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Werner Hansch
mit Uli Hesse

»… Alles andere ist
Schnulli-Bulli!«

Mein verrücktes Reporterleben

VERLAG DIE WERKSTATT

Bildnachweis:

Die Fotos stammen, soweit nicht anders nachgewiesen, aus der

Sammlung Werner Hansch.

Umschlag vorne: picture alliance

Innenklappe vorn: picture alliance

Innenklappe hinten: privat / Uli Hesse

Trotz intensiver Recherchen konnte nicht in allen Fällen die
Urheberschaft an den Fotos ermittelt werden. Der Verlag bittet um
entsprechende Hinweise, um berechtigte Ansprüche abzugelten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2014 Verlag Die Werkstatt GmbH

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www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

ISBN 978-3-7307-0145-4

Für Jakob und Ana,
Hannes und Ella

Anpfiff

Ich habe nie Fußball gespielt. Nicht als Kind auf der Straße, was damals üblich war in unserem Viertel, nicht in der Schule und im Verein schon gar nicht. Ich war wohl ein ganz guter Läufer, aber der Ball wollte mir einfach nicht folgen. Mein Untalent für diese Sportart wurde schon sehr früh abgestraft, wenn es darum ging, Mannschaften beim Straßenfußball aufzustellen. Zwei Anführer wählten dann abwechselnd ihre Lieblinge, nach der Methode: einen Fuß vor den anderen. „Ich nehm’ den Kalle.“ „Dann nehm’ ich den Nobbi.“ Einer blieb meistens übrig. Also stand ich mal wieder hinter einem der improvisierten Tore, um Bällen nachzurennen, die vorbeigeflogen waren. Es musste schnell gehen – für die anderen.

Wie sollte sich bei solcher Voraussetzung je ein gesteigertes Interesse oder gar helle Begeisterung für Fußball entwickeln? Wieviel Fantasie muss einer aufbringen, um sich vorzustellen, dass ausgerechnet dieser Sport später mal zum beruflichen Schwerpunkt meines Lebens werden sollte?

Und doch hat eine unwiederholbare Verkettung von Zufällen es tatsächlich so gefügt. Es begann im Februar 1973, mit 34 Jahren, als Stadionsprecher wider Willen. Der Fußball war also längst erfunden und mit ihm wohl auch die so spezifische Fußballsprache. Alle Bewegungsabläufe und Ereignisse, die typischerweise ein Fußballspiel ausmachen, hatten altgediente Sportreporterlegenden quasi schon in Blei gegossen. Als ich 1978 geradezu hineingeworfen wurde in den Reporterjob, erkannte ich schnell: Ohne stereotype Redewendungen und eingefahrene Floskeln kommt da keiner durch. Aber ich spürte schon bald auch eine reizvolle Versuchung, hier und da mal auszubrechen aus dem Stehsatz des Archivs – durch die Einführung neuer Sprachbilder.

Dieser verlockende Doppelpass zwischen Stimme und Sprache wurde schließlich ein nachhaltiges Erkennungsmerkmal meiner Reportagen. Es verblüfft mich immer wieder, wenn fremde Menschen, denen ich zufällig begegne, spontan bildhafte Wortpassagen aus längst verjährten Beiträgen zitieren. „Es war mal in Bochum, da haben Sie gesagt: Das Problem bei Uwe Leifeld liegt zwischen den Ohren!“ Nun ja, der Uwe war seinerzeit ein begehrter Torjäger beim VfL. Manchmal spielte halt sein Kopf nicht mit, dann war er zu rappelig vor der Kiste und vergab dicke Chancen.

Und wie war noch mal die Geschichte mit Olaf Dressel? Ehemals Verteidiger in Bochum von eher grobkantiger Natur. Einmal traf sein verspäteter Tritt nur noch den Fuß eines Gegenspielers. Der stöhnte lauthals auf. Diesen Kracher habe ich beinahe musikalisch vertont. „Dressels Beitrag zum Mozart-Jahr: Ein Foul aus dem Knöchelverzeichnis.“ (Es geschah 1991, im 200. Todesjahr des Komponisten.) Ohrenzeugen aus jener Zeit haben mir diesen „Fußball-Mozart“ noch Jahre später nachgetragen.

Im großen Fußball unserer Tage hat die Abteilung Humor kaum noch Raum. Immer öfter geht es um alles. Manche sagen – wenn auch mit einem Augenzwinkern –, es ginge gar um Leben und Tod.

Aus meiner Distanz habe ich die Dinge immer schon ein gutes Stück weit tiefer gehängt. Ein Spiel halt, mit überschaubaren Regeln, ausgetüftelten Systemansätzen und endlosen taktischen Varianten. Was dann auf dem Platz herauskommt, ist nicht selten langweilig, manchmal spannend bis prickelnd, bestenfalls auch mal begeisternd. Am Ende zählt doch immer nur das eine: Der Ball muss ins Tor – alles andere ist Schnulli-Bulli.

Erinnern

Schweigend fuhren wir durch die Novembernacht. Von Zeit zu Zeit blickte ich verstohlen hinüber zu dem Mann, der neben mir auf dem Rücksitz des Wagens saß. Dann schaute ich wieder aus dem Fenster in die Dunkelheit und überlegte, was ich sagen sollte. Es kommt nicht allzu häufig vor, dass mir die Worte fehlen, aber auf dieser Fahrt von Raesfeld nach Gelsenkirchen war das der Fall. Dabei wusste ich, dass ich mit Rudi Assauer reden musste, bevor unsere Wege sich trennten.

Ich kannte Rudi seit vielen, vielen Jahren. Wir hatten durch den Fußball ein gutes Verhältnis mit immer wiederkehrenden Begegnungen. Aber das waren eher Inseln. Es ist sicher falsch zu sagen, wir wären Freunde gewesen. Denn dazu gehört eine andere Art von Vertrautheit – und vor allem mehr zeitliche Nähe. Rudi und ich hatten abseits des Fußballs so gut wie keine gemeinsamen Interessen, daher sahen wir uns nur alle paar Wochen mal, meistens zu einem Anlass wie dem, der uns an jenem Herbsttag nach Raesfeld ins westliche Münsterland geführt hatte.

Nachdem Rudi im Mai 2006 völlig überraschend als Manager des FC Schalke abberufen worden war, erhielt er viele Einladungen. Seine Aura war noch immer lebendig, so bekam er Anfragen von Firmen, Banken oder Versicherungen, die zu Gesellschafterversammlungen und Ähnlichem gerne Gastredner präsentieren, die für Unterhaltung sorgen. Rudi machte das ein- oder zweimal, stellte aber schnell fest, dass es nicht das Richtige für ihn war. „Ich bin nicht wie der Reiner Calmund“, sagte er zu mir. „Ich kann nicht eine Stunde lang über die Bühne rennen und aus dem Bauch heraus erzählen. Das liegt mir nicht.“ Nach einer kurzen Pause setzte er vorsichtig hinzu: „Ich habe mir gedacht, wir könnten das vielleicht zusammen machen?“

Und so traten wir zusammen auf. Die Rollenverteilung lag dabei auf der Hand: Ein Ahnungsloser, das war ich, stellte dumme Fragen über Fußball, und Rudi beantwortete sie, indem er launig und humorig aus dem Nähkästchen plauderte. Manchmal diskutierten wir auch das Tagesgeschehen. Wenn wir mal unterschiedlicher Meinung waren – etwa als ich den Schalker Nationalspieler Kevin Kuranyi dafür kritisierte, dass er in der Pause eines Länderspiels das Stadion verlassen hatte und nach Hause gefahren war –, dann regte Rudi sich künstlich auf und rief zur Freude der Zuhörer: „Du kannst dich doch in einen solchen Jungen gar nicht hineinversetzen! Du hast doch nie selbst Fußball gespielt!“ (Was im Übrigen stimmt.) Zwischen 2007 und 2011 zogen wir etwa zwölf bis fünfzehn solcher Auftritte durch. Der vorletzte, im November 2010, fand vor rund 250 Mitgliedern des Lions Club Borken im Schloss Raesfeld statt.

Es gab mehrere Programmpunkte, aber schließlich waren wir an der Reihe. Es lief zunächst ganz gut. In der ersten Reihe des Publikums konnte ich Constantin Freiherr Heereman sehen, den langjährigen Präsidenten des Bauernverbandes. Wie alle anderen auch war er bester Stimmung und fühlte sich gut unterhalten. Dann aber stockte mein Partner plötzlich. Wir hatten gerade über seine Zeit bei Werder Bremen und die handelnden Personen gesprochen, da sagte Rudi: „Wie hieß der noch mal?“ Und kurz darauf erneut: „Wer war das noch gleich?“ In diesem Augenblick wurde mir bewusst, das etwas mit ihm nicht stimmte.

Wir waren an jenem Tag mit einem Fahrdienst unterwegs, der uns nach der Veranstaltung zurück zu Rudis Haus chauffierte, wo mein Wagen stand. Auf der Rückfahrt fasste ich den Entschluss, das Thema offen anzusprechen. Kurz bevor wir ankamen, sagte ich: „Rudi, ich würde heute gerne noch einmal fünf Minuten mit dir reden.“ Er erwiderte: „Ja, klar. Was hast du denn auf dem Herzen?“

Ich wartete, bis wir ausgestiegen waren und auf dem Hof vor seinem Haus standen. Dann sagte ich: „Rudi, ich habe das Gefühl, mit dir ist etwas nicht in Ordnung. Genauer gesagt: mit deinem Kopf. Ich möchte dich bitten …“ Weiter kam ich nicht, denn Rudi brach in Tränen aus. „Ich weiß es doch, ich weiß es doch“, jammerte er. Er fiel mir um den Hals und schluchzte. „Komm rein, komm mit rein“, sagte er.

Schon von der Tür aus konnte ich erkennen, dass sein Schreibtisch übersät war mit Kreuzworträtseln, die er aus Zeitschriften und Zeitungen herausgeschnitten hatte. „Siehst du?“, sagte er immer noch unter Tränen. „Ich versuche doch alles, um meinen Kopf zu trainieren!“ Dann sprach er über seine Mutter, die an Alzheimer gestorben war, und seinen älteren Bruder, der mit Demenz in der geschlossenen Abteilung einer Klinik leben musste.

Ich war zutiefst betroffen. Weil wir eben keine echte Freundschaft pflegten und nicht regelmäßig Kontakt hatten, war mir sein schleichender Zerfall nicht aufgefallen. Ich habe seit jenem Tag mit vielen Menschen aus seiner näheren Umgebung gesprochen, und die haben natürlich alles hautnah mitbekommen. Auch seinen übermäßigen Alkoholkonsum, den ich nie bemerkt hatte, weil Rudi unsere Auftritte stets nüchtern absolvierte. Auch außerhalb dieser Termine hatte ich ihn niemals wirklich betrunken erlebt. Nie! Deshalb konnte ich mir auch lange auf seine Entlassung bei Schalke keinen richtigen Reim machen.

Inzwischen weiß ich, dass Rudi die ersten Anzeichen seiner Krankheit schon viele Jahre zuvor gespürt hatte, auch weil er durch seine Familiengeschichte vorgewarnt war. Deswegen trank er verstärkt, was ein fataler Fehler war. Alzheimer und Alkohol – eine unheilvolle Melange. Doch ihm war es lieber, die Leute hielten ihn für einen Säufer als für einen Verrückten.

Doch von all diesen schrecklichen psychischen Kämpfen, die er mit sich ausgetragen haben muss, wusste ich an jenem Novembertag 2010 noch nichts. Gleich am nächsten Morgen rief ich von meinem Büro aus seine Tochter Katy an und erzählte ihr, was am Abend zuvor geschehen war. Sie sagte: „Herr Hansch, ich verspreche Ihnen, dass ich meinen Vater gleich morgen früh an die Hand nehme und ihn in die Memory-Clinic nach Essen bringe.“ Das hat sie getan, und dort bekam er seine Diagnose.

Wir hatten dann noch eine letzte gemeinsame Veranstaltung, im März 2011 für eine große Immobilienfirma. Vielleicht hätten wir diesen Termin nicht mehr wahrnehmen sollen, aber die Verträge waren schon lange unterschrieben, und wir kamen mit einem blauen Auge davon, weil ich mich gut vorbereitete und viele von den Parts übernahm, die sonst Rudi innehatte. Doch es war klar: Einen weiteren Termin dieser Art konnte er nicht mehr bewältigen. Unter anderem deswegen saß ich etwa drei Monate später alleine, ohne Rudi, bei der ZDF-Morgensendung „Volle Kanne“, um über die Fußball-WM der Frauen in Deutschland zu reden. (Da Rudi für dieses Thema nun wirklich gar nichts übrig hatte, wäre er der Einladung aber wohl auch – oder gerade – bei klarstem Verstand nicht gefolgt.)

Wie nun diese Sendung auf verschlungenen Pfaden dazu führte, dass Rudi sich öffentlich outete, dass die Reporterin Stephanie Schmidt einen berührenden Film drehte, der das ganze Land bewegte, dass das Thema Alzheimer endlich in die Öffentlichkeit kam und dass ich im Herbst 2013 sogar zum Vorsitzenden einer Initiative für Demenzkranke und ihre Angehörigen wurde – das alles werde ich an späterer Stelle noch genauer erzählen.

Jetzt sei nur gesagt, dass jene Wochen und Monate wahrscheinlich noch zu etwas anderem führten, nämlich zu diesem Buch. Das ist mir allerdings erst langsam bewusst geworden, während ich weiter und weiter in die Vergangenheit reiste, um die Geschichte der vielen Zufälle zu erzählen, die mein Leben ausgemacht haben. So hatte ich mir schon immer vorgenommen, endlich herauszufinden, was meinem Vater widerfahren war und warum er nie darüber sprach. Außerdem wollte ich seit Langem den einzigen Menschen wiederfinden, den ich wirklich als engen Freund bezeichnen kann. Und ich plante schon ewig, dieses und jenes mal aufzuschreiben – und tat doch jahrelang nichts von alldem.

Deswegen glaube ich, dass der entscheidende Impuls, diese Vorhaben dann doch eines Tages anzugehen, von Rudi kam. Zu sehen, wie ihm die Vergangenheit langsam, aber unaufhaltsam entglitt und seine Erinnerungen immer mehr verblassten, bis er sich nicht einmal mehr die Namen von engen Vertrauten merken konnte, das hat mich vielleicht unterschwellig dazu bewegt, all die traurigen, lustigen und vor allen Dingen unerwarteten Begegnungen und Wendungen festzuhalten. Bevor ich sie unwiederbringlich vergessen haben werde.

Was natürlich nicht heißt, dass Erinnerungen nicht trügen können. So habe ich zum Beispiel mein ganzes Leben lang geglaubt, dass ich meinen Vater erst mit sieben Jahren zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Aber vielleicht ist es gar nicht so gewesen ...

Kriegskinder


Mein Vater, ein unbekanntes Wesen

Keine sieben Wochen, bevor ich zur Welt kam, wurde mein Vater als Gefangener mit der Nummer 7824 in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert. Es handelte sich um eine sogenannte Schutzhaft – mit diesem Begriff verschleierten die Nazis das willkürliche Wegsperren von politischen Gegnern. Mein Vater hatte unter dem Einfluss von Alkohol, vermutlich in einer Kneipe, seine Zunge nicht im Zaum halten können und etwas Abfälliges über den Mann gesagt, den man damals den „Führer“ nannte. Jemand muss meinen Vater denunziert haben, denn kurz darauf wurde er von der Gestapo verhaftet.

Es bestand nie eine Chance für ihn, glimpflich davonzukommen. Einige Jahre zuvor hatte man ihn nämlich wegen etwas angeklagt, das man heute wohl als Unterstützung einer terroristischen Aktion bezeichnen würde, und zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Er war also vorbestraft und dem Regime als Widerständler bekannt. Deshalb überführte ihn die Polizei zwei Wochen nach seiner Verhaftung, am 5. Juli 1938, nach Buchenwald. Meine hochschwangere Mutter saß plötzlich ohne den Ehemann und Ernährer in unserer winzigen Wohnung in Recklinghausen Süd.

Diese Wohnung befand sich in der Leusbergstraße, die allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so hieß. Wie zum Hohn wohnte die kleine Familie des renitenten Kommunisten Stefan Hansch damals in der Hermann-Göring-Straße Nummer 28.

Viele dieser Einzelheiten weiß ich erst seit kurzer Zeit. Als junger Bursche bekam ich durch Gesprächsfetzen mit, dass mein Vater im Gefängnis gewesen war. Von alten Leusbergern erfuhr ich zudem, dass er zu einer Gruppe von Kommunisten gehörte, die sich vor Hitlers Machtübernahme mit der SA Straßenkämpfe geliefert hatte. Diese Nachbarn – vor allem Tante Anni und Onkel Leo – erzählten mir, wie die Nazis meinen Vater und andere unliebsame Leute in regelmäßigen Abständen aufs Präsidium holten. Dort legte man sie über den Tisch, und sie bekamen Prügel mit dem Ochsenziemer, einer üblen Schlagwaffe.

Mir war auch dunkel bewusst, dass mein Vater in einem Konzentrationslager gewesen war. Das hing mit dem Schrank zusammen, den wir so um 1950 herum bekamen. Heute würde man das Ungetüm mit seiner wulstigen Leiste als „Gelsenkirchener Barock“ bezeichnen. Als der Schrank geliefert wurde, stand die halbe Straße staunend vor dem Möbelwagen und hat uns ganz offen darum beneidet, dass wir uns so etwas leisten konnten. Ich wunderte mich natürlich auch, und da sagte Tante Anni zu mir: „Das ist vom KZ. Dein Papa hat Entschädigung bekommen.“

Schließlich hörte ich gelegentlich von meinem Vater selbst, dass er unschöne Dinge erlebt hatte. Denn manchmal, wenn er in der Gaststätte, über der wir wohnten, zu viel getrunken hatte, weckte er mich mitten in der Nacht und sagte, ich solle in die Küche kommen. Dann saßen wir am Esstisch, und er berichtete mir einzelne Szenen. Ich erinnere mich noch, wie er mir erzählte, dass die sogenannten Kapos am schlimmsten waren, die Häftlinge, die man im KZ mit besonderen Aufgaben betraut hatte und die auf die anderen Gefangenen aufpassten. Doch in solchen Nächten fing mein Vater meistens bald an zu schluchzen. Der Alkohol tat ein Übriges, und rasch liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Ich saß dann einfach nur stumm auf meinem Stuhl und wartete geduldig, bis er endlich fertig war. Denn er steckte mir immer ein paar Mark zu, bevor er mich wieder ins Bett schickte.

