cover
Titelseite

 

 

 

 

 

Für Jonathan und sein
grandioses Meeresflüglerkostüm.

Die Drachen von Pyrrhia

SANDFLÜGLER

Sandflügler

Aussehen: blassgoldene oder weiße Schuppen von der Farbe des Wüstensandes, giftige Schwanzspitze, gespaltene schwarze Zunge

Fähigkeiten: können lange ohne Wasser überleben, vergiften Feinde mit ihren Schwanzspitzen wie Skorpione, graben sich zur Tarnung in den Wüstensand ein, speien Feuer

Königin: Seit dem Tod von Königin Oasis ist der Stamm gespalten. Es gibt drei konkurrierende Anwärterinnen auf den Thron: die Schwestern Burn, Blister und Blaze.

Bündnisse: Burn kämpft an der Seite der Himmelsflügler und Erdflügler, Blister hat sich mit den Meeresflüglern verbündet, Blaze wird von den meisten Sandflüglern und den Eisflüglern unterstützt.

ERDFLÜGLER

Erdflügler

Aussehen: dicke, gepanzerte braune Schuppen, manchmal mit bernsteinfarbenen und goldenen Unterschuppen; große, flache Schädel mit Nüstern auf der Oberseite der Schnauze

Fähigkeiten: können Feuer atmen (wenn ihnen warm genug ist), bis zu einer Stunde lang den Atem anhalten, sich in großen Schlammpfützen verbergen; sind in der Regel sehr stark

Königin: Königin Moorhen

Bündnisse: zurzeit mit Burn und den Himmelsflüglern im großen Krieg verbündet

HIMMELSFLÜGLER

Himmelsflügler

Aussehen: rotgoldene oder orangefarbene Schuppen, riesige Flügel

Fähigkeiten: starke Kämpfer und Flieger, können Feuer speien

Königin: Königin Scarlet

Bündnisse: zurzeit mit Burn und den Erdflüglern im großen Krieg verbündet

EISFLÜGLER

Eisflügler

Aussehen: silberfarbene Schuppen wie der Mond oder blassblaue wie Eis; Krallen mit Furchen, um besseren Halt auf dem Eis zu haben; gespaltene blaue Zungen; schmale Schwänze, die in einer dünnen Spitze auslaufen

Fähigkeiten: können Temperaturen unter null und grellem Licht standhalten, atmen einen todbringenden Eisatem aus

Königin: Königin Glacier

Bündnisse: zurzeit mit Blaze und den meisten Sandflüglern im großen Krieg verbündet

REGENFLÜGLER

Regenflügler

Aussehen: Schuppen wechseln ständig die Farbe, in der Regel bunt wie Paradiesvögel, in der Regel Greifschwänze

Fähigkeiten: besitzen Tarnschuppen, die mit der Umgebung verschmelzen, benutzen ihre Greifschwänze zum Klettern; keine bekannten natürlichen Waffen

Königin: Königin Dazzling

Bündnisse: nicht am großen Krieg beteiligt

MEERESFLÜGLER

Meeresflügler

Aussehen: blaue, grüne oder grünblaue Schuppen, Schwimmhäute zwischen den Krallen, Kiemen am Hals, Leuchtstreifen auf Schwanz, Schnauze und Bauch

Fähigkeiten: können unter Wasser atmen, im Dunkeln sehen, große Wellen mit einem Schwanzschlag erzeugen; hervorragende Schwimmer

Königin: Königin Coral

Bündnisse: zurzeit mit Blister im großen Krieg verbündet

NACHTFLÜGLER

Nachtflügler

Aussehen: lilaschwarze Schuppen mit vereinzelten silbernen Schuppen auf der Unterseite der Flügel – wie ein Nachthimmel voller Sterne, gespaltene schwarze Zunge

Fähigkeiten: können Feuer speien, in dunklen Schatten verschwinden, Gedanken lesen, die Zukunft voraussagen

Königin: ein streng gehütetes Geheimnis

Bündnisse: zu geheimnisvoll und mächtig, um am Krieg teilzunehmen

DIE PROPHEZEIUNG
DER
DRACHEN

Wenn der Krieg getobt hat zwanzig Jahr,
werden die Drachlinge kommen.
Wenn das Land gepeinigt wird von Blut und Gefahr,
werden die Drachlinge kommen.
 
Die Schwingen des Meeres im Ei vom dunkelsten Blau.
Die Schwingen der Nacht gebracht aus nebligem Grau.
Das größte Ei hoch oben auf dem Berg gelegen,
wird Dir die Schwingen des Himmels geben.
Die Schwingen der Erde haben im Sumpf geruht,
in einem Ei so rot wie Drachenblut.
Und gut versteckt vor den Königinnen im Zwist,
wartet das Ei mit den Schwingen des Sandes dort, wo es ist.
 
Blister, Blaze und Burn, drei Königinnen gar,
zwei werden sterben und eine wird gewahr,
dass sie erlangt die Schwingen des Feuers,
wenn sie sich fügt einem Schicksal teuer.
 
Fünf Eier, geschlüpft in der hellsten Nacht,
fünf Drachlinge, geboren zu enden die Schlacht.
Dunkelheit steigt auf und bringt das Licht mit Macht.
Die Drachlinge kommen …

PROLOG

Unter Wasser konnte Webs die Schreie der sterbenden Drachen nicht hören.

Unter Wasser war die Schlacht so weit weg wie die drei Monde am Himmel. Kein Feuer konnte ihm etwas anhaben. Keine Krallen konnten ihn entstellen. Das Blut wurde von seinen Klauen gewaschen.

Unter Wasser war er sicher.

Sicher und ein Feigling … immer noch besser als treu, tapfer und tot.

Webs wurde aus seinem unruhigen Schlaf gerissen.

Ein Katzenwels starrte ihn verdutzt an. Die Bartfäden an seinem Maul bewegten sich in der Strömung. Warum schläft ein Drache auf meinen Flusssteinen?, schien sein Gesichtsausdruck zu fragen.

Webs fraß den Fisch auf. Danach ging es ihm besser.

Die Klauen des Friedens wissen bestimmt schon, was passiert ist, dachte er. Sie haben Spione im Palast der Himmelsflügler.

Es war nicht notwendig, dass er sich vor sie hinstellte und sagte: »Wir haben versagt.«

Aber wohin konnte er gehen? Er versteckte sich bereits vor seinem eigenen Stamm, den Meeresflüglern. Musste er sich jetzt auch noch für den Rest seines Lebens vor den Klauen des Friedens verstecken?

Er schwamm zur Oberfläche des Flusses und steckte vorsichtig den Kopf hinaus. Es war dunkel. Das Wolkengebirge sah aus wie riesige, schemenhafte Zähne und verschluckte den größten Teil des Mondlichts. Webs war tagelang den Fluss hinuntergeschwommen. Das Königreich des Himmels war jetzt weit weg.

Das Königreich des Himmels und die fünf Drachlinge, die zu schützen er geschworen hatte.

Webs hievte seinen langen, schmerzenden Körper aus dem Wasser und war schon drei Schritte auf den Wald zugegangen, bevor er die dunklen Schatten bemerkte, die auf ihn warteten.

Er wirbelte herum, doch aus dem Fluss hinter ihm tauchte ein weiterer Drache auf, der ihm den Rückweg versperrte. Seine grünen Schuppen hatten ein schwarzes, spiralförmiges Muster und seine Zähne schimmerten im Mondlicht.

»Webs«, sprach ihn der andere Meeresflügler freundlich an. »Ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht mehr aufwachen.«

Webs zog seine Krallen durch den Schlamm der Uferböschung. »Nautilus«, sagte er und hasste das ängstliche Zittern in seiner Stimme. »Ich habe wichtige Nachrichten für die Klauen.«

»Was du nicht sagst«, erwiderte Nautilus. »Ich nehme an, du hast dich auf dem Weg zum üblichen Treffpunkt verlaufen.«

»Deshalb haben wir uns gedacht, es wäre besser, nach dir zu suchen«, meldete sich eine der dunklen Gestalten, mit einer Stimme, die wie tropfende Eiszapfen klang. Cirrus, dachte Webs. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn der Eisflügler auftauchte.

»Die Himmelsflügler haben unsere Höhle gefunden«, fuhr Webs fort. Sag einfach die Wahrheit, es ist nicht deine Schuld. »Und Königin Scarlet hat die Drachlinge mitgenommen.«

»Ja«, meinte Nautilus trocken. »Das haben wir uns schon gedacht, nachdem sie sich praktisch auf den höchsten Berg gestellt und ›Ich habe die Drachlinge der Vorsehung! Sie gehören alle mir!‹ gebrüllt hat.«

»Erzähl uns alles«, zischte Cirrus. »Wie haben sie euch gefunden?«

»Na ja«, sagte Webs langsam. »Angefangen hat es damit, dass zwei der Drachlinge versucht haben wegzulaufen.« Vielleicht auch drei. Er war sich nicht so sicher, wo Glory an dem Abend gewesen war, an dem er nur Starflight und Sunny gefunden hatte. Aber er wusste, dass sie nicht mit Tsunami und Clay zusammen in den Fluss gestiegen sein konnte.

»Warum wollten sie weglaufen?«, fragte Nautilus mit scharfer Stimme. »Was habt ihr mit ihnen gemacht?«

Webs spürte, wie seine Kiemen flatterten. »Wir haben sie am Leben gehalten«, fuhr er den Drachen an. Und sie unter der Erde eingesperrt. Und Tsunami in Ketten gelegt. Und geplant, Glory zu töten, weil sie nicht Teil der Prophezeiung war. Aber hatten wir denn eine andere Wahl?

»Ihr habt die Ausreißer doch sicher wieder eingefangen und sicher in die Höhle zurückgebracht«, sagte eine Stimme in den Schatten. Webs erkannte Crocodile, einen weiblichen Erdflügler, der neu bei den Klauen des Friedens war. Hoffnung keimte in ihm auf. Er hatte Crocodile ein paarmal getroffen und sie war ihm sehr sympathisch gewesen. Vielleicht hatte er ja eine Verbündete.

»Ähm … nein«, erwiderte Webs. »Genau genommen nicht. Sie sind sozusagen … aus freien Stücken zurückgekommen. Um die anderen zu holen.« Er räusperte sich. »Damit hatten wir nicht gerechnet.« Kestrel dachte, sie würden über alle Berge sein, sobald sie in der Luft waren.

»Das klingt ja, als hätten sie sich wie Gefangene gefühlt«, sagte Nautilus mit einem leisen Zischen.

»Ihr habt uns doch befohlen, sie unter der Erde zu behalten«, protestierte Webs. »Das war eine Entscheidung der Klauen!«

»Aber sie sollten artig sein, nicht aufsässig«, wandte Nautilus verärgert ein. »Darum ging es doch bei der ganzen Sache, oder nicht?«

Ein lautes Raunen ging durch den Kreis aus Drachen. Soweit Webs das sagen konnte, waren es sieben. Er fragte sich, ob er an sieben Drachen vorbeikommen würde.

»Es war nicht unsere Schuld«, stammelte er. »Vielleicht stimmt etwas nicht mit ihnen.«

»Und was hat das mit den Himmelsflüglern zu tun?«, zischte Cirrus.

»Die Himmelsflügler sind Clay und Tsunami zur Höhle gefolgt«, erklärte Webs. »Und so hat Königin Scarlet uns gefunden. Wir haben alles versucht, um uns zu wehren, aber sie hat Dune getötet und außer den Drachlingen auch noch Kestrel mitgenommen.«

»Sollen sie in ihrer Arena kämpfen?«, erkundigte sich Crocodile. »Können sie gewinnen?«

»Es sind junge Drachlinge«, knurrte Cirrus. »Die Arena werden sie auf keinen Fall überleben.«

»Zumindest den Himmelsflügler wird sie doch sicher verschonen«, meinte Crocodile.

Webs zuckte zusammen. Er hatte nie den Mut gehabt, den Klauen des Friedens zu gestehen, dass sie ihren Himmelsflügler-Drachling verloren und durch einen Regenflügler ersetzt hatten. Doch jetzt, wo die Drachlinge nicht mehr unter dem Berg waren, würden es bald alle wissen.

»Du weißt, was Königin Scarlet mit sämtlichen Drachlingen der Himmelsflügler gemacht hat, die in der hellsten Nacht geschlüpft sind«, zischte Cirrus. »Sie ist nicht gerade für Barmherzigkeit bekannt.«

Webs hob den Kopf und starrte in Richtung der Augen, die in der Dunkelheit funkelten. »Können wir sie denn nicht holen?«, fragte er. »Vielleicht, wenn alle Klauen gemeinsam angreifen würden …« Ihm versagte die Stimme. Wem machte er da gerade etwas vor? Er würde ganz bestimmt nicht in den Himmelspalast eilen, um sich umbringen zu lassen. Und er stand den Drachlingen näher als die anderen Mitglieder der Klauen, die sie nicht einmal persönlich kannten.

»Alle Klauen?«, zischte Cirrus. »Vierzig Drachen gegen hundert Palastwachen der Himmelsflügler? Ein brillanter Plan. Kein Wunder, dass wir die Drachlinge in deinen fähigen Krallen gelassen haben.« Sein rautenförmiger Kopf schoss nach oben und schnappte sich eine vorbeifliegende Fledermaus. Winzige Knochen wurden zwischen seinen Zähnen zermalmt.

»Ein Selbstmordkommando wird vielleicht nicht notwendig sein«, warf Nautilus ein. »Gestern ist etwas im Himmelspalast passiert. Bis jetzt haben wir noch keine genauen Berichte, aber einer unserer Spione sagte, Königin Scarlet sei wahrscheinlich tot – umgebracht von den Drachlingen.«

Vor Überraschung schlug Webs mit den Flügeln. »Von meinen Drachlingen?«, fragte er.

»Vielleicht haben sie ja ein Talent dafür, immer zu entkommen«, meinte Nautilus. »Allerdings meldete ein anderer Spion, dass sie bei diesem Fluchtversuch alle umgekommen sind.«

Webs' Magen fühlte sich an, als wäre er mit giftigen Quallen gefüllt. Die Drachlinge konnten nicht tot sein. Nicht, nachdem er alles um der Prophezeiung willen aufgegeben hatte. Und um meine eigenen Schuppen zu retten, flüsterte eine leise Stimme in seinem Kopf.

»Falls sie noch am Leben sind, wo sollen wir sie deiner Meinung nach suchen?«, fragte Nautilus. »Aber bitte keine Vorschläge, die vorsehen, dass wir Selbstmord begehen. Zumindest nicht für uns. Dir steht es selbstverständlich frei, dich umbringen zu lassen, wenn es uns etwas nützt.«

»Ich weiß es nicht«, musste Webs zugeben. Er hatte keine Ahnung, wo die Drachlinge hingegangen sein könnten. Er verstand nicht einmal, warum sie auf sich allein gestellt sein wollten, völlig ohne den Schutz ihrer Erzieher. Die schlimmste Zeit seines Lebens waren die zehn Tage gewesen, in denen er allein durch Pyrrhia geirrt war, ohne einen Ort, an dem er sich sicher fühlte. Die langen Tage zwischen der Schlacht, in der er seine Königin im Stich gelassen hatte, und dem Moment, in dem die Klauen des Friedens ihn gefunden hatten. Allein auf sich gestellt, ohne einen Stamm, der ihnen half, und ohne die Klauen, die sie beschützen konnten … wie wollten die Drachlinge denn überleben?

»Wenn wir die Drachlinge nicht wiederbekommen«, überlegte Nautilus, »werden wir wohl auf unseren Ersatzplan zurückgreifen müssen.« Er kratzte sich nachdenklich die Kiemen.

»Was für ein Ersatzplan?«, fragte Webs verblüfft.

»Na ja, der, von dem du nichts weißt«, erwiderte Cirrus.

»Aber … aber wir müssen sie wiederbekommen«, protestierte Webs. »Sie sind die Drachlinge. Sie sind die Einzigen, die den Krieg beenden können.«

»Vertrau auf die Prophezeiung«, meinte Nautilus.

»Ja, mach dir keine Sorgen«, beschwichtigte Crocodile ebenfalls. »Die Klauen des Friedens würden doch nicht alle Eier in einen Korb legen. Es ist ein guter Ersatzplan.«

Webs' Blick ging von einer der schemenhaften Schnauzen zur anderen. Crocodiles Augen waren die einzigen, in denen etwas Freundlichkeit zu erkennen war.

»Das verstehe ich nicht«, sagte er schließlich. Gab es vielleicht noch eine Prophezeiung, von der er nichts wusste?

»Allerdings wärst du dann ein Problem für uns«, meinte Nautilus.

Webs hatte kaum Zeit, um »Was?« zu fragen, als ihm auch schon Cirrus auf den Rücken sprang und ihn zu Boden warf. Die Wunden, die die Soldaten der Himmelsflügler ihm zugefügt hatten, rissen erneut auf und begannen wieder zu bluten. Einer seiner Flügel wurde nach hinten gerissen, und er spürte, wie sich die gefurchten Krallen des Eisflüglers in seine Schuppen gruben.

»Was tut ihr da?«, jaulte Webs. »Ich bin doch einer von euch! Ich bin seit sieben Jahren bei den Klauen des Friedens!«

»Und du hast versagt«, zischte Cirrus.

»Na, na …«, sagte Nautilus, dann schwieg er kurz. »Nein, stimmt schon.«

»Ich werde dir das Herz rausreißen und es an die Fische verfüttern«, knurrte Cirrus.

Oh welche Ironie des Schicksals, dachte Webs angesichts des Fisches, den er gerade gefressen hatte. »Aber wir sind doch die Drachen des Friedens«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wenn wir uns gegenseitig töten, sind wir dann nicht genauso böse wie Burn, Blister und Blaze?«

»Tut mir leid, Webs«, sagte Nautilus. »Der Frieden ist wichtiger als ein einzelner Drache. Und du würdest unseren Ersatzplan nur gefährden. Wir tun das zu deinem Besten. Für die Prophezeiung. Für den Frieden.«

Webs hörte das grauenhafte Echo seiner eigenen Worte – genau das hatte er immer zu den Drachlingen gesagt, wenn diese sich über das Leben unter dem Berg beschwert hatten. Es ist zu eurem Besten. Der Frieden ist das Wichtigste. Als er es gesagt hatte, hatte er es geglaubt. Nautilus glaubte es zweifellos auch.

Nautilus gab mit der Klaue ein Zeichen. »Cirrus, reiß ihm das Herz raus.«

Cirrus riss das Maul auf und rollte Webs auf den Rücken. Seine scharfen Krallen öffneten und schlossen sich, bereit, Webs den Bauch aufzuschlitzen.

Plötzlich warf sich Crocodile auf Cirrus und stieß ihn in das Unterholz.

Webs zögerte nicht. Er rappelte sich auf und schoss in den Himmel, so schnell seine Flügel ihn tragen konnten. Unter sich hörte er gellende Schreie, als Crocodile die Drachen um sie herum angriff. Webs bekam Gewissensbisse. Sollte er bleiben und ihr zu Hilfe eilen?

Aber warum sollte er zurückfliegen, um sich töten zu lassen, wenn er die Chance bekam weiterzuleben?

Als er Flügelschläge hinter sich hörte, erhöhte er das Tempo. Er befürchtete, dass Cirrus ihm auf den Klauen war oder Nautilus laut zischend näher kam.

Doch es war Crocodiles Stimme, die nach ihm rief.

»Flieg, Webs!«, schrie sie. »Ich habe sie außer Gefecht gesetzt – damit haben sie nicht gerechnet. Ha!«

»Danke«, rief Webs zurück. Als er sich umdrehte, sah er ihren schweren braunen Körper hinter sich in die Höhe steigen.

»Wo wirst du dich verstecken?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe gehört, dass es im Jadeberg einen Drachen gibt, der –«

»Du solltest nach Hause gehen.« Crocodile kippte ihre Flügel und flog direkt unter ihn. »Soviel ich gehört habe, ist Königin Coral zurzeit in sehr gnädiger Stimmung.«

Die freudige Erregung, die Webs von den Hörnern bis zum Schwanz erfasste, raubte ihm fast den Atem. Nach Hause? Zurück ins Meer, nach all den Jahren? War das möglich?

