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Martell Beigang

Zu Gast im eigenen Leben

FUEGO

„Mich beschleicht die Erkenntnis:

Leute, die dümmer sind als man selbst,

haben am Ende das Sagen.“

DBC Pierre, Jesus von Texas

Ben massiert den Teppich aus Asphalt.

Für seinen Geschmack macht er das viel zu oft und meistens viel zu lange. Nächtens liegt darin mitunter eine gewisse Poesie. In dieser Nacht, die gerade widerwillig zum Tag wird, spürt Ben allerdings nur eins: die magnetische Kraft seines Bettes.

Es ist mal wieder spät geworden.

Nach einem mäßig besuchten Konzert mit einer seiner zahlreichen „Man-muss-manchmal-halt-auch-mal-Geld-verdienen“-Bands hat er sich Zeit gelassen beim Einpacken und sich dann den Abend noch ein bisschen schöngetrunken. Am Steuer seines Transporters geht es heim nach Köln. Vor ihm die regennasse Fahrbahn, die direkt in den grauen Himmel überzugehen scheint.

„Der Himmel hing tief, während ich mit ihr schlief ...“ Abwesend summt Ben die Melodie eines Songs seiner ehemaligen Band, den Servokings, vor sich hin. Mensch, die Servokings. Ihm kommt alles so unwirklich vor, als sei Vergangenes nicht tatsächlich passiert, sondern lediglich Abbild der eigenen Fantasie.

Sogar Lisa, die sonst so freundliche Stimme seines Navigationsgerätes, ist heute zickig und schweigt ihn an. Im Radio jetzt „Bend and break“ von Keane. Heulsusenmusik nannte es Tine, seine Exfreundin, immer. Und so konnte es leider nicht ihr Lied werden. Er weiß gar nicht, warum ihm dieser Song heute so besonders schmerzhaft reinfährt. Er hat ihn sicher schon tausendmal gehört, an verschiedenen Orten, unter verschiedenen Umständen, aber wahrscheinlich bedarf es der Koinzidenz wohl aufeinander abgestimmter Parameter, um aus einer Erinnerung und dem gerade Erlebten ein déjàvuhaftes Erlebnis zu machen.

Wasser, das der marode Scheibenwischer nicht erwischt, rinnt über die Windschutzscheibe wie Fäden eines neuronalen Netzes. Alles scheint verbunden: der Regen, das Lied, er selbst, die Nacht, Tine ...

Ben fährt durch die nebelige Dämmerung, und die Tränen in seinen Augen machen aus der ohnehin schlechten Sicht einen Blindflug.

Trotz seiner hundertzwanzig Stundenkilometer hat er das Gefühl, kein Stück vom Fleck zu kommen, jedenfalls nicht auf der Zeitachse seines Lebens. Zu übermächtig ist das Gefühl, das ihn mit der Vergangenheit verklebt.

Der Himmel scheint sich an diesem Morgen nicht entscheiden zu können und taucht den kleinen Park, der Bens Loft gegenüberliegt, in ein diffuses Licht.

Der Duft von frischem Kaffee belebt Bens müde Sinne.

Er setzt sich ans Klavier und klimpert drauflos. Eine melancholische Akkordfolge kommt ihm in die Finger. Er formt sie, wie klebrigen Teig, bis sie zum Morgen passt. Spontan singt er eine schöne Melodie dazu. Die Worte wird er später suchen müssen. So geht es ihm immer, wenn er einen neuen Song komponiert.

Als er gerade sein Diktiergerät zur Hand nimmt, um die Idee festzuhalten, hält er inne: Den Song kennst du doch. Shit, du hast mal wieder ein Lied erfunden, das es schon gibt. Gibt es überhaupt noch Tonfolgen, die neu sind? Ist nicht schon alles gesagt worden in den knapp fünfzig Jahren Popmusikgeschichte? Frustriert schlägt er den Klavierdeckel zu. Protestierend hallt das misshandelte Instrument nach.

