Wilhelm Raabe


Alte Nester


Zwei Bücher Lebensgeschichten

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-043-8


Für Fragen und Anregungen: info@ruthebooks.de


RUTHeBooks
Am Kirchplatz 7
D 82340 Feldafing
Tel. +49 (0) 8157 9266 280
FAX: +49 (0) 8157 9266 282
info@ruthebooks.de
www.ruthebooks.de

Sechzehntes Kapitel



Und Ewald und Irene? Was sagten und taten die denn? Das ward nun eine Nacht, in der viele Geister umgingen in Werden, Schloß und Dorf; doch über miracula et portenta, von großen Wundern und "Wunderzeychen" am Himmel und auf Erden und auch in den Herzen der Menschen habe ich nicht das geringste zu berichten.

Jene beiden Leute begrüßten sich zuerst, wie es sich nach der langen Trennung und bei der ersten Gelegenheit schickte, ernst und freundlich. Zu dem, was die Welt eine Auseinandersetzung nennt, kam es fürs erste noch nicht, denn teilnehmende Nachbarn sprachen immer noch ab und zu vor, und auch der jetzige Pastor des Ortes kam noch einmal und saß eine geraume Weile. Er beging vielleicht die einzige Indiskretion an diesem Abend, indem er den irischen Ingenieur recht lobte und seine Heimkehr "so gerade zur rechten Zeit leider!" mit allen ihren Umständen als etwas sehr Löbliches und Verdienstliches pries, und sich dabei stets mit seiner Rede an die Frau Irene wendete.

Doch lauter als der beste Redner in der Welt gab der stille alte Herr hinter uns in der Stube mit den offenen Fenstern sein stummes Wort darein und half uns auch hierüber hinweg.

Auf den Spielplätzen des Dorfes verklang allