht.

»Er trinkt fast nichts mehr«, sagte Eva.

Mats nickte stumm. Er leckte an seinem Eis und starrte vor sich hin. In Gedanken packte er schon den Koffer. Was würde er alles brauchen? Auf jeden Fall Hundekuchen, denn er wusste ja noch nicht, wie lange sie unterwegs sein würden. Außerdem einen Pullover, Geld, Käsebrote und eine Taschenlampe gegen die Dunkelheit, vor der Mats sich fürchtete.

»Weißt du, Samson hätte kein schöneres Leben haben können als bei dir.« Eva lächelte.

»Hätte?« Mats war empört. »Warum hätte? Er hat ein schönes Leben! Mensch, Mama, Samson ist doch nicht tot!«

Bei dem Wort »tot« zuckte Mats zusammen, als wäre es schon gefährlich, es auszusprechen. Er biss in die Eistüte, dass es nur so knackte. Dann wandte er sich Samson zu und hielt ihm den letzten Zipfel der Waffel vor die Nase. »Hier, Samson.«

Samson hob müde den Kopf, schnüffelte an der Eistüte, sah Mats gleichgültig an und schob die Schnauze wieder zwischen seine Pfoten.

»Hey, Samson, deine Eistüte. Wie immer!«

Aber Samson schlief schon wieder und atmete schwer.

Mats wurde wütend. »Samson, was soll das? Nun nimm endlich!«

Samson rührte sich nicht. Mats sah seine Mama ratlos an.

»Samson ist ein kranker, alter Opa. Er steht nicht mehr auf Eistüten.«

»Aber vor einer Woche hat er sie noch gegessen.«

»Da war er eben noch ein Opa mit Appetit. Jetzt ist er ein Opa, der nur noch schlafen will.«

»Und verreisen?«, fragte Mats und rollte mit den Augen.

»Ja, denn wo Samson hinmöchte, kann er immerzu schlafen.«

»Aber Mama, da kann er doch auch hierbleiben.«

Eva rückte ihren Stuhl näher an Mats heran. »Du kannst ihn nicht aufhalten, Mats. Sieh ihn dir an!« Sie nickte mit dem Kopf in Samsons Richtung, der unbeweglich dalag. »Er ist schon so weit weg.«

Mats schob energisch seinen Stuhl zurück, stand auf und sagte: »Ist er nicht!« Er drehte sich um, pfiff durch die Finger und lief los. Als Samson ihm nicht gleich folgte, blieb er stehen und rief nach ihm: »SAAAAMSOOON, KOMM!« Der Hund erhob sich mühsam und trottete los.

Eva beeilte sich zu bezahlen und folgte den beiden. »Mats, ich weiß, dass es schwer für dich ist. Aber Samson ist nun mal am Ende seines Weges, du bist noch am Anfang.«

Mats blieb abrupt stehen und warf seiner Mutter einen düsteren Blick zu. »Ich werde Samson nicht alleinlassen, niemals.«

*

Das Häuschen, in dem Mats mit seiner Mutter und Samson wohnte, stand mitten in Hamburg. Es hatte einen kleinen Garten, in dem man den ganzen Tag das Rauschen des Autoverkehrs und das Rattern der S-Bahnen hören konnte. Mats störte das nicht. Er hatte sich daran gewöhnt. Wenn er in der Schule war, konnte Samson im Garten auf ihn warten. Und nachmittags ging Mats mit ihm im nahen Park spazieren. Seit einer Woche schaffte Samson es nicht mehr bis zum Park. Mats führte ihn vor dem Haus an ein paar Bäumen vorbei. Dann kehrten sie um, und Samson legte sich sofort auf seine Decke und schlief. Er schlief den lieben langen Tag.