»Sie wird mir nie vergeben, nicht nach dem, was ich getan habe«, sagte er. »Es geht nicht nur darum, dass ich sie in einer Schlacht im Stich gelassen habe. Sie muss wissen, dass ich ihr Ei gestohlen habe.«

»Vielleicht überrascht sie dich«, erwiderte Crocodile. »Ist sie denn nicht angeblich eine der bedeutendsten und gutmütigsten Königinnen aller Zeiten? Das steht jedenfalls in allen Schriftrollen der Meeresflügler. Vielleicht wird sie dir vergeben. Warum gehst du das Risiko nicht ein, wenn es bedeutet, dass du wieder nach Hause kannst?«

Webs schwieg. Einer der Monde ging gerade auf und warf sein bleiches Licht auf die blaugrünen Schuppen des Meeresflüglers. Von hier oben aus konnte er in der Ferne das Meer sehen, doch es schien genauso unerreichbar zu sein wie der Mond.

»Es liegt an dir«, sagte Crocodile, während sie abdrehte. »Ich sage dir nur, was ich gehört habe. Jedenfalls wünsche ich dir viel Glück, egal, wie du dich entscheidest.«

»Auch dir viel Glück«, rief Webs ihr nach, als sie zwischen den Bäumen verschwand, und fragte sich, wohin sie jetzt gehen würde.

Er vermisste das Meer mit jeder Schuppe seines Körpers. Er vermisste die Paläste, die Strömungen, die Walgesänge, die Festmahle, die Gärten … die anderen Meeresflügler.

Wenn ich den Klauen des Friedens abschwöre … wenn ich ihr verspreche, dass ich ihr dieses Mal treu bleiben werde …

Vielleicht kann ich dann wieder nach Hause.

1. Teil: Am Rand des Meeres

1. KAPITEL

Eine Welle donnerte an den Strand und umspülte Tsunamis Klauen. Ihre Krallen versanken trotz der Schwimmhäute zwischen ihnen im nassen Sand. Ihre blauen Flügel bauschten sich im Wind.

Sie hob den Kopf und atmete die wilde Seeluft ein.

Dies war der Ort, an dem sie sein sollte. Hier war das Meer.

»Lass mich raten«, erklang Glorys spöttische Stimme hinter ihr. »Hey, Leute, das ist der Geruch der Freiheit.«

»Die Freiheit stinkt aber ziemlich nach Fisch«, bemerkte Starflight. »Was, um es mal ganz deutlich zu sagen, mir den Atem verschlägt.«

»Ich liebe diesen Geruch«, sagte Tsunami. Die Klauen des Friedens hatten ihn ihr vorenthalten. Sie hatten sie ihr ganzes Leben lang in der muffigen, modrigen Luft unter dem Berg gefangen gehalten, wo sie doch eigentlich hier draußen hätte sein sollen, damit sie wie ein richtiger Meeresflügler fliegen, schwimmen und leben konnte.

Starflight warf einen Blick nach oben in den Himmel und verzog sich dann wieder in den Schatten der Bäume, die den Strand säumten. »Sollten wir nicht besser unter den Bäumen bleiben? Was ist, wenn uns eine Patrouille entdeckt? Ich meine –« Er brach ab und holte tief Luft. »Wir müssen unter den Bäumen bleiben. Ja, genau. Alle wieder unter die Bäume. Jetzt. Sofort.«

Alle ignorierten ihn, allerdings warf ihm Sunny einen mitleidigen Blick zu.

Tsunami senkte den Kopf, um sich die Wellen anzusehen, die um ihre Klauen spülten. Durch das seichte Wasser schossen kleine Fische, silbern, grün und gelb. Das Meer roch viel lebendiger als der Fluss in der Höhle.

War es wirklich erst eine Woche her, seit sie vor ihren Erziehern davongelaufen waren? Es fiel ihr schwer, sich daran zu erinnern, wie lange die Himmelsflügler sie danach gefangen gehalten hatten.

Aber an eines konnte sich Tsunami noch sehr deutlich erinnern: das Geräusch, mit dem Knochen unter ihren Klauen gebrochen waren.

Sie bohrte mit der Kralle ein Loch in den Sand. Ich musste den Meeresflügler töten. Königin Scarlet hat uns gezwungen zu kämpfen. Es hat keine andere Möglichkeit gegeben, wieder aus der Arena herauszukommen. Er war verrückt. Entweder er oder ich.

Tsunami schwirrten immer wieder die gleichen Gedanken im Kopf herum. Sie schüttelte sich und breitete die Flügel aus. Das war doch lächerlich. War sie ein Drache oder ein Zweibeiner? Drachen waren dazu geboren, wilde Krieger zu sein. Was bedeutete da schon der Tod eines einzelnen Drachen?

Außerdem hatte Glory mit ihrem tödlichen Gift viel Schlimmeres angerichtet, was sie jedoch nicht zu stören schien.

»Weißt du, was ich liebe?«, sagte Clay traurig. »Fische. Jede Menge Fische. Große Fische, die ich fressen kann, nicht diese kleinen Appetithäppchen da.« Der Erdflügler setzte sich in den Sand neben Tsunami. Sein Magen grummelte so laut, dass es alle hören konnten.

Sunny kicherte. »Clay, es ist erst einen Tag her, seit du dieses riesige Schwein für uns gefangen hast.«

»So riesig war es nicht«, erwiderte Clay. Er seufzte und ließ die Flügel hängen. »Das war das kleinste Schwein der ganzen Welt.«

»Du hättest meine Karotten fressen sollen.« Sunny kletterte auf seinen Rücken und starrte auf das Meer hinaus. Die aufgehende Sonne warf glitzernde Lichtstrahlen auf das Wasser und färbte den Himmel in alle Rottöne. Zwei der Monde, die jetzt nur noch Sicheln so dünn wie Krallen waren, verschwanden hinter den Bergen.

»Hey, das habe ich ernst gemeint«, meldete sich Starflight. »Draußen auf dem Strand ist es nicht sicher, wenn sämtliche Erdflügler und Himmelsflügler nach uns suchen.« Der Nachtflügler stand in gebührendem Abstand zu den Wellen da und versuchte, den Sand aus seinen Krallen zu schütteln.

Was Tsunami anging, hatten sie bereits einen Tag damit verschwendet, südlich des Diamantenflussdeltas zu fliegen, weil Starflight sich Sorgen gemacht und darauf bestanden hatte. Ja, die Himmelsflügler waren hinter ihnen her. Ja, sie waren vermutlich stinksauer, weil die Drachlinge aus ihrem Gefängnis entkommen waren. Und sie waren ganz bestimmt stocksauer angesichts der Tatsache, dass Glory auf dem Weg in die Freiheit vielleicht ihre Königin getötet hatte.