Aber ich fragte meine Eltern nie von mir aus nach Einzelheiten oder nach den Hintergründen der ganzen Geschichte. Im Gegenteil, als junger Bursche neigte ich eher dazu, meinen Vater zu provozieren. Er war Mitglied in der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Einmal im Monat kam ein Mann namens Jakubowski zu uns, um den Mitgliedsbeitrag einzusammeln. Er war ein alter Genosse meines Vaters, und wenn ich an dem Tag zufällig in der Wohnung war, habe ich die beiden gerne auf die Palme gebracht. Ich lobte dann den christlich-konservativen Bundeskanzler Konrad Adenauer über den grünen Klee. Zum Teil, weil ich da tatsächlich noch ein glühender Anhänger von ihm war. Aber auch, weil ich wusste, dass sich meinem Alten die Nackenhaare aufstellten, ohne dass er etwas tun konnte. In einer politischen Diskussion war er mir rhetorisch unterlegen. „Mensch, Stefan“, sagte Jakubowski dann traurig zu meinem Vater, „da hast du dir aber einen großgezogen.“

Das klingt vielleicht schlimm, aber in jener Zeit war das normal – als Jugendlicher rebellierte man gegen die Generation davor und war von den Kriegsgeschichten nur gelangweilt. Und als sich das änderte, da war es für mich zu spät: Ich war noch keine 23 Jahre alt, als ich beide Elternteile verlor. Deswegen weiß ich über meine Familie, nicht bloß über meinen Vater und meine Mutter, weniger, als ich heute gerne wissen würde. Das Wenige, das mir bekannt ist, beginnt in einem Land, das in meinem Leben mehrfach eine besondere Rolle gespielt hat und mir sehr am Herzen liegt – Polen.

Bergmann, Kommunist, Oppositioneller

Mein Vater Stefan Hansch wurde am 18. August 1890 in Bielewo geboren. Das ist ein kleines polnisches Dorf, in dem zu jener Zeit weniger als 400 Menschen lebten und das zum Landkreis Kosten in der Provinz Posen gehörte. Wie ich selbst später auch, so muss er früh beide Eltern verloren haben. Das weiß ich allerdings nur aus Erzählungen, aber es erklärt, warum ich nie einen Großvater oder eine Großmutter väterlicherseits kennengelernt habe.

Zusammen mit einem Onkel kam mein Vater als ganz junger Kerl, kurz nach der Jahrhundertwende, auf der sogenannten Ost-West-Wanderung der polnischen Arbeiter ins Ruhrgebiet. Dort waren die Zechen wie Pilze aus dem Boden geschossen, und es wurden dringend Bergleute gesucht. Viele Polen wanderten sogar noch weiter, bis in die nordfranzösischen Kohlereviere. Deswegen hatten wir später Verwandte in Lille, die ich als Pennäler mal besucht habe. Mein Vater aber blieb in Recklinghausen hängen und fing auf dem Pütt an, mit vierzehn oder fünfzehn Jahren.

Als er dann in das Alter kam, in dem man damals eine Familie gründete, fuhr mein Vater zurück in die Heimat, um sich eine Frau zu suchen. Er fand sie in der Gegend um die Stadt Zielona Góra, die zu jener Zeit recht wörtlich übersetzt Grünberg hieß. Er kam mit ihr zurück nach Recklinghausen, denn hier hatte er ja Arbeit, und die beiden bekamen kurz hintereinander zwei Kinder: meine Halbbrüder Marian und Felix.

Als die zwei Jungs noch klein waren, starb ihre Mutter an Lungenentzündung. Mein Vater nahm seine beiden Söhne und fuhr mit ihnen nach Sulechów, den polnischen Ort, in dem seine Schwiegermutter lebte. Und dort ging alles dann ratzfatz. Die Schwiegermutter, meine Oma, sagte zu ihrer ältesten noch ledigen Tochter: „Wir können den Stefan nicht mit den Kindern allein lassen. Jetzt musst du ihn eben heiraten!“

Eine Ehe aus Liebe sieht sicher anders aus, doch damals war eine pragmatische Lösung des Problems eben wichtiger als romantische Gefühle. Ich nehme auch an, dass Magdalena Tomczak, meine Mutter, das Ganze als Chance begriff, dem perspektivlosen polnischen Landleben zu entkommen. Sie willigte ein und wurde im Juli 1913 die zweite Frau von Stefan Hansch.

Meine Oma wollte diese neue Familie nicht von Beginn an durch die Anwesenheit zweier kleiner Kinder belasten. Deswegen sollte einer der beiden Söhne zunächst bei ihr bleiben. Es traf Marian, und so kehrte mein Vater zusammen mit seiner neuen, sechs Jahre jüngeren Frau Magdalena und seinem Sohn Felix zurück ins Ruhrgebiet. Aus dieser Ehe gingen schließlich drei Kinder hervor. Meine Schwester Gertrud wurde 1920 geboren, meine Schwester Felicitas, genannt Zita, zwei Jahre später. Tja, und dann, mit gehörigem Abstand, wurde ich in diese Welt geworfen – am 16. August 1938. (Nicht am 19., wie man manchmal liest.)

