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Wolfgang Schüler
Sherlock Holmes
und die letzte Fahrt der Lusitania

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Sherlock Holmes in Leipzig

Sherlock Holmes in Berlin

Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes und die Schwarze Hand

Wolfgang Schüler ist ein ausgewiesener Spezialist für historische Literatur. Er hat inzwischen mehr Sherlock-Holmes-Romane veröffentlicht als sein großer Lehrmeister Arthur Conan Doyle. Wolfgang Schüler verfasste außerdem die erste deutschsprachige Edgar-Wallace-Biografie und das Handbuch zur Kriminalliteratur Im Banne des Grauens. Er ist Mitglied in der Deutschen Sherlock Holmes Gesellschaft (DSHG), im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur, sowie im Literaturverein FürWort. Zurzeit arbeitet Wolfgang Schüler gemeinsam mit der Sängerin Scarlett O. an einem musikalischen Theaterstück über Sherlock Holmes, das im Herbst 2015 Premiere haben soll.

Wolfgang Schüler

Sherlock Holmes
und die letzte Fahrt
der Lusitania

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Für Bert (1953 - Weihnachten 2014).
Ich wünschte, du hättest länger bei uns bleiben können.

Vorbemerkung des Autors: Dies ist ein Roman. Einige wenige Personen sind frei erfunden. Trotzdem hat sich das meiste tatsächlich so zugetragen, wie es beschrieben wird.

Inhalt

1. Kapitel Prolog

SM U 20

PINEWOOD ALLEE

2. Kapitel Tag eins

KAPITÄN TURNER

DIE LISTE

3. Kapitel Tag zwei

SCHLECHTE NACHRICHTEN

DER GEKNACKTE SAFE

4. Kapitel Tag drei

DER POLARFORSCHER

DIE FESTNAHME

5. Kapitel Tag vier

DAS VERHÖR

EIN SCHNIPSEL PARAFFINPAPIER

DIE FUNKSTATION

IM BAUCH DES WALS

DIE HÖLLENMASCHINE

MÄNNERGESPRÄCHE (I)

6. Kapitel Tag fünf

KRYPTISCHE NACHRICHTEN

MÄNNERGESPRÄCHE (II)

7. Kapitel Tag sechs

EIN WEITERES VERHÖR

8. Kapitel Tag sieben

DER UNTERGANG

Epilog Das Tribunal

AUF DER SCHWARZEN LISTE

1. Kapitel

Prolog

»Am Mittag trafen wir einen großen Passagierdampfer der White-Star-Linie, ohne dass ein Torpedoschuss wegen des großen Abstands möglich gewesen wäre. Dicker Nebel hinderte das Arbeiten.«

Kapitänleutnant Walther Schwieger

SM U 20

Vor der Südküste Irlands, 07.05.1915

Die verbrauchte Luft war zum Schneiden dick. Es stank durchdringend nach Diesel-Treibstoff, verbranntem Öl, den Ausdünstungen ungewaschener Körper, schmutziger Leibwäsche, verdorbenen Lebensmitteln und menschlichen Exkrementen. Ein zufälliger Besucher wäre vor dieser extremen Mischung übler Gerüche sofort wieder geflüchtet. Doch es wurden keine Gäste erwartet. Es konnten auch keine kommen. Das namenlose Unterseeboot der III. Flottille der Kaiserlichen Deutschen Marine mit dem numerischen Erkennungszeichen SM U 20 befand sich auf Feindfahrt weitab vom heimatlichen Hafen. Das Kürzel SM U 20 bedeutete völlig unprätentiös: »Seiner Majestät U-Boot Nummer 20«.

In der Eisernen Zigarre waren 39 erschöpfte Männer auf engstem Raum eingepfercht. Nichts an ihrem Äußeren erinnerte mehr an die schmucken Burschen auf dem Erinnerungsfoto im Hafen. Ihre bleiche Haut war nun von einem schmierigen Schweißfilm überzogen. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Die Farbe der verdreckten Uniformen ließ sich kaum noch erraten.

SM U 20 war am 30. April 2015 vom Marinestützpunkt in Emden an der Nordsee ausgelaufen. Der Befehl lautete, englische Truppentransporter an der Einfahrt von Liverpool abzufangen und so lange auszuhalten, wie es die Vorräte gestatteten. Vor der irischen Südküste hatte das U-Boot mehrfach Feindkontakt. Es versenkte am 05. Mai das Segelschiff Earl of Lathom und am 06. Mai nacheinander die beiden Frachter SS Candidate und SS Centurion.

Am 07. Mai 1915 war fast der gesamte Diesel-Treibstoff aufgebraucht. Auch die Munition ging zur Neige. Es befanden sich nur noch zwei Torpedos an Bord. Starker Nebel behinderte die Sicht. Deshalb beschloss der Kommandant, der 30-jährige Kapitänleutnant Walther Schwieger, die Heimreise anzutreten und nicht – wie es ursprünglich geplant gewesen war – weiter durch den St. Georges Tunnel in die Irische See vorzustoßen.