Mats dagegen schlief gar nicht gerne. Er las abends unter der Bettdecke fantastische Geschichten, schlich zum Wohnzimmer und hörte Mama beim Telefonieren zu, oder er lag einfach mit offenen Augen im Bett und dachte sich großartige Erfindungen aus, die er Samson zuraunte, wenn sie ihm besonders genial erschienen. Sein sehnlichster Wunsch war eine eigene Werkstatt, in der er experimentieren konnte. »Sie muss ja nicht groß sein«, sagte er immer, damit Eva seinem Drängen nachgab. Aber das Haus war wirklich sehr klein, sogar so klein, dass seine Mutter auf einem ausklappbaren Sofa schlief, das im Wohnzimmer stand. Mats’ Zimmer reichte gerade für sein Bett, ein Regal mit Schreibtisch und den schmalen Kleiderschrank. An der Decke hingen zwei Poster, die er vor dem Einschlafen immer betrachtete: ein Foto von Carl Benz, auf dem ersten Auto sitzend, das er erfunden hatte, und ein Druck des Sternenhimmels mit den wichtigsten Sternbildern, auf dem der Große Hund rot markiert war. Es hatten aber auch noch einige Erfindungen Platz in seinem Zimmer, zum Beispiel eine Murmelbahn aus Pappe über fünf Etagen sowie ein Seil, das am Fußende seines Federbetts befestigt war, über eine Rolle an der Decke lief und dessen Ende in Reichweite über Mats’ Kopfkissen hing. Wenn er morgens aufwachte, riss er an der Leine und zog sich selbst die Bettdecke weg. Das half ihm beim Aufstehen. Denn er schlief zwar nicht gerne ein, aber er stand ebenso ungern früh auf.

Und es passte auch noch die Hundedecke in Mats’ Zimmer, auf der Samson nun fast ununterbrochen lag und schlief. Er war ein strohblonder Mischling mit langem Fell, und er reichte Mats bis zur Hüfte. Seine tapsigen Pfoten waren schneeweiß, und das eine seiner braunen Ohren war in der Mitte eingeknickt. Er hatte einen buschigen, langen Schwanz und haselnussbraune Augen, mit denen er so treuherzig schauen konnte, dass man ihm alles verzieh, selbst wenn er auf das helle Sofa sprang, eine Wurst vom Teller klaute oder im Park die Fährte einer läufigen Hündin aufnahm und stundenlang fortblieb. Nun tat er gar nichts Verbotenes mehr, außer ab und zu auf den Teppich zu pinkeln. Er war sogar so still geworden, dass Mats sich wünschte, er würde etwas anstellen.

Mats war ein großer, blonder und schmaler Junge. Er trug meist Jeans, die er mit einem Gürtel zusammenzog, und sommers wie winters eine dunkelgrüne Strickmütze, unter der die hellen Haarsträhnen heraushingen. Ein Geruch nach Hundekuchen begleitete ihn, da er sie lose in seine Taschen steckte. Und es kam häufig vor, dass seine Mutter unzählige Hundekuchenkrümel in der Wäsche fand. Auf seinem Schulweg kam Mats an mehreren Gärten vorbei, in denen einige Hunde schon auf ihr Leckerli warteten, das er ihnen Tag für Tag durch den Zaun reichte. Dann bekam sein blasses Gesicht Farbe, und er rief sie freudig beim Namen. Mats’ Augen waren graublau. »Wie der Himmel über Hamburg«, sagte Eva. Dabei lachte sie immer, denn sie liebte das Hamburger Wetter, was Mats gar nicht verstehen konnte. Sie liebte ohnehin ganz andere Dinge als er, zum Beispiel Marzipan, Schlagerkonzerte und stundenlange Telefonate.

Mats hatte ein kleines Muttermal auf der rechten Backe – von Papa. Der hatte auf der gleichen Wange ebenfalls einen Leberfleck gehabt. Deshalb nannte Mats ihn »Papamal«. Aber das war auch schon die einzige Ähnlichkeit, die ihn mit seinem Vater verband, der kräftig, dunkelhaarig und braunäugig gewesen war. Er hatte als Notarzt gearbeitet und es geliebt, mit Blaulicht zu fahren und zu sehen, wie die Autos vor ihm auseinanderstoben. Eva meinte, er wäre nie richtig erwachsen geworden und hätte sogar mit den verletzten Patienten im Fond des Krankenwagens herumgescherzt. Mats gefiel die Vorstellung, dass sein Vater die Kranken zum Lächeln gebracht hatte. Wenn er selber mit Grippe im Bett lag, dann überlegte er sich manchmal, was sein Vater zu ihm gesagt hätte, um ihn zum Lachen zu bringen. Und alles, was ihm einfiel, machte ihn deutlich gesünder als Mamas besorgte Blicke.

Mats’ Vater hatte sein Leben bei einem Arbeitseinsatz verloren, als ein Auto einmal nicht ausgewichen war. Mats war fünf Jahre alt gewesen. Das Unglück hatte fast alle seine Erinnerungen an seinen Vater ausgelöscht. Das meiste, das er von ihm wusste, hatte Mama ihm erzählt. Und es gab auch ein »Papa-Album«, das sie ihm gemacht hatte, mit Fotos, Zeichnungen, Anekdoten und lauter rosa Herzchen. Aber in Mats’ Vorstellung bestand die Familie schon seit ewigen Zeiten aus Mama, Samson und ihm. Konrad, mit dem Eva ein paar Monate zusammen gewesen war, hatte eine Weile dazugehört. Aber jetzt nicht mehr. Und Mats war zufrieden damit. So konnte es bleiben.