Da ging es wohl schon los mit den Zufällen, die mein Leben bestimmen sollten. Denn man darf getrost davon ausgehen, dass ich ein überhaupt nicht mehr geplanter Nachzügler war. Meine Mutter war schließlich schon über 40, als sie noch einmal schwanger wurde, mein Vater ging auf die 50 zu. Dazu kamen natürlich noch die politischen Verhältnisse. Am 30. Januar 1933 war Hitler als Reichskanzler vereidigt worden, was die Lebensumstände für jemanden wie meinen Vater dramatisch verschlechterte. Etwas mehr als ein Jahr vor der sogenannten Machtergreifung der Nazis war er nicht nur der KPD beigetreten, sondern auch einer Gruppe, die sich Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition (RGO) nannte.

Wie so vieles, was meinen Vater betriftt, so weiß ich auch dies erst seit Kurzem – und zwar durch das Studium von Prozessakten. Ihnen entnehme ich auch, dass Stefan Hansch im Ersten Weltkrieg Soldat war und verwundet wurde. Mir hat er davon nie etwas erzählt, aber vielleicht hat ihm diese Tatsache ein wenig geholfen, als er Anfang September 1933 verhaftet wurde. Er konnte jedenfalls jeden mildernden Umstand gut gebrauchen, denn die Anklage lautete „Vorbereitung zum Hochverrat“.

Im Sommer zuvor, im Mai oder Juni 1932, hatte ein alter Bekannter meines Vaters, der Skomski genannt wurde, ihn gedrängt, Sprengstoff zu besorgen. Stefan Hansch arbeitete damals auf der Zeche Consolidation in Gelsenkirchen-Schalke. (Als ich das in den Akten las, hätte ich fast laut gerufen: „Natürlich Schalke! Wo sonst?“) Er war Gesteinshauer und hatte deswegen Zugang zu solchen Materialien. Nach anfänglichem Zögern tat er Skomski den Gefallen. Natürlich wusste mein Vater, dass Skomski Mitglied des Rotfrontkämpferbundes war und den Sprengstoff für einen Anschlag oder sogar einen bewaffneten Aufstand brauchte.

Ein paar Monate, nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, wurden Skomski und viele andere Mitglieder der Verschwörung verhaftet. Mein Vater hatte zunächst Glück; niemand verpfiff ihn. Doch man kann sich vorstellen, zu welchen Methoden die Nazis bei der Vernehmung der Kommunisten griffen. Nach vier Monaten in der Untersuchungshaft (und vermutlich unter Folter) gab Skomski zu, bei seiner ersten Vernehmung nicht die ganze Wahrheit gesagt zu haben. Er nannte jetzt weitere Namen, und drei Tage später wurde Stefan Hansch verhaftet. Beim Verhör gab mein Vater alles zu. In der Niederschrift seiner Aussage heißt es: „Meine damalige Handlung bereue ich aufrichtig, ich sehe aber ein, dass ich Strafe verdient habe.“ Menschen, die sich mit diesen Dingen auskennen, haben mir gesagt, dass eine solche Formulierung darauf hindeutet, dass mein Vater seine Aussage unter der Einwirkung oder Androhung von Gewalt gemacht hat.

Der Prozess fand im Frühling 1934 vor dem Oberlandesgericht Hamm statt. Unter den Nazis war das OLG Hamm vor allem für politische Verfahren zuständig. Mein Vater war zusammen mit gleich 28 anderen Personen angeklagt. Die meisten von ihnen waren Bergleute aus Recklinghausen und Westerholt, einem Stadtteil von Herten. Bei dieser großen Zahl von Beschuldigten sollte man meinen, dass es sich um eine spektakuläre, langwierige Verhandlung handelte. Doch im Archiv der Recklinghäuser Zeitung lässt sich keine einzige Zeile darüber finden. Es ist also gut möglich, dass der Prozess, wenn man ihn überhaupt so nennen will, nicht öffentlich war und die Angeklagten keinen Rechtsbeistand hatten.

Nur drei von ihnen kamen ohne Strafe davon, die anderen wurden am 27. April 1934 wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt. Einige der Männer wurden mit fünf Jahren Zuchthaus bestraft, für „Beteiligung am Rotfrontkämpferbund, ein Schusswaffenvergehen und ein Sprengstoffverbrechen“. Mein Vater kam besser davon. Ihm wurde nur das Sprengstoffverbrechen zur Last gelegt. Das Urteil lautete auf zwei Jahre Haft, allerdings wurden ihm von dieser Strafe die Monate abgezogen, die er bereits in der Untersuchungshaft verbüßt hatte.

Wenige Tage nach dem Urteilsspruch wurde Stefan Hansch vom Gerichtsgefängnis Hamm in die Strafanstalt Münster gebracht. Auf seiner Karteikarte ist vermerkt, dass er 1,78 Meter groß und von kräftiger Gestalt war, einen Schnurrbart trug und seine Initialen auf die rechte Hand tätowiert hatte. Auf der Karte steht ebenfalls, dass er zwanzig Monate später entlassen wurde, am 27. Dezember 1935 um 7.30 Uhr morgens.

Jetzt, wo ich in einem Alter bin, in dem ich auf mein eigenes, wechselhaftes Leben zurückblicke, schaue ich auf diese Karte und stelle mir Fragen. Mein Vater kam drei Tage nach Weihnachten aus dem Zuchthaus. Wie mag der Rest der Familie dieses Fest verbracht haben? Wovon hatten sie gelebt? Machte meine Mutter meinem Vater Vorwürfe? Versprach er ihr vielleicht, in Zukunft nichts mehr zu tun, was die Familie in Gefahr brachte – bis zu jenem verhängnisvollen Tag, als er zu viel trank?

Ich werde es nie wissen, denn ich kann niemanden aus meiner Familie fragen. Sie sind alle tot. Und der Einzige, der mir wirklich jede Frage hätte beantworten können, war im Grunde schon tot, als er noch lebte. Denn mein Vater war ja nicht nur vom Gefängnis gezeichnet, von den Schlägen mit dem Ochsenziemer und vom KZ. Auch seine Berufsvergangenheit forderte ihren Tribut – er wurde wegen einer Steinstaublunge frühpensioniert, als schwerkranker Mann. Und so kam er mir oft vor wie ein Fremder in unserer Mitte. Er saß mit seiner Pfeife im Sessel neben dem Radio und schaute stundenlang geradeaus, immer in dieselbe Richtung. Als ob er ins Nichts blicken würde. Oder vielleicht waren es auch Abgründe.