Mittags um 12.00 Uhr sichtete der Ausguck Friedrich Sellmer in der Ferne einen Kreuzer. Er erstattete sofort Meldung. Anhand von Jane’s Fighting Ships 1914, eines mit Zeichnungen und Kurzangaben versehenen Erkennungsbuchs, konnte der Kommandant das feindliche Kriegsschiff identifizieren: Es handelte sich um die HMS Juno. Sie war 1895 vom Stapel gelaufen und auf den Namen der griechischen Göttin Juno getauft worden. Als geschützter Kreuzer verfügte die HMS Juno über zwölf leichte Einzelgeschütze sowie auf dem Vorder- und dem Achterdeck über je ein schweres Geschütz. Die Kessel- und Maschinenräume, das Deck und die Geschützstände waren gepanzert. Gegen einen solch übermächtigen Gegner hatte das U-Boot mit nur noch zwei Torpedos an Bord kaum eine Chance. Es ging auf eine Tauchtiefe von 40 Metern.

Der Lärm der Dieselmotoren ebbte ab. Kondenswasser tropfte. Dampfleitungen zischten, Nieten ächzten, Metallplatten vibrierten, Stahlteile knirschten. Dazu gesellte sich ein anderes, zunächst undefinierbares, dann immer lauter und bedrohlicher werdendes Geräusch. Das waren die Schiffsschrauben des Kreuzers. Schließlich wurde der Krach ohrenbetäubend. Es klang so, als ob der stetige Wasserdruck kurz davor wäre, den eisernen Sarg wie eine leere Konservendose zu zerquetschen.

Nach der Torpedierung des Segelschiffs und der beiden Frachter hatte die britische Marine die weitere Route des deutschen U-Boots ziemlich genau bestimmen können. Der Kreuzer befand sich nun auf der Suche nach ihm. Aber er verfügte noch über kein aktives Sonar-System.[1] Er vermochte das SM U 20 nicht zu hören, und der Ausguck im bleigrauen Wasser konnte es nicht sehen. Die HMS Juno überfuhr das Tauchboot, ohne den Feind zu bemerken. Den britischen Kiel und den deutschen Turm trennten nur wenige Meter. Das Rauschen oben an der Wasseroberfläche wurde leiser, bis es ganz verstummte.

SM U 20 stieg auf zwölf Meter. Das Periskop wurde ausgefahren. Von dem feindlichen Schiff war nichts mehr zu sehen. Das U-Boot trieb allein im Meer. Ein scharfer Beobachter hätte es nun von einem Ballon oder einem Flugzeug aus unter der Wasseroberfläche dahingleiten sehen können. Bis auf den fehlenden Flossenschlag ähnelte es einem riesigen Haifisch. Aber mit einer Länge von 64 Metern, sechs Metern Breite und einem Tiefgang von vier Metern war es weitaus größer, bedrohlicher und heimtückischer als jeder noch so gefährliche Raubfisch. Mittags um 13.45 Uhr tauchte das U-Boot wieder auf. Der Matrose Friedrich Sellmer öffnete die Luke und kletterte auf den Turm.

Um 14.20 Uhr bemerkte er ein merkwürdiges Blitzen am Horizont. Der Ausguck stellte sein Fernglas schärfer und entdeckte Schornsteine und Masten. Es schien sich um einen Konvoi zu handeln. Allmählich löste sich das Bild auf. Sichtbar wurde ein gewaltiger Dampfer mit vier Schornsteinen und einem schwarz gestrichenen Rumpf, der Kurs auf Queenstown nahm. In den fernen Bullaugen spiegelte sich die Sonne. Ein Blick in das britische Marine-Jahrbuch The Naval Annual 1914, das jedes deutsche U-Boot zum Zwecke der Identifizierung mit an Bord hatte, brachte Friedrich Sellmer die Gewissheit. Der Matrose verließ seinen Posten, verriegelte die Luke und erstattete dem Kommandanten Meldung.

SM U 20 ging erneut auf zwölf Meter Tauchtiefe. Nach einer knapp einstündigen Verfolgungsfahrt hatte das U-Boot um 15.10 Uhr eine günstige Schussposition erreicht. Kapitänleutnant Walther Schwieger erteilte den Feuerbefehl: »Bugtorpedo auf drei Meter Tiefgang einstellen, 700 Meter Entfernung, 90 Grad Schneidungswinkel.«

Doch der erste Offizier Karl Voegele, ein 29-jähriger, ehemaliger Elektriker aus Straßburg, weigerte sich, das Kommando an den Torpedoschützen weiterzugeben: »Das Schiff wurde vom Ausguck eindeutig identifiziert. Wir dürfen keinen Passagierdampfer mit Frauen und Kindern an Bord ohne Vorwarnung attackieren! Das verbieten uns die Ehre eines Seemannes seiner Kaiserlichen Majestät und die für uns gültige Prisenordnung[2]! Wir müssen die Zivilisten zuerst warnen, ihnen einen Schuss vor den Bug setzen und sie dann zur Kapitulation auffordern.«

Kapitänleutnant Schwieger schrie: »Ist Er wahnsinnig, Mann? Die feigen, britischen Hunde haben mit Sicherheit versteckte Bordgeschütze an Deck. Sobald sie unser ansichtig werden, schießen sie uns in Grund und Boden. Ich lasse Ihn vor ein Kriegsgericht stellen und füsilieren, wenn Er weiter den Befehl verweigert!«

In diesem Moment zog der 24-jährige Matrose Benjamin Ulbricht einen Revolver, zielte auf den Kommandanten und forderte mit heiserer Stimme: »Abdrehen, sofort abdrehen!«

Im nächsten Augenblick traf ein Montiereisen den Hinterkopf des Matrosen. Er brach ohnmächtig zusammen.

Walther Schwieger bückte sich, hob die Waffe auf und richtete sie auf seinen Ersten Offizier: »Er steht unter Arrest.« Dann erteilte er erneut den Feuerbefehl. Nun wagte es niemand mehr, sich zu widersetzen. Aller Aufruhr war dahin, die Rebellion im Keime erstickt. Oberleutnant Raimund Weisbach, der Zweite Offizier, gab die Order weiter an den Bordschützen. Der 23-jährige Matrose Mathias Braun biss sich wütend auf die Lippen, verriegelte aber trotzdem die hintere Verschlussklappe, öffnete die Außenluke und riss den Abzugshebel nach unten. Der Antriebsmotor des Torpedos zündete. Das tödliche Sprenggeschoss verließ seine stählerne Röhre, nahm stetig Fahrt auf und raste auf das 700 Meter entfernte Ziel zu. Eine Schaumbahn auf der Wasseroberfläche zeigte den Unheil bringenden Lauf an.

[1] Sonar-System: Der französische Physiker Paul Langevin entwickelte zwar bereits 1915 gemeinsam mit dem Elektrotechniker ein Sonar (Abk. von Sound Navigation and Ranging), welches U-Boote auf eine Entfernung von bis zu 1.500 Metern orten konnte, aber es gelangte erst nach dem Ende des 1. Weltkriegs zur Serienreife.

[2] Prisenordnung: Im Jahr 1909 wurde die internationale Londoner Seerechtsdeklaration zwar beschlossen, jedoch nicht ratifiziert. Sie erlangte deshalb nur den Status von Gewohnheitsrecht. Auf der Grundlage dieser Seerechtsdeklaration erließ das Deutsche Kaiserreich am 30.09.1909 eine Prisenordnung, die am 18.04.1915 nochmals geändert wurde. Danach durften zivile Schiffe ohne militärischen Begleitschutz erst dann versenkt werden, wenn zuvor die gesamte Mannschaft evakuiert worden war.

PINEWOOD ALLEE

Aus den Aufzeichnungen von Dr. Watson

Los Angeles (USA), April 1915

Als 1914 das große Sterben auf den Schlachtfeldern Europas begann, welches später als der Erste Weltkrieg in die Geschichtsbücher eingehen sollte, hätte ich mich am liebsten trotz meines hohen Alters sofort freiwillig zur Truppenfahne zurückgemeldet. Ich war sowohl ein glühender Patriot als auch ein erfahrener Soldat. Meine Feuertaufe hatte ich im Jahr 1880 als Militärarzt in Afghanistan erhalten. Eine Kriegsverletzung aus jener Zeit erinnerte mich seither schmerzhaft daran, wie mir damals in der Schlacht von Maiwand die Paschtunen-Kugeln beinah das Lebenslicht ausgeblasen hätten.

Bis zu meinem Ruhestand vor einigen Jahren war ich als ein in vielen Fachgebieten bewanderter Allgemeinmediziner tätig gewesen. In einem Feldlazarett hätte ich also sehr wohl noch gute Dienste als ein Knochenflicker leisten können.

Im Gegensatz zu mir hatte mein Freund Sherlock Holmes Zeit seines Lebens keinen Waffenrock getragen. Obzwar er nach Möglichkeit Schusswaffen mied, stand er mir fraglos in seiner Vaterlandsliebe in nichts nach. In unserem letzten gemeinsamen Abenteuer hatte er mit großer Entschlossenheit dafür gekämpft, den drohenden Untergang des Abendlandes zu verhindern.[1] Trotz gewisser Erfolge war er letzten Endes doch gescheitert. Die Schuld lag nicht bei ihm. Ein einzelnes Erdengeschöpf konnte beim besten Willen kaum mehr als ein winziges Sandkorn im Weltengetriebe sein. Es bedurfte schon eines viel größeren Hemmschuhs, um jene gigantische Kriegsmaschinerie aufzuhalten, die von einem unersättlichen Selbstvernichtungsverlangen der größten Nationen in Gang gesetzt worden war und der es nach reißenden Strömen von dampfendem Menschenblut dürstete.

Mycroft Holmes, der Bruder meines Freundes, ahnte wohl, was im Kopfe seines einzigen noch in Großbritannien lebenden Anverwandten vorgehen mochte. Mycroft befand sich aufgrund seiner hohen Dienststellung im britischen Außenministerium wieder einmal in die komfortable Lage versetzt, Vorsehung spielen zu können. Er nutzte die Gunst der Stunde, um uns beide, also Sherlock und mich, aus der Schusslinie zu nehmen, ohne uns zu düpieren. Doch wie das Dichterwort schon sagt: »Mit des Schicksals bunten Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten.« Wir kamen sozusagen vom Regen in die Traufe. Doch ich will der Reihe nach berichten.

Der Erste Weltkrieg begann bekanntlich am 28. Juli 1914 mit einer Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Deutschland, das Osmanische Reich sowie Bulgarien schlossen sich Kaiser Franz Josef an. Sie kämpften gegen die Entente, die Serbien beisprang und zunächst aus Russland und Frankreich bestand. Großbritannien kam später hinzu. Nach und nach uferte der Weltenbrand immer weiter aus. Am Schluss beteiligten sich 40 Staaten an dem Krieg. Er fand zu Land, zu Wasser und teilweise sogar in der Luft statt. Das Deutsche Kaiserreich verfügte anfangs über eine starke Flottenpräsenz. Es griff unbarmherzig alle unter britischer Flagge segelnden Schiffe an und erklärte die Meere rund um die britischen Inseln zum Kriegsgebiet. Viele Wasserwege wurden deshalb gleichsam unpassierbar. Die meisten Übersee-Schifffahrtslinien mussten eingestellt werden. Das britische Empire antwortete mit einer Blockadepolitik. Die beiden taktischen Maßnahmen hatten große Auswirkungen auf die Versorgung, auf die Reisetätigkeit und selbstverständlich auch auf die Nachrichtenübermittlung. Hungersnöte brachen aus. In den Gazetten ersetzten nationale Propaganda und völlig frei erfundene Lügengeschichten jegliche objektive Berichterstattung. Was in den anderen Teilen der Erde geschah, interessierte keinen Menschen mehr. Nur so konnte es beispielsweise geschehen, dass im Jahr 1918 die sogenannte Spanische Grippe nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit ausbrechen konnte, sich zu einer Pandemie[2] auswuchs und bis zu 50 Millionen Menschenleben dahinraffte. Das waren dreimal mehr, als dem Ersten Weltkrieg insgesamt an Kombattanten und Zivilisten zum Opfer fielen.

Nirgendwo und nirgends wurde so viel gelogen wie in einem Krieg. Die Desinformation des Feindes war eine wichtige Waffe im Kampf, die militärische Aufklärung ihr Pendant. An dieser Stelle brachte uns Mycroft ins Spiel. Holmes und ich wurden vereidigt, erhielten die Ränge, die Ausweise und die Kompetenzen von Sondergesandten des Außenministeriums und begannen damit, in der Weltgeschichte umherzureisen. Unsere Aufgaben waren klar umrissen: Wir sollten streng vertrauliche Diplomatenpost von A nach B transportieren, dabei stets inkognito bleiben und immer die Augen offen halten. Manchmal wussten wir, was in den versiegelten Briefen stand, meistens jedoch nicht. Mein geruhsames, aber langweiliges Leben als Pensionär war gründlich dahin. Täglich aufs Neue erwarteten mich spannende Abenteuer an der Seite meines Freundes.

Unsere fünfte oder sechste Reise führte uns nach Übersee. Die USA zählten zu diesem Zeitpunkt noch zu den neutralen Ländern, auch wenn das Herz der Yankees in der Ambivalenz aus alter Verbundenheit und konservierten Hassgefühlen mehr auf unserer Seite schlug.

Wir waren am 15. März 1915 auf einer völlig gefahrlosen Route mit der Ampiezza, einem italienischen Postschiff, in New York angekommen.[3] Sir Courtenay Bennett, der britische Generalkonsul, empfing uns zum Five o’Clock Tea. Das Gespräch verlief völlig belanglos. Wie es in der Diplomatensprache so schön hieß, wurden in einer offenen und sachlichen Atmosphäre allgemein interessierende Fragen erörtert. Aber unser Gastgeber, ein hoch aufgeschossener Mittsechziger mit gepflegtem Spitzbart und noch vollem Haupthaar, deutete mit Mimik und Gestik an, dass er innerlich aufgewühlt sei. Möglicherweise besaß er Kenntnis von geheimen politischen Ränken, die er missbilligte und deren Folgen er fürchtete. Aber das war in diesen Tagen nichts Besonderes. Ständig wurden irgendwo auf der Welt geheime Abkommen geschlossen und ebenso schnell wieder gebrochen. Im Krieg wie in der Liebe war ja schließlich alles erlaubt.

Holmes, der in solchen Situationen kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte, sprach unseren Gastgeber offen an: »Sir, gibt es etwas, das wir besser wissen sollten?«

Sir Courtenay Bennett schwieg länger, als es angemessen gewesen wäre. Dann meinte er beiläufig: »Die beiden schrecklichen Zwillinge bereiten mir Verdruss.«

Wir starrten ihn verdutzt an.

