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Für Fragen und Anregungen:
salsbury@lago-verlag.de
 
1. Auflage 2014
 
© 2014 by Lago,
ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
 
Copyright © Qwen Salsbury, 2014
All rights reserved. Authorized translation from the English language edition published by Omnific Publishing, LLC
The characters and events in this book are fictitious. Any similarity to real persons, living or dead, is coincidental and not intended by the author. Die englische Originalausgabe erschien 2014 bei Omnific Publishing unter dem Titel The Plan.
 
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
 
Übersetzung: Christa Trautner-Suder
Lektorat: Therese Meitinger
Umschlagabbildung: mauritius images, age
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-95761-007-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-018-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-019-4
 
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter
www.muenchner-verlagsgruppe.de

Inhalt

Titel
Impressum
Inhalt
Widmung
PROLOG
TAGE ANGESTELLT:359
TAGE ANGESTELLT:360
TAGE ANGESTELLT: 361
TAGE ANGESTELLT: 362
TAGE ANGESTELLT: 363
TAGE ANGESTELLT: 364
TAGE ANGESTELLT: 365
TAGE ANGESTELLT: 366
TAGE ANGESTELLT: 367
TAGE ANGESTELLT: 368
TAGE ANGESTELLT: 369
TAGE ANGESTELLT: 370
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TAGE ANGESTELLT: 375
TAGE ANGESTELLT: 376
TAGE ANGESTELLT: 377
TAGE ANGESTELLT: 378
TAGE ANGESTELLT: 379
TAGE ANGESTELLT: 380
TAGE ANGESTELLT: 381
TAGE ANGESTELLT: 382
TAGE ANGESTELLT: 383
TAGE ANGESTELLT: 384
TAGE ANGESTELLT: 372 … 381 … vielleicht 495 … irgendwann. Sie verschmelzen alle.
WEIHNACHTSMORGEN
TAGE ANGESTELLT: 387
TAGE ANGESTELLT: 388
TAGE ANGESTELLT: 389
UND NUN EINE VÖLLIG ANDERE GESCHICHTE …
DANKSAGUNG
Über die Autorin








­Für Deb, für ihren herzlichen Empfang

Chantal, für ihren Schwung

Heather, für ihre konstruktive Kritik

Rie, für die starke Schulter

und Kellie für den Anstoß.

PROLOG

TAGE ANGESTELLT:

372 … 381 … vielleicht 495 … irgendwann. Sie verschmelzen alle.

2.00 Uhr

Die Vorhänge fliegen auf. Das liegt nicht am Wind. Er ist es. Er betritt das Schlafzimmer, schaut dabei auf seine Füße.

Er hat wenig von dem Kerl, der erwachsene Männer zum Weinen bringt, der mit Existenzen und Auskommen wie mit Flohmarkt-Ware handelt und von dem ich seit über einem Jahr Fantasien habe.

Sein Haar ist glatt und dunkel und der Champagner tropft heraus. Eine einzelne dicke Strähne fällt nach vorne, als er sich mit den Fingern durchs Haar fährt. Sein Blick bleibt fest auf den Boden geheftet.

»Sag mir warum«, flüstert er, kaum hörbar beim Straßenlärm von draußen.

Alle meine Instinkte schreien danach, zu ihm zu gehen, meine Arme um ihn zu schlingen, mich in seiner Berührung zu verlieren … in ihm.

Genau das würde passieren. Ich würde mich verlieren.

Ich habe das alles nur vorgetäuscht.

»Du kennst mich nicht«, sage ich, so sanft ich kann, als käme mir das erste Mal der Gedanke, sanft sein zu müssen, dass er im Grunde zerbrechlich sein könnte.

Sein Kopf schnellt hoch und seine Augen – o mein Gott, diese Augen! – scheinen zu schwimmen, aufgewühlt von einer unbestimmten, tiefen Qual.

»Wie kannst du das sagen? Nach allem … nach allem, was geschehen ist?«

»Das bin nicht ich. Ich bin anders, als du denkst.«

»Du bist alles, was ich möchte«. Er kommt auf mich zu. Ich weiche weit zurück.

»Alaric, ich bin nicht die, die du meinst. Ich bin eine Lügnerin. Und ich kann nicht die sein, die du willst.«

TAGE ANGESTELLT:
359

7.25 Uhr

Es ist eine allgemein akzeptierte Tatsache, dass ein männlicher Single mit einem knackigen Hintern wie ein Tier in freier Wildbahn beobachtet werden muss.

So wie Marlin Perkins die Wildtiere für seinen Film Im Reich der wilden Tiere beobachtet hat. Gründlich. Absolut genau.

Beständig.

Dazu gibt es kein Gesetz. Es ist einfach unvermeidbar.

Und zwanzig Schritte vor mir befindet sich das Äquivalent eines Auffahrunfalls mit hundert Autos, gekleidet in eine Nadelstreifenhose.

Ärgerlicherweise befindet sich drei Schritte vor mir, den Blick auf den erwähnten Hintern versperrend, mein Date.

Er spießt ein Spinatblatt in der Quiche auf und ich könnte Geld darauf wetten, dass er das insgeheim bestellt hat, um bei mir Eindruck zu schinden.

Ich wäre sehr viel mehr beeindruckt gewesen, wenn er Bacon bestellt hätte, den ich mir hätte klauen können.

Hinter seinem Rücken nimmt Mr. Nadelstreifen zu einem Arbeitsfrühstück mit einem potenziellen Kunden Platz, den ich gestern Nachmittag bereits im Büro entdeckt hatte. Ich kann seinen Teller nicht sehen, aber er wird wohl das Übliche genommen haben: Erdnussbutter-Zimt-Brötchen mit gehacktem Nussmix-Belag. Milch aus der Region. Außerdem hat er sicher Hot Rolls zum Mitnehmen bestellt, die zusammen mit der Rechnung gebracht werden sollen.

»Emma, du bist also mit dem Mädchen befreundet, dem dieser Laden gehört, stimmt’s?«

Bei dem Wort »Mädchen« verdrehen sich mir die Ohren. Mein Date zeigt beiläufig mit seiner Gabel in die Bäckerei, die tatsächlich meiner besten Freundin gehört. Das anstößige Spinatblatt findet dabei den Weg auf den Boden.

Ich nicke zustimmend und bemerke, dass am Tisch hinter dem Spinatfan bereits das Händeschütteln begonnen hat, das ein Geschäft besiegelt, sogar noch bevor die Hot Rolls ihrem heißen Auftraggeber gebracht wurden. Sieht ganz so aus, als würde ich heute Nachmittag einige neue Arbeitsaufträge bekommen.

»Die schmecken gut«, sagt mein Date und bricht ein Stück von einem länglichen Donut mit Ahornsirupglasur ab. »Wissen Sie, Emma, unsere Firma wird sich nach dem ersten Januar nach einer Praktikantin umsehen. Sie haben doch genügend Kurse absolviert, um dafür qualifiziert zu sein, oder?« Er spricht mit vollem Mund. »Falls Sie ins Steuerrecht einsteigen möchten, kann ich ein gutes Wort für Sie einlegen.«

»Ja, super«, antworte ich. Die Party hinter seinem Rücken scheint kurz vor dem Ende zu stehen. »Ähm, ach, oh, sorry. Nein, aber vielen Dank. Ich bin nicht wirklich daran interessiert.«

Dieser Satz trifft auf so viele Bereiche zu.

»Emma, Sie wirken zerstreut. Habe ich nicht das richtige Lokal ausgesucht? Wenn Sie lieber nicht hierhergekommen wären, hätten Sie es mir sagen müssen, als ich den Vorschlag gemacht habe.«

Der Platz ist perfekt. Insbesondere die Aussicht.

»Doch, das passt gut. Entschuldigen Sie. Ich bin nur etwas abgelenkt … von einer Sache in der Arbeit.«

Die Tischgesellschaft hinter uns vertagt sich.

Sie werden zurück in unser Büro gehen. Meine Beine zucken.

»Also, um ehrlich zu sein, Matt, ich …«

»Mark«, korrigiert er mich. Sein Mund verzieht sich.

»Oh, Mark, entschuldigen Sie. Ich muss jetzt wirklich los.« Ich lächle und hoffe, es gelingt mir, etwas betreten auszusehen. Natürlich weiß ich seinen Namen. Ich weiß auch, dass ich mich lieber einer Mammographie unterziehen würde, als mich noch einmal an Erzählungen über seine neue Partnerschaft mit Crusty, Dull, und Dusty GmbH zu ergötzen, aber es kommt mir weniger brüskierend vor, seinen Namen zu verhunzen, als ihm dies alles zu sagen.

7.57 Uhr

Der Aufzug, in den ich wie in eine Sardinenbüchse gezwängt bin, hat für keine weitere Seele Platz.

Gut, der Bursche, der versucht, sich noch hineinzuquetschen, hat offensichtlich auch keine.

»Morgen, Mr. Canon.« Irgendein Kollege steigt aus und gibt seinen Fleck frei. Canon in seinem Nadelstreifenanzug schiebt sich herein und betrachtet den Mann wie Strandgut.

Der Lift surrt aufwärts. Jeder schaut pflichtschuldig zu, wie die Zahlen hinaufklettern.

Jeder außer Canon, der auf sein Telefon starrt und außer mir, die Canon anstarrt, wie er auf sein Telefon starrt.

Die nächsten elf Stockwerke werde ich so genießen wie den Hauch von Zimtbrötchen, den er noch verströmt.

7.59 Uhr

Nur noch wir beide.

Das ist noch nie vorgekommen.

In den 359 Tagen, die ich in demselben Büro arbeite wie er, bin ich ihm buchstäblich noch nie so nahe gewesen.

Die roten Zahlen klettern weiter nach oben. Die Stockwerke. Meine Körpertemperatur. Da gibt es nichts herumzureden.

Er belagert weiterhin sein Telefon und einige meiner Sinne.

Wintergrün. Kürbisgewürz und Kaffee. Sonnenschein.

Ich schwöre, von ihm geht tatsächlich eine Hitze aus. Brandflecke. Vibrationen. Wir fahren in einer Box aus Edelstahl, einer von der Sonne aufgeheizten Wärmeplatte nach oben.

Ich rücke ein wenig näher. Neige meinen Kopf und versuche, in seinen Dunstkreis einzudringen. Vergeude einige Momente, abgelenkt von der kantigen Kieferpartie, die an die Achtzigerjahre und Rob Lowe denken lässt. Gestikuliere in Richtung Aufzugsknöpfe, als wolle ich kontrollieren, dass der Knopf für das richtige Stockwerk bereits gedrückt wurde.

Ihr wisst schon, als sei es bisher meiner oder irgendeines anderen Aufmerksamkeit entgangen, dass ich in derselben Firma arbeite wie dieser Bursche. Er würde in einer Massenszene in einem Film des Stummfilmregisseurs Cecil B. DeMille sofort herausstechen.

Das war jetzt nicht der beste Plan. Ich wollte mir einfach einen Moment stehlen. Ein kleines bisschen Blickkontakt bekommen. Es wäre nach diesem miesen Date eine willkommene Bestätigung gewesen. Außerdem muss ich zugeben, dass ich heute ein paar zusätzliche Anstrengungen auf mich genommen habe; es ist einer dieser seltenen Good Hair Days mit großen, dicken Wellen statt flach angeklatschter Kringel. Einer dieser Tage, an denen du dein Haar anschaulich und zärtlich beschreibst als »goldbraun« oder »kastanienbraun«. Und nicht wie an den meisten anderen Tagen einfach nur froh bist, wenn du mit einem Haarband möglichst viel von dem Braun aus dem Weg räumen kannst – fertig.

Ich habe sogar mein Lieblingsstück herausgeholt, einen türkisen Wickelrock, plus Lidschatten, ordentlich im Bad aufgetragen, nicht wie üblich schnell im Rückspiegel.

Keine Wertung, bitte. SMS-Schreiben beim Autofahren – das geht gar nicht, aber Aufhübschen und Multitasking sind nun einmal altehrwürdige Traditionen, die gepflegt werden müssen. Wir erleben gerade dunkle Zeiten. Und sie werden noch dunkler, wenn wir auf die Schlummertaste verzichten müssen.

Sein Handy ist weiterhin die interessanteste Sache der Welt.

Frustrierend. Noch ein extralässiger Ausfallschritt und ich stehe mitten in seiner Radarzone. Beim allerletzten Versuch, ein Signal auf seinem Schirm auszulösen, lasse ich meine Schlüssel fallen und es gelingt mir nicht, völlig in die Knie zu gehen, um sie wieder aufzusammeln.

Später werde ich mich dafür bestrafen, zu einer so kindischen Taktik eines zweitklassigen Cheerleaders gegriffen zu haben.

Und mit »bestrafen« meine ich eine Packung Süßkram mit Erdnussbutter runterschlingen. Nicht einmal das metallische Klirren stört ihn in seiner Konzentration. Er bleibt unbeeindruckt. Entweder bemerkt er es tatsächlich nicht oder es ist ihm völlig egal.

Auf unserem Stockwerk öffnen sich die Lifttüren und er verlässt den Aufzug raschen Schrittes. Ohne auch nur einen Seitenblick.

11.05 Uhr

»Was ist der früheste Termin, auf den bei dir gesetzt wurde?«

Madeline, einen Bleistift hinters Ohr geklemmt und einem echten Buchmacher nicht unähnlich, konsultiert ihr Diagramm. »Bert hat Dienstschluss gewettet … heute.« Sie lacht und schüttelt den Kopf. »Wow, das wäre Rekord. Der ist ja zuversichtlich.«

Über den Rand der Box, die Madeline und ich uns teilen, schaue ich in die Bürotundra hinaus. Ich beobachte und taxiere die Persönliche Assistentin, die vor etwa siebenundzwanzig Stunden das erste Mal durch die Türe getreten ist. Ordentlich, rotblonder Haarknoten, Bleistiftrock, graue Hemdbluse, bei der nur der oberste Knopf offen ist. Alles auf der Positivseite. Es scheint ihr gelungen zu sein, in der Akte der vorherigen Assistentinnen über Canons Vorlieben nachzulesen, den richtigen Kaffee gebracht zu haben und ihm sonst aus dem Weg gegangen zu sein. Sie sieht ständig schwer beschäftigt und nervös aus.

Alle Zeichen deuten darauf hin, dass sie in die Rubrik »längerfristig« fallen wird.

Ich lasse einen 20-Dollar-Schein über die Trennwand baumeln.

Madeline greift danach und schnaubt in gespielter Verzweiflung. »Was wettest du?«

Ich presse die Lippen aufeinander, während ich nachdenke. »Wann sagtest du ist die Vorstandssitzung?«

»Ich habe dazu gar nichts gesagt.« Sie deutet ein Lächeln an und schaut mich wissend an.

»Heute gibt es ein Lunch-Meeting«, meldet sich Bert aus dem Gang zu Wort. »Sie hat das Essen bereits bei Bread in Captivity bestellt, aber deine Freundin hat gesagt, dass sie heute Nachmittag unterbesetzt sind und keine weitere Lieferung reinquetschen können. Deshalb holt die Assistentin das Essen selbst ab.« Ihm entschlüpft ein Schnauben, als er versucht, sein Lachen zu unterdrücken.

»Waaas? Sie geht während des Meetings aus dem Haus?« Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht. Da bahnt sich eine Katastrophe an. »Da kann ich nicht zusehen. Meint ihr nicht, wir sollten sie warnen?«

»Ach, Emma.« Madeline äußert ein missbilligendes Tss. »Du bist so ein Weichei.«

Mein Herz hämmert. Wenn ich nur an die Standpauken denke, die ich für geringere Vergehen durch diese Wände habe hallen hören, packt mich ein Schauder. Niemand verdient die Art Höllenfeuer, die es dafür geben würde, während eines entscheidend wichtigen Meetings ohne Erlaubnis abwesend zu sein.

Und wie es scheint, hält Canon jedes Meeting für entscheidend wichtig.

»Entscheidend wichtig.« Vielleicht die altgälische Bedeutung von Alaric

Nach meiner Einschätzung ist die Person, der diese Persönlichen Assistentinnen assistiert haben, nicht völlig unzumutbar, wobei es natürlich einfach ist, von meinem sicheren Beobachtungsposten aus objektiv zu sein.

Canon ist speziell und anspruchsvoll. Er hat viel um die Ohren und wird fürs Denken bezahlt. Die wenigen Male, die ich mitbekommen habe, wie er jemanden heruntergeputzt hat – und machen wir uns da nichts vor, wenn er mit jemandem spricht, putzt er ihn herunter – konzentrierte sich alles auf »unzureichende Produktivität« und »Zeitverschwendung«.

Ich habe noch nie ein Wort mit ihm gewechselt, genauso wenig wie er mit mir, aber ich observiere ihn seit einem Jahr täglich. Er hat hohe Standards und eine niedrige Toleranzschwelle. Sehr niedrig. Kelleretagen-Niveau. Jeder weiß das. Jeder hält sich fern.

Jeder, der kann, das ist der springende Punkt.

Ich kann nicht wegsehen.

Alaric Canon ist der attraktivste Mann, den ich je gesehen habe. Ohne Einschränkung.

Er ist der Typ, den man sich für Jennifer Aniston wünscht, einfach nur, damit sie es Brad heimzahlen kann.

Wissenschaftler sollten ihm Zellen entnehmen und bei elektromagnetischen Versuchen verwenden. In diesen Röhren, die den Planeten zerstören, wenn nur die Partikellinien falsch ausgerichtet sind. Da passiert irgendetwas entlang dieser Linien. Ich würde das einmal nachlesen, wenn ich Zeit hätte. Vielleicht, wenn ich einmal die altgälische Sprache studiere.

Wenn er auf dem Weg in sein Eckbüro durch das Foyer geht, ist es, als würde ich in die Sonne blicken – in guter wie in schlechter Hinsicht.

Soweit ich das beurteilen kann, ist er nämlich auch das strengste und gnadenloseste Individuum, das die Welt je mit seiner Anwesenheit geziert hat.

Er ist hart und grimmig. Seine Charakterzüge haben etwas zugleich Habichtartiges und Löwenartiges. Raubtierhaft. Ein mächtiger Gewittersturm, erschreckend und wunderschön.

Zum Glück sind die meisten im Büro ebenfalls von ihm fasziniert, wenn auch auf andere Weise, so fällt meine Obsession nicht auf, wie es sonst sein könnte. Die anderen beobachten mit morbider Neugier, wie lange seine Untergebenen bleiben und weswegen sie sich eine Klatsche abholen. Madeline verwaltet den Wettpool, in dem wir darauf setzen, wann die nächste Persönliche Assistentin entlassen wird. Es gibt einen gesonderten Topf mit rund 400 Dollar, der auf den Tag wartet, an dem jemand entlassen wird, ohne danach in Tränen aufgelöst zu sein. Canon ist dafür berühmt, die Leute schwer zu treffen. Er hat sogar einen ehemaligen Navy SEAL zum Weinen gebracht.

Ich genieße den Luxus der Distanz. Ich bin mir sicher, nur ein paar Augenblicke hinter dieser dicken Kirschholztür und ich hätte ausgeschwärmt. Jemand, der die Leute so verschleißt wie Dreck, hätte es sicher nicht besser verdient.

Er muss ein Arsch epischen Ausmaßes sein.

Auf jeden Fall hat er einen epischen Arsch.

Ich setze 200 Dollar auf »What is Irony?«.Der (Nicht-)Vorfall heute Morgen im Lift ärgert mich noch immer. Ich überlege intensiv, wie ich da etwas heraushole und seinen Mangel an Aufmerksamkeit nutze für meine … Details, um mich selbst zu motivieren, für meinen persönlichen Fortschritt. Ich möchte nur, dass er ein einziges Mal Notiz von mir nimmt, mich anerkennend anschaut, einen Riss in seinem Panzer. Mal sehen, ob ich ihm einen Hauch von Menschlichkeit entlocken kann.

