Myofunktionelle
Störungen
Ein Ratgeber für Eltern und
erwachsene Betroffene
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4., überarb. Auflage 2012
3., überarb. Auflage 2008
2., überarb. Auflage 2006
1. Auflage 2004
ISBN 978-3-8248-0682-9
Alle Rechte vorbehalten
© Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2012
Mollweg 2, D-65510 Idstein
Vertretungsberechtigter Geschäftsführer: Dr. Ullrich Schulz-Kirchner
Lektorat: Doris Zimmermann
Umschlagentwurf und Layout: Petra Jeck
Umschlagfoto: © Monia/Bigstockphoto.com
Printed in Germany
Auch als Buch erhältlich unter der ISBN 978-3-8248-0438-2
| Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Reihe
Einleitung
Verordnung einer logopädischen Behandlung durch den Arzt
Was versteht man unter einer „Myofunktionellen Störung“, einer „Dystonie des Schluckaktes in der oralen Phase“ oder einer „Störung des orofazialen Gleichgewichts“?
Was passiert beim richtigen Schlucken?
Was passiert beim falschen Schlucken?
Wo befindet sich die Ruhelage der Zunge bei Falschschluckern?
Welche typischen Veränderungen sind bei einer Myofunktionellen Störung noch zu erkennen?
Welche weiteren Probleme können auftreten?
Wie lassen sich die beschriebenen Merkmale beseitigen, verbessern, verändern?
Ursachen von Myofunktionellen Störungen
Säuglingsernährung
Stillen als günstige Säuglingsernährung
Flaschenernährung als problematische Säuglingsernährung
Lutschgewohnheiten
Fingernägel kauen
Behinderte Nasenatmung
Zahn- und Kieferstellung
Kieferorthopädische Geräte
Reizüberflutung/Überforderung
Ursachen und mögliche Vorbeugung von Myofunktionellen Störungen
Wie kann professionelle Hilfe unterstützt werden?
Welche Übungen sind ungeeignet?
Geeignete Übungen zur Myofunktionellen Therapie bei Schulkindern
Geeignete Übungen für Jugendliche und Erwachsene
Geeignete Übungen für Kinder ab ca. 4 Jahren
Geeignete Übungen für Kinder zwischen 2 und 4 Jahren
Geeignete Übungen für Säuglinge und Kleinkinder
Nachwort
Anhang
Glossar
Literatur und Adressen
Die Autorin
Anita M. Kittel absolvierte ihre Ausbildung zur Logopädin in Erlangen. Seit 1982 besitzt sie eine eigene Logopädische Praxis in Reutlingen und beschäftigt sich intensiv mit der Myofunktionellen Therapie und der Entwicklung eigener Therapiekonzepte alternativ zu amerikanischen Programmen. Ihre Modifikationen gibt sie auf Tagungen und Kongressen, vor allem aber in Fortbildungen für LogopädInnen, SprachtherapeutInnen, SprachheilpädagogInnen, Atem-, Sprech- und Stimmlehrer Innen und ÄrztInnen, Eltern und Interessierte weiter.
Die „Ratgeber für Angehörige, Betroffene und Fachleute“ vermitteln kurz und prägnant grundlegende Kenntnisse (auf wissenschaftlicher Basis) und Hilfestellungen zu ausgewählten Themen aus den Bereichen Sprachtherapie, Ergotherapie und Medizin. Die Autor(inn)en der Reihe sind ausgewiesene Fachleute, die seit vielen Jahren in der Therapie, in der Beratung und in der Aus-/Weiterbildung tätig sind.
Im vorliegenden Band „Myofunktionelle Störungen“ hat Frau Anita Kittel, eine durch ihre Publikationen und ihren Einsatz für die Sache weithin bekannte Therapeutin und Fachkollegin, die wesentlichen Aspekte der Thematik zusammenfassend dargestellt. Eltern betroffener Kinder finden kompetenten Rat, ebenso können jugendliche und erwachsene Betroffene Informationen und Tipps entnehmen. Ich wünsche dem Band eine gute Aufnahme durch die Leserinnen und Leser.
Sie waren mit Ihrem Kind beim Kieferorthopäden und dieser sprach davon, dass Ihr/e 9-Jährige/r eine Myofunktionelle Therapie brauche, weil er/sie falsch schlucke. Er empfahl Ihnen, sich an eine Logopädin/eine Therapeutin zu wenden, um diese Therapie durchführen zu lassen.
Eventuell ist Ihr Kind aber noch jünger, vier oder fünf Jahre alt, und Sie wurden vom Kinderarzt zur Logopädin geschickt, weil Ihr Kind das /s/ oder das /sch/ nicht richtig aussprechen kann: Es stößt bei der s-Lautbildung an die Zähne an oder es bringt die Zunge zwischen die Zähne, das heißt, es lispelt. Es kann auch sein, dass die Luft seitlich entweicht, was umgangssprachlich als Hölzeln bezeichnet wird. Die Logopädin sagt Ihnen, dass zunächst nicht am Sprachlaut gearbeitet werden würde, sondern zuerst die Muskulatur der Zunge und der Lippen mithilfe einer Myofunktionellen Therapie ausgeglichen werden müsste.
Vielleicht hat Sie aber auch die Erzieherin darauf aufmerksam gemacht, dass Ihr Kind undeutlich und verwaschen spreche.
Unter Umständen kommen Sie jedoch zur Logopädin, weil Ihnen aufgefallen ist, dass Ihr zweijähriges Kind extrem stark speichelt, wenig schluckt und ständig den Mund offen hat.
Möglicherweise ist Ihr Kind noch jünger: Ihr Kinderarzt ist sehr umsichtig und schickt Sie und Ihr Kind, das mit einer Behinderung zur Welt kam, gleich in den ersten Wochen zur Logopädin, weil bekannt ist, dass in diesen Fällen häufig Probleme mit dem Mundschluss, der Nasenatmung, dem Schlucken und der Sprachentwicklung auftreten können. Durch eine so frühzeitige Beratung, Anleitung oder Behandlung können viele Funktionen des Mundes gut gefördert und ungünstige Entwicklungen in vielen Fällen stark abgemildert werden.
Sollten Sie ein Kind mit einer Spaltbildung an Lippen und/oder Kiefer und Gaumen haben, dann suchen Sie ebenfalls sehr frühzeitig, d.h. in den ersten Lebenswochen, um Rat.
Auch ein Kind mit Morbus Down-Syndrom bekommt durch eine frühzeitige, gleich nach der Geburt einsetzenden Einflussnahme die Chance, eine korrekte Zungenlage zu entwickeln und den Mund geschlossen halten zu können. Durch die günstige Beeinflussung von Zunge und Lippen sind bessere Voraussetzungen für die spätere Artikulation gegeben.
In diesem Ratgeber soll darauf eingegangen werden, bei welchen Problematiken Sie oder Ihr Kind eine Therapie benötigen.
Gründe für eine Therapie könnten sein:
• Zahnstellungsanomalien in Verbindung mit einem gegen oder zwischen die Zähne gerichteten Schluckvorgang
• Artikulationsstörungen in Verbindung mit inkorrektem Schluckmuster
• Mundatmung
• Schnarchen
• Kiefergelenksbeschwerden
• Kopf- und Gesichtsschmerzen
• Eine geplante Kieferoperation
• Probleme mit dem Zahnfleisch
• Probleme mit dem Halt einer Zahnprothese
• Schluckprobleme aufgrund einer Operation am Kehlkopf
• Schluckprobleme aufgrund neurologischer Krankheiten
• Schluckprobleme nach einem Schlaganfall oder einem Tumor
Durch diesen Ratgeber sollen Sie die Funktionen im Mund- und Gesichtsbereich in Kurzform kennen und verstehen lernen. Sie sollen erfahren, was Sie zusammen mit der Logopädin und unterstützend durch häusliches Üben tun können.
Die drei zuletzt genannten Gründe für eine Überweisung durch einen Arzt an die Logopädin kann ich allerdings nur streifen. Dafür sollten Sie einen besonderen Ratgeber in Anspruch nehmen (s. Herbst-Rietschel, 2009).
SP3 Störung der Artikulation, Dyslalie mit Störung des orofazialen Muskelgleichgewichts
(Wenn Artikulationsfehler des s-Lautes oder sch-Lautes oder anderer Laute neben einer Myofunktionellen Störung vorliegen.)
SC1 Störung des Schluckaktes in der oralen Phase
(Wenn keine Störung der Artikulation gleichzeitig vorliegt.)
→ Diese Diagnosen wird Ihr Hausarzt, Kinderarzt oder der HNO-Arzt auf die Heilmittelverordnung schreiben.
• Zungenfehlfunktion
• Verdacht auf Sigmatismus
• Sigmatismus und Zungenfehlfunktion
• Sigmatismus addentalis
• Sigmatismus interdentalis und orofaziale Muskelfunktionsstörung
• Sigmatismus lateralis
• Schetismus
Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung werde ich durchgängig von der ‚Logopädin’ sprechen, da Sie wahrscheinlich nur zu einem geringen Prozentsatz männliche Kollegen als Therapeuten bekommen werden. Selbstverständlich sind aber Personen beider Geschlechter gemeint! Eventuell sind Sie bei einer Therapeutin einer anderen Berufsgruppe in Behandlung – der Einfachheit halber werde ich auch hier von der ‚Logopädin’ stellvertretend für alle TherapeutInnen sprechen.
Diese Begriffe hörten Sie möglicherweise von Ihrem Arzt, Ihrer Logopädin oder Sie lasen sie auf einer Verordnung für die Krankenkasse. Was bedeuten sie?
Mit ‚Myo’ ist ‚Muskel’ gemeint. ‚Myofunktionell’ heißt: die Funktion der Muskeln betreffend, allerdings nicht unbedingt der Hand- oder Beinmuskulatur, sondern ganz speziell der Muskeln des Mundes (oral) und des Gesichts (fazial). Dennoch werden Sie sehen, dass bei Problemen der Zungen- und Gesichtsmuskulatur oft auch an Rücken- und Bauchmuskulatur gearbeitet werden muss. Dazu aber später.
‚Dystonie’ kommt vom griechischen ‚Dys‘, es bedeutet ‚nicht ausgeglichen’, und ‚...tonie’ kommt von Tonus, was Muskelspannung bedeutet; es geht also um eine nicht ausgeglichene Muskelspannung beim Schlucken, und zwar während der Phase, die willentlich steuerbar im Mundraum (oral) abläuft.
Bevor ich erkläre, was das falsche Schlucken charakterisiert, will ich zuerst aufzeigen, was die normale Schluckfunktion ausmacht.