Der in Ehren ergraute Diplomat setzte fort: »Mit Ihnen hat das beileibe nicht das Geringste zu tun, meine Herren. Sie können also völlig unbesorgt sein. Wir sehen uns wieder hier in meinem Office, und zwar ganz genau bis zum Morgen Ihrer Abreise. Dann werde ich Ihnen versiegelte Segeltuchtaschen mit Mitteilungen der Botschaft an das Foreign Office zu treuen Händen übergeben. Bis dahin passen Sie gut auf sich auf. Hüten Sie sich vor dem Alkohol und vor Gesprächen mit Fremden. In New York wimmelt es förmlich von feindlichen Spitzeln. Hauptmann Franz von Papen, der Militärattaché der Deutschen Botschaft, hat als Leiter der amerikanischen Sektion des deutschen Geheimdienstes ein dichtes Agentennetz geknüpft. Spionageabwehr und Gegenspionage sind unser tägliches Brot. Aber das wissen Sie genauso gut wie ich.«

Die seltsame Bemerkung über die schrecklichen Zwillinge war mir im Gedächtnis haften geblieben. Draußen auf der Straße sagte ich zu meinem Freund: »Der Konsul mag gut und gerne auf die siebzig zugehen. In einem solchen Alter können kleine Kinder tatsächlich eine große Last darstellen.«

Holmes erwiderte: »Du irrst dich, alter Knabe. Sir Courtenay Bennett ist seit Kurzem Witwer. Auf seinem Schreibtisch standen zwei fotografische Aufnahmen. Die eine zeigt seine Gattin, versehen mit einem Trauerflor. Sie wird etwa in seinem Alter gewesen sein. Da kann es in letzter Zeit keinen Nachwuchs mehr gegeben haben.«

»Dann meinte er eben seine Enkel.«

»Kindeskinder wären möglich, sind aber eher nicht gemeint. Auf dem zweiten Lichtbild ist nämlich ein Mann um die vierzig zu sehen. Er trägt eine Offiziersuniform der britischen Marine. Das wird wahrscheinlich der Sohn des Botschafters sein. Falls dieser Sir Bennett junior eigene Kinder haben sollte, werden sich diese vermutlich in einem Ort an Englands Küsten aufhalten.«

»Oder in einem Marinestützpunkt außerhalb der Insel«, gab ich zu bedenken.

»Auch dies ist möglich. Aber auf keinen Fall stecken sie in den Staaten. Die USA sind ein neutrales Land. Hier wimmelt es zwar von ausländischen Militärangehörigen, aber die wollen am liebsten inkognito bleiben. Sie tragen deshalb Zivil, tarnen sich mit einer Scheinidentität und haben keinesfalls ihre Familien dabei. Mit Enkeln in England kann Sir Courtenay Bennett folglich keine direkten Berührungspunkte haben. Das Verhältnis zu ihnen wäre also rein passiv. In diesem Fall hätte der Botschafter sagen müssen: ›Ich mache mir Sorgen um die schrecklichen Zwillinge‹. Aber stattdessen sprach er: ›Die beiden schrecklichen Zwillinge bereiten mir Verdruss‹. Das ist ganz eindeutig aktiv. Das grässliche Pärchen wirkt demzufolge unmittelbar auf Sir Bennett ein, und zwar hier und heute, entweder durch zielgerichtetes Tun oder durch wissentliches Unterlassen.«

Ich bereute bereits meine Äußerung und stöhnte, weil ich nicht aus jeder Mücke einen Elefanten machen wollte: »Dann handelt es sich eben um die Brut seiner Haushälterin, die gleichzeitig sein Bettschatz ist. Oder er hat drei Söhne. Einer bereitet ihm Freude, weil er bereits eine steile militärische Karriere absolvieren konnte. Die zwei übrigen sind Pazifisten oder Anarchisten und deshalb seine Sorgenkinder.«

»Beide Gedankenspiele sind vom Ergebnis her unwahrscheinlich. Ad eins befindet sich der Generalkonsul im Trauerjahr. Deshalb wird er sich kaum vor Wildfremden mit seinen Seitensprüngen brüsten. Ad zwei herrscht Krieg. Da gelten verstärkte Schutzvorschriften. Ein Diplomat mit illegitimen oder völlig aus der Art geschlagenen Abkömmlingen wäre zu leicht erpressbar, deshalb ein zu hohes Sicherheitsrisiko und längst nicht mehr im Amt. Sir Courtenay Bennett hat eine blütenweiße Weste. Das kannst du mir getrost glauben.«

»Aber was war es dann? Der Botschafter hat mir ein Quäntchen zu lange überlegt, ehe er deine Frage beantwortete.«

