Aphasie bei Kindern
und Jugendlichen
Ein Ratgeber für
therapeutische Berufsgruppen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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1. Auflage 2009
ISBN 978-3-8248-0693-5 (PC PDF)
Alle Rechte vorbehalten
© Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2009
Mollweg 2, D-65510 Idstein
Vertretungsberechtigter Geschäftsführer: Dr. Ullrich Schulz-Kirchner
Titelfoto: © Pavel Losevsky · www.fotolia.de
Illustrationen (Seite 15 und 20): Matthias Heins
Lektorat: Doris Zimmermann
Umschlagentwurf und Layout: Petra Jeck
Druck und Bindung: wd print + medien GmbH, Elsa-Brandström-Str. 18,
35539 Wetzlar
Printed in Germany
Vorwort zur Reihe
Definition und Einführung
Abgrenzung zu Sprachentwicklungsstörungen
Abgrenzung zu Aphasie bei Erwachsenen
Geschichtlicher Exkurs
Das 19. Jahrhundert: Die Entstehung der Aphasiologie für das Kindesalter
Die Entwicklungen seit Ende des letzten Jahrhunderts
Ursachen der Aphasien im Kindes- und Jugendalter
Einige Vorüberlegungen zum Gehirn
Das Schädel-Hirn-Trauma
Klassifikationen von Schädel-Hirn-Traumen
Die Gehirnerschütterung – ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma
Die Gehirnquetschung – ein schweres Schädel-Hirn-Trauma
Was geschieht bei einem schweren SHT?
Der Schlaganfall
Ursachen
Symptomatik
Weitere Ursachen
Wie ist eine Heilung oder Besserung nach einer Hirnschädigung zu erklären?
Symptome der Aphasien
Initialer Mutismus
Spontansprache
Sprachverständnis
Schriftsprache
Kommunikation und Pragmatik
Begleiterscheinungen
(Halbseiten-)Lähmungen (Parese/Plegie)
Dysarthrien
Neuropsychologische Beeinträchtigungen
Verhaltensauffälligkeiten
Klassifikationsbemühungen
Exkurs: Das Landau-Kleffner-Syndrom
Verlauf und Prognose
Prognosefaktoren
Intervention: Diagnostik und Therapie
Diagnostik
Therapie
Therapieziele
Therapiedurchführung und Methoden
Exkurs: Effizienz und Effektivität von Therapie
Elternarbeit
Andere Therapiebereiche
Ergotherapie
Physiotherapie (Krankengymnastik)
Neuropsychologische Therapie
Psychosoziale Folgen als zentrale Kategorie
Psychische Veränderungen
Familiäre Veränderungen
Soziale Veränderungen
Schulische Veränderungen
Förderliche Faktoren im schulischen Kontext
Maßnahmen der beruflichen (Re-)Integration
Selbsthilfearbeit
Projekt „Hilfen für Kinder mit Aphasie“
Projekt „Beschulung aphasischer Kinder“
Weitere Beratungsangebote
Nützliche Kontaktadressen
Literaturhinweise
Die „Ratgeber für Angehörige, Betroffene und Fachleute“ vermitteln kurz und prägnant grundlegende Kenntnisse (auf wissenschaftlicher Basis) und Hilfestellungen zu ausgewählten Themen aus den Bereichen Sprachtherapie, Ergotherapie und Medizin. Die Autor(inn)en der Reihe sind ausgewiesene Fachleute, die seit vielen Jahren in Therapie, in Beratung, in Forschung und Lehre tätig sind.
Kinder und Jugendliche, die von einer Aphasie betroffen sind, sind eine relativ kleine Patientengruppe, die in der Grundlagenund Therapieforschung nur selten beachtet wird. Bei Eltern und Angehörigen, aber auch bei den Experten des neurologischen Rehabilitationsteams herrscht daher oft Unsicherheit darüber, wie sich dieses Störungsbild von anderen neurogenen Sprachstörungen unterscheidet, wie es am besten therapiert werden kann und wie sich das Kind mit der Aphasie weiter entwickeln wird.