Ben legt sich aufs Sofa. Was, wenn mir nie mehr etwas Neues einfallen wird? Und was, wenn mich dann doch irgendwann überraschend die Muse küsst und mir eine revolutionäre Tonfolge eingibt und es mal wieder niemand mitbekommt? Braucht die Welt überhaupt noch neue Musik? Die meisten Regionalradiosender kommen ganz gut mit einer Handvoll Oldies über die Runden. Ben fragt sich mal wieder, was das alles noch soll. Er erinnert sich an früher, als er mit seiner Schülerband in der Garage seiner Eltern probte. Damals war ihr größter Traum, irgendwann einmal eine LP aufzunehmen. Als es dann nach Jahren endlich so weit war, war die CD bereits auf dem Vormarsch, und Ben konnte sich gar nicht richtig freuen über seine erste Veröffentlichung. Die CD kam ihm wie eine geschrumpfte Langspielplatte vor, albern und minderwertig. Und wenn er, so Gott will, irgendwann einmal Kinder haben sollte, kann er ihnen nicht einmal seine Werke vorspielen. Die Tage der CD-Spieler sind gezählt. Das hat doch alles keine Zukunft, denkt Ben und setzt sich auf. Er wird sich fortan wieder auf das Live-Spielen konzentrieren müssen. Siedend heiß fällt ihm ein, dass er heute Abend noch einen Job hat. In irgendeinem Nobelrestaurant. Finanzkrise hin oder her, auch wenn die Menschheit gerade am Abgrund steht, wird gefeiert. Vielleicht gerade dann.

Wahrscheinlich mache ich mir mal wieder viel zu viele Gedanken, stellt er fest, zu viele Gedanken über Musik. Um sich abzulenken, schaltet er die Glotze ein. Zwei Sender beschäftigen sich mit den Neuigkeiten aus der Region. Eine Gerichts- und eine Talk-Show zappt er weg. Dann bleibt er, wie so oft, an einem Musiksender hängen. Oh Gott, mich scheint einfach nichts anderes zu interessieren als Musik. Ich sollte mir ein Hobby zulegen, überlegt er folgerichtig. Zum Beispiel Angeln. Ach nein, zu einsam. Was ist mit Tangotanzen? Da hätte ich nebenbei auch noch die Chance, mal wieder eine Frau kennenzulernen. Au Backe, schon wieder was mit Musik. Wahrscheinlich bin ich süchtig nach dem Scheiß. Ist ein Leben ohne Musik überhaupt denkbar? Selbst Robinson Crusoe hat sich irgendwann eine Flöte geschnitzt, als er sich einsam fühlte auf seiner Insel.

Ben steht auf und probiert es mit Spülen.

Auf dem Weg in die Altstadt friert Ben im Auto. Die Heizung seines betagten VW Busses scheint nur noch an besonderen Tagen zu funktionieren. Eine Zeitlang hat Ben vermutet, es seien die ungeraden, aber vielleicht folgt die Heizung auch einer anderen, weniger offensichtlichen Gesetzmäßigkeit. Im Tran schaltet er das Radio ein. Nach den ersten Takten macht er es wieder aus. Musik – überall Musik. Sie ist allgegenwärtig. Vielleicht hat der Mensch ja ein natürliches Bedürfnis danach, nimmt er den Faden vom Morgen wieder auf. Komisch, dass er dann in der Regel so wenig darauf achtet, was er konsumiert. Vielleicht sollten einfach mal alle Musikschaffenden streiken, damit der Bevölkerung der Wert von Musik wieder etwas klarer wird.

Das Restaurant, wo Ben gleich spielen wird, liegt in der Fußgängerzone am Alter Markt, einem Labyrinth aus schmalen Gassen, an die sich die wenigen vom Krieg verschonten Altbauten Kölns schmiegen.

Es hilft nichts. Warnleuchte an und durch. Interessanterweise hat es bei so einer Aktion noch nie ernsthaft Probleme mit der Polizei gegeben. Es scheint einen Schutzengel für Musiker zu geben. Als Ben seinen Kontrabass rumpelnd über das Kopfsteinpflaster auf das Restaurant Zum Grenadier zurollt, sieht er durch die großen Fenster, dass seine Kollegen bereits da sind.

Heiner hat ein winziges Schlagzeug neben dem Buffet aufgebaut. Kleines Besteck, wie es so schön heißt. Robert, genannt Schnitzel, wird auf dem hauseigenen Flügel spielen, und Sängerin Claudia ist nervös.

„Die Gäste kommen gleich, mach mal hinne!“

Ben stimmt sein Instrument nach dem Flügel, und dann besprechen sie ihre Strategie für den Abend. „Heiner, hast du deine Besen dabei? Wir sollen sehr dezent spielen, damit sich die Gäste noch unterhalten können“, sagt Claudia mit piepsiger Stimme.

Ben hofft, dass sich ihre Stimme gleich beim Singen etwas angenehmer anhören wird, denn er hat noch nie mit ihr gearbeitet. Wahrscheinlich hat sie der Gastgeber nach dem Foto ausgesucht, was ihm die Eventagentur zugespielt hat. Komisch, dass so reiche Schnösel immer eine Band haben wollen, um sich währenddessen mit ihren Gästen zu unterhalten. Eine CD würde es doch auch tun und wäre bedeutend billiger.

Aber dann hätte ich ja weniger Arbeit, denkt er, und vielleicht wird es ja auch ganz nett heute Abend. Ben, du musst positiv denken, positiv ... Seine aufkeimende gute Laune perlt an dem frostigen Blick der rothaarigen Frau von der Eventagentur ab, die gerade den Raum betritt, und versickert im handgeknüpften Teppich. Trotz ihres harschen Auftretens scheint sie noch nervöser zu sein als Claudia. Als Ben ihr zur Begrüßung die Hand gibt, bemerkt er die kalte, feuchte Innenseite derselben.

„So, die Gäste sind da, wenn Sie dann bitte anfangen möchten.“

Von den Gästen keine Spur. Leises Sektflötengeklingel und dezente Gesprächsfetzen dringen von nebenan durch die geöffneten Flügeltüren.

Geil, denkt Ben, wir spielen heute Abend Radio – lebendiges Radio. Ganz schön abstrakt.

Das Spielen macht dann doch überraschend Spaß. Schnitzel hat richtig Feuer und spielt ein paar spritzige Soli. Zwischendurch kommt die Eventmanagerin hereingefegt und gibt – ätzenderweise während die Band spielt – weitere Instruktionen. Natürlich sollen sie noch leiser spielen. Heiner verzieht sein Gesicht. Leiser als gerade eben geht eigentlich nicht. Ein physikalisches Ding der Unmöglichkeit.

„Probier es mal mit Luftschlagzeug“, witzelt Ben, während sie „Ich will keine Schokolade“, ein flottes Lied aus den Sechzigern, spielen. Irgendwann zwischendurch trampelt eine fußballteamstarke Menschengruppe in feinem Zwirn und kleinem Schwarzen in den Raum und fällt über das Buffet her, als sei es das erste Essbare nach einer zweiwöchigen Expedition durch die Wüste Gobi. Mit grotesk hochaufgetürmten, edlen Speisen auf ihrem Teller verlassen die meisten Gäste ebenso schlagartig den Raum, wie sie gekommen sind. Nebenan muss irgendetwas los sein, etwas ganz Besonderes, etwas, das interessanter ist als eine Band, die auf Zimmerlautstärke ihr Bestes gibt. Nach dem Konzert packt Ben seinen Bass ins Auto und denkt, die Sache mit dem Streik wäre vielleicht gar nicht so verkehrt.

Ben liebt es, durch Buchläden zu schlendern. Obwohl sie wie die meisten schnuckeligen kleinen Geschäfte dasselbe Schicksal teilen – nämlich langsam zu verschwinden, um durch belletristische Supermärkte ersetzt zu werden –, scheint überall immer noch die stillschweigende Übereinkunft der Kunden zu bestehen, sich als etwas Besseres zu fühlen. Nicht Boutiquen-besser, sondern eben kultivierter. Jeder bewegt sich eine Spur langsamer als im Woolworth vor dem Grabbeltisch. Anderen Personen überlässt man jovial den Vortritt. Niemand erhebt die Stimme. Teppichböden in beruhigenden Farben sorgen für eine angenehme Raumakustik. Es ist die Ehrfurcht vor der geballten Bildungspotenz, die kampferprobte WSV-Killer für einen Moment in gesittete Bürger verwandelt.

Obwohl der größte Umsatz mit Büchern gemacht wird, die es inzwischen in jeder gutsortierten Tankstelle zu kaufen gibt, besteht für den Kunden eines Buchgeschäftes zumindest die Chance, mit demjenigen verwechselt zu werden, der im zweiten Stock mit Kennermiene anspruchsvolle Literatur erwirbt.