Seit dem Unfall hatte sich aus dem innigen Dreigestirn mit Papa, das keine Macht der Welt auseinandergebracht hätte, ein instabiler Doppelstern entwickelt, mit jeweils eigener Umlaufbahn. Eva ließ sich dabei unaufhaltsam von Kometen umschwirren: Babys, denen sie als Hebamme ins Leben half, und Freundinnen, die sie permanent in Bewegung hielten. Das überzog ihre Trauer mit Zuckerguss. Ein Zuckerguss, den ein Blick auf Mats zum Schmelzen brachte. Wenn sie Mats ansah, hörte sie die Sirenen jenes unheilvollen Tages wieder aufheulen und fühlte einen Kummer die Kehle hinaufkriechen, der ihr die Luft zum Atmen nahm.

Mats hingegen hatte in Samson einen Begleiter gefunden, eine Sonne, die er umkreisen konnte, die ihn wärmte und seinen Tageslauf bestimmte. Hätte Mats eine Liste der liebsten Lebewesen erstellen müssen, dann hätte Samson an erster Stelle gestanden.

Mit den Kindern in der Klasse war das so eine Sache. Mal ärgerten sie ihn, dann luden sie ihn wieder zu ihren Geburtstagen ein, dann wieder nicht. Aber nur selten besuchte er einen von ihnen, denn zu Hause wartete Samson. Und der war am allerwichtigsten. Samson ärgerte ihn niemals. Er stellte keine doofen Fragen, er hatte ihn immer lieb, und er war vor allem immer da. Er war der beste Freund, den Mats sich vorstellen konnte.

Währenddessen drehte sich bei Mats’ Mutter alles um ihre Arbeit. Sie war ihr Ausgleich für den großen Verlust, den sie erlitten hatte. In der Küche hingen lauter Fotos von Babys an der Wand. Meist standen darunter Sätze wie »Das größte Glück auf Erden!« oder »Ein Herzenswunsch ging in Erfüllung!«. Wenn sie die Wahl gehabt hätte, dann wäre Mats wahrscheinlich immer noch drei Monate alt.

Eva war mittelgroß, etwas pummelig und hatte dunkles, lockiges Haar, das ihr immer ins Gesicht fiel. Wenn sie zur Arbeit ging, steckte sie die Mähne am Hinterkopf fest und zog eine einzelne Strähne heraus. Sie hatte rote Wangen, und ihr war nie kalt. Das ganze Jahr über lief sie barfuß durch die Wohnung und trug Blusen, die sie weit aufknöpfte, sodass man den Ansatz ihres Büstenhalters sehen konnte. Und sie hatte so viele Freundinnen, dass Mats sie nicht alle auseinanderhalten konnte. Er hörte seine Mutter oft bis tief in die Nacht kichern, wenn sie auf dem »Quatschsessel« saß und ihre langen Telefonate führte. Ernste Themen mochte sie nicht. Wenn Mats ihr Fragen stellte wie: »Welche Farbe hat der Tod?«, oder sie aufforderte: »Erzähl mir von Papas Beerdigung!«, dann folgte eine lange Pause, in der sie überlegte, wie sie das Thema wechseln konnte.

Manchmal klingelte mitten in der Nacht das Telefon. Dann kam sie zu Mats ans Bett und sagte, sie müsste in die Klinik und Samson würde auf ihn aufpassen. Wenn er morgens aufstand, war sie oft noch nicht zurückgekehrt. Oder aber sie lag im Bett und hatte ihm einen Zettel auf den Küchentisch gelegt, auf dem stand: »Guten Morgen! Mach dir bitte dein Frühstück, ich muss noch schlafen. Küsschen, Mama!«

Das machte ihm alles nichts aus. Samson war ja da, stand schon neben ihm, wenn der Wecker klingelte, und stupste ihn mit der feuchten Nase. Und nun tat er es nicht mehr. Seit drei Tagen blieb Samson morgens liegen und schlief einfach weiter.