Der vorliegende Ratgeber bietet allen, die mit aphasischen Kindern zu tun haben, einen aktuellen Leitfaden durch das Wissen, das in den letzten Jahren hinzugewonnen wurde. Veraltete Meinungen werden wissenschaftlich fundiert über Bord geworfen, die Leser erhalten einen Überblick über Ursachen und Verlaufsphasen der Störung und Therapeuten wertvolle Hinweise auf diagnostisch und therapeutisch sinnvolle Vorgehensweisen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der teilhabe-orientierten Rehabilitation, d.h. auf dem Einbezug von Eltern, Familie, Freunden und Schule. Damit und mit den abschließenden Hinweisen auf Kontaktadressen und Informationsquellen gelingt es dem Ratgeber hoffentlich, das Störungsbild bekannter zu machen, das Forschungsinteresse der Neuro-Rehabilitation auch auf kindliche Aphasien zu lenken und den Betroffenen ein paar Antworten auf die vielen offenen Fragen zu geben.
Prof. Dr. Claudia Iven
Herausgeberin
Die Originalzitate der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie der Eltern entstanden im Rahmen der Projekte „Hilfen für Kinder mit Aphasie“ und „Beschulung aphasischer Kinder“ des Bundesverbands für die Rehabilitation der Aphasiker e.V. und der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung.
Aphasie bei Kindern und Jugendlichen ist eine erworbene Sprachbehinderung, die infolge einer Schädigung des Gehirns durch Schädelhirntrauma, Schlaganfall, Tumor oder entzündliche Erkrankungen (z.B. Hirnhautentzündungen) in unterschiedlicher Ausprägung auftreten kann.
Bis zum Alter von 15 Jahren erleiden in Deutschland nach einer Schätzung des Bundesverbands Aphasie e.V. jährlich etwa 3.000 Kinder und Jugendliche eine Aphasie. Wissenschaftlich gesicherte Informationen zur Zahl der Neuerkrankungen pro Jahr (Inzidenzrate) und zur Gesamtanzahl aphasischer Kinder und Jugendlicher (Prävalenzrate) in Deutschland gibt es bisher nicht. Man vermutet, dass es sich bei den Aphasien im Kindes- und Jugendalter um ein häufig nicht erkanntes bzw. wenig berücksichtigtes Phänomen handelt. Daher muss von einer hohen Dunkelziffer an Betroffenen ausgegangen werden.
Bei einer Aphasie können alle vier sprachlichen Modalitäten -Sprechen, Verstehen, Schreiben und Lesen – sowie alle linguistischen Ebenen wie Phonologie (Kombination von Lauten), Morphologie (Wortbildung), Syntax (Satzbau) und Semantik (Bedeutung) betroffen sein. Sekundär kann eine Aphasie unter Umständen auch die Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigen.
Sprachverständnis | Sprachproduktion | Lesen | Schreiben |
APHASIE | |||
Phonologie | Morphologie | Semantik |
Syntax |
Kommunikationsfähigkeit |
In der Literatur herrscht hinsichtlich der kindlichen Aphasie keine Einigkeit über die Alterseingrenzung. Die meisten Fachleute sprechen erst ab ca. dem 2. Lebensjahr von einer kindlichen Aphasie, wenn der Spracherwerb auf Wortebene bereits eingesetzt hat. Hirnschädigungen, die vor diesem Alter auftreten, können ebenfalls sprachliche Beeinträchtigungen verursachen. Die betroffenen Kinder sind dann meist von Beginn an nicht in der Lage, eine normale Sprachentwicklung zu durchlaufen. Davon ist die Aphasie abzugrenzen.
„Das Wort Aphasie habe ich zum ersten Mal in der IntensivStation gehört, nachdem ein Arzt nach Elenas Aufwachen aus dem Koma dies diagnostizierte. Ich bin dann in die Fachbuchhandlung in der Klinik gegangen und habe in Büchern nachgeschaut. Dort habe ich dann gestanden und versucht zu begreifen, was es bedeutet.“
Monika B., Mutter der betroffenen Elena
BEACHTE
Erworbene Aphasien sind von Verzögerungen und Behinderungen der kindlichen Sprachentwicklung zu unterscheiden!