Aber Tsunami wollte nicht mehr weglaufen. Sie wollte ihre Familie finden. Wenn sie erst einmal wussten, wer sie war, würden die Meeresflügler sie und ihre Freunde bestimmt beschützen.

Und vor allem wollte sie, dass Starflight endlich damit aufhörte, Angst zu haben, ständig zu nörgeln und alle herumzukommandieren. Es machte die anderen nervös. Fast wünschte sie, die Nachtflügler hätten ihn behalten.

»Warum machst du dir eigentlich solche Sorgen?«, fragte ihn Tsunami. »Wenn sie uns tatsächlich wieder einfangen, fallen doch bestimmt wieder deine Nachtflügler-Freunde aus dem Himmel, um dich zu retten.«

Starflight flatterte entrüstet mit den Flügeln. »Ich mache mir doch keine Sorgen um mich«, erwiderte er. »Ich versuche nur, auf uns alle aufzupassen.«

»Ich schaffe das sehr gut allein!«, protestierte Tsunami. »Habe ich uns schon jemals in die Irre geführt?«

»Na ja«, gab Glory zu bedenken, »einmal sind wir von den Himmelsflüglern gefangen genommen worden, und dann hätte ihre Königin uns fast getötet …«

Tsunami ließ ihren Schwanz auf das Wasser klatschen und Glory wurde kalt geduscht. Der Regenflügler zischte und sprang vom Meer weg.

»Hört auf!«, rief Sunny. »Hört auf, euch zu streiten. Clay, jetzt tu doch was.« Sie gab ihm einen Klaps auf den Kopf, um seine Aufmerksamkeit von den winzigen Fischen loszureißen, die um seine Füße schwammen.

»Oh ja, lasst uns hören, was unser Leitflügler zu sagen hat«, spottete Glory. Ihre Schuppen waren an diesem Morgen so golden wie Sunnys, aber an einigen Stellen mit ozeanblauen Tupfern versehen. Sie setzte sich hin und gähnte Tsunami an, wobei sie ihre Gift spuckenden Zähne zeigte.

»Hey«, sagte Clay, während er Tsunamis Schwanz mit seinem anstupste. »Es ist schon in Ordnung, wenn Starflight sich Sorgen macht. Wir wissen nicht mal, ob Königin Scarlet tot ist oder nicht. Aber«, fügte er dann noch hinzu, »ich weiß, dass du die Meeresflügler so schnell wie möglich finden willst. Wir sollten also lieber mit der Suche beginnen, anstatt uns zu streiten. Dann sind wir auch eher in Sicherheit.«

Tsunami sah Starflight noch einmal scharf an und drehte sich wieder zum Meer hin. Clay hatte recht; das Wichtigste war jetzt, ihre Familie zu finden und einen sicheren Ort, an dem sie sich alle verstecken konnten.

»Oooh«, warf Glory ein. »So groß und so weise.«

»Das ist er auch«, sagte Sunny, die ihre Vorderklauen um Clays Hals schlang. Starflight setzte sich hin und rollte missmutig den Schwanz um die Klauen.

Glory rückte ihre von der Sonne farbig gewordenen Flügel zurecht. »Und was jetzt? Sollen wir etwa brüllen ›Hey, Meeresflügler, wir haben eure verlorene Prinzessin!‹ und darauf warten, dass ein paar Drachen aus dem Meer springen?«

»Ein Festmahl!«, rief Clay und schreckte damit eine Möwe auf, die laut kreischend davonflog. »Am Ende der Geschichte gab es ein Festmahl! Wenn die vermisste Prinzessin der Meeresflügler nach Hause kommt, sind ihre Eltern so glücklich, dass sie ein Festmahl veranstalten. Ich kann mich noch ganz genau an das Festmahl erinnern. Sie haben einen kompletten Wal gefressen. Das war ein gutes Festmahl. Ich wette, ich könnte auch einen Wal fressen. Glaubst du, dass es für uns auch ein Festmahl gibt?«

»Die verlorene Prinzessin war doch nur eine Geschichte in einer Schriftrolle«, sagte Starflight. »Wir haben keine Ahnung, was uns im Königreich des Meeres erwartet.«

»Das stimmt.« Clay ließ die Flügel hängen. »Es ist vielleicht nicht das, was du dir erhoffst, Tsunami. Vielleicht geht es dir so wie mir, als ich herausgefunden habe, dass meine Mutter mich gegen eine Kuh getauscht hat.«

»Hey«, warf Glory ein. »Es waren mindestens zwei Kühe.«

»Hm. Das tröstet mich jetzt aber«, meinte Clay.

Für Tsunami würde es nicht so sein. Sie war sich ganz sicher. Zugegeben, Clays Träume von seiner Familie hatten sich als Albtraum entpuppt, aber ihre würden wahr werden. Vor allem jetzt, wo sie wusste, dass ihr Ei aus der königlichen Bruthöhle der Meeresflügler gestohlen worden war.

Sie war die Tochter der Königin.

Und das war noch nicht alles. Starflight zufolge hatte es außer ihr kein weiblicher Drachling der Königin geschafft, erwachsen zu werden. Tsunami war also die einzige lebende Erbin des Königreichs der Meeresflügler. Eines Tages würde sie Königin des Stammes sein.

Was allerdings auch bedeutete, dass sie eines Tages ihre Mutter zu einem Kampf auf Leben und Tod herausfordern musste, um den Thron zu bekommen. Aber dieser Tag war so weit weg, wie sie wollte. Darüber brauchte sie jetzt nicht nachzudenken.

Tsunami breitete ihre Flügel aus und atmete noch einmal in tiefen Zügen die salzige Luft ein. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, wie winzige Kreaturen aus dem gefleckten Sand hüpften und dann wieder verschwanden.

»Ich könnte einfach ins Meer tauchen und nach dem Palast der Meeresflügler suchen«, schlug sie vor.

»Da draußen?« Starflight klang beunruhigt. Er breitete die Flügel aus und schüttelte Sand herunter, während er besorgt blinzelte.

»Wo soll ich die Meeresflügler denn sonst finden? Hast du eine bessere Idee?«, fragte sie.

»Im Meer zu schwimmen, ist etwas ganz anderes, als in einem Höhlenfluss unterwegs zu sein«, wurde sie von Starflight belehrt. »Es gibt starke Strömungen und unberechenbare Wellen und große Kreaturen mit Zähnen –«

»Ich bin auch eine große Kreatur mit Zähnen.« Tsunami grinste ihn an.