Wie durch Zufall, so es ihn überhaupt geben sollte, treibt es Ben an dem Regal „Lebenshilfe“ vorbei.

Jau, Hilfe für mein verkorkstes Leben könnte ich tatsächlich mal ganz gut gebrauchen, denkt er.

Nach seiner Bauchlandung im letzten Jahr, bei der er binnen zweier Wochen seine Freundin Tine und die Servokings loswurde, entstand in ihm die Gewissheit: Egal, wo man gerade steht, eigentlich gibt es immer und überall noch ein Tiefer-unten.

Aber alles Elend dieser Zeit scheint auch eine positive Wirkung zu haben, sie hat Ben sich selbst wieder nähergebracht. Nur bei der Interaktion mit anderen Menschen hapert es manchmal. Zum Beispiel bei der mit Agnes, die im Feynsinn bedient. Die Beziehung mit ihr fegte viel zu früh über ihn hinweg und war genauso schnell wieder vorbei wie sie begonnen hatte.

Ben hatte ihr einmal beim Sex versehentlich den Namen seiner Exfreundin ins Ohr gestöhnt, was sie ihm sicher verziehen hätte, wäre sie in der Nacht davor nicht bereits zweimal aufgewacht, weil er mit brüchiger Stimme im Schlaf „Tine“ rief. Agnes überraschte Ben mit ihrer Besonnenheit. Sie behandelte es als schlichte Tatsache, dass Bens Herz einfach noch nicht bereit für eine neue Liebe war. Keine Ahnung, ob solche speziellen Fälle in irgendeinem der akkurat vor ihm aufgereihten Ratgeber beschrieben werden, aber es kann ja nicht schaden, sich schon mal für weitere mögliche Beziehungsgaus zu wappnen. Mit spitzen Fingern nimmt Ben vorsichtig ein paar Exemplare in die Hand. Das Design der meisten Ratgeber ist auffällig farbenfroh und suggeriert eine neue Lust am Leben, die er im Moment so gar nicht verspürt. Als jemand neben ihm versehentlich ein Buch fallen lässt, schaut er auf und stellt fest, dass sich an seinem Regal ausnahmslos Frauen befinden. Ah, hier also halten sich die interessanten Frauen versteckt, denkt er. Oder halt, sind das womöglich alles schräge Psychotanten? Schwer zu sagen. Vielleicht brauchen die Frauen die ganzen Tipps ja auch gar nicht für sich selbst, sondern für ihre Macker. Fest steht, dass man eine Frau, wie die kastanienbraune Schönheit ihm gegenüber, im Sixpack, wo er spätnachts gerne hingeht, vergeblich sucht. Ihm ist eh aufgefallen, dass Frauen einfach viel mehr lesen als Männer. Auf einer Lesung von irgend so einem koksenden Popliteraten kam Ben aus dem Glotzen gar nicht mehr heraus, weil er noch nie so viele spannende Frauen auf einem Haufen gesehen hatte. Abgelenkt und lustlos blättert Ben noch ein bisschen herum, kann sich allerdings für keines der Bücher entscheiden. Beim Verlassen der Buchhandlung denkt er: Mehr als unwahrscheinlich, dass es mich jemals wieder näher interessieren wird, dieses Thema, Frauen, aber wenn es so weit ist, weiß ich ja jetzt, wo sie sich rumtreiben.

Eigentlich gibt es im Moment für Ben nur zwei lebbare Varianten: Tine muss raus aus seinem Kopf oder wieder rein in sein Leben.

Lange konnte und wollte er sich nicht entscheiden, war gelähmt durch dieses gedankliche Patt. Von allein wird sie nicht verschwinden aus meinem Herzen, denkt er, ich muss ein bisschen nachhelfen.