»Der gute Mann wollte sich ein reines Gewissen verschaffen, aber sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Folglich hat er uns ein Rätsel in der Sprache der Diplomaten aufgegeben. Wir sollen es lösen. Doch wo können wir ansetzen? Blicken wir zunächst in die Geschichte. Berühmte Zwillinge waren Jacob und Esau, die Söhne des biblischen Patriarchen Isaak. Dann gab es ferner Romulus und Remus, die von einer Wölfin großgezogen wurden und welche die Stadt Rom gegründet haben sollen. Und schließlich waren da noch Herakles und Iphikles. Bei ihnen lag die Besonderheit vor, dass sie eine gemeinsame Mutter hatten, nämlich Alkmene, aber von zwei Vätern gezeugt worden waren, die da Zeus und Amphitryon hießen.«

»So etwas gibt es tatsächlich, und nicht nur in der Mythologie«, steuerte ich eine Kleinigkeit aus meinem reichen Erfahrungsschatz bei. »Die doppelte Vaterschaft bei menschlichen Mehrlingsgeburten nennt sich Superfecundatio. Sie kommt allerdings nur höchst selten vor. Bei Hunden, den liebsten Freunden des Menschen, findet sich dieses Phänomen hingegen relativ häufig. Ihnen gebricht es nämlich an jeder Form von Anstand. Sie suhlen sich im Dreck und …«

Holmes unterbrach mich mit einer Handbewegung und setzte seinen Gedankengang fort: »Wir sind mit dem italienischen Postdampfer Ampiezza angekommen. Die Erwähnung der Zwillinge Romulus und Remus könnte ein Hinweis sein, wenn wir mit demselben Schiff zurückfahren würden. Aber das tun wir nicht, wie der Botschafter sehr wohl weiß. Ich muss weiter nachdenken.«

Aber die mit Erlebnissen prall gefüllten nächsten Tage ließen Holmes keine Zeit dazu. Irgendwann verlor er das Interesse daran, dieses anscheinend unbedeutende Rätsel zu lösen. Das gesamte Leben steckte schließlich voller Mysterien. Brillen, Hüte und linke Socken verschwanden auf geheimnisvolle Weise, um entweder niemals oder an gänzlich unerwarteten Orten wieder aufzutauchen.

Die Rückfahrt sollte am 01. Mai 1915 mit der Lusitania stattfinden. Sie und ihr Schwesternschiff, die Mauretania, waren die beiden größten Passagierdampfer der Welt. Der offizielle Teil hatte sich mit dem Besuch in der britischen Botschaft fürs Erste erledigt. Unsere Einsatzbereitschaft war erst wieder gefragt, wenn die Diplomatenpost in Empfang genommen werden musste. Uns blieb also mehr als genug Zeit, Land und Leute kennenzulernen. Wenn nicht die Anspannung des Krieges auf unseren Schultern gelastet hätte, wäre unsere derzeitige Profession eine äußerst angenehme Art gewesen, den Lebensunterhalt zu verdienen. Allein drei Wochen verbrachten wir mit völligem Nichtstun in Los Angeles, Californien, beim Sohn meines Freundes.

William Adler-Norton, dessen reizende Gemahlin Charlotte und ihre dreijährige Tochter Irene, ein dreckverkrusteter Irrwisch mit blonden Locken, bewohnten ein aufwendig restauriertes Fachwerkhaus am Rande der Stadt in der Pinewood Allee.[4] Seit meinem letzten Besuch in »El Pueblo de Nuestra Señora la Reina de Los Angeles« (Stadt unserer Herrin, der Königin der Engel) im Jahr 1884 hatte sich die Hauptstadt von Südcalifornien stark verändert.[5] Die damals typischen Häuser aus luftgetrockneten Lehmziegeln waren in der Mehrzahl stattlichen Steinbauten gewichen und die weitläufigen Farmen parzelliert worden. Die Bevölkerung hatte sich mehr als versechsfacht und lag nun bei 320.000 Einwohnern. In der Mehrzahl besaßen sie mexikanische Wurzeln. Sehr viele Einwanderer waren aus China, Japan und osteuropäischen Ländern gekommen. Die Immigranten vermischten sich aber in der Regel nicht mit den anderen Volksgruppen, sondern lebten in streng voneinander getrennten Stadtvierteln.

Das Haus der Adler-Nortons war nicht leicht zu finden gewesen, denn es lag weit von dem lauten Getöse der Straßenbahnen und Automobile entfernt. Noch wurden die umliegenden Hügel von Rebengärten und Orangenhainen bedeckt, doch die City rückte von Jahr zu Jahr unaufhörlich näher heran. Die Vegetation war beinah tropisch zu nennen: Eukalypten, Pfefferbäume, Palmen, Norfolk-Island-Pinien, Steineichen, Gummi- und Granatbäume, Rosen, Geranien, Yucca, Agaven und Kalias wuchsen ringsum in Hülle und Fülle. In dem undurchdringlichen Dickicht schnatterte, krächzte und zwitscherte es unentwegt.