Starflight lachte nicht. »Das Meer ist gefährlich«, fuhr er fort. »Was sollen wir denn machen, wenn du dort verloren gehst?« Am liebsten hätte Tsunami seine vor lauter Sorgen schon ganz zerknitterte Schnauze mit ihrer schärfsten Kralle angestupst.

»Kopf hoch, Starflight!«, warf Sunny ein. »Tsunami schafft alles. Und wie soll sie überhaupt nach Hause zu ihrer Familie kommen, wenn sie nicht ins Meer kann?«

»Oh nein!« Clay stemmte sich hoch, wobei er mit Sand um sich warf und um ein Haar Sunny abgeworfen hätte, die sich mit einem erschreckten Jaulen an seinen Hals klammerte. Sand, Muscheln und winzige überraschte Krabben flogen durch die Luft, als sein Schwanz hin- und herpeitschte.

»Hey! Hör sofort auf damit!«, befahl Glory und hielt sich die Klauen vor die Augen.

»Und was ist mit uns?« Clay schlug mit seinen großen braunen Flügeln. »Daran habe ich gar nicht gedacht! Tsunami, wir können nicht mit dir zum Palast der Meeresflügler gehen. Wir können da unten nicht atmen! Wie sollen wir zusammenbleiben, wenn du unter Wasser bist?« Er schlug mit den Krallen auf das Wasser und hinterließ tiefe Furchen im nassen Sand. »Was sollen wir tun?«

Tsunami fand es irgendwie süß, wenn Clay sich so aufregte. Und sie fand es auch süß, dass er einen ganzen Tag gebraucht hatte, bis ihm aufgefallen war, dass das Königreich der Meeresflügler unter Wasser lag.

»Echt jetzt?«, sagte Glory zu Clay. »So viele Erdkundestunden und es ist absolut nichts hängen geblieben?«

Verwirrt drehte sich Clay zu ihr um. Krabben suchten eilig das Weite, als er seine riesigen Klauen auf den Sand setzte. »Was meinst du denn?«

»Die Meeresflügler haben auch einen Palast über dem Wasser«, erklärte Starflight in seiner Du-hättest-besser-aufpassen-sollen-Stimme. »Damit sie Gäste empfangen können, beispielsweise Blister, ihre Verbündete von den Sandflüglern. Er steht auf einer Insel irgendwo in der Bucht der tausend Schuppen.«

»Oh.« Clay seufzte und setzte sich wieder hin.

Sunny tätschelte ihm die Schulter. »Ich konnte mich auch nicht mehr daran erinnern«, tröstete sie ihn. »Dann gehen wir also dorthin, ja?«

»Das ist nicht so einfach«, erwiderte Starflight. »Beide Paläste der Meeresflügler – unter Wasser und an Land – sind gut versteckt. Deshalb haben sie auch so lange in diesem Krieg überlebt, obwohl sie kein Feuer einsetzen können wie die anderen Stämme. Niemand kann sie finden und ihre Behausungen angreifen.«

»Klingt ja wie die Nachtflügler«, spottete Sunny.

»Das ist etwas ganz anderes als bei den Nachtflüglern!«, rief Tsunami. »Meeresflügler versuchen nicht die ganze Zeit, geheimnisvoll und überheblich zu wirken. Sie sind einfach so vernünftig, ihr Zuhause zu beschützen.«

»Wir müssten über tausend Inseln durchsuchen, aber vermutlich ist das immer noch –« Starflight brach mitten im Satz ab und starrte wieder in den Himmel. »Riecht noch jemand Feuer?«

»Heilige drei Monde, Starflight. Ich werde doch nicht jedes Mal, wenn dich irgendetwas erschreckt, zwischen die Bäume rennen«, fuhr Tsunami ihn an.

»Ich glaube, er hat recht.« Sunny hob den Kopf. »Ich höre Flügel schlagen.«

»Ich auch«, sagte Starflight, dessen Knochenkamm sich aufgerichtet hatte. So schnell er konnte, rannte er auf die Bäume zu.

»Von so weit weg?«, sagte Tsunami skeptisch. »Ich sehe gar nichts.« Doch in dem Moment entdeckte sie mehrere rote Flecken, die wie Blutstropfen am Himmel hingen und immer größer wurden.

Eine Patrouille der Himmelsflügler kam auf sie zu.

2. KAPITEL

»Schnell, ins Wasser«, befahl Tsunami. Das Meer war näher als die Bäume und würde sie genauso gut verbergen.

»Auf keinen Fall«, protestierte Glory. Sie warf sich zu Boden, breitete die Flügel aus und wechselte die Farbe. Ihre Schuppen verschmolzen mit dem Sandstrand, bis sie nicht mehr zu sehen war. Es geschah so schnell, dass Tsunami nicht mehr genau wusste, wo der Regenflügler war. Glory wurde immer besser darin.

»Wie du willst. Komm mit, Sunny.« Tsunami griff nach dem kleinen Sandflügler.

»Lieber nicht«, quiekte Sunny. »Ich schaff es schon bis zu den Bäumen. Ich werde richtig schnell fliegen.« Sie sprang von Clays Rücken und flatterte Starflight hinterher.

Tsunami stampfte mit der Hinterklaue auf und verteilte Meerwasser auf dem Sand. Glory brummte verärgert.

»Im Meer wäre es sicherer«, schnaubte Tsunami trotzig. Sie warf einen besorgten Blick in den Himmel. Die Flecken wurden schnell größer – vielleicht schneller, als Sunny sich verstecken konnte. Aber jetzt war es zu spät, um sie zurückzuholen. Tsunami drehte sich um und sprang ins Meer.

Clay war schon dabei, sich im seichten Wasser einzugraben, wobei er Flundern im Schlamm aufschreckte und ganze Schwärme kleiner Fische zusammenzucken ließ. Im Gegensatz zu den anderen hatte der Erdflügler kein Problem mit Wasser, da er bis zu einer Stunde lang die Luft anhalten konnte.

Als Tsunami einatmete, strömte Salzwasser durch ihre Kiemen. Es überraschte sie, wie beißend es sich anfühlte. Es war ganz anders an als das kristallklare Wasser in der unterirdischen Höhle. Dazu kam noch, dass die Strömung versuchte, sie an den Strand zurückzudrängen, nur um sie gleich darauf wieder mit sich ins offene Meer zu ziehen.

Doch Tsunami kämpfte sich weiter, an Clay vorbei, und schlug mit den Flügeln, als das Wasser tiefer wurde. Schwärme winziger purpurfarbener Fische stoben auseinander, als würden Sterne explodieren. Der Meeresboden war mit Seegras bewachsen und die dunkelgrünen Tentakel schwankten und reckten sich nach oben, um Tsunamis Bauch zu streifen.

Sie warf einen Blick auf den Himmel über sich – immer noch leer – und beschloss, das Risiko einzugehen und aufzutauchen. Sie musste sich davon überzeugen, dass Sunny sich rechtzeitig versteckt hatte.