Das ist mein Ziel. Ich habe einen Plan.

Während ich ihn von einem sicheren Aussichtspunkt aus beobachten kann, ist das für diese armen PA-Trottel eine völlig andere Geschichte.

Sie stehen an vorderster Front. Ich lerne aus ihren Fehlern. Ich sage mir, ich kann mitspielen, Wetten gewinnen, mein mageres Einkommen durch ihr Unglück aufbessern, aber ehrlich, primär tue ich es, um meinen Schuhtick zu finanzieren.

Ich kenne so seinen Lieblingskaffee, seinen Süßstoff und das gewünschte Verhältnis von Sahne und Süßstoff. Ich weiß, dass er lieber Hafer als Weizen mag und Roggen verabscheut.

Aus irgendeinem Grund bevorzugt er den Konferenzraum C; ich vermute, es liegt am Projektionsequipment. Bei all seinem Perfektionismus gelingt es ihm erstaunlich häufig, seine Krawatte zu bekleckern. Er schickt niemals rote Rosen. Niemand bekommt die Chance, ihn ein zweites Mal zu unterbrechen.

Das habe ich mir alles gemerkt, um den Büro-Pool zu gewinnen. So begründe ich mir gegenüber, warum ich ihn beobachte. Ich weiß, dass ich lüge.

Madeline wedelt mit dem zerfledderten grünen Geldschein vor meinem Gesicht und unterbricht meine Träumerei. »So, Emma, was kann ich für dich eintragen?«

»Ich kann nicht tatenlos herumstehen und irgendjemanden das durchmachen lassen.« Ich gehe auf den Schreibtisch des Rotschopfes zu.

»Wenn du dich einmischt, behalte ich mir das Recht vor, meine Wette zu ändern«, sagt Bert und springt von seinem Stuhl auf.

Ich nicke zustimmend und glätte Haar und Rock, während ich auf den Schreibtisch der PA zugehe.

Die Luft knistert stärker und stärker, je näher ich ihrem Schreibtisch und damit Canons Tür komme. Dahinter, hinter diesen kräftigen Mauern, stelle ich ihn mir vor in seinem frischen weißen Hemd, wie er bei seiner Telefonkonferenz hin und hergeht.

»Kann ich Ihnen helfen?« Die heutige PA hält es nicht einmal für nötig, von ihren Papieren aufzublicken.

»Tatsächlich denke ich, dass ich Ihnen helfen kann.«

Damit habe ich ihre Aufmerksamkeit sicher. Sie wendet den Kopf und kneift die Augen zusammen. »Ach, wirklich? Und wie kommen Sie darauf, dass ich Ihre Hilfe benötigen würde?«

Wow, ganz schön barsch. Ich nehme es gelassen. »Ich kann in meiner Pause den bestellten Lunch für Sie abholen.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Ihr Verhalten ist so abweisend. Ich sage mir, dass jeder in ihrer Position genervt wäre.

»Das wird nicht nötig sein«, schnauzt sie mich an und dreht sich auf ihrem Stuhl.

»Oh.« Darauf war ich nicht vorbereitet. »Ich hatte gehört, Sie müssten das Essen selbst abholen. Es klingt jedoch so, als hätten Sie es anders organisiert. Gut.«

Sie ist absolut abwehrend und ich kann mir nicht vorstellen, warum.

»Glauben Sie bloß nicht, ich hätte Sie nicht bemerkt, junge Frau.« Sie steht auf und stößt mir ihren langen Fingernagel in die Brust, bevor ich zurückweichen kann. Ihr roter Nagellack glänzt aus ihren Peep-toe-Pumps zu mir herauf. »Sie starren hier geifernd herüber. Sie wollen diese Stelle ergattern. Sie denken, Sie können hier mit der Lieferung aufkreuzen und den Ruhm einheimsen. Na gut, da haben Sie Pech gehabt. Ich habe meine Hausaufgaben, was ihn betrifft, gemacht.«

Oh, Süße. Deinen Job möchte ich für nichts in der Welt machen. Ich schlucke alles hinunter, was ich dieser derben, unangenehmen Frau gerne sagen würde und gehe mit einem einfachen Kopfnicken weg.

Es ist nicht wirklich ein Kopfnicken. Es ist ein Abschiedsgruß.

»Setz mich auf 20 Dollar, 14 Uhr«, sage ich zu Madeline, als ich an ihrem Schreibtisch vorbeikomme. »Heute.«

»Was?«, fragen sie und Bert gleichzeitig.

»Sie will keine Hilfe von mir.« Was ich nicht sage, ist, dass sie lackierte Nägel hat, Kaugummi kaut und zehenfreie Schuhe mit Strümpfen trägt.

Ich weiß nichts über sie, aber ich habe meine Hausaufgaben wirklich gemacht.

TAGE ANGESTELLT:
360

10.18 Uhr

Gestern sammelte eine in Tränen aufgelöste Miss Rotblonder Knoten ihre persönlichen Sachen zusammen und verließ das Büro um 14.30 Uhr.

Ich war mit meiner Wette um eine halbe Stunde überfällig, aber ich bekam das Geld und steckte es in meine Schuhkasse, während Bert nur den Kopf schüttelte. Der arme Kerl war dazu verdonnert worden, bei dem Meeting Protokoll zu führen. Ich hatte mich währenddessen so rar gemacht wie ein Jungfernhäutchen nach der ersten Nacht. Ich kann mir die Atmosphäre nur ungefähr vorstellen. Anscheinend dauerte das Lunch-Abholen länger als erwartet und die Persönliche Assistentin kam zu spät zurück. Schockierend.

14.58 Uhr

Heute wird der Teppich abgewetzt zwischen hier und der Box, in der ich den Großteil der Tage verbringe, angebunden wie ein Kalb. Noch nie habe ich mich so oft zur Kaffeemaschine gewagt. Die Maschine und ich, wir bilden sozusagen einen Bund. Wahrscheinlich müssten wir beim Betriebsfest dieses Wochenende als Mr. und Mrs. Coffee vorgestellt werden.

Der Kurs für alternative Streitbeilegungsmethoden gestern Abend plus zwei Abschluss-Prüfungsbögen für zu Hause, die morgen fällig sind, haben Nosferatus Grauen in mein Leben gebracht. Mein Elan ist dahin. Große Sorge macht mir, dass der stressige Semesterschluss zusammen mit den Anforderungen in der Arbeit und dem Leben im Allgemeinen Abraham Lincoln, den schlaksigen, bärtigen Geist, heraufbeschwören könnte. In chaotischen Lebensphasen taucht er gern in meinen Albträumen auf. Neben der Kaffeetasse sticht mir ein Sammelbecher aus glänzendem Silber ins Auge, in dem eine Riesenmenge an von Patina überzogenem Kupfer liegt.