Er wünscht sich insgeheim, Tine könnte hören, was ihn in solchen Momenten umtreibt. Wenn sie ihn doch leiden sehen, seinen Schmerz fühlen könnte! Aber wie soll er sich ihr mitteilen, wohin soll er einen Brief oder eine CD schicken? Er weiß nicht einmal, in welches Land sie verschwunden ist, nachdem sie ihn letztes Jahr verlassen, ihr Studium (der Rechtswissenschaften) abgebrochen und unter ihr bisheriges Leben einen Schlussstrich gezogen hat. Eine Art Flaschenpost könnte er entsenden. Sie würde schon bei ihr ankommen, dessen ist sich Ben sicher, er glaubt an solche Sachen. Was, wenn er eine Videobotschaft ins ewige Meer der Daten schmeißen würde? Tine wird sich bestimmt nicht dauerhaft mitten im Urwald aufhalten, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation. Ben kramt seine Kamera aus dem Schrank. Das letzte Mal, als er sie benutzt hat, war beim Videodreh der Servokings, wo sie auf der Deutzer Kirmes ein bisschen Jahrmarktatmosphäre einfangen wollten – bunte, sich drehende Lichter im herbstlichen Nebel. Ach nein, stimmt nicht. Da war noch die kleine Reise mit Tine im Sommer darauf, ein Wochenendausflug ins Elsass. Sie, die Haare hochgesteckt, als rasende Reporterin im Schatten alter Bäume einer Allee vor einem Holzkreuz am Straßenrand, daran gelehnt ein frischer Kranz Blumen. Tine mit ernster Stimme: „... und hier, an dieser Stelle, ereignete sich letzten Dienstag der tragische Unfall. Also, liebe Zuschauer, Finger weg vom Alkohol.“

Während die Kamera auf ihr Gesicht zoomt, muss Tine lachen, winkt mit beiden Armen durchs Bild und schreit aufgeregt: „Das ist makaber, lösch das, hörst du? Lösch das bitte sofort.“ Was Ben natürlich nicht getan hat. All das kommt ihm gerade in den Sinn, während er die Kamera auf ein Stativ schraubt.

Nach einem prüfenden Blick in die spiegelnde Fensterscheibe räuspert er sich und blickt in die Kamera: „Tine, die Erste: Liebe Tine, wo immer du jetzt bist. Ich hoffe, es geht dir gut. Ich vermisse dich ganz ... sehr, ähhhh, ich ... Komm zu mir zurück, ... bitte. Ich liebe dich ...“

Ach du Scheiße, ist das kitschig, denkt er, also noch mal neu.

„Tine, die Zweite: Hallo Tine, ich habe nachgedacht. Also, dich von mir zu trennen, das war vollkommen in Ordnung, ich meine, jeder kann ja machen, was er will, und du wolltest eben ... äh, also ich finde das gut, na, gut nicht, halt verständlich, aber überleg’s dir doch noch mal, ich meine, sieh’s doch mal so ...“

Stopp, aus, so wird das nie was. Vielleicht sollte er zwischendurch mal einen Schluck Bier trinken ...

„Tine, die Zehnte: Echt Tine, mir reicht’s, ich finde es unverschämt, sich einfach so zu verpissen. So langsam mache ich mir wirklich Sorgen. Ich denke jeden Tag an dich, und mich macht das echt ... wütend, Mann ich bin echt sauer auf dich, einfach so abzuhauen, Scheiße, warum? ... War das nichts, was wir hatten? Was soll die Scheiße, wie egoistisch das ist, Wahnsinn, ich lie..., ich HASSEEEEEEE DICH ...“

Nach einem halben Dutzend weiterer Versuche spult Ben das Band zurück und drückt auf Aufnahme. Die nächste halbe Stunde zeichnet die Kamera ein unverändertes Bild auf: Ben sitzt unbeweglich auf einem Stuhl, sein Gesicht in die Hände gestützt. Stille, nur ein paar Raumgeräusche, ab und zu das Knacken der Heizungsrohre, von draußen leises Tropfen aus einer lecken Dachrinne.

Mit Musik Geld zu verdienen, darauf hat es Ben nie wirklich abgesehen. Ein erwünschter Nebeneffekt, ja, aber nichts, was er ernsthaft in Erwägung gezogen hätte, sonst hätte er ja gleich etwas Richtiges lernen können. Langsam jedoch ändert sich seine Perspektive. Nach Auflösung der einzigen Band, die ihm richtig am Herzen lag, denkt er immer öfter: Was wäre, wenn ich es einfach einmal darauf anlegen würde? Womit ließe sich denn überhaupt noch Geld verdienen? Was wäre ein lupenreines Konzept, welche Musik würde einen scharf konturierten Markt bedienen?

Christenrock! Nur so eine Idee, zugegeben, eine sehr skurrile. Aber die Zielgruppe stünde felsenfest und umfasst allein in Deutschland mehrere Millionen Menschen. Man wäre ein Held in guter Mission.

