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Peer Sommé

Das vierte Gebot





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

DAS VIERTE GEBOT

 

 

Du sollst Vater und Mutter ehren,

auf dass es dir wohl ergehe

und du lange lebest auf Erden!

 

 

 

Es heißt nicht:

 

Du sollst zwei Väter ehren oder

 

Du sollst zwei Mütter ehren oder

 

Du sollst Vater und zwei Mütter ehren oder

 

Du sollst Mutter und zwei Väter ehren . . .

 

Aber, das gibt es heute doch alles, oder?

 

 

Dann ist es schon einfacher für die Kinder,

wenn sie auf einmal nicht zwei Omas und zwei Opas,

sondern drei, vier oder noch mehr Omas und Opas haben.

Auf jeden Fall gibt es so mehr Geschenke und Zuwendungen

im Wettbewerb der vielen Omas und Opas um die erhoffte

Anerkennung der Kinder und Enkelkinder.

 

 

 

Aber die Achtung und gegenseitiger Respekt dürfen darüber nie verloren gehen.

 

 

 

Das Leben im Spiegel

 

Wenn man das Leben im Spiegel betrachtet vor dem man direkt steht, sieht man sich

immer im Vordergrund. Alle anderen wirken klein und distanziert, so nahe sie uns

auch stehen. Wir sehen nur ihr Spiegelbild, also verkehrt – zumindest seitenverkehrt.

 

Nur ein weiterer oder mehrere weitere Spiegel können unsere falsche Sicht, auch auf uns,

ins reale Leben umkehren.

 

Leider wirken mehrere Spiegel meistens wie Zerrbilder aus einem Spiegelkabinett.

 

Also ist es wichtig, dass man direkt hinsieht, ohne Umwege über Spiegel und falsche

Bilder, und die Wirklichkeit annimmt und akzeptiert, so wie sie ist.

 

Trotzdem muss man oft hinter die Schminke sehen können, die vor einem Spiegel

aufgetragen wurde, um ein Gesicht zu zeigen, wie man sich zwar sehen möchte, aber

wie es eigentlich nicht ist.

 

Ob mit oder ohne Spiegel ist der Blickwinkel stets unterschiedlich und individuell,

vielseitig, jedoch selten objektiv.

 

 

Träumt Dario?

 

Schlaftrunken blinzelt Dario in die Abendsonne, die ihm durch das herbstliche Laub der Birke zublinkt, wenn der sanfte Wind die Zweige bewegt. Genauso blitzen in seinem Kopf die Gedanken wieder auf, die ihn seit Tagen, seit Wochen, immer wieder beschäftigen. Wichtige Weichen müssen gestellt werden. Die Vorbereitungen auf das Abitur verlangen seine volle Aufmerksamkeit. Das Abi wird er schon schaffen, da ist er sich sicher. Nicht so sehr bei den Noten in zwei bis drei Fächern. Da ist noch viel zu tun, bis er mit zu den Besten der Klasse gehört.

 Was hatte Opa noch gesagt, womit man sein Leben formt? Zuerst eine gute Ausbildung. Nun, die bekommt er auf seinem Gymnasium. Danach studieren? Aber was? Architekt werden, wie sein Vater es will? Dario schwebt eher so etwas wie Polizeidienst vor. Er schwärmt doch für die GSG 9! Oder zuerst eine Lehre antreten und über den zweiten Bildungsweg gehen? Mal sehen, was sich da anbietet. Auf jeden Fall möchte er zur Bundeswehr! Auch hier kann er neben dem Wehrdienst studieren, wenn er will. Dann die Wahl der Partnerin, sagte Opa. Ist seine Freundin Irene die Frau fürs Leben? Darüber muss er noch nachdenken, wenn die Zeit reif dafür ist. Oder, hatte Opa nicht gesagt: Als Zweites der Beruf! Ja, richtig! Nach der Ausbildung kommt der Job oder die Berufung, die ein guter Beruf sein sollte. Danach dann die Partnerschaft. Und aus Beruf und Partnerschaft ergibt sich meistens die Wahl des Wohnsitzes. Damit bestimmt man auch sein Umfeld, seine Bekanntschaften und Freundschaften.

 Am Wochenende sind wir wieder bei unserem Vater, Udo und ich. Als Architekt hat er sonst wenig Zeit für uns. Doch wenn es sein muss, macht er sich frei, um uns zu helfen. Nur, es ist nicht das normale Familienleben, das wir früher hatten, bevor Mama sich von Papa getrennt hat. Allerdings war die letzte Zeit der Ehe schlimm. Jetzt ist für uns manches besser. Eigentlich geht es Udo und mir gut. Was habe ich alles bei unserem Schulausflug gehört von den Mitschülern. Die Probleme die Ludwig, den alle Lucky nennen, mit seinem Vater hat machen ihn alles andere als glücklich.

 „Dario – träumst du?“ Spricht ihn plötzlich seine Mutter genervt an. „Ich habe schon dreimal nach dir gerufen! Du weißt doch, dass wir zu spät zu deinem Fußballtraining kommen, wenn wir nicht sofort losfahren. Und ich muss Udo noch vom Musikunterricht abholen, ehe ich zur Kirchenchorprobe fahre.“

 „Und wer holt mich ab“, fragt Dario, „wenn unser Training zu Ende ist?“ – „Emmi nimmt dich mit. Ich wechsle mich mit ihr ab, und heute ist sie dran Michael und dich abzuholen.“ – „Hast du schon mit ihr gesprochen? Du weißt doch wie unzuverlässig sie ist. Michael hat heute in der Schule gefehlt. Der kommt sicher nicht zum Fußball“ – „Oh, warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?“ – „Dazu war keine Gelegenheit, weil du so spät von der Arbeit gekommen bist.“ – „Wir werden ja sehen, ob Michael kommt. Sonst werde ich eine andere Mitfahrmöglichkeit organisieren. Ich darf nicht im Kirchenchor fehlen. Das verstehst du doch, oder?“ – „Oder ich muss wieder mit der Straßenbahn und dem Bus fahren . . .“

 Dabei geht sie überhaupt nicht zur Chorprobe, denkt Dario. Ich habe doch in der Kirche gehört, dass Mama schon seit Wochen nicht mehr da war. Sie nutzt jede Minute, um zu ihrem neuen Freund zu fahren. Dabei ist sie die Einzige, die mit diesem Typ zurechtkommt, wenn überhaupt! Ich weiß nicht, was sie an dem findet, diesem Blender!

 „Du wirst schon nach Hause kommen, “ bemerkt seine Mutter lapidar, „mit Dreizehn ist man heute schon fast erwachsen.“ – „Ja, zum Nachhausefahren bin ich erwachsen, aber nie, wenn ich mal abends einen Krimi oder ein Fußballspiel sehen will“, murrt Dario. – „Das ist auch was anderes, wenn man am nächsten Tag ins Gymnasium muss!“

 Dario gehen schon wieder die Erinnerungen an Lucky durch den Kopf. Wie hatte er sich noch geoutet? Er berichtete: Ich wusste damals sehr gut was ich alles falsch gemacht habe. Doch was ich an Stelle dessen tun sollte, war mir nicht bekannt. Nur eine Therapie, also professionelle Hilfe, konnte mich auf den richtigen Weg bringen. Ich kam in die Klapse, wie wir es alle nannten. Man muss schon ganz unten gelandet sein, um das zu akzeptieren. Und die nehmen einen richtig ran, das kann man so sagen. Morgens um Sieben hieß es antreten zum Frühsport. Das war der krasse Gegensatz zu dem, was ich früher gemacht habe. Ich denke mir, dass ich früher oder später auf der Straße gelandet wäre. Meine Eltern habe ich beklaut und Sachen verkauft, und ziemlich viel dafür getan, dass ich an Geld kam, um meine Drogen zu kaufen. Wenn ich keine Drogen kriegte, bin ich sehr aggressiv geworden. Auf Fragen gab ich patzige Antworten und war direkt auf Hundertachtzig. In der Station war ich unter lauter Drogenabhängigen. Die Zimmer teilten wir uns zu zweit oder zu dritt. Sogenannte Entgifter und fortgeschrittene Patienten wurden getrennt untergebracht. Zum Programm gehörten die tägliche Zimmerkontrolle und ein Drogen-Screening. Der Schulunterricht wurde ausschließlich auf der Station abgehalten, weil jeder Außenkontakt ein zu großes Risiko für einen Rückfall birgt. Wir mussten den Umgang mit alten Freunden aus der Szene einstellen. Für mich war auch mit der Einweisung in die Psychiatrie die Schamgrenze völlig überschritten. Darum habe ich Therapie gesagt, wenn ich gefragt wurde, und nie Psychiatrie. Das verbinde ich immer mit der Klapsmühle für Leute, die nicht richtig im Kopf sind. Am Anfang hatte ich mir das auch ganz anders vorgestellt als es in Wirklichkeit ist. Nur kranke und gestörte Menschen habe ich in der Psychiatrie erwartet. Aber das ich wirklich nicht so.

 „Wir sind da, Dario! Schläfst du?“ – „Nein, Mama. So wie du fährst . . .“ – „Du weißt doch, dass ich Udo abholen muss. Der wartet bestimmt schon auf mich.“ – Aber zuerst muss du noch klären, wie ich zurückkomme, nach dem Training.“ – Da steht doch Michael schon. Dann ist ja alles klar!“ – „Eigenartig! In der Schule fehlen, aber zum Fußballtraining antreten!“ – „Er wird schon seine Gründe gehabt haben. Die Hauptsache ist, dass du mitfahren kannst!“ – „Für dich ja“ – „Jetzt werde nur nicht noch frech . . .“ – „Ich doch nicht, Mama“ – „Es hörte sich aber so an. Na, dann tschüss mein Großer.“ – „Tschüss Mama. Bleib´ nicht so lange nach der Chorprobe hängen.“ – „Das weiß ich noch nicht. Ihr geht auf jeden Fall gegen Neun ins Bett. Ihr müsst morgen um Sechs aufstehen!“ „Also, tschüss.“ – „Tschüss Mama!“

 „Hallo Michael. Warum warst du nicht in der Schule?“ – „Ich musste zum Doktor, ein fester Termin!“ – Und nicht wegen der Mathearbeit, vor der du Angst hattest?“ – „War es nicht, aber es kam mir schon sehr gelegen zum Arzt zu gehen, statt zur Schule!“ – „Du bist wenigstens ehrlich . . .“

 „Trödelt nicht herum, “ ruft Trainer Walter Schulz, „wir sind sowieso spät dran.“ - Darios Gedanken laufen wieder aus dem Ruder. Wie war das noch alles in Luckys Anstalt? Er sagte: „Einmal in der Woche haben wir ein bestimmtes Fernsehprogramm ausdiskutiert. Der Sinn war, dass wir lernen sollten zu planen und unsere Freizeit sinnvoll zu nutzen. In meiner Drogenzeit hatte ich auch Freunde; Nur, dass wir die Drogen nahmen. Aber es waren schon richtige Freundschaften. In der Therapie lebt man ein halbes Jahr auf engstem Raum zusammen. Da lernt man die anderen richtig kennen. Also, Stärken, Schwächen, eben alles was so vorkommt.“

 „Flanke! Dario“, schreit der Trainer über den Platz. „Hast du nicht gesehen, dass Peter frei vor dem Tor steht! Du warst schon beim Aufwärmtraining daneben! Wenn du weiter so gedankenlos spielst, kann ich dich am Samstag nicht aufstellen gegen die FC-Jugend. – „Tut mir leid, Trainer. Ich dachte der Peter steht im Abseits . . .“ – Stimmt ja! Dann hast du ja doch alles richtig gemacht.“

 Glück gehabt, denkt Dario. Aber sein Geist bleibt bei Lucky, der erklärte: „Ich litt damals an Realitätsverlust und Sprachstörungen. Als zuhause nichts mehr funktionierte, brachten mich meine Eltern in die Therapie. Dieses Gefühl kannten alle, die ich dort darauf angesprochen hatte. Draußen war es für mich Scheiße, andauernd durch die Gegend zu laufen. Ich konnte mich selber nicht mehr leiden. Daran wollte ich was ändern. Von den vielen Drogen, die ich genommen hatte, wurde ich so paranoid, dass ich einfach nicht mehr anders konnte. Ohne die Therapie wäre ich vor die Hunde gegangen. Einfachste Dinge musste ich neu erarbeiten, damit ich mich überhaupt selbst versorgen konnte. Ich hatte verlernt, den Alltag zu bewältigen und Verantwortung zu übernehmen. Die Drogen haben mein Leben bestimmt. Ich hatte Stress in der Schule, und Stress zuhause. Ich habe gedacht, ich knall` mich jetzt zu, dann ist das alles weg. Es war ja später immer noch da, doch das hat in dem Moment für mich keine Rolle gespielt.“

 „Dario! Schieß! T o o r !“ – freut sich der Trainer. „Das hast du mit schlafwandlerischer Sicherheit gemacht. Das macht dir so schnell keiner nach. Du bist am Samstag auf jeden Fall dabei!“ – Wieder nur Glück! Jetzt muss ich mich bis zum Spielende konzentrieren, sonst bin ich gegen die FC-Jugend nicht dabei. Und ich will mich doch bei den FC-Leuten gut präsentieren. Die haben doch immer ihre Späher dabei, wenn ihre Nachwuchself unterwegs ist. So eine Chance hatte Lucky damals nicht . . .

 „Michael, lauf´ und kuck mal wo der Dario bleibt“, sagt Emmi genervt, „wir warten jetzt schon zehn Minuten. Alle anderen sind schon weg. Ich muss nach Hause! Sonst kann Dario sehen wir er zurückkommt. Aber da ist er ja! Dario, wir warten auf dich schon eine halbe Stunde.“ – „Entschuldigung, Emmi, aber ich musste noch auf die Toilette, dringend!“ – „Um Ausreden bist du nie verlegen . . .“

 Auf der Toilette war er wirklich gewesen, und hatte dabei wieder nur an Luckys Story gedacht: Damals habe ich selbst entschieden, ob ich Drogen nehme, wie viel ich nehme und wie lange ich sie nehme. Darum gebe ich auch keinem die Schuld dafür. Ich weiß, dass sich meine Eltern mit der Schuldfrage abquälten. Bei den wöchentlichen Gesprächen in der Therapie waren sie immer dabei, und haben mit Selbstvorwürfen nicht zurückgehalten. Mein Vater erklärte, dass er viel früher hätte aufpassen müssen. Es hätte ein Jahr gedauert, bis er gemerkt hatte, was mit mir los war. Er hätte schon eher handeln müssen. Doch was er tun konnte, weiß er bis heute nicht. Und meine Mutter erklärte, dass ja beide jahrelang tätig waren, aber nie das Richtige gefunden hatten, um mir zu helfen. Doch der Entschluss, mich in die Psychiatrie zu geben, war in Ordnung. Jetzt bin ich aus der Abhängigkeit raus, auch innerlich.

 „Steig´ schon an der Ecke aus“, bestimmt Emmi, „ich habe schon genug Zeit vertrödelt mit dir, sonst muss ich durch die ganze Siedlung kurven, durch dieses Einbahnstraßengewirr.“ – „Ja, ist schon gut so. Und vielen Dank fürs Mitnehmen.“ – Das beruht doch auf Gegenseitigkeit mit deiner Mutter, aber beim nächsten Mal bitte ohne Warterei. Du bist doch kein Träumer, oder?“ – „Ich musste doch nur . . .“

 „Du bist ja schon daheim“, staunt Dario als er seine Mutter antrifft, „ist die Kirchenchorprobe ausgefallen?“ – „Hallo Dario! „Nein, ich weiß nicht, ich musste noch etwas besorgen, und da ist mir eingefallen, dass ich Ellen für heute Abend eingeladen hatte. Sie muss jeden Moment kommen.“ – „Dann müssen wir wieder um Neun ins Bett?“ – „Ja, aber das weißt du doch . . .“

 „Es hat geklingelt! Mach´ schon auf, ich muss mir noch die Hände waschen.“ – „Hallo Ellen!“ – Hallo Dario. Du bist jedes Mal größer, wenn ich dich sehe, schon bald ein richtiger Mann.“ – „Das hat noch Zeit. Zuerst muss ich mein Abi schaffen . . .“

 „Da bist du ja“, begrüßt Eva ihre Freundin, ich hatte fast vergessen, dass wir uns heute hier ausquatschen wollten. Erst als ich die Einkäufe überlegte im Supermarkt, ist es mir wieder heiß eingefallen.“ – „Das kann ich nachvollziehen. Mir geht es genauso. Arbeit, Familie, und, du weißt ja . . .“ – „Darüber reden wir, wenn die Kinder schlafen gehen . . .“

 

Eva und Ellen

 

 

Dario kann wieder einmal nicht einschlafen. Immer noch jagen die Gedanken durch seinen Kopf wie auf einer Achterbahn. Warum hat seine Mutter ausgerechnet diese komische Ellen eingeladen. Sie tut nach außen, als ob in ihrer Ehe alles stimmt. Dabei weiß doch jeder, dass sie und auch ihr Mann fremdgehen. Mehr unfreiwillig als gezielt bekommt Dario alles mit, was die Frauen zu bereden haben.

 „Es wurde höchste Zeit, dass wir unsere Erfahrungen austauschen können“, sagt Eva, „ich hänge doch vollkommen in der Luft mit meiner neuen Beziehung, die fast gar keine ist. Wie war das eigentlich bei dir?“

 „Du weißt ja, dass ich vor zwei Jahren einen anderen Mann kennen gelernt habe. In ihn habe ich mich damals ziemlich schnell sehr verliebt. Früher habe ich nicht gedacht, dass das geht. Ich habe nicht gedacht, dass man zwei Männer lieben kann. Aber die Liebe zu Lenz ist nicht weniger geworden. Es ist einfach die Liebe zu Leonard hinzugekommen.“

 „Bei mir war das ganz anders. Ich bin Silvio bei der Arbeit näher gekommen. Wir waren Kollegen und haben ganz normal im Team mitgewirkt. Es hat nicht einmal sofort bei uns gefunkt. Erst als er einmal bemerkte, >so eine Frau wie dich möchte ich einmal haben<, ist bei mir etwas ausgelöst worden, was alles andere zwangsläufig folgen ließ.“

 „Ich liebe beide Männer, und die Intensität des Gefühls ist gleich. Aber die Art des Gefühls ist unterschiedlich. Die Liebe zu Lenz ist eine warme, vertraute, freundschaftliche Liebe. Wir haben ganz viel zusammen gemeistert in den langen Jahren unserer Ehe. Dahingegen ist die Liebe zu meinem Freund etwas ganz anderes. Das ist mehr dieses bauchkitzelige, aufregende, bei dem ich auch völlig neue Seiten an mir entdecke, von denen ich nicht wusste, dass es diese Ellen auch gibt.“

 „Zuerst fing es mit kleinen Geschenken an, die Silvio mir machte, wenn wir unsere Pause zusammen verbracht haben. Nur Kleinigkeiten, CDs und so. Doch es ist Daniel sofort aufgefallen. Er machte mir selten Geschenke, nur bei Geburtstagen und Weihnachten. Darum fragte er, woher ich diese Sachen herhätte. Ich sagte ihm, dass eine Kollegin günstig an CDs käme, und sie mir ab und zu welche schenken würde, weil ich ihr bei der Arbeit zur Hand ging. Aber das hat er nicht geglaubt. Danach hat er mein Handy ausspioniert, wie auch immer, und hat meine SMS an Silvio gefunden.“

 „Unsere Kinder Georg, Dieter und Karin leben mit Lenz und mir unter einem Dach. Sie wissen, genau wie Lenz von meinem Freund. Und natürlich mein Freund auch von meinem Mann und den Kindern. Wir denken, dass es eine Möglichkeit gibt, damit umzugehen in Offenheit. Und ich bin froh, dass ich beides leben kann. Dass ich meine Familie versorgen kann und mit ihr lebe, und dass ich auch mit Leonard Zeit verbringen kann und ihm meine Liebe gebe.“

 „Das ist ja ideal, und so etwas hätte ich mir auch in meiner Ehe gewünscht. Aber so etwas käme für Daniel nie infrage. Auch Dario und Udo mögen Silvio überhaupt nicht leiden. Sie kommen mit ihm nicht klar. Und Silvio ist an den Jungen nicht interessiert, nur an mir, wenn überhaupt!“

 „Leonard gehört jetzt genauso zu mir wie die anderen auch. Als ich ihn damals kennen gelernt hatte, habe ich es meinem Mann ziemlich schnell gebeichtet. Aber meine Ehe mit Lenz stand für mich nie zur Debatte. Wir sind über fünfundzwanzig Jahre verheiratet. So eine Beziehung löst man nicht so schnell auf, auch wenn manche Wünsche an den Partner auf der Strecke bleiben. Man ist vor allen Dingen Gefährte. Erotik und Sexualität kommen oft etwas zu kurz. Das war auch ein Punkt, den mein Freund bei mir angesprochen hat. Dieses Gefühl, eine begehrenswerte Frau zu sein. Dieses Gefühl, dass es noch mehr gibt. Klar, Erotik und Sexualität spielen eine große Rolle bei uns. Und dann wurde es wieder spannend und aufregend, auch zwischen meinem Mann und mir.“

 „Über Mangel an Sex konnte ich mich bei Daniel eigentlich nie beklagen. Im Gegenteil, vielleicht war ich immer diejenige, die ihn hingehalten hatte. Auch bei Silvio war nicht Erotik ausschlaggebend. Mehr noch die kleinen Aufmerksamkeiten und unbestimmte Gefühle. Daran hat es mir bei Daniel eigentlich immer gefehlt. So etwas hat er wohl nie erfahren, in seiner Jugend. Er wuchs bei seiner Großmutter auf und musste die Liebe seiner hart arbeitenden Mutter mit drei Brüdern teilen. Da standen Leistung und Erfolg immer im Vordergrund.“

 „Plötzlich gab es bei Lenz und mir neue Möglichkeiten. Erotik und Sexualität lebten wieder auf. Ich weiß noch gut, wie mein Freund einmal sagte, ich glaube, ich habe euere Ehe erst wieder richtig in Schwung gebracht. Es war zwar mit einem etwas bitteren Unterton, aber es ist sicher etwas daran.“

 „Im Nachhinein muss ich Daniel echt bewundern. Er hat über zwei Jahre lang versucht, unsere Ehe zu retten. Meinerseits habe ich nichts dazu beigetragen. Unsere Beziehung hatte einen Sprung und ging einfach in Scherben. Das heißt nicht, dass ich meinen Ex-Mann nach wie vor respektiere und als Mensch achte, in aller Freundschaft. Nur, die Liebe ging irgendwann verloren. Ich weiß, dass ich viel selber verschuldet habe, jedoch hat Daniel mir zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es lag bestimmt nicht nur an ihm allein. Aber Arbeit, Erziehung der Jungen und Stress in seiner Familie war einfach zuviel für ihn. Und ich bin nicht die Frau, die einfach alles mit sich geschehen lässt. Da flogen auch Mal die Fetzen, wie man so sagt.“

 „Mein Seitensprung mit Leonard führte dazu, dass ich mit Lenz eine Paar-Therapie machte. Ich hätte meinem Mann zuliebe die Affäre auch beendet, doch das wollte er nicht. Nach vielen Gesprächen haben wir entschieden, die Ehe zu öffnen. Seit einem Jahr hat Lenz auch eine Freundin.“

 „Eine Freundin hat Daniel mittlerweile auch, aber ich denke, er liebt mich noch. Das merke ich an bestimmten Reaktionen, wenn er mich bewusst trotzig behandelt. Und ich muss gestehen, dass ich eifersüchtig bin, wenn ich ihn mit seiner Flamme sehe. Vor allem bei Einladungen von gemeinsamen Freunden. In vielen Dingen fehlt Daniel mir. Bei der Erziehung der Jungen und auch im Haushalt. Wir waren ein gut eingespieltes Team. So eine Lösung wie bei euch hätte ich auch akzeptiert.“

 „Nun, ich treffe Leonard alle drei Wochen. Meistens nur für einen Tag, selten für ein ganzes Wochenende. Ich versuche rücksichtsvoll mit meiner Beziehung zu Lenz umzugehen. Wir können uns nicht öfter sehen. Das geht nur nach Vereinbarung. Und bei diesen Terminen muss ich auch meinen Mann berücksichtigen. Und Lenz hält das genauso, wenn er seine Freundin trifft.“

 „Wenn ich mit Silvio zusammen bin, habe ich immer ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits spielt er mir die große Liebe vor, doch im nächsten Augenblick kann er völlig ausrasten. Ich fürchte, dass er durch seine Kindheit verhaltensgestört ist. Seine Eltern hatten sich früh auseinander gelebt und getrennt. Er hat nie ein intaktes Elternhaus kennen gelernt, und sich weder von seinem Vater oder dem Stiefvater und seiner Mutter richtig verstanden gefühlt. Man weiß bei ihm nie, wo man dran ist. Und so steht auch unsere Beziehung auf tönernen Füßen.“

 „Nun, bei mir ist es schon ein komisches Gefühl, wenn ich zu Leonard fahre. Und so ist es auch für Lenz ein komisches Gefühl, wenn ich fahre oder wenn er zu seiner Freundin fährt. Leonard und ich treffen uns in einem kleinen Hotel, das wir sehr lieb gewonnen haben. Ich habe keine Schuldgefühle, das nicht. Doch ich habe immer wieder Zweifel, ob meine Wünsche, zwei Männer zu haben, nicht zu maßlos sind. Es ist ja schließlich eine ganz besondere Situation, in der ich das Gefühl habe, dass ich mehr habe als mir zusteht, mehr als erlaubt ist. Mein Gewissen sagt, ich kann doch nicht alles haben im Leben, ich muss mich doch bescheiden. Ich kann doch nicht alles, was man braucht um glücklich zu sein, haben.“

 „Ich bin in der Beziehung zu Silvio alles andere als glücklich. Die kurzen Glücksmomente werden durch seine Unberechenbarkeit kaputtgemacht. In der Hauptsache bleibe ich sporadisch mit ihm zusammen, weil ich mir und der Familie gegenüber nicht eingestehen will, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ja, die Trennung von Daniel wäre so oder so früher oder später gekommen, vermute ich. Aber Silvio ist ein Blender, und ich hätte nie auf ihn hereinfallen dürfen. Und jetzt laufe ich ihm auch noch nach wie ein Hündchen. Ich kann mich selbst nicht verstehen. Mein Verstand hat damals im Rausch der Gefühle völlig ausgesetzt. Im Augenblick stürze ich mich in die Arbeit, versuche für die Kinder eine gute Mutter zu sein und für ihre Erziehung und Ausbildung zu sorgen. Das hält mich von allen Gedanken und Bedenken ab, hoffe ich. Doch nachts . . .“

 Jetzt weiß ich auch endlich, warum Mama nachts nicht schlafen kann, denkt Dario. Es sind also nicht der Stress und die Schwierigkeiten mit Udo und mir, die sie hat. In der letzten Zeit haben wir uns ja auch wirklich zusam-mengerauft. Wir spielen miteinander und Zanken uns kaum noch. Wenn unsere Eltern schon nicht mehr zusammen sind, müssen wir wenigstens gut zueinander stehen. Ich glaube, Udo sieht das genauso . . .“

 „Vielen Dank für den netten Abend“, verabschiedet sich Ellen, „ich hoffe, dass ich dir ein paar Anregungen für deine Lebensgestaltung geben konnte. Man kann ja nur aus eigener Erfahrung lernen, aber vielleicht auch ein wenig aus dem, was man von anderen hört.“

 „Doch, ja“, sagt Eva irritiert, „es müssen ja nicht immer die positiven Anschauungen sein, die jeder von sich hat. Man kann ja auch aus den Fehlern lernen, die andere gemacht haben. Dir wünsche ich noch viel Glück in deinen Beziehungen, und das aufrichtig. Vielleicht können wir unsere Erlebnisse später noch einmal austauschen? Alles, alles Gute . . .“

 „Dir ebenfalls, “ erklärt Ellen überschwänglich, in ihrem großen Glücksgefühl, das sie ständig begleitet, „ich bin überzeugt, dass in deiner Beziehung zu Silvio noch alles ins Lot kommt.“

 Das glaube ich kaum, denkt Eva als sie die Tür schließt. Und so ein Leben wie Ellen möchte ich auf keinen Fall führen. Es kommt mir alles so verlogen vor, und vor allem sehr selbstsüchtig!

 

Väter ohne Kinder

 

Noch am Wochenende kann Dario nicht vergessen, was seine Mutter und Ellen beredet haben. Es fällt ihm schwer, sich in die Welt der Erwachsenen hineinzuversetzen. Diese sehen alles aus ihrer persönlichen Sicht, und nie aus der Sicht der Kinder und Heranwachsenden. Durch die Trennung der Eltern hat sich doch für ihn und Udo alles verändert. Manches ist seitdem für sie besser geworden. Der Vater hat sie vorher bei jeder Kleinigkeit hart bestraft und vor allem ihn oft geprügelt. Das fand Dario ungerecht, weil meistens Udo derjenige war, der den Streit provoziert hatte. Und die ewigen Streitereien der Eltern haben auch genervt. Es war kaum auszuhalten. In dieser Hinsicht war es eine Erleichterung für sie, als der Vater ausgezogen ist. Er hat sich eine eigene Wohnung eingerichtet und lebt dort allein. Seine Freundin lebt nicht mit ihm zusammen. Daher ist es an jedem zweiten Wochenende Usus, dass sie mit ihrem Vater viel unternehmen, und bei ihm schlafen können. Aber einschlafen kann Dario auch bei seinem Vater nicht immer. Vor allem, wenn Vater am späten Abend seinen Geschäftspartner und Freund, sowie enge Mitarbeiter einlädt. Alle haben das gleiche Problem. Sie sind von ihren Frauen geschieden, leben getrennt und haben Kinder, die sie nur sporadisch sehen, wenn überhaupt. So erinnert sich Dario an eine lange Diskussion der Männer, die er vor ein paar Wochen mit anhören musste, ob er wollte oder nicht, so laut wie sie nach ein paar Bier geredet haben.

 „Ich bin Vater von drei Töchtern“, sagt Gerhard. „Nach fast zwanzig Jahren Ehe hat mich meine Frau aus dem eigenen Haus vertrieben. Seit zwei Jahren lebe ich nun allein. Und das funktioniert nur, solange ich zahle. Doch ich sehe vom Geld her, dass einfach immer weniger da ist.“

 „Ich habe einen Jungen und ein Mädchen“, berichtet Paul. „Wir waren fünf Jahre miteinander verheiratet. Seit sechs Jahren sind wir jetzt geschieden. Meine Beziehung zu der Ex ist sehr angespannt. Als sie damals erfuhr, dass sie nicht alles bekommt, was sie wollte, und was ihr auch nicht zustand, hat sie den Krieg begonnen, Kinder gegen Geld!“

 „Da kann ich dir beipflichten“, stöhnt Robert. „Mein Scheidungsdrama dauert bereits sieben Jahre an. Seit damals streite ich mit meiner Frau um das Besuchsrecht für meine beiden Jungen, vergebens. Es ist ein Kampf von Mutter und Vater, den die Kinder nicht verstehen, weil eine Seite sagt: Der ist böse! Wir haben in den 1990er Jahren geheiratet. Unsere Ehe funktioniert von Anfang an nicht gut. Bis zur Trennung lebten wir in einem komfortablen Einfamilienhaus. Seit meinem Auszug regelt das Besuchsrecht die Beziehung zu den Kindern. Eines Tages aber war das Haus leer, und meine Frau mit den Kindern einfach verschwunden, ohne eine Nachricht und eine neue Adresse zu hinterlassen. Das war Anfang 2010. Nach einigen Nachforschungen fand ich dann heraus, dass sie mit den Kindern nach Hessen verzogen war. Sie wollte möglichst weit weg von mir, vermute ich. Es vergingen Monate, bis ich die Kinder wieder sah. Auch für die Kinder war es eine sehr lange Zeit. Tom war noch keine zwei Jahre alt, und Michael sechs. Ich gab natürlich nicht auf, und habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um meine Kinder zu sehen. Aber meine Frau stellte sich dagegen. Dabei kämpfe ich nur für etwas ganz Normales, für ein Wochenende einmal im Monat oder alle zwei Wochen, sowie Ferien mit den Kindern. Und für normalen Kontakt, ob es nun per Telefon ist oder per E-Mail. Und dass die Mutter anruft und sagt, es findet dieses oder jenes statt. Ob ich auch dazu käme, und dass man sich treffe. Aber nichts. Es ist absolute Funkstille, keinerlei Kommunikation zwischen ihr und mir. Meine Briefe an die Kinder kommen zerrissen zurück. Ich habe keine Möglichkeit Kontakt zu den Kindern aufzunehmen. Niemand geht ans Telefon, wenn ich bei ihnen anrufe. Daher weiß ich nichts von meinen Kindern. Wie haben sie sich entwickelt? Was treiben sie in der Freizeit? Welches sind ihre Träume? Ich frage mich immer, habe ich mir im Umgang mit den Kindern etwas zuschulden kommen lassen?

 Ich wüsste nicht was! Man hat mich auch psychologisch untersucht, durch eine Psychiaterin – Nichts! X-Stunden war ich dort und habe mich quasi ausgezogen, und musste Auskunft geben über meine Familie, meine Eltern, meine Brüder, meine Beziehung. Man fand nichts, von dem man hätte sagen können, da können wir ihn packen. Und das macht es umso schlimmer, weil man den Sinn nicht einsieht. Seit drei Jahren lebe ich nun mit Ilse zusammen. Ich fühle mich von ihr verstanden. Das war mit meiner Frau nicht so. Jetzt glaube ich zu wissen, warum meine Ehe nicht funktioniert hat. Ich hätte eher mit ihr reden sollen, und ihr sagen, dass wir etwas ändern müssen, auch was die Kindererziehung anbelangte. Wir gingen zu keinen Freunden mehr, luden, wenn überhaupt, nur noch Leute zu uns ein. Alles war nur noch auf die Kinder fokussiert. Ein Leben als Partner auf Paarebene gab es nicht mehr. Ich war ein Teil, und es gab zwei Leben in einem Haus. Die Frau und die beiden Jungen hatten ein Haus und ihren Teil, und ich, mit meinem Job als Architekt, kam manchmal in dieses Haus hinein. Wobei ich nicht mehr wusste, wie ich mich in diesem Haus bewegen sollte. Ich war quasi ein Fremder, in meinem eigenen Haus. So kommt mir das heute vor. Und meine Frau sorgt jetzt dafür, dass ich für meine Kinder ein Fremder bleibe. Ich sehe sie ja nur noch selten. Nur unter großem Druck der Behörden gibt sie die Jungen heraus. Wenn die Besuche endlich zustande kommen, geschieht das nur unter Aufsicht. Eine neutrale Person sorgt dafür, dass die Treffen geregelt ablaufen. Das Jugendamt stellt dann einen Raum zur Verfügung, der sehr nüchtern ist. Darum ist doch meine Angst mehr als berechtigt, dass sich die Kinder von mir entfremden – oder? Die ungewohnte Umgebung und die Aufsichtsperson tragen gewiss nicht dazu bei, dass ich mich den beiden langsam annähern kann. Man kann noch nicht einmal ins Freie gehen oder sonst irgendwas unternehmen. Ich halte es für die Jungen schwierig, und auch für mich, in einem fremden Raum herumzutigern, und anzufangen sich abzutasten. Man sucht verzweifelt den Kontakt, und dann gehen die Kinder wieder weg. Sie waren bei diesen Besuchszeiten auch sehr negativ eingestellt. Es war richtiger Horror. Allein die Fahrt nach Hessen war sehr stressig. Ich habe mir Gedanken gemacht, was sie wohl machen, wie sie reagieren, was sie wohl sagen werden, ob sie böse auf mich sind. Und wie reagiere ich? Mein Scheidungsanwalt steht solchen begleiteten Besuchen sehr skeptisch gegenüber. Er erklärte mir: Das Besuchsrecht in geschützten Räumlichkeiten wird dann angeordnet, wenn sich Schwierigkeiten bei der Ausübung des Besuchsrechts zeigen. Und es wird in der Regel nur für kurze Zeit angeordnet. Dann nämlich, wenn Aussicht besteht, dass ganze wird sich bald wieder normalisieren. Je kürzer die eingeschränkte Besuchsrechtsausübung ist, desto größer ist auch die Aussicht, dass es irgendwann wieder besser funktionieren kann. So sagt er, aber bei mir dauert das eingeschränkte Besuchsrecht schon sieben Jahre. Vorgestern hatte ich einen wichtigen Termin beim Hessischen Jugendamt. 2012 hatte das Jugendgericht entschieden, dass ich meine Kinder bei jedem Besuch sechs Stunden sehen darf, gegen den Willen der Mutter. Doch auch dieses Recht kann ich nicht wahrnehmen, weil in Hessen nur zwei, statt sechs Stunden vorgesehen sind. Und eigentlich werde ich als Vater nicht allein ausgeschlossen, es sind ja auch noch die Großeltern, Tanten, Onkel und Paten, die den Kontakt zu den Kindern völlig verlieren. Meine Frau überbehütet die Kinder, als wären sie ihr Eigentum. Ich landete wieder in einem der üblichen Staus auf der Autobahn. Das sind Strapazen, die bei meinem Hundertprozent-Job noch zusätzlich Nerven kosten. Ich fragte mich, bist du auf die Fragen vorbereit, die sie dir vielleicht stellen werden? Warum ich nicht pünktlich gekommen bin? Ich habe einen Gerichtsentscheid von sechs Stunden und ich habe kommuniziert, dass ich diese sechs Stunden wähle. Das sollen sie endlich organisieren. Sie könnten sagen, dass ich im November nicht gekommen bin, aber ich akzeptiere die zwei Stunden nicht. Also war ich sehr gespannt auf den Termin bei der Vormundschaftsbehörde. Komme ich nun zu meinem Recht?“

 „Ich bin als Versicherungsagent viel unterwegs“, erklärt Paul. „Meistens bin ich nur am Wochenende zuhause bei Klara, mit der ich seit sechs Jahren zusammen bin. Wir haben im vergangenen Jahr geheiratet. Unser Glück wäre perfekt, wenn meine Kinder öfters da wären. Darum rufe ich sie immer wieder an, wenn ich daheim bin und bitte um ihren Rückruf. Früher rief mich Lorenz an – die Nummer war für ihn eingestellt. Doch jetzt bekomme ich seit Monaten keinen Anruf mehr von ihm. Er hat auch angerufen, wenn er mit jemandem zusammen war, mit der Nanni oder so. Jetzt passiert das nicht mehr, und ich weiß nicht warum. Für mich sind Ehe und Familie sehr wichtig. Wir bekamen kurz nacheinander zwei Kinder. Aber ich war nie glücklich in unserer Ehe. Daher habe ich meine Frau verlassen, als ich mich in Klara verliebte. Doch meine Frau tut sich schwer damit. Sie setzt mich daher unter Druck mit dem, was für mich am Wichtigsten ist, den Kindern. Es heißt jetzt, Geld gegen Kinder. Etwas lief in unserer Beziehung schief. Und es ist auseinander gegangen, weil ich gemerkt habe, dass die Nähe nicht mehr da war. Wir lebten schon seit Jahren wie Bruder und Schwester. Das hätte ich nicht länger ertragen können. Am Wochenende bin ich immer hier, und könnte ohne weiteres meinen Lorenz und meine Jutta sehen. Ich würde gern den Tag mit ihnen beginnen, sie mit in die Schule nehmen oder schwimmen gehen. Am Freitagabend spähe ich oft durch die Büsche vor dem Haus meiner Ex nach den Kindern. Ich würde sie gern abholen und mitnehmen. Aber sie will das nicht. Beim Scheidungsurteil ging es auch mehr um die Unterhaltszahlungen an meine Ex-Frau. Es ging alles nur um die Finanzen. In dem Urteil wurde kleinlich aufgezählt, was der Grundbedarf ist. Es ging über größere Beträge, wie die Miete, bis zu kleineren Positionen, wie Mobiltelefon oder Schmuckversicherung pro Monat alles aufgelistet war. Haushälterin, Vermögensertrag, Bedarf, Haushaltshilfe, Kindermädchen, Massagen machen fast dreiviertel des Ganzen aus. Also, Geld, Geld, Geld, Unterhalt etc. Aber wenn es dann darauf ankommt, aufs Besuchsrecht, gibt es dann zweieinhalb Seiten, und man stellt dann auf die Praxis ab. Nach dem Motto: Es ist immer so geschehen, und deshalb machen wir das auch die nächsten tausend Jahre so. Deswegen hoffe ich, dass sich da was ändert. Und dass man einsieht, dass der Vater nicht ein schlafender Typ ist, der einfach nur zahlt, und nicht auch irgendwelche Rechte hat. Vor allem, weil er seine Kinder sehr, sehr liebt. Unsere Scheidung war für mich eine sehr teuere Angelegenheit. Ich musste fast zwei Millionen Euro Abfindung bezahlen. Meine Ex bekommt 9000 Euro im Monat für den Unterhalt. Das ist halt so, wenn der Lebensstandard vor der Trennung sehr hoch war. Und wenn man als Mann in der Lage ist, nach der Trennung aus seinem Einkommen den Lebensstandard für beide zu finanzieren. Das kostet halt sehr viel. Um das Besuchsrecht ist es ganz anders bestellt. Es beginnt am Wochenende und Abweichungen davon gibt es nicht, wenn die Mutter es nicht will. Jeden Freitag fahre ich am Haus der Ex-Familie vorbei. Ich habe das Recht, die Kinder jedes zweite Wochenende zu sehen, theoretisch. Fällt eines aus, etwa, wenn die Kinder krank sind, dann wird es nicht nachgeholt. Manchmal sehe ich meine Kinder wochenlang nicht. Die Autofahrt mit den Kindern mag zwar langweilig erscheinen, aber es gibt ihnen und mir die Gelegenheit etwas zu erzählen, wie es war während der letzten zwei Wochen, was sie gemacht haben, was sie vorhaben und welche Neuigkeiten es in der Schule gibt. Und wen sie besser mögen in der Schule oder wen sie weniger mögen. Am letzen Wochenende wollte ich sie wieder abholen. Wie immer bereitete meine Klara alles für den Besuch vor. Die beiden Kinder sind ihr in den letzten sechs Jahren auch ans Herz gewachsen. Als Mutter einer, nun erwachsenen, Tochter hat sie Erfahrung im Umgang mit Kindern. Doch nach Meinung der Ex-Frau hat Klara die Familie zerstört. So wird es dargestellt und es ist praktisch, wenn man es so auslegen kann. Man muss dann nicht an sich arbeiten, muss nichts hinterfragen. Einen Mann, der zuhause glücklich ist, kann man nie und nimmer irgendwem ausspannen. Werden die Kinder diesmal tatsächlich kommen?“

 Das hörte sich alles genauso egoistisch und selbstbezogen an wie bei Mutter und Ellen, denkt Dario enttäuscht. Obwohl er sich an jeden Satz, fast an jedes Wort erinnert, kann er nicht erkennen, dass es sich auch nur einmal um das Wohl der Kinder handelte. Es geht immer nur um Rechte und Ansprüche, als ob die Kinder ein Teil des Vermögens oder einfach nur Gegenstände wären, über die verhandelt wird. Warum haben sie die Kinder, die sie doch angeblich so sehr lieben, verlassen? Udo und ich lieben unsere Eltern von ganzem Herzen, und sie lieben uns, das wissen wir. Aber das Leben, das ihre Trennung verursacht hat, ist alles andere als ein intaktes Familienleben. Wir wünschen uns nichts mehr, als mit Mama und Papa zusammen zu sein. Dazu wären wir gern bereit, auch unser Verhalten anzupassen, und nicht mehr zu nerven . . .

 „Heute gehe ich nicht mehr ganz so gern zur Arbeit wie früher“, bekennt Gerhard bekümmert. „Als Vater von drei Töchtern wusste ich immer, dass mein Lohn für die Familie reichte. Nach unserer Trennung ist das leider nicht mehr so. Das Geld ist nur das Eine, aber da sind auch der Schmerz und die Wut darüber, dass mich meine Frau nach zwanzig Jahren Ehe verlassen hat. Manchmal möchte ich am liebsten alles stehen und liegen lassen. Gestern war ein Tag, da wäre ich fast nach Australien ausgewandert. Jeder will etwas von Einem, jeder lässt einen warten, keiner macht vorwärts, die Kinder kommen nicht. Ich habe doch immer nur für meine Familie gelebt, und habe sie stets beschützen wollen. Doch meine Frau hatte plötzlich das Bedürfnis auszubrechen, ich überhaupt nicht. Verglichen mit davor, könnte für manchen mein Leben sogar recht gut aussehen. Denn ich muss nicht nach Hause gehen und irgendwelche Arbeiten verrichten. Ich kann nach Hause kommen wann ich will, kann machen was ich will, kann meinen Plunder hinschmeißen, wo ich will. Aber ich merke einfach, dass mir die Familie fehlt. Das ist nicht das Leben, das ich eigentlich wollte. Ich liebte meine Frau zur Zeit der Trennung nach wie vor. Früher freute ich mich darauf, nach Hause zu meiner Familie zu fahren. Jetzt fahre ich in meine Drei-Zimmer-Wohnung, in der ich alleine lebe. Meine Frau wollte mir diese Wohnung einrichten, mit dem Spruch: Ich will, dass Papa es schön hat, und nicht das Gefühl hat, er sei zuhause rausgeworfen worden. Mir fehlt der Alltag mit meinen Töchtern. Ich möchte an ihrem Leben teilhaben und wissen, was sie treiben und was sie bewegt. Doch ich bin weg vom Fenster, ausgerechnet jetzt, da sie etwas größer sind, jetzt, wo man es hätte genießen können. Es ist für mich absurd, denn es ist mein Haus, mein Elternhaus in der meine Familie lebt. Ich bin selber darin aufgewachsen, die Kinder sind hier groß geworden. Das Haus habe ich mit meinen eigenen Händen umgebaut. Nun hat mich meine Frau aus meinem Haus vertrieben. Wenn ich als Mann von einer Frau zur anderen renne, ist das ein guter Grund für eine Frau, um sich scheiden zu lassen. Aber ich sehe nicht ein, worin ich einen Grund geliefert habe für diese Scheidung. Im neuen Ehegesetz wird nicht mehr danach gefragt, wer ist schuld. Wenn ein Partner nicht mehr will, kann er gehen. Will die Mutter nicht mehr, muss aber meistens der Vater gehen. Die Mutter bleibt mit den Kindern in der alten Umgebung. Mich zieht es immer wieder zu meinem Haus, in die Nähe meiner Familie. So gern würde ich, wie früher, auf meinem angestammten Platz sitzen. Eigentlich tut es mir weh, wenn ich da runter sehen muss. Ich sehe sie zusammen an dem Tisch, und kann nicht dabei sein. Ich merke, dass ich als Ehemann gar nicht fehle. Es war eben meine Heimat, wo ich einmal war. Ob das nun das Elternhaus ist oder wo man als Familie gewohnt hat, und auch dass Rundherum, das man geschaffen hat, sein kleines Reich, das man sich aufgebaut hatte. Da man nach einer Trennung der Eltern die Kinder in einer vertrauten Umgebung aufwachsen lassen möchte, und in nahezu allen Fällen die Obhut der Mutter zugesprochen wird, führt das dazu, dass der Richter die Benutzung der Liegenschaft in den meisten Fällen der Mutter und den Kindern zuspricht. Das bedeute für mich, dass ich als Ehemann das Haus verlassen musste. Auch, wenn ich es geerbt hatte und viel Zeit und Arbeit ins Haus investiert hatte.

 Ich würde zu meiner Frau ja gern Distanz gewinnen. Doch ich bleibe lieber in der Nähe meiner Töchter. Joana ist diejenige, die mich vor allem zurückhält. Sie freut sich immer darauf mit mir zusammen zu sein, und mit mir etwas zu unternehmen. Auch Iren unterhält sich gern mit mir. Und Dora ist halt ein Teenager. Ich sage das nicht gern, es klingt irgendwie blöd. Eine Familie mit mittlerem Einkommen kann sich eine Scheidung eigentlich gar nicht leisten. Viele Paare in Trennung geraten daher kurzfristig unter das Existenzminimum. Darum führe ich genau Buch über meine Ausgaben. Es war für mich von Anfang an klar, dass das Geld nicht reichen würde, und zwar in jeder Hinsicht. So, wie meine Frau im Moment denkt, ist das einfach nicht drin. Bei den Finanzen wird vom klassischen Rollenmodell ausgegangen, wonach der Ehemann einer Arbeit nachgeht, und die Frau sich um den Haushalt und die Kinder kümmert. Bei einer Trennung und Scheidung wird das vom Richter auch in diesem Sinne geregelt. Der Vater und Ehemann muss arbeiten gehen und zahlen, während die Mutter die Betreuung der Kinder übernimmt. Oftmals zahlt der Vater dann, und hat daneben, von seiner Warte aus gesehen, keine Rechte mehr. Bei einem Anruf sagen die Großen einmal mehr einen Besuch ab. Aber vielleicht kommt ja noch meine Tochter Joana am Wochenende.“

 „Der Stau hatte sich aufgelöst“, berichtet Robert weiter. „Ich wollte doch nur die sechs Stunden Zeit, um meinen Kindern zu zeigen, dass ich ein ganz normaler Vater bin. Ich weiß, dass die räumliche Distanz zu den Kindern auch rechtliche Konsequenzen hat. Das Gericht ist ja in Nordrhein-Westfalen und die Vormundschaftsbehörde ist in Hessen. Seit sieben Jahren werden Dossiers hin und her geschoben. Mörder würden ihre Kinder öfter sehen. Für Außen-stehende ist es unbegreiflich, warum man mir mein Besuchsrecht so lange verwehrt. Über die Jahre befassten sich eine Unzahl von Behörden, Ärzten, Psychologen und Pädagogen mit dem Fall meiner Familie. Gutachten und Gegengutachten wurden erstellt. Kaum hatte ich ein gültiges Urteil, konterte meine Frau mit einem weiteren ärztlichen Befund. Immer wieder hieß es, die beiden Jungen seien zu instabil, um den Vater mehr als zwei Stunden zu sehen. Andere Gutachten sprachen hingegen für mich. Wenn der Vater nur als Gespenst existierte, wären große Ängste vorprogrammiert. Dann war es soweit, dass mich der Präsident der Vormundschaftsbehörde empfing. Inzwischen traf auch meine Frau ein, die ihren Termin im Anschluss hatte. Wir sind seit sieben Jahren getrennt, aber immer noch nicht geschieden. Mein Gespräch dauerte eine Stunde. Das niederschmetternde Ergebnis war, dass mir das Besuchsrecht entzogen wurde, für ein Jahr. Und nach einem Jahr muss man alles wieder aufbauen, ich habe sie dann zwei Stunden. Das einzige was ich von der Behörde erfahren habe ist die neue Adresse der Kinder. Ich kann jetzt nur auf Geratewohl dort vorbeifahren, und hoffen, dass ich sie per Zufall sehe . . .“

 Dann können wir schon froh sein, Udo und ich, dass unsere Eltern sich weitgehend arrangiert haben, was unsere Erziehung, die Ausbildung und die Besuche bei Papa betrifft. Sie stimmen sich ab und tauschen auch schon mal ein Wochenende, wenn Papa oder Mama verhindert sind. Und in den Urlaub fahren wir mit Papa jedes Jahr, und im Anschluss mit Mama. Darin kommen wir nicht zu kurz. Papa kommt zu den Elternabenden und achtet sehr darauf, dass wir gute Noten erarbeiten. Doch in der täglichen Erziehung fehlt er uns, fürchte ich. An den Wochenenden bei ihm dürfen wir alles machen, was wir möchten. Wir spielen Fußball, gehen ins Freibad, sitzen am Computer und so. Mama ist damit strenger mit uns. Doch auch sie unternimmt sehr viel mit uns. Wir fahren mit dem Rad, reisen und besichtigen vieles. Doch das ersetzt uns nicht die normal intakte Familie . . .