Der Teint von Charlotte Adler-Norton war noch immer zart wie ein rosiger Pfirsich. Ihre Zähne glichen nach wie vor reinweißem, feinstem Porzellan, ihr roter Mund leuchtete makellos, und ihre hellblauen Augen hatten nichts von ihrem Glanz verloren. Aber sie war seit unserer letzten Begegnung erfahrener und wesentlich reifer geworden. Sie hatte ihr mädchenhaftes Getue ebenso wie ihr altes Pseudonym »Lotte Land« abgelegt und unter ihrem neuen Künstlernamen »Alice Brady« eine Filmkarriere in Hollywood gestartet. Zurzeit legte sie eine Drehpause ein, weil sie hochschwanger war. Die Niederkunft wurde für jeden Tag erwartet. Eine Hebamme in der Nachbarschaft hielt sich bereit, und das Geburtszimmer war mit allem Nötigen ausgestattet worden.

William ging ganz in seiner Rolle als fürsorglicher Gastgeber auf. Er hatte sichtlich an Gewicht zugelegt, aber es schien sich um reine Muskelmasse zu handeln. Sein braun gebranntes Gesicht verriet, dass er sich häufig an der frischen Luft aufhielt. Aber das Alter begann auch bei ihm, seinen Tribut zu fordern, denn Williams Haarwuchs war bereits sichtlich spärlich geworden.

An den Morgen des 23. April 1915 kann ich mich noch sehr genau erinnern. Es war ein milder, klarer Tag. Es roch nach frischem Gras und nach Blüten. Wir saßen auf der überdachten Terrasse mit Blick in ein grünes Tal. Insekten summten, kleines Getier raschelte ringsum, und ein munteres Bächlein plätscherte ganz in der Nähe. Es herrschte eine friedliche, gelöste Stimmung, wie sie nur unter Menschen zu finden ist, die einander eng verbunden sind.

Der Tisch bog sich unter einheimischen Speisen. Da gab es dampfendes Maisbrot, gelbe, salzige Butter in großen Blöcken, eisgekühlte Krüge mit Ingwerbier, Berge von gegrillten Rippchen, bauchige Flaschen mit hellbraunem Ahornsirup, gesottene Flusskrebse, Fässchen mit Erdnussbutter, Stapel von Pfannkuchen und mehrere Lagen gerösteter Maiskolben. Dazu wurde kochendheißer, pechschwarzer Kaffee gereicht, der nach Cowboy-Art in einer Emaillekanne über dem offenen Feuer gebrüht worden war.

Draußen auf dem Sandweg quietschte ein Fahrrad. Das war der Zeitungsjunge. Eine druckfrische Ausgabe des Los Angeles Standard klatschte auf die Veranda. Charlotte erhob sich, um das Journal zu holen. Auf der Titelseite prangte eine riesige Anzeige. Sie trug in überdimensionalen Lettern die Überschrift ACHTUNG!

Unsere Gastgeberin las den Text laut vor, wobei in ihrer Stimme spürbares Entsetzen mitschwang: »Reisende, die vorhaben, den Atlantik zu überqueren, werden daran erinnert, dass Deutschland und seine Alliierten sowie Großbritannien und seine Alliierten sich im Kriegszustand befinden; dass das Kriegsgebiet auch die Gewässer rings um die britischen Inseln umfasst; dass in Übereinstimmung mit der formellen Bekanntgabe der Kaiserlichen Deutschen Regierung alle Schiffe, die die Flagge Großbritanniens oder eines seiner Verbündeten führen, Gefahr laufen, in diesen Gewässern zerstört zu werden, und dass Reisende, die im Kriegsgebiet auf Schiffen aus Großbritannien oder seiner Verbündeten reisen, dies auf eigene Gefahr tun. Als Verfasser der Annonce wird genannt: KAISERLICHE DEUTSCHE BOTSCHAFT; Washington D.C., 22. April 1915.« Charlotte ließ das Blatt sinken. Sie war leichenblass geworden.

Plötzlich war es mit der friedlichen Atmosphäre vorbei. Kalter Nebel breitete sich im eben noch so friedlichen Tal aus. Vor meinem geistigen Auge sah ich ein Schlachtfeld irgendwo in Europa. Schrapnelle explodierten, zerfetzte Gliedmaßen flogen durch die Luft, Bajonette bohrten sich in ungeschützte Bäuche. In einem Stacheldrahtverhau hing ein sterbendes Pferd, schwarzer Schlamm überzog die tote Erde, von einem Wäldchen waren nur noch verkohlte Stümpfe übrig geblieben.