Die Clubs, in denen man spielte, wären sauber, gut beheizt und hätten zuvorkommendes Personal. Kein Vergleich mit den versifften, stinkenden Rock & Roll-Schuppen, die Ben in seiner Laufbahn schon von innen gesehen hat. Dummerweise hat er noch nie einen anderen Musiker gefunden, mit dem er diese Vision hätte teilen können. Neulich sah er ein Plakat von Armin von Witzleben & seine Salon Löwinnen. Couplets und Schlager der zwanziger Jahre. Das klingt nach einer runden Sache. Aber, fragt sich Ben, wie muss man drauf sein, um so etwas adäquat rüberzubringen? Herr von Witzleben hat wahrscheinlich die Villa seiner Eltern geerbt, samt Kronleuchter, Marmorkamin und Jugendstil-Schreibtisch und fährt mit einem Mercedes SSK durch die Gegend, pardon, wird gefahren von seinem Chauffeur. Vor jedem Gastspiel widmet er sich der Pomadisierung seiner Wasserwelle und der kunstvollen Verzwirbelung seines eleganten, schmalen Bärtchens. An diesem Beispiel zeigt sich das eigentliche Problem des Ganzen, man kann wirklich ne Menge machen, aber es muss authentisch rüberkommen. Das Publikum reagiert allergisch auf künstliche Posen. Egal, was passiert auf der Bühne, ob Punk, Free Jazz oder Ausdruckstanz, der Künstler auf der Bühne muss hundert Prozent von dem überzeugt sein, was er da macht. Das hindert Ben allerdings nicht daran, weiter zu überlegen, was alles noch so möglich wäre. Schließlich kann man ja in alles hineinwachsen. Eine andere Idee, mit der man mit Sicherheit ins Feuilleton käme, wäre das Projekt: „Swing tanzen verboten!“ Zur Aufführung käme all die Musik, die die Nazis als entartet gebrandmarkt hatten. Amerikanischen Bigband Jazz hatten die braunen Brüder damals besonders auf dem Kieker, waren sich aber auch nicht zu schade dazu, gegen Ende des Krieges eigenen Jazz mit „Wehrkraft zersetzenden“ englischen Texten zu produzieren, den sie dann hinter die feindliche Linien gesendet haben. Beides könnte man herrlich gegenüberstellen. Ein zeitloses Thema, was mit Sicherheit die Kulturtöpfe der Republik nur so sprudeln ließe. Ben wundert sich, dass darauf noch niemand gekommen ist. Was kann man noch für Musik machen, wenn man ausnahmsweise mal nicht das Rad neu erfinden möchte, also keine eigenen Songs präsentieren will, aber trotzdem noch das Gefühl haben will, ein eigenes Statement zu liefern? Tanzmusik, nee, Top Forty Mucke, bäh. Ganz unverfänglich und ertragreich erscheint Ben die Komposition von Wellness-Musik für den Sanitärbereich. Die ganzen wasserlosen Urinale auf Autobahnraststätten wollen schließlich gefühlvoll beschallt werden. Aber, so überlegt er weiter, so richtig ausgereift scheint das ökologische Konzept auf der Raste auch nicht zu sein. Diese Dinger sparen zwar Unmengen von Wasser, aber man braucht ziemlich viel bösen Atomstrom, um die Werbebotschaften zu illuminieren, die einen anspringen, sobald man seine Nudel in die Plastiknase hängt. Nächste Woche hat Ben einen Job mit einem Kabarettisten. Mal sehen, wie sich das so anfühlt.

Der Schweinwerfer geht an und pfeffert seine tausend Watt auf Bens Gesicht, der den Tonarm seines Plattenspielers behutsam auf das sich drehende Vinyl senkt. Über die rhythmisch flotte Sixties-Musik spricht er seinen Text.