Dass mein Vater mir immer seltsam fremd blieb, habe ich mir selbst lange auch damit erklärt, dass ich im Grunde ohne ihn aufwuchs. In meiner Erinnerung kamen wir nach dem Ende des Krieges zurück in die Straße, die nun nicht mehr nach Hermann Göring benannt war, und da stand er plötzlich – mein Vater. Ich war fast sieben Jahre alt und sah einen von Entbehrungen gezeichneten Mann, den man gerade aus dem KZ entlassen hatte. Es war ein Fremder, ich war ihm ja nie zuvor begegnet. Seine Empfindungen mir gegenüber dürften ganz ähnlich gewesen sein, und irgendwie schafften wir es später nicht mehr, das aufzubauen, was man eine natürliche Nähe nennen könnte.

Nun aber kommt das Merkwürdige. Der Internationale Suchdienst in Bad Arolsen, ein Zentrum für Informationen über Verfolgung während der NS-Zeit, hat mir im Februar 2014 Dokumente über die KZ-Zeit meines Vaters geschickt. Aus ihnen geht hervor, dass Stefan Hansch am 21. Mai 1938 wegen „staatsfeindlicher Äußerungen“ verhaftet wurde. Die zwei Sätze, die ihn ins KZ brachten, lauteten: „Ich weiß gar nicht, wieso sie alle dem Hitler nachlaufen. Der ist doch auch bloß ein Arbeiter.“ Als man ihn deswegen zwei Wochen später nach Buchenwald brachte, wurde zwar auf seiner Häftlingspersonalkarte vermerkt, dass ihm das „in betrunkenem Zustand“ herausgerutscht war, aber vor Strafe schützte ihn dieser Umstand nicht.

Am Tag, als mein Vater nach Buchenwald kam, wurden außer ihm noch 51 andere Personen eingeliefert. Zwei von ihnen waren als sogenannte Bibelforscher verhaftet worden, was bedeutet, dass sie den Zeugen Jehovas angehörten. Sie waren dem Regime religiös unliebsam. Sechs weitere Gefangene galten als „Vorbeuge-Häftlinge“. Es steht zu vermuten, dass es sich bei ihnen um Kriminelle oder auch nur um mutmaßliche Kriminelle handelte, die ohne Gerichtsbeschluss einfach weggesperrt wurden. Die meisten der Gefangenen aber, fast drei Dutzend, hatte man als „arbeitsscheu“ festgenommen. So bezeichneten die Nazis Menschen aus der Unterschicht. Sie waren dem Regime sozial unliebsam.

Schließlich waren da noch acht politische Gefangene. Zu jener Zeit, im Sommer 1938, unterschied die SS in Buchenwald drei Gruppen von solchen Häftlingen: „einfache Politische“, „politisch Rückfällige“ und „politische Juden“. Von den acht politischen Gefangenen, die am 5. Juli ins KZ kamen, waren fünf „einfache Politische“, zwei weitere waren Juden. Wegen seiner Vorstrafe war Stefan Hansch der einzige, der als rückfälliger politischer Gefangener galt. Daher muss er eine KZ-Uniform bekommen haben, auf die ein roter Winkel (für: Politische) zusammen mit einem roten Streifen (für: Rückfällige) aufgenäht war.

Vom 20. September 1938 an wurde mein Vater dann nicht mehr als „rückfällig“ geführt, sondern als einfacher politischer Gefangener. Wie es dazu kam, kann ich nicht sagen. Vermutlich verhielt er sich konform, vielleicht spielte auch sein Gesundheitszustand eine Rolle, der zu dieser Zeit schon nicht gut gewesen sein kann. Im Oktober wurde er jedenfalls zum Gerichtsgefängnis Herne gebracht, wahrscheinlich zur Untersuchung seines Falles. Am 24. November schickte man ihn zurück nach Buchenwald, wo er eine neue Nummer bekam, die 895. Die Aufzeichnungen enden kaum drei Monate später, am 7. Februar 1939. Denn um 15 Uhr an diesem Tag wurde mein Vater zusammen mit 26 anderen Häftlingen aus dem KZ Buchenwald entlassen und nach Hause geschickt.

Ich war sehr, sehr erstaunt, als ich dies las. Das frühe Datum seiner Entlassung – sogar noch vor dem Kriegsbeginn – lässt nur drei Schlussfolgerungen zu. Entweder kehrte er vom KZ gar nicht nach Recklinghausen zurück und wurde zum Beispiel zur Wehrmacht eingezogen. Das ist allerdings unwahrscheinlich. Wohin hätte er gehen sollen, wenn nicht zu seiner Familie? Und für die Armee war er zu alt und zu krank. Die zweite Möglichkeit ist, dass ich einfach keine Erinnerungen mehr daran habe, dass er zu uns auf den Leusberg zurückkam. Das kann durchaus sein, denn ich war ja erst ein halbes Jahr alt. Drittens ist es möglich, dass mein Vater nach Hause kam – aber seine Familie schon nicht mehr dort war.

Mein Halbbruder Felix war zu dieser Zeit Berufssoldat und hatte daher sein Auskommen. Er hatte sich irgendwann in den 1920er Jahren der Armee angeschlossen, die Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von den Siegermächten erlaubt worden war, dem sogenannten 100.000-Mann-Heer. Felix hatte kein Abitur, aber er war ein aufrechter, strebsamer Mensch und brachte es bis zum Feldwebel. Er war also beim Militär gut versorgt, sofern man das in diesen Zeiten von einem Soldaten sagen konnte.

Auch meine beiden Schwestern waren so gut untergebracht, wie es unter den Umständen möglich war. Sie befanden sich am Timmendorfer Strand und machten das, was man eine Hotellehre nannte. An der Ostsee wurden junge Mädchen zum Bettenmachen und Putzen gebraucht. Es war die einzige Möglichkeit für die beiden, auch nur den Ansatz einer Perspektive für ihr weiteres Leben zu haben, denn eine weiterführende Schule war für sie nie infrage gekommen.