Ich schaudere. Stecke eine Handvoll Münzen in diesen Becher und vertage diesen Gedanken. Bisher hatte ich Glück. Nicht nötig, ihn zu verhexen.

Am Ende des Korridors kann ich das verräterische Poltern einer internationalen Telefonkonferenz vernehmen. Von einer Vorahnung ergriffen, spähe ich aus der Tür des Pausenraums, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Türe aufschwingt. Canon kommt heraus und steuert schnurstracks seine Ecke in diesem Bürobereich an. Direkt bevor die Türe des Konferenzraums wieder ins Schloss fällt, ist von innen ein Aufatmen zu vernehmen, als löse sich die Spannung des gesamten Raumes durch Canons Abgang. Ich bezweifle, dass ein positiver Anruf auf ihn wartet. Unsere Zahlen gehen nach unten. Ich kenne die Fakten nicht, weil ich die Berichte dazu nicht verfasse, aber ich habe das allgemein miese Klima beobachtet und mitbekommen, dass immer weniger Kalkulationen und Bestellungen angefordert werden. Außerdem wird es auf der Betriebsfeier dieses Jahr keine Bar mit unbeschränktem Ausschank geben. Immer ein todsicheres Indiz für einen Geschäftsrückgang. Man muss nicht in der Baker Street wohnen, um zu dieser Schlussfolgerung zu kommen.

Ich habe bemerkt, dass Canon ohne sein aufdringliches Handy unterwegs ist, also wage ich mich hinaus in der Hoffnung, ihm ohne diese Ablenkung zu begegnen, wenn er zu dem Meeting zurückgeht. Es ärgert mich, dass ich gestern nur diesen flüchtigen Blick erreicht habe, und noch weit mehr ärgere ich mich über mich selbst, weil es mir etwas auszumachen scheint.

Ich will ja nur ein Funkeln oder einen flüchtigen Blick und vielleicht ein kleines Kopfnicken, mit dem man üblicherweise ein anderes Mitglied der menschlichen Rasse begrüßt.

Mehr brauche ich nicht, dann kann ich diese Torheit endgültig zu Bett bringen. Nein, wartet. Das beschwört ein paar wirklich schmutzige Gedanken herauf. Die muss ich hinter mir lassen. Und wo ich von hinten spreche …

Pfui. Ich muss wirklich damit aufhören, gewisse Pobacken zu fixieren.

Das wird das Ende sein.

*Trommelwirbel*

Okay, ich gebe auf.

Bevor mein Humor sich endgültig in den eines pubertierenden Jungen verwandelt hat, betritt Canon den Korridor. Ich bemühe mich um Lässigkeit und laufe ihm gleichmäßigen Schrittes direkt in den Weg. Er tritt geschickt zur Seite, den Blick geradeaus gerichtet und ohne aus dem Tritt zu geraten.

Ich könnte ebenso gut eine Rauchwolke sein.

Dieser Mist raubt mir bald den letzten Nerv.

20.02 Uhr

»Also«, sage ich und klinge selbst für meine eigenen Ohren zu gewollt lässig, »da ist dieser Typ, den ich in der Arbeit immer treffe …«

»Ein Typ? Was für ein Typ? Du hast noch nie einen Typen erwähnt.« Clara hält mitten im Biss in ihre Karotte inne. »Du triffst einen Typen in der Arbeit?«

»Ich treffe ihn. Ich habe nichts mit ihm.« Meine Gabel fährt durch den Reis. Mir gefällt Claras Vorstellung eigentlich besser.

Ich denke nach.

»Arbeiten nicht eine Menge Typen auf deiner Etage?« Clara spricht mit vollem Mund. Irgendwie schafft sie es trotzdem, niedlich auszusehen. Ich würde das Bild einer wiederkäuenden Kuh abgeben.

»Keine … keine solchen wie er. Das sind eben einfach Typen. Er ist ein … na ja …« Ich hatte bisher nie wirklich darüber nachgedacht. Typen tragen Baseballcaps. Manchmal mit dem Schirm nach hinten. Das kann ich mir bei ihm nicht vorstellen. Typen saufen Bier und klatschen ihren Kumpels auf den Rücken und sie wurden schon beobachtet, wie sie freundlich sind und sie sind sogar dafür bekannt, zu lächeln. Diesen Mann habe ich noch nie lächeln sehen. »Er ist ein Mann.«

»Mann.« Clara murmelt das Wort. Mampft ein Stück Zucchini. »Alllllso, seit wann arbeitet dieses Sahneschnittchen dort bereits?«

Ich rutsche unruhig herum. »Ungefähr fünf Jahre.« … zwei Monate und neun Tage.

Stille. Ich weiß wirklich nicht, warum ich das aufs Tapet gebracht habe. Warum ich es nicht für mich behalten konnte.

Clara hat einen Blick drauf, mit dem sie, wie ich mit der Zeit gelernt habe, ernsthaft versucht, höchste Verärgerung zu verbergen. »Natürlich. Emma Baker steht auf einen Mann, mit dem sie seit einem Jahr in derselben Firma arbeitet und hält es erst jetzt für angebracht, sich zu öffnen und ihrer besten Freundin davon zu erzählen.« Sie seufzt und klingt hohl fröhlich. »Weißt du, BFF steht für: Best Friend Forever, nicht für Being Frigging Forgotten – Schlichtweg Vergessen.« Scherzhaft wirft sie mit einer Karotte nach mir. Sie muss sich wirklich sehr ärgern.

Ich räuspere mich, um meinen Hals frei zu bekommen und hoffentlich auch die Stimmung zu heben. »Ich arbeite nicht mit ihm.« Wir unterbrechen diese Meldung, um Gott zu danken. »Er hat ein Eckbüro und eine autoritäre Ausstrahlung und ihm stehen Anzüge so wahnsinnig gut.«

Clara hebt eine Augenbraue.

Sie beißt wieder ein Stückchen ab. Dreht und windet sich auf ihrem Stuhl. »Sprich weiter. Was macht ihn so besonders?«

Ich zucke mit der Achsel. »Er ist nicht besonders. Er ist ein Arschloch.«

»Oh, ja. Arschlöcher sind nichts Besonderes, Emma. Arschlöcher sind jedoch irgendwie deine Spezialität.«

Ich werfe eine Zuckererbse nach ihr. Aber es stimmt.

Sie kickt sie zurück zu mir.

»Also … wahrscheinlich nicht mein Prinz Charming, meinst du?« Ich lächle.

»Du weißt ja, Emma, küsse nur genügend Frösche, dann stehst du am Ende mit humanen Papillomviren da.«

»Das sind mit ziemlicher Sicherheit einfach nur Unken und Warzen.«

TAGE ANGESTELLT:
361

10.30 Uhr

»Jetzt schon?« Schock. Ich hatte nicht einmal Zeit, auf den letzten Kandidaten zu wetten.

»Wer pennt, verliert«, sagt Bert, während er sich mit der Handvoll Geldscheine Luft zufächelt und bestürzende Ähnlichkeit mit einem Teilnehmer am Figurentanz hat.

Am anderen Ende des Korridors packt soeben ein rotgesichtiger Mann (mit dem wohl am künstlichsten gefärbten Blondschopf, den ich je gesehen habe) seine Habseligkeiten auf dem Schreibtisch vor Alaric Canons geschlossener Bürotüre zusammen. Nicht von seinem Schreibtisch. Von dem Schreibtisch. Niemand sitzt dort lange genug, um irgendwelche Ansprüche darauf erheben zu können.

»Ich habe nicht ›gepennt‹, ich habe mit Rebecca in ihrem Büro die Gewinn- und Verlustmeldungen besprochen wie immer, seit ich hier arbeite.«

Bert bleibt unerschütterlich. »Pennen oder Plaudern. Das ist Jacke wie Hose.« Wir alle sehen, wie Clairol#103 einen kleinen Gegenstand genau in die Mitte von Canons Tür schleudert. Dann fährt Bert fort. »Ich weiß nur, dass ich mir ein paar neue Schuhe kaufen werde, während du weiterhin diese Schnäppchenlatschen tragen wirst.« Missbilligend schaut er auf meine Füße.

Na ja, er ist vielleicht immer ein kleines bisschen grob.

Aber mir fällt auf, dass meine Schuhe tatsächlich eher von der Sorte »vernünftige Absatzhöhe für empfindliche Füße« sind. Ich streiche meinen Rock glatt und verstecke meine Füße unter meinem Schreibtisch.

Forsch-fröhlich zeigt der Persönliche Assistent seinem nun ehemaligen Boss einen Vogel, schnappt sich aus Rebeccas Hand den frisch ausgestellten Scheck und macht sich davon.

13.03 Uhr

»Wow.« Bert stupst Madeline an. »Da hat jemand das Mittagessen ausfallen lassen.« Er deutet auf mich.

Sie blickt nach unten. »Oh, hübsche Schuhe. Du warst shoppen? Ohne mich?« Sie mimt die Beleidigte.

Ich vollführe eine Vierteldrehung auf meinem Stuhl und gestatte mir einen Augenblick lang, meine glänzenden, eindeutig nicht für empfindliche Füße gemachten Schuhe zu bewundern. Mein Schuhbudget war zwar für ein Paar prächtiger Boots vorgemerkt, aber diese Gianni Bini-Plateauschuhe waren drastisch reduziert. Ich konnte ihren Sirenengesang einfach nicht überhören.

Die Frage, ob die Schwelle für Spontankäufe durch die wachsende Verärgerung über den rücksichtslosen Eckbüronutzer gesunken ist oder nicht, muss hier unberücksichtigt bleiben.

Ich gehe zu Rebecca hinüber, um ihr die Berichte für ihr Meeting zu übergeben.

Leider ist sie nicht in ihrem Büro.

Sie ist auch nicht im Büromaterialraum, Kopierraum oder auf der ­Toilette zu finden. Als ich auf meiner Suche in den verlassenen Pausenraum komme, bedauere ich, die neuen Schuhe vor ihrem ersten Einsatz im Büro nicht eingelaufen zu haben.

Ich genehmige mir einen Augenblick, um mich über einen Tisch zu lehnen und das Gewicht von meinen Füßen zu nehmen. Nur eine Sekunde. Bitte. Uff. Nur einen Augenblick Erleichterung, mehr verlange ich ja gar nicht.

Ich bin mir ziemlich sicher, einen spektakulären Anblick zu bieten: das Gesicht auf den kühlen Tisch geklatscht, Hintern in die Luft gestreckt und die Füße baumeln.

Bums. Ein Schuh fliegt zu Boden.

Mit den Zehen taste ich herum, bis ich das Leder spüre, schiebe die Zehen hinein und hebe den Fuß extravorsichtig hinter mir an wie ein Kran, bis ich nach hinten greifen und den Schuh wieder richtig anziehen kann.

Ich dehne mich und grunze und verdrehe mich, wobei ich wahrscheinlich den geballten Charme von Cloris Leachman bei einem Auftritt in Schwanensee in mir vereine.

Schön, das war sicher … entspannend.

Ich greife nach den Berichten und verlasse den Raum gerade rechtzeitig, um Alaric Canon um die Ecke biegen zu sehen, seine hinreißenden Zähne fest zusammengebissen.

Mir bleibt die Luft weg.

Er würdigt mich keines Blickes.

Uff. Nur wenige Augenblicke früher und es wäre äußerst peinlich geworden.

16.45 Uhr

Alaric Canon.

Seine Türe starrt zu mir zurück.

Vor etwa fünf Minuten sah ich ihn hineingehen.

Oder vor zwanzig.

Schwarzer Anzug, himmelblaue Krawatte.

Seine Gestalt hat sich in meine Netzhaut eingebrannt.

»Emma? Alles okay?« Madeline späht über die Wand ihrer Box.

»Hm? Oh … Oh, ja. Ja, alles bestens.« Den Kopf wieder frei bekommen. Dasselbe gilt auch für andere Körperteile. »Langer Tag heute.«

»Das sind sie doch alle«, sagt Madeline und fährt ihren PC zum Feierabend herunter. »Ich breche dann auf, nachdem ich mit dem Bild, dass der PA heute hinterlassen hat, bei der Personalabteilung war.«

»Er hatte es eilig wegzukommen, oder?«

»Besser gesagt, von Canon wegzukommen«, sagt sie lachend. Im Diagramm des Wettpools setzt sie die Gewinnmarke für diesen Tag unter Berts Namen. »Sei morgen bereit, Emma. Bert zockt uns ab.«

Sie hat recht. Bert gewinnt ständig. Er muss ein System haben.

Oder – ich denke an seinen Kommentar zu meinen Schuhen, über meinen Verbleib, über alles, was rundherum so passiert – er beobachtet einfach teuflisch gründlich.

Wobei: Eigentlich bin ich ja der Inbegriff, die totale Verkörperung eines Beobachters. Warum ich diese Wetten verdammt noch mal nicht immer gewinne, ist merkwürdig.

Zum Teufel, niemand observiert Canon genauer als ich. Ich muss mit dem Kopf wieder besser bei der Sache sein und effektiver auskundschaften. Dieser Wettpool bringt oft richtig Kohle und ich führe nicht unbedingt diese Art von Leben, in dem Robin Leach mit Kameraleuten im Schlepptau auftaucht.

Ich blicke auf die geschlossene Hartholztür.

Es gibt Schlimmeres, worauf man blicken könnte.

Ja, morgen werde ich bereit sein.

Mit meinen Gedanken über Canon bin ich schon jetzt bereit.

Madeline geht.

Die Bürogeräusche ebben ab.

Kein Klicken. Kein Surren. Kein Geplapper.

Nur ich und diese gnadenlose Tür.

Ganz klar, ich habe viel zu viele Kitschromane in meinem Leben gelesen – ich kann einfach nicht anders. Ich stelle mir vor, wie die Türe aufgeht.

Canon tritt heraus. Gestärktes weißes Hemd. Knackig.

Sakko über dem Arm. Sein Haar … verdammt, soll es doch machen, was es will.

Ich sitze an meinem Schreibtisch.

Ventilatoren wehen mein Haar nach hinten. Nein. Nein, das ist ein bisschen zu viel des Guten. Den Ventilator streichen wir.

Ich sitze an meinem Schreibtisch. Tue so, als würde ich arbeiten.

Gebe vor, nicht zu hören, wie er sich nähert.

»Miss … Baker, nicht wahr?« Seine Stimme ergießt sich, warm wie Kaffee, über meine Schultern, fließt meinen Hals entlang.

Schon alleine bei dem Gedanken schaudere ich.

Ich drehe mich auf meinem Stuhl, blicke durch meine Wimpern zu ihm auf. Unterdrücke den dringenden Wunsch zu sagen, dass ich bin, wer oder was er möchte.

»Ja. Mr. Canon, nicht wahr?« Als wüsste ich das nicht.

Er schaut zu mir herab. Vorspitzende Zunge. Glänzende Lippen.

»Wie ich hörte« – er tritt so nahe heran, dass ich seine Wärme spüren kann – »bearbeiten Sie« – seine Hand fährt an meinem Stuhl entlang – »die Tabellenkalkulationen.«

»Stimmt.« Ich verschränke die Arme vor der Brust und schiebe meine Brüste dabei zusammen. Ganz subtil. Oder vielleicht auch nicht. »Ich bearbeite alles, was Sie wollen, legen Sie es einfach in mein Fach.«

»Ich brauche es bis um fünf.«

»Ach, das wird schwierig.« Meine Augen huschen auf seinen Reißverschluss. »Dann müssen Sie es mir jetzt gleich besorgen, hier auf meinem Schreibtisch.«

Ich möchte eine einladende Position einnehmen.

Er schaut sich in dem leeren Büro um und dann zu mir. Wie eine Raubkatze vollführt er eine letzte Vorwärtsbewegung, lehnt sich an mich, atmet in mein Haar, während sein in weißes Leinen gehüllter Arm die Papiere vom Schreibtisch fegt. Sie fallen nicht in einem Haufen zu Boden, sondern flattern wie Federn um uns. Unsere eigene, private Libido-Konfettiparade.

Seine Hand fährt in mein Haar, Finger graben sich in meinen Nacken. Er beugt mich, biegt meinen Rücken nach hinten. Ich drücke mich an ihn, öffne die Lippen und atme seinen Geruch ein. Er beugt sich vor, erforscht mein Gesicht, von den Augen zu den Lippen zum Hals, dann ist er über mir. Fällt über mich her. Drückt seinen Mund auf meinen. Wieder. Ich bin offen und werde verschlungen.

Auf der Unterseite ist seine Zunge glatt und sanft.

Ich schlinge mein Fußgelenk um sein Bein und er hebt mich hoch, bevor er mich auf den Schreibtisch drückt, den ich von nun an nie mehr werde anschauen können, ohne an Alaric Canon zu denken.

Hände überall. Ich spüre ihn auf meinen Rippen.

Ich fummle an seinen Knöpfen. Er reißt meine auf.

Ich berühre sein Gesicht. Er legt meine Beine um seine Taille, dringt in mich ein. Tief. Hart.

Selbst durch die Kleidung hindurch fühlt es sich besser an als jeder echte Sex, den ich je hatte.

Eine Hand an meinem Hals, Daumen unter meinem Kinn, mit geöffneten Lippen und keuchend zerreißen seine Finger meine Strümpfe, gleiten, gleiten …

»Emma?«

Wieeee?

»Es ist schon nach fünf.« Rebecca schaut mich fragend an. »Hast du Probleme, mit der Arbeit fertig zu werden? Habe ich dich überlastet?«

»Alles bestens.« Sogar lastfrei. Leider.

Beide wenden wir uns um, als sich die Türe von Canons Büro geräuschvoll öffnet. Er schaut Rebecca kurz an, dann geht er seiner Wege.

Meine Wangen brennen.

Kein Problem.

Eine Büro-Fantasie mehr.

Nicht, dass ich mich noch stärker von Gedanken an ihn heimsuchen lassen werde.

Ich stemple aus.

TAGE ANGESTELLT:
362

20.11 Uhr

Mr. Thorogood, Sir, Sie sind ein kulinarisches Genie.

Betrunken in der Akademie, diese Mischung ist für mich nicht vorgesehen. Hohe Alkoholverträglichkeit und niedriger Finanzfluss verhindern die ausreichende Versorgung mit Trankopfern.

In Summe wird das gemeinhin als »pleite« bezeichnet.

Clara ist in meinem Zimmer und schlägt gewohnt subtil vor, ich solle mich aufbrezeln, um mit ihr auszugehen und ein paar Gentlemen aufzureißen, die unsere Getränke bezahlen. Das ist gar nicht mein Ding. Meine Theken-Krabbelphase war kurz, süß und sauer.

Damit will ich nicht sagen, dass es jetzt keine skandalösen, wilden Zeiten mehr gibt in meinem Leben. Beispiel: Regelmäßig lasse ich mich spätnachts in meinem Bett von vier Männern unterhalten. Männern wie Fallon, Kimmel, O’Brien und Letterman.

»Hast du überhaupt noch schicke Klamotten?«, fragt Clara, während sie meinen öden Kleiderschrank durchstöbert.

Ich zucke mit den Achseln. Blättere eine Seite in meinem Lehrbuch um.

»Emma«, jammert sie künstlich. »Du solltest dich mal verführen lassen.«

Verführen? Ich runzle die Augenbrauen. »Das klingt nicht gut.«

»Dann hast du dich noch nie richtig verführen lassen.« Scherzhaft steckt sie die Zunge heraus, dann zuckt sie zusammen. Mit ziemlicher Sicherheit hat sie festgestellt, dass sie ihren Lippenstift verschmiert; diese Schlappe bringt sie jedoch, wie vieles andere auch, nicht lange aus dem Konzept.

»Was ist nur aus meiner feinen, aufgedonnerten Freundin geworden?« Einige Kleiderbügel stoßen unterstützend gegen die Kleiderstange.

Es bringt nichts, darauf hinzuweisen, wie lächerlich die meisten von Claras Bemerkungen sind. Würde ich dafür bezahlt, bräuchte ich mir um meine Altersvorsorge keine Gedanken zu machen.

Ferner war meine Person zu keinem Zeitpunkt meines Länger-als-zuzugeben-mir-lieb-ist-Lebens »fein« oder »aufgedonnert«. Es mag jedoch sein, dass Canon in letzter Zeit dafür gesorgt hat, dass ich besonders oft nach Choco Krispies spechte. Ein Urteil darüber steht noch aus.

Ha. Seht ihr? Und da heißt es immer, die juristische Fakultät sei für Spaß nicht zu haben.

Tatsächlich keine spaßige Angelegenheit sind jedoch die 1.800 Dollar an Lehrbüchern, die, zum Vorteil des Universitätsbudgets, von den Professoren offenbar niemals im folgenden Semester weiterverwendet werden. Mittlerweile wage ich mich auch nicht mehr in den Buchladen auf dem Campus, um die Bücher wieder zu verkaufen.

Plötzlich ist nicht mehr zu hören, wie Klamotten herumgeschoben werden. Auf dem obersten Einlegeboden scheint ein schwarzer Karton Claras Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben.

»Hey, wann ist dieses Jahr eure rauschende Betriebsfeier? In ein paar Tagen schon, oder?«

Ich ziehe meine linke Augenbraue hoch. Clara fischt den Karton mit einem Kleiderbügel herunter.

»Ach nein, lass das. Irgendwas in der Art, wie ich es letztes Jahr getragen habe, ist gut genug.« Also höchstwahrscheinlich genau dasselbe Outfit wie letztes Jahr. Kein Mensch wird darauf achten.

»Die Leute merken das sehr wohl«, sagt Clara, als könne sie meine Gedanken lesen. »Ich weiß, was du denkst, Emma.«

Das war nicht mal ein Scherz.

»Es ist nicht gut für Emmarella, fabelhafte Schuhe zu kaufen und sie dann nie auf einem Ball zu tragen.« Von ihrem Zeigefinger baumelt ein Riemchenschuh mit hohen Absätzen und Glitzersteinen.

1.03 Uhr

Ich erwache davon, dass an meine Schlafzimmertüre geklopft wird. Nein, geschlagen. Wiederholt.

Was zudem sinnlos ist, muss ich hinzufügen, denn die Türe steht weit offen.

Clara hüpft auf den Ballen ihrer nackten Füße.

Kein anderer Körperteil hüpft mit. Für jemanden, der den lieben langen Tag von Gebäck umgeben wird, ist sie ekelhaft fit.

»Guuuuuuten Morgen, Emma«, raunt sie sarkastisch und deutet hinter sich auf unser Wohnzimmer. »Ich habe was für dich!«

»Schlaf?«

»Was?«

»Ach, nichts. Also, was ist es?«

»Inspiration.« Sie lächelt glückselig, dreht sich, wackelt und beginnt, durch die Wohnung zu stampfen.

Auf dem Sofa steht eine randvolle Einkaufstasche. Sie quillt über von Dingen aus Satin über Seide bis hin zu etwas, bei dem ich an der unrealistischen Hoffnung festhalte, es möge kein weißes Latex sein. Überwiegend unbequem aussehende Spitzenunterwäsche. So wie bei der Dessousfirma Frederick’s of Hollywood.

Ich wünschte, es wären wenigstens assless chaps dabei, diese hinternfreien Beinschützer. Nicht, dass ich sie tragen würde. Nur die Worte assless chaps sind einfach zu komisch.

Aber nebenbei gefragt: Haben Chaps jemals ein eingearbeitetes Hinterteil?

Mir machen die Dessous sogar mehr Spaß als die Person daneben. Versteht mich bitte nicht falsch.

Davon abgesehen bin ich erschöpft und habe keine Lust, sie bei Laune zu halten und alle diese Teile durchzusehen. Clara würde mich niemals wieder schlafen lassen, wenn ich ablehne. Also strecke ich die Hand aus und ziehe mit der Lust, die üblicherweise dem Umgang mit radioaktiven Isotopen vorbehalten ist, alles heraus, was sich ganz oben befindet.

BH und passender Slip in Stahlblau. Nett.

Bustier mit Einsätzen in Pflaume und Lavendel mit passendem pobackenfreiem Panty. Das werde ich irgendwann einmal nur für mich tragen.

Ein BH, der so gepolstert ist, dass er als Double einer Muppetfigur durchgehen könnte. Ich müsste meine Brüste als Kermit und Fozzie bezeichnen.

Eine pinke Angelschnur.

Ach nein, wartet. Das ist ja ein Stringtanga.

Man kann von mir nicht erwarten, dass ich einen Stringtanga trage. Ich habe nicht die Figur eines Strichmännchens. Stringtangas rutschen in meine Poritze. Es ist nicht vorgesehen, dass das Ausziehen der Dessous in eine groß angelegte Such- und Rettungsaktion ausartet.

Ich weigere mich, auf Höhlenerkundung zu gehen, nur um meine Unterwäsche auszuziehen.

»Das werde ich nicht anziehen«, sage ich.

Clara kickt sie beiseite. Schnaubt.

TAGE ANGESTELLT:
363

13.11 Uhr

»Wie kann man von mir erwarten, dass ich irgendetwas Konstruktives erledige, wenn ich jede verdammte Minute jedes verdammten Tages neues Personal finden muss?«, schäumt Rebecca vor Wut. Sie muss wirklich sehr aufgebracht sein; ihre Schreibunterlage und ihr Hefter liegen nicht mehr wie gewohnt perfekt rechtwinklig zueinander. Wiederholt knöpft sie ihre Kostümjacke auf und wieder zu.

Madeline versteckt die Wettpool-Aufzeichnungen hinter ihrem Rücken. »Würde mich interessieren, warum Mr. Canon noch ekliger ist als sonst. Meint ihr, er hat den Feiertags-Blues? Ich höre immer wieder, dass Feiertage Depression und Einsamkeit hervorrufen können.«

Bert lacht. »Wenn dieser Kerl einsam ist, hat er das ganz alleine sich selbst anzulasten. Wahrscheinlich hat er seinen Nachwuchs gefressen.«

Oh, das ist heftig. Das scheint kaum fair zu sein.

Es gibt keine Vervielfältigungstechnologie, mit der man Kunstmenschen hervorbringen kann.

20.59 Uhr

»Emma! Emma!« Ein besonderes nettes Mädchen aus der Arbeitsgruppe des ersten Semesters schnappt mich im Korridor, direkt nachdem ich das Klassenzimmer verlassen habe.