Mats fühlte sich plötzlich sehr einsam, wenn er am Frühstückstisch saß und es so totenstill war. Überhaupt war alles plötzlich so anders, auch die Farben, obwohl es immer noch Sommer war. Das Grün der Blätter schien eher ein mattes Grau zu sein, und die Sonnenblumen im Garten leuchteten nicht wie sonst, sondern wirkten stumpf und fahl. Das Rattern der S-Bahnen dröhnte viel lauter und verdrängte das Vogelgezwitscher im Park. In der Schule konnte Mats sich gar nicht mehr konzentrieren. Er wollte bei Samson sein. Irgendetwas zog seine Gedanken unentwegt zu ihm und ließ Mats auf seinem Stuhl hin und her rutschen und ständig auf die Uhr sehen. Es war so ein Gefühl von »Keine-Zeit-verlieren-Wollen«. Die Zeit mit Samson schien auf einmal noch viel kostbarer als sonst. Und wenn die Schulglocke mittags läutete, rannte er nach Hause, schmiss seine Tasche in die Ecke und stürzte sich auf seinen Hund, der ihm nicht mehr entgegengesprungen kam. Den Rest des Tages verbrachte Mats damit, ihn zu kraulen, ihm alles zu erzählen, was ihn beschäftigte, und ihn einfach anzusehen. Bis Eva sagte, sie müssten mit Samson zum Tierarzt gehen. Ja, und nun also das mit der »letzten Reise«. Eigentlich kam Mats die Idee sehr gelegen, denn wenn er mit Samson verreiste, musste er nicht in die Schule gehen, sondern konnte jede Minute mit seinem Hundebruder verbringen.

Als Mats’ Mutter das Abendessen machte, schlich er sich auf den Dachboden und holte einen alten Koffer hervor. Es war Samsons Koffer. Das hatte Mama einmal gesagt. Mit diesem Koffer war er damals zu Mats umgezogen. Mats pustete den Staub ab und nahm ihn mit in sein Zimmer. Es war ein schwarzer Koffer mit Holzbeschlägen und einem Ledergriff. Er quietschte, als Mats ihn aufklappte.

In seinem Inneren befanden sich ein alter zerbissener Tennisball und eine Tüte. Mats faltete die Tüte auseinander und holte ein Bündel Briefe heraus, das von einem schwarzen Band zusammengehalten wurde. Er löste das Band und nahm den ersten Brief in die Hand. Er war an ihn selbst adressiert. Auf der Rückseite stand als Absender: Ewald Böhler, Irissteig 2, Schmulau.

»Opa Windschief!«, sagte Mats zu Samson, der kurz die Augenbrauen hob und wieder senkte. »Mein Lagerfeuer-Opa! Mensch, Samson, da bist du doch zur Welt gekommen.«

Mats strahlte, und in seinen Augen konnte man einen Glanz erkennen, der schon die Idee vorausschickte, die in ihm gerade zu keimen begann. Er nahm den nächsten Umschlag und sah ihn an. Auch dieser war von Ewald Böhler an seinen Enkel geschickt worden. Und auch alle anderen Briefe. Nur auf den letzten drei stand eine andere Adresse als Absender: Ewald Böhler, Waldweg 1, Himmelingen. Eine Postkarte von einem fliegenden Waldkäuzchen klebte auf einem der Umschläge. Mats setzte sich auf das Bett und starrte die Briefe an.

»Die hatte ich schon ganz vergessen.«

Er nahm den letzten, mit dem Käuzchen, und faltete ihn auseinander.

Mein lieber Mats, las er vor, schade, dass wir uns schon so lange nicht mehr gesehen haben. Vielleicht hast Du ja Lust, mich mal wieder zu besuchen. Ich wohne jetzt mitten in einem Wald in einem runden Häuschen, das auf einer sonnigen Lichtung steht. Es gibt hier einen Bach, Rehe und Hasen. Ich habe noch Hühner und eine Katze. Die Werkstatt ist natürlich viel kleiner geworden, aber raffinierter. Du würdest staunen! Ich habe sogar etwas für Dich gebaut. Es lohnt sich also vorbeizukommen. Meine neue Adresse steht auf dem Umschlag. Ich denke viel an Dich.

Liebe Grüße, Dein Opa Windschief.

Mats war ganz aufgeregt. Opa Windschief! Das war der Vater von seinem Vater. Sie hatten ihn schon seit Jahren nicht mehr besucht. Er wohnte ziemlich weit weg, bei Frankfurt. Nach Papas Tod war Mats nur noch einmal mit Eva dort gewesen.