Für meine Mutter allerdings muss die Lage sehr schwierig gewesen sein – mit einem Kleinkind an der Hand und einem zweimal inhaftierten Kommunisten als Mann. Und so nahm sie mich und fuhr zu ihrer Mutter nach Polen. Wann das geschah, kann ich nicht sagen. Ich habe immer geglaubt, wir hätten Recklinghausen ungefähr 1941 verlassen. Aber ich kann auch nicht völlig ausschließen, dass es viel früher passierte – kurz nachdem mein Vater aus Buchenwald kam oder vielleicht sogar kurz vorher.

Polnische Kinderjahre

Für ein Kind war die ländliche Idylle in Polen wunderschön. Hinter dem Dorf lag ein See, drum herum Wälder. Mein Onkel hatte einen kleinen Bauernhof, und so war die Zeit alles in allem gar nicht so schlecht für uns. Ich lernte auch sehr schnell Polnisch und beherrschte die Sprache bald fließend. Dennoch war der Krieg nicht weit weg. Als die deutsche Wehrmacht Polen besetzt hatte und auf dem Marsch durch Russland war, nahm man meinem Onkel das Gut weg und stellte ihn als Knecht auf seinem eigenen Hof an. Ich kann mich an einen Mann in Uniform erinnern, der dort aufpasste. Ich weiß auch noch, dass die Bürgersteige im Dorf markiert waren, um anzuzeigen, wo Juden hergehen mussten und in welchen Läden sie nicht einkaufen durften.

Eines Tages wurden Personalkontrollen gemacht. Ein Uniformierter kam in das Haus von Oma Tomczak und sah sich die Ausweise aller Anwesenden genau an. Ich habe den Moment noch ganz klar vor Augen, als er auf den Pass meiner Mutter blickte, dann hochschaute und sagte: „Aber Sie sind ja Deutsche!“ Als meine Mutter nickte, wollte er wissen: „Warum tragen Sie dann kein Hakenkreuz?“ Ich kann mich nicht erinnern, was meine Mutter als Erklärung vorbrachte, aber es kann nicht überzeugend geklungen haben, denn der Beamte sagte barsch: „Beim nächsten Mal will ich das aber sehen!“

So klein ich war, ich spürte an den Reaktionen der Erwachsenen, dass uns plötzlich eine unbestimmte Gefahr drohte. Unsere Verwandten befürchteten offenbar, dass die Polizei von diesem Moment an mit Misstrauen auf meine Mutter schauen würde. Denn noch am Abend desselben Tages setzte uns mein Onkel mit all unseren Sachen auf einen Panjewagen, einen von einem Pferd gezogenen einfachen Heuwagen. Der transportierte uns ungefähr 30 oder 40 Kilometer weiter in ein anderes Dorf, in dem ebenfalls Verwandtschaft lebte.

Dort blieben wir bis zur großen Wende des Krieges, Stalingrad. Nach der Vernichtung der 6. Armee Anfang 1943 zogen sich die deutschen Soldaten immer weiter zurück, hinter ihnen kamen die Russen. Alle hatten Angst, aber ich nehme an, dass man sich um uns besonders sorgte, da wir ja laut Ausweis Deutsche waren. Irgendwann standen zwei Koffer gepackt vor uns, vornehmlich mit Verpflegung, und es hieß: zurück ins Ruhrgebiet.

Wir reisten über Berlin, und dort überraschte uns am Bahnhof Friedrichstraße ein Fliegeralarm. Tausende von Menschen strömten auf einmal zum Bahnhof, um Schutz unter seinem Dach zu suchen. Es herrschte ein unglaubliches Gedränge. Ich stolperte hinter meiner Mutter her, meine Hände klammerten sich an ihren Mantel. Plötzlich spürte ich, wie mir der Stoff durch die Finger glitt. Ich begann, wie am Spieß zu schreien. Ich hatte ganz einfach Angst, von den Massen erdrückt zu werden. Meine Mutter stellte einen kurzen Moment die Koffer hin, wandte sich zu mir um und packte mich. Als sie sich wieder nach vorne drehte, waren die beiden Koffer weg.

Die Fahrt von Berlin nach Hause war abenteuerlich und dauerte fast eine Woche, denn der Zug fuhr nur im Dunkeln und blieb bei jedem Luftalarm, von denen es einige gab, stehen. Aber irgendwie, irgendwann kamen wir tatsächlich in Recklinghausen an. Es muss so Ende 1943, Anfang 1944 gewesen sein. Bald darauf kehrten auch meine Schwestern von der Ostsee zurück, wohl ebenfalls aus Angst vor den anrückenden Russen. Gertrud hatte inzwischen geheiratet und war Mutter eines kleinen Jungen. Wo sich mein Vater befand, vermag ich nicht zu sagen. Ich habe jedenfalls keine Erinnerung daran, ihn gesehen zu haben, als wir aus Polen zurückkehrten.

Allerdings gab es für mich auch ein viel dringenderes Problem, als mir Gedanken über meinen Vater zu machen. Zwar waren wir wieder daheim in der Leusbergstraße – aber ich sprach kein Wort Deutsch mehr! Es klingt verrückt, vor allem wenn man bedenkt, dass meine Muttersprache später zum zentralen Element meines Berufslebens werden sollte, aber es war so: Während des Aufenthalts in der Gegend um Zielona Góra hatte ich nur Polnisch gesprochen und dabei das Deutsche verlernt. Ich kann mich noch erinnern, wie ich zurück in Recklinghausen mit Tante Anni zu dem Tante-Emma-Laden in der Leusbergstraße ging. Die Passanten sprachen mich an, aber ich starrte nur zurück und konnte nicht antworten. Mówię tylko po polsku – ich spreche nur Polnisch.