Im Gegensatz zu Aphasien treten Sprachentwicklungsstörungen nicht plötzlich auf und sind nicht durch eine akute Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS) bedingt. Sprachentwicklungsauffällige Kinder sprechen selbst mit drei Jahren noch wenig oder nichts. Auch im Kindergartenalter bestehen die Äußerungen nur aus einzelnen Wörtern oder kleinkindhaften Sätzen im Telegrammstil. Die Lautstrukturen sind oft mehrfach verändert und verkürzt. Mögliche Ursachen von Sprachentwicklungsstörungen sind:
Hörstörungen
Missbildung der Artikulationsorgane (z.B. Gaumenspalte)
Minimale Zerebrale Dysfunktionen (MCD) als Folge von Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen oder einer Erkrankung des ZNS im frühen Kindesalter
Genetische Veranlagung
Psychosoziale Vernachlässigung
Sprachentwicklungsstörungen treten häufig mit anderen Behinderungen der körperlichen und geistigen Entwicklung oder mit generellen Störungen des sozialen Verhaltens auf. Aber auch ein isoliertes Auftreten ist möglich. Sofern als Ursachen vererbte oder frühkindlich erworbene Fehlfunktionen des ZNS anzunehmen sind, wurden Sprachentwicklungsstörungen früher auch Entwicklungsaphasie genannt. Deren Symptome und Syndrome sind anders als die der erworbenen Aphasien. Zudem ist zu beachten, dass diese Begrifflichkeit mittlerweile veraltet ist.
Auch Kinder, die ihre Sprachentwicklung noch nicht abgeschlossen haben, können eine Aphasie erleiden. Es muss jedoch beachtet werden, dass es sich bei einer Aphasie immer um einen Abbau oder Verlust vorhandener Sprachfunktionen handelt. Darin zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zu Sprachentwicklungsstörungen.
BEACHTE
Aphasien treten nach bzw. während eines zunächst normal verlaufenden Spracherwerbs ein. Sie sind die Folge eines klar umschriebenen Ereignisses! Allerdings können auch Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen eine Aphasie erleiden.
Aphasie in jungen Jahren unterscheidet sich in Erscheinungsbild und Verlauf nicht nur von Sprachentwicklungsstörungen, sondern auch erheblich von den Aphasien bei Erwachsenen. Man grenzt zudem kindliche Aphasien von Aphasien bei Jugendlichen ab, da sich die Kinder meist noch mitten im Erstspracherwerb befinden, während Jugendliche diesen bereits weitgehend abgeschlossen haben. Somit stehen die Jugendlichen den Erwachsenen mit Aphasie näher. Gemeinsam sind den aphasischen Kindern und Jugendlichen jedoch das Familienleben und der Schulbesuch als lebensweltliche Rahmenbedingungen, die im Fall von Aphasie vergleichbare psychosoziale Veränderungen zur Folge haben.
Kindliche Aphasien unterscheiden sich von Aphasien bei Erwachsenen hauptsächlich dadurch, dass die häufigsten Ursachen traumatischer Natur sind und meist vor abgeschlossenem Spracherwerb eintreten. Im Gegensatz dazu sind Aphasien bei Erwachsenen zu ca. 80% Folge einer Durchblutungsstörung, sprich die Folge eines Schlaganfalls.
Gerade im psychosozialen Bereich hat die Aphasie große Auswirkungen auf das Kind bzw. den Jugendlichen und dessen Angehörigen. Die Sprache versagt ihren Dienst, Freunde ziehen sich zurück, der Betroffene wird häufig aggressiv oder depressiv. Eltern und Angehörige sind oftmals hilflos.
BEACHTE
Durch die Aphasie entstehen sowohl für die Betroffenen als auch die Angehörigen Kommunikationsprobleme, die für alle Beteiligten zu Veränderungen im Alltag führen. Aus diesem Grund müssen Therapeuten auch die Angehörigen in den Interventionsprozess aktiv einbeziehen.
Möchte man heutige Erkenntnisse verstehen, ist es sinnvoll, ihre geschichtliche Entstehung und Entwicklung zu betrachten.