„Hallo Tine, geht’s dir gut? Hab keine Ahnung, wo du gerade bist. Ist es warm dort? Ich ärgere mich immer noch, dass ich früher so ein Reisemuffel war. Heute würde ich wahnsinnig gerne mal mit dir verreisen. Was hältst du von Malta? Ich dachte, das könnte dir gefallen. Du wolltest doch immer lieber dorthin, wo nicht alle anderen hinfahren. Auf Malta ist man ziemlich weit ab vom Schuss, mitten im Mittelmeer, aber in der Hauptstadt Valletta ist trotzdem ganz schön was los. Sagt zumindest Philipp Boa, den du damals als Schülerin so cool fandest. Ich würde gerne einmal mit dir zusammen nachts über die Straight Street laufen oder mit einem Boot nach Gozo übersetzen. Also, ich hoffe wir sehen uns bald wieder, spätestens im nächsten Leben. Gehab dich wohl, dein Ben.“

Mit einem Taschentuch wischt er sich zufrieden den Schweiß von der Stirn. Nach seiner ersten Videosession hat er viel nachgedacht. Ihm wurde schnell klar, dass es überhaupt keinen Zweck hat, Tine per Video zu zeigen, wie mies er sich fühlt, was für eine arme Wurst er doch ist – ohne sie. Matze, der Gitarrist der Servokings hatte mal zu ihm gesagt: „Mädchen wollen keine Verlierer, die wollen jemanden, der weiß, wo es langgeht.“ Diese Binsenweisheit reichte er ihm einmal rein, als sie über Jean Pütz von der Hobbythek sprachen, der zwar nicht gerade für seine optischen Vorzüge bekannt ist, jedoch ein totaler Frauenheld sein soll. Ben fragt sich, was wohl für ein evolutionsbiologischer Grund hinter dieser beim weiblichen Publikum unerwartet großen Akzeptanz stecken könnte. Ganz klar, Jean kann für jedermann verständlich erklären, wie man sich selbst zu Hause eine pH-neutrale Tagescreme anrührt, und das auf das Milligramm genau. Der Mann weiß einfach Bescheid, q.e.d. ...

Das Thema, über das man weltmännisch referiert und über das man bestens informiert sein sollte, spielt eigentlich überhaupt keine Rolle. Es gibt für alle noch so kuriosen Fachgebiete Experten. Also schlussfolgerte er, sollte er sein Selbstmitleid am besten sofort herunterschlucken und analysieren, woran die Beziehung damals gescheitert ist oder besser noch, nachdem er es rausgefunden hat, sich als jemand präsentieren, der es bereits besser weiß, als jemand, der aus seinen Fehlern gelernt hat.

Genauestens. Also nicht Trübsal blasen oder selbstanklagend feststellen: Ich war so ein Loser, tut mir leid, ich verstehe dich, sondern sich vielmehr als frischzellenerneuert darstellen: Hey Baby, wir verreisen, und ich sage dir, wo es langgeht, denn ich bin bestens informiert über das Reiseland, ach, was sage ich, habe mich sogar mit der Kultur und der landestypischen Küche auseinandergesetzt. Jau, super Idee, das sollte ich machen, denkt Ben, das nächste Mal koche ich etwas für Tine vor der Kamera. Mit einem visionären Lächeln im Gesicht nimmt er den Hörer ab und wählt Gregs Nummer.

„Hör mal, Greg, du kennst dich doch aus mit so Internetkram?“

Greg antwortet mit gedämpfter Stimme: „Hallo Ben, ich bin gerade am Arbeiten.“

„Ich habe so ein Video gedreht, und du musst mir mal kurz zeigen, wie ich ...“

„Hey, ich kann gerade nicht, verstehst du? Ich komme später bei dir vorbei.“ Und aufgelegt.

Ben ist sich der Naivität und der relativen Sinnlosigkeit seines Projektes bewusst, und gerade deswegen macht es ihm so gute Laune. Nach langen Jahren verbissenster Grabenkämpfe an der Front des Musikgeschäftes, wo der Wunsch nach Erfolg oftmals den Inhalt zur Nebensache degradierte, fühlt er sich an die kindliche Freude erinnert, mit der er damals angefangen hat Musik zu machen, an die Begeisterung, die es hervorruft, sein Inneres nach außen zu kehren, ohne die leiseste Ahnung zu haben, ob es irgendjemand anderes versteht: Fire and forget.

Seine Gedanken werden durch das profane Läuten seiner Handfunke unterbrochen. Nach Generationen origineller Klingeltöne, selbstkomponierter und programmierter Melodien, crazy samples, scheppert „das-billigste-Handy-mit-dem-man-super-auch-mal-Bier-aufmachen-kann-ihr-könnt-mich-alle-mal-am-Arsch-lecken-mit-eurer-I-Fuck-Hysterie“. Rrrrring.