Das Geräusch von schlagenden Flügeln drang zu ihr, als sie den Kopf aus dem Wasser steckte und sich zum Strand umdrehte. Der kleine Sandflügler war fast schon in Sicherheit. Starflight stand bereits zwischen den Bäumen und streckte seine Vorderklauen aus, um Sunny zu sich zu ziehen.

Am Himmel schoss eine orangefarbene Gestalt mit voller Himmelsflüglergeschwindigkeit vorbei – schneller, als jeder andere Stamm fliegen konnte. Dicht hinter dem ersten Drachen kam ein roter Drache, dann folgten noch drei weitere. Ihre riesigen Flügel verdeckten die Sonne fast völlig, als sie über den Köpfen der Drachlinge vorbeizogen.

Tsunami ließ sich tiefer ins Wasser sinken, doch es schien, als würde die Patrouille zu schnell fliegen, um einen einzelnen Drachen im Meer zu bemerken. Vielleicht suchten diese Soldaten ja gar nicht nach den entflohenen Gefangenen.

Dann sah sie den letzten Himmelsflügler – orange wie ein Sonnenuntergang, mit flammenumspielten Nüstern und einem großen Riss an der linken Flügelspitze. Er flog langsamer als die anderen und bildete die Nachhut. Seine dunklen Augen suchten den Boden unter ihm ab.

Tsunami hielt den Atem an. Die Schnauze des Drachen richtete sich auf die Bäume, in dem Moment, in dem Sunnys Schwanz außer Sicht gezerrt wurde.

Er hielt an und schlug mit den Flügeln nach hinten, um für einen Moment in der Luft stehen zu bleiben.

Starrte er auf die Bäume?

Hatte er Sunny gesehen?

Und wenn er nun die anderen rief? Seine Kameraden waren inzwischen schon mehrere Flügelschläge weitergezogen, aber ein Schrei würde genügen, um sie blitzschnell zurückzubringen. Sunny und Starflight waren sechs ausgewachsenen Soldaten der Himmelsflügler nicht gewachsen.

Genau genommen waren sie nicht einmal einem Soldaten der Himmelsflügler gewachsen. Die beiden würden wohl nicht einmal eine schläfrige Fledermaus überwältigen können.

Aus der Nase des Himmelsflüglers stieg Rauch auf, dann öffnete er das Maul. Tsunami musste ihn zum Schweigen bringen, wenn sie eine Chance haben wollte, ihre Freunde zu retten.

Mit einem Riesensatz sprang sie aus dem Meer und ließ ihren Schwanz hinter sich auf das Wasser klatschen, um noch schneller zu werden. Mit kräftigen Flügelschlägen schoss sie nach oben und rammte die Unterseite des Himmelsflüglers.

Er stieß eine glühend heiße Rauchwolke aus und hielt sich den Bauch, während er nach Atem rang. Tsunami hatte nur ein paar Sekunden, bevor er sich wieder so weit erholt haben würde, dass er um Hilfe rufen konnte. Sie duckte sich weg, schlug ihm ihren Schwanz gegen den Kopf und warf sich dann mit ihrem ganzen Gewicht auf seinen Rücken.

Um ein Haar wäre der Himmelsflügler ins Wasser gefallen, doch er kämpfte sich in die Luft zurück. Tsunami schlug mit den Klauen auf seine Flügel ein und rutschte ein Stück auf seinen Schwanz zu, um ihn mit ihrem Gewicht nach unten zu drücken. Aber er war zu groß und zu stark für sie. Sie war ihm nur deshalb für einen Moment überlegen gewesen, weil sie ihn überrascht hatte. Wenn sie eine Chance gegen ihn haben wollte, musste sie ihn ins Wasser bekommen.

Der orangefarbene Drache fauchte und wand sich heftig, dann schoss ein Flammenstoß aus seiner Schnauze, der sie nur knapp verfehlte. Tsunami zerrte ihn nach unten zum Wasser, doch seine riesigen Flügel schlugen immer schneller. Es fühlte sich an, als würde ihr ein Orkan um die Ohren pfeifen. Sie spürte, dass er Höhe gewann, und gleich würde er die anderen Soldaten zurückrufen.

Du bekommst meine Freunde nicht!, dachte Tsunami wütend. Sie fand die empfindliche Stelle an seinem Schwanz und schlug ihre Zähne hinein. Er krümmte sich vor Schmerz und hätte sie beinahe abgeworfen. Dann spuckte er noch einmal Feuer unter seinem Flügel hervor.

Zuerst dachte Tsunami, er hätte sie wieder nicht erwischt. Doch dann spürte sie, wie sich ein brennender Schmerz an ihrem Hals ausbreitete. Es fühlte sich an, als würde jemand versuchen, mit einem glühend heißen Draht ihre Schuppen durchzusägen.

Sie schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, fest entschlossen, nicht loszulassen, obwohl ihr schwindlig war.

Plötzlich taumelte der Drache nach unten auf das Meer zu. Tsunami riss die Augen auf.

Clay hatte sich zwischen sie und den Drachen geworfen und seine feuerfesten Flügel ausgebreitet. Dann klammerte er sich mit seinen Klauen an den Rücken des Himmelsflüglers und das zusätzliche Gewicht drückte den Soldaten nach unten.

Mit vereinten Kräften zerrten Clay und Tsunami am Himmelsflügler. Er wehrte sich heftig, doch seine Flammen vermochten Clays feuerfesten Schuppen nichts anzuhaben und unter Wasser würden ihm auch seine riesigen Flügel nichts mehr nützen.

Als er auf dem Meer aufschlug, schwamm Tsunami zum Kopf des Himmelsflüglers und drückte ihn so lange unter Wasser, bis er zu zappeln aufhörte.

Als sie ihn losließ, folgte Clay ihrem Beispiel. Der Körper des Drachen sank langsam auf den Meeresgrund.

Tsunami lief ein Schauer über die Schuppen. Er oder ich.

Es fühlte sich falsch an.

Warum konnte sie nicht wild und gefühllos sein?

Sie schwamm dem Drachen nach und packte einen seiner Flügel, dann sah sie nach oben zu Clay. Ihre Blicke trafen sich, und zu ihrer Erleichterung zögerte er nicht einmal, bevor er zu dem anderen Flügel schwamm.

Sie schleppten den Himmelsflügler auf den Strand. Die Strömung hatte sie weiter abgetrieben, als Tsunami gedacht hatte, und es war mehr als mühsam, wieder ans Ufer zu schwimmen. Vor allem mit einem ausgewachsenen Drachen im Schlepptau, der mit seinem ganzen Gewicht an ihnen hing.