William packte Holmes und mich an den Schultern, schüttelte uns kräftig durch und riss mich auf diese Weise aus meiner Erstarrung: »Ihr dürft auf keinen Fall fahren. Ich verbiete es euch. Es ist viel zu gefährlich.«

Holmes erwiderte: »Keine Angst, mein Sohn. Unkraut vergeht nicht. Außerdem sind wir keine Privatreisenden, sondern haben einen amtlichen Auftrag zu erfüllen. Wenn wir hierbleiben, würde das als Fahnenflucht und Feigheit vor dem Feind ausgelegt werden. Wir könnten dann nie wieder nach Hause zurückkehren.«

»Das wäre kein großer Verlust«, meinte Charlotte mitfühlend und aufmunternd zugleich. »Europa und unsere alte Welt sind am Ende. Nach dem Krieg wird nichts mehr so sein, wie es vorher war. Bleibt also hier bei uns. Wir verfügen über genügend Platz. Und die warme Sonne Californiens ist ein wahres Elixier für müde, morsche Knochen.«

Ich versuchte, mir selbst Mut zu machen: »Die Lusitania bekommt einen Geleitzug aus Kreuzern, die jeden Angriff von feindlichen Schiffen mit überlegener Feuerkraft abwehren können.«

»Und was ist mit den Unterseebooten?«, fragte Charlotte.

»Ein einzelner Torpedotreffer wäre außerdem relativ ungefährlich«, ergänzte Holmes, »denn die Lusitania ist im Prinzip unsinkbar. Der gesamte Schiffsrumpf wurde in unzählige Quer- und Längsschotten untergliedert, die allesamt hermetisch abgeriegelt werden können. Selbst ein metergroßes Loch in der Bordwand würde deshalb lokal begrenzt bleiben und keinen beträchtlichen Schaden zur Folge haben.«

Etwas an dem Blick meines Freundes verriet mir, dass er seinen eigenen Worten keinen Glauben schenkte.

Auch William ging ihm nicht auf den Leim: »Die Titanic galt ebenfalls als unsinkbar. Vor knapp drei Jahren ist sie auf einen Eisberg gelaufen und mit Mann und Maus abgesoffen.«

»Wohl wahr, wohl wahr«, entgegnete Holmes. »Allerdings war der Eisberg mehrere 100.000 Tonnen schwer und hat auf der Steuerbordseite von der Vorpiek aus die Außenwand von sechs wasserdichten Schiffskammern aufgerissen. Durch diese gewaltigen Lecks strömte mit großem Druck Wasser ein und flutete in kürzester Zeit den gesamten Bereich. Damit war die Titanic verloren. Die Schiffsbauer haben aus diesem Unglück gelernt und den Rumpf wesentlich verstärkt. Ein einzelner Torpedotreffer könnte ein Loch in die Außenwand reißen und eine Kammer fluten. Mehr würde nicht passieren. Die Lusitania wäre zwar beschädigt, aber immer noch in bester Weise hochseetauglich.«

Charlotte nahm ihm kein einziges Wort davon ab. Sie meinte lakonisch: »Na wunderbar. Alles ist hundertprozentig sicher. Pech wäre es allerdings, wenn der Volltreffer zufällig die Kabine von zwei mir gut bekannten englischen Gentlemen erwischen und die beiden Herren in tausend Stücke zerreißen würde.«

Holmes lächelte melancholisch und gab zurück: »Das, meine Liebste, ist allerdings völlig ausgeschlossen. Dr. Watson und ich reisen standesgemäß in der Ersten Klasse. Und deren Kabinen befinden sich ausnahmslos auf dem Oberdeck, weit entfernt von der gefährdeten Wasserlinie.«

Nun mischte sich William ein: »Sei dem, wie es wolle. Ein vermeidbares Risiko bleibt. Weshalb nehmt ihr nicht den Weg, auf dem ihr gekommen seid? Der nächste italienische Postdampfer mit Kurs auf Europa legt am 03. Mai in New York ab.«

Holmes antwortete: »Seit dem Herbst 1914 ist die Lusitania das einzige große, britische Schiff, welches die Route über den Nordatlantik nimmt. Die voraussichtliche Reisedauer beträgt sieben Tage. Mit dem italienischen Postdampfer würden wir mehrere Wochen lang unterwegs sein. Außerdem durfte ich auch bisher in meinem Beruf als beratender Detektiv vor keiner Gefahr zurückschrecken. Auf mich ist im Laufe meines Lebens bestimmt genauso häufig geschossen worden wie auf meinen Freund Dr. Watson an vorderster Front im Afghanistan-Krieg. Außerdem habe ich einen tiefen Fall aus 110 Yards Höhe überlebt, als ich mit Professor Moriarty kämpfte und zusammen mit meinem Widersacher den Reichenbach-Wasserfall hinabstürzte.[6] Ich glaube nicht an himmlische Mächte. Aber wenn mich jetzt das Schicksal abberufen wollte, würde ich gehen, ohne zu zögern. Ich stehe jetzt in meinem 61. Lebensjahr und bin damit weitaus älter geworden als die meisten meiner ehemaligen Studienkameraden. Und du, mein Sohn, lebst als Police Officer beim Los Angeles Police Department auch nicht gerade ungefährlich. Wie viele Polizisten sind im vergangenen Jahr im Dienst gestorben? Waren es weniger oder mehr als zehn?«

Danach wandten wir uns wieder anderen Themen zu, aber die fröhliche und gelöste Stimmung war dahin. Wir gingen bald schlafen.

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