Wir blieben nicht lange im Ruhrgebiet, denn im Rahmen einer Evakuierung der durch Luftangriffe gefährdeten Gebiete kamen wir in den Ort Lütmarsen bei Höxter, zu einem Bauern. Wir, das waren meine beiden Schwestern, ich und Jürgen, der kleine Sohn von Gertrud. Meine Schwestern mussten auf dem Bauernhof arbeiten, aber für mich war es eine wunderbare Zeit. Der Bauer hatte Kinder in meinem Alter, wir tollten auf dem Heuboden herum und spielten mit den Katzen des Hofes. In dieser für mich sehr unbeschwerten Zeit lernte ich dann wieder Deutsch, wenn auch mühsam. Selbst später – während der ersten Jahre in der Volksschule – hatte ich noch Sprachprobleme und legte das Polnische nur langsam ab. Immerhin aber konnte ich mich in Lütmarsen verständigen und bekam alles mit. Auch die Befreiung.

Lütmarsen liegt in einem kleinen Tal. Eines Tages im Jahre 1945 lagen wir Kinder auf der Fensterbank in der Küche. Dort war ein großes Panoramafenster, von dem aus man einen guten Überblick über die ganze Umgebung hatte. Mit einem Mal sahen wir Gestalten, die über den Hügelkamm robbten. Wir fanden das ganz aufregend. Die Männer krochen immer so zehn bis fünfzehn Meter, dann blieben sie eine Zeit unbeweglich liegen. Für uns sah das aus wie Indianerspielen.

Es waren amerikanische Soldaten. Etwas später standen sie in der großen Diele des Bauernhauses. Ich weiß noch, wie mir auffiel, dass auch Schwarze dabei waren. Sie hatten ihre Maschinenpistolen über die Schulter gehängt und verteilten Kaugummi unter uns Kindern. In der Zwischenzeit musste die Bäuerin ihre größte Pfanne aus dem Schrank holen und für die hungrigen Soldaten Rührei machen. Staunend sah ich zu, wie sie bestimmt 50 Eier in die massige Pfanne kloppte.

Fast alle auf dem Bauernhof waren sehr froh über die Ankunft der Amerikaner. Nur eine polnische Magd, die heulte Rotz und Wasser. Als sie die Soldaten sah, wurde ihr klar, dass der Krieg bald zu Ende sein würde und sie in ihre Heimat zurückmusste. Sie wäre viel lieber auf dem Hof geblieben. Auch in der Stadt gab es kaum Wiederstand. Die Amerikaner befahlen allen Einwohnern der Gegend, ihre Waffen abzugeben, und bald türmten sich auf dem Marktplatz die Gewehre. Selbst die rostigsten Jagdflinten lagen da, denn die Leute hatten Angst und wollten wirklich alles abgeben. Nur ein einzelner Idiot hatte es sich in den Kopf gesetzt, sein Tausendjähriges Reich eigenhändig mit der Waffe zu verteidigen. Er stellte sich auf der Hauptstraße nach Höxter einem amerikanischen Panzer in den Weg und feuerte auf den Soldaten, der aus der Luke guckte. Da haben die Amis ihn gleich umgepustet.

Der Tag, an dem wir von Lütmarsen zurück nach Hause kamen, war in meiner bewussten Erinnerung der erste, an dem ich meinen Vater sah. Er war schon in unserer Wohnung in der Leusbergstraße, als wir eintrafen. Meine Mutter hatte mir nie richtig erklärt, warum mein Vater in den Jahren davor nicht bei uns gewesen war, und ich hatte sie nie danach gefragt. Ich nehme schon an, dass man mir eine kurze Erklärung gegeben hat, vermutlich ein lapidares „Er ist im Krieg“. Das dürfte mir gereicht haben, denn es war in jener Zeit ja normal, dass Väter von ihren Familien getrennt waren.

Auch Felix kam bald zurück. Er hatte Glück und verbrachte nur kurze Zeit in englischer Kriegsgefangenschaft. Da er aber nichts anderes als Soldat gelernt hatte, musste er sich nun als Handlanger verdingen. Den Rest seines Lebens arbeitete er fleißig und treu auf dem Bau. Er gründete eine Familie und wohnte später in Hochlarmark, einem Stadtteil im Süden von Recklinghausen. Er bekam drei Kinder, ich bin der Patenonkel von einem von ihnen.

Meinen anderen Halbbruder, Marian, habe ich hingegen nie zu Gesicht bekommen. Er gründete eine eigene Familie, aber in den Wirren des Zweiten Weltkriegs ging der Kontakt zu ihm verloren. Bis zum heutigen Tag habe ich keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.

Die Leusbergstraße in Recklinghausen Süd

Mein Elternhaus, also die Leusbergstraße 28, liegt im Süden von Recklinghausen, ganz in der Nähe der Emscher und damit an der Stadtgrenze zu Herne. Das berühmte Stadion am Schloss Strünkede, die Heimat von Westfalia Herne, ist nur zwei Kilometer entfernt. Ich bin allerdings nie hingegangen, um Fußball zu sehen. Mit diesem Sport hatte ich überhaupt nichts am Hut, wie sich noch zeigen wird. Abgesehen davon war meine Kindheit allerdings geradezu eine Ruhrpottjugend aus dem Bilderbuch. Ich wuchs auf zwischen Eckkneipen, Brieftauben und Bergleuten.

Die Kneipe war sogar direkt unter uns. Wir wohnten im zweiten Stock, als eine von dreizehn Familien in dem Haus. Im Erdgeschoss befand sich die Kneipe. Hier spielte mein Vater mit seinen Kumpels gerne Doppelkopf, und ich war auch regelmäßig dort, denn ich war gut befreundet mit dem Sohn der Wirtsleute, Günther. Seinen Eltern gehörte nicht nur die Gaststätte, sondern das ganze Haus, sie waren also unsere Vermieter.

Die Kneipe war der gesellschaftliche Mittelpunkt des ganzen Viertels. Dazu gab es noch zwei Brieftaubenvereine: „Rote Erde“ und „Über Land und Meer“. Mein Vater hatte keine Brieftauben, aber Onkel Leo besaß ein paar dieser „Rennpferde des kleinen Mannes“. Sonntags musste ich für ihn oft die kantigen Spezialuhren, mit denen man die genaue Ankunftszeit der Brieftauben festhielt, zur Taubenzentrale bringen. Dort wurden die Ergebnisse dann ausgewertet.