Tsunami biss die Zähne zusammen und ignorierte, dass sie erschöpft war und die Brandwunde an ihrem Hals schmerzte. Sie war ein Meeresflügler. Hier sollte sie in ihrem Element sein. Sie beherrschte das Meer, nicht andersherum.

Als sie den Strand erreichten, war der Rest der Patrouille nicht mehr zu sehen. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis ihnen auffiel, dass einer von ihnen fehlte, und sie wiederkamen, um nach ihm zu suchen.

Tsunami brach neben dem Himmelsflügler zusammen und sank auf den Sand. Clay warf einen Blick in die Schnauze des Drachen und fing an, mit der geballten Klaue auf seine Brust zu schlagen.

»Was ist denn mit dir los?«, fuhr Glory Tsunami an. Sie tauchte aus dem sandigen Hintergrund auf und änderte die Farbe ihrer Schuppen zu einem dunkleren Braunton, damit sie sie sehen konnten. Sie starrte sie wütend an. »Warum hast du das getan?«

»Oh, gern geschehen«, erwiderte Tsunami. »Ich habe euch nur das Leben gerettet, wie immer.«

»Indem du einfach so einen Drachen angreifst?«, rief Glory. »Einen Augenblick später wären sie alle weg gewesen! Und was machst du da eigentlich?« Sie stieß Clay einen ihrer Flügel in die Seite.

»Ähm«, murmelte Clay. »Ihn wiederbeleben.« Er fuhr fort, auf die Brust des Himmelsflüglers zu schlagen.

»Wie bitte?«, kreischte Glory. »Du kannst ihn doch nicht leben lassen!« Sie versuchte, eine von Clays Klauen zu packen, aber Tsunami stieß sie weg.

»Wir brauchen ihn doch nicht zu töten«, sagte Tsunami. »Wir werden ihn fesseln und hierlassen.«

»Na großartig«, erwiderte Glory. »Wie wär's denn noch mit einer Spur aus Kuhteilen? Und einer Landkarte, auf der eingezeichnet ist, wo wir hinfliegen? Oder vielleicht könnten wir diesen Teil des Waldes in Brand setzen, nur um auch ganz sicher zu sein, dass jeder weiß, wo wir zu finden sind. Soll ich ›DIE DRACHLINGE WAREN HIER‹ aus Steinen legen?«

»Also gut«, meinte Tsunami. »Da liegt er. Du bringst ihn um.«

Glory sah auf den bewusstlosen Drachen hinunter und zögerte. »Ich töte keine Drachen, die sich nicht wehren können«, sagte sie schließlich.

»Warum nicht?«, fragte Tsunami. »Spuck ihm doch einfach ein bisschen Gift auf die Schnauze und lass ihn zerfließen, wenn das so einfach für dich ist.«

Glory grub ihre Krallen in den Sand und machte ein finsteres Gesicht. Auf ihren Schuppen breiteten sich dunkelrote Kreise aus.

Sunny und Starflight landeten neben ihnen auf dem Strand. Sunny starrte den Himmelsflügler entsetzt an, und Tsunami fiel wieder ein, dass sie während der Kämpfe in der Arena in einem anderen Teil des Palastes gefangen gehalten worden war. Der kleine Sandflügler hatte seine Freunde nie gegen einen anderen Drachen kämpfen sehen.

»Geht es ihm gut?«, fragte Sunny Clay.

»Versuch das mal«, schlug Starflight vor, der herüberkam, um zu helfen. Clay trat beiseite, dann rollten sie den Drachen auf den Bauch.

»Warum hast du ihn angegriffen?«, fragte Sunny an Tsunami gerichtet. Der harmlose Schwanz des kleinen Sandflüglers zuckte nervös hin und her.

»Um euch zu retten!«, erwiderte Tsunami betroffen.

»Aber er hat doch gar nichts gemacht«, protestierte Sunny. »Er ist nur an uns vorbeigeflogen.«

Alle vier sahen zu Tsunami, als wäre sie einer von den Drachen, die sich unter einem Felsen versteckten und unschuldige Passanten nur so zum Spaß bissen. Sie wölbte empört den Hals.

»Ich dachte, er hätte dich gesehen«, knurrte sie. »Er wollte gerade die anderen rufen. Ich habe gesehen, wie er das Maul aufgemacht hat!«

»Ich auch«, warf Glory ein. »Aber ich bin ziemlich sicher, dass er nur gegähnt hat.«

»Ziemlich sicher?«, empörte sich Tsunami. »Würdest du unser Leben für ziemlich sicher riskieren?«

Hat er tatsächlich gegähnt? Habe ich ihn für nichts und wieder nichts angegriffen? Das kann nicht stimmen. Ich habe eine Gefahr gesehen und entsprechend reagiert. Oder?

»Wenn du vielleicht für eine Sekunde nachgedacht hättest –«, sagte Starflight.

»Oder auch für immer? So wie du? Immer nur denken, denken, denken und nichts tun?«, rief Tsunami.

Plötzlich hustete der Himmelsflügler. Wasser floss aus seiner Schnauze. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck rückte Clay seine Flügel zurecht.

»Oh, großartig. Unser Feind wird es überleben. Gut gemacht. Wir müssen hier weg«, sagte Glory. Sie ging einen Schritt zurück und starrte zu der Stelle am Himmel, an der die übrigen Soldaten verschwunden waren. »Und was machen wir jetzt mit ihm, oh du weise Anführerin?«

Tsunami hatte keine Ahnung. Sie sah sich hektisch um. Vielleicht fanden sie ja irgendwo ein paar Kletterpflanzen, mit denen sie ihn fesseln konnten …

»Da ist ein Baum«, sagte Starflight, während er aufsprang. »Im Wald.«

»Im Ernst?«, sagte Glory. »Ein Baum? Im Wald

»Sarkasmus hilft uns jetzt nicht weiter!«, fuhr Tsunami sie an.

»Ich meine, ein umgestürzter Baum«, erklärte Starflight. »Den können wir benutzen. Glory, du bleibst hier und bewachst ihn; Clay und Tsunami, ihr kommt mit. Schnell.«

Clay rannte ihm nach. Tsunami zögerte einen Moment – es gefiel ihr nicht, den Soldaten einfach so liegen zu lassen, auch wenn er noch nicht ganz wach war. Und es gefiel ihr erst recht nicht, sich von Starflight herumkommandieren zu lassen.

»Jetzt geh schon. Beeil dich.« Sunny stupste sie mit einem Flügel an.

Dicht am Rand des Waldes war ein riesiger Baum umgestürzt, dessen oberste Äste den Sand berührten. Clay und Tsunami schoben und rollten ihn auf den Strand und zerrten ihn dann zu dem Himmelsflügler, während Starflight um sie herumflatterte und Anweisungen gab. Als ob man uns sagen müsste, wie man einen Baum bewegt, dachte Tsunami mürrisch.