Es ist Matze, eine Stimme aus der Vergangenheit.

Ben räuspert sich. „Das gibt es ja gar nicht! Wie geht es dir?“

„Ganz gut.“

„Was macht die Kleinfamilie?“

„Alles super. Sag mal, stimmt es, dass du die Seiten gewechselt hast?“

„Wie meinst du das?“

„Na, dass du jetzt krumme Dinger drehst?“

„Wie, krumm?“

„Na ja, die Sache mit dieser Dailysoap-Darstellerin, wie heißt sie noch? Janine Dingens. Es heißt, du hättest sie entführt.“

Ben ist perplex. Eigentlich könnte Matze nichts über das merkwürdige Erlebnis, das Ben vor etwa einem Jahr hatte, wissen.

„Wer erzählt denn so was?“

„Hab ich so gehört.“

„Scheiße, dass Greg nie die Fresse halten kann.“

„Ben, wir sind doch ne Band.“

„Waren, Matze, waren ...“

„Hast du die Servokings echt so schnell vergessen?“

Ben zögert. „Natürlich nicht. Aber du musst mir versprechen niemandem, wirklich niemandem davon zu erzählen, sonst bin ich erledigt.“

„Alles klar, schieß los!“

Ben setzt sich an seinen Schreibtisch und atmet hörbar ein. „Also, ich hatte auf der letzten Komet-Verleihung so einen Playbackjob mit Silvio Méndez, diesem Latinoheini, und danach hab ich zufällig Janine Paffrath kennengelernt. Wir haben uns unterhalten, und dann ist sie mitgekommen, in mein Studio.“

„Ach, echt?“

„Na, nicht ganz freiwillig.“

„Nennt man das nicht Entführung?“

„Ich saß am Steuer von so einem Shuttle Bus, der die Gäste zum ...“

„Wie am Steuer, ich dachte, du hast da gespielt?“

„Wir haben da alle ewig gewartet, und es ging einfach nicht vorwärts, weil ein Bus im Weg stand. Irgendwie war der Fahrer verschwunden, da hab ich mich einfach selbst ans Steuer gesetzt, und plötzlich sitzt da Janine neben mir und sagt: ‚Fahr los!‘“

„Ja und dann?“

„Bin ich halt losgefahren. Tja, und wo sie schon mal neben mir saß, dachte ich mir: Das ist doch eine Spitzengelegenheit, ihr mal meine Sicht der Dinge näherzubringen. Wie ungerecht und hohl das ganze Business doch ist, und was ich davon halte, was sie sich alles so zusammenklaut.“

„Wahnsinn. Und wollte sie das auch alles so genau wissen?“

„Nicht wirklich. Sie fing direkt tierisch an zu schreien: Hilfe ... lass mich raus ... das ganze Programm in Ultraschall. Da wurde ich dann panisch und bin erst mal in die Garage meines Studios gefahren. Als dann das Garagentor von innen zuging, hatte ich plötzlich ein Problem.“

„Unglaublich.“

„Am nächsten Morgen haben wir uns eigentlich ganz gut verstanden ...“

„Du hast sie eine Nacht lang eingesperrt?“

„Es ging nicht anders, ich musste ihr die Sache doch erklären, aber die Gute war so durch die Fritten, die musste sich erst mal beruhigen.“

„Ach du Scheiße, das nennt man ... Kidnapping.“

„Ich weiß, und ich bin heilfroh, wie cool sie geblieben ist. Ein falsches Wort von ihr, und ich wär jetzt im Gefängnis.“

„Sie hat das echt niemandem erzählt?“

„Nur ihrer Mutter. Und die hat dann auch eine Riesenwelle gemacht, aber als es hart auf hart kam und die Polizei sie befragt hat, hat sie alles abgestritten. Janine hat für mich gelogen, das ist echt der Hammer. Aber das war auch nicht das Einzige, was mich an ihr überrascht hat. Als sie bei mir im Studio war, hat sie einen Song von mir gesungen. Und weißt du was? Das war super. Die kann richtig schön singen, wenn sie will. Und verrückterweise fand sie den Song auch noch klasse. Ich muss dir ehrlich sagen: Das Erlebnis mit ihr hat mein Weltbild ganz schön durcheinandergebracht.“

„Hast du dich in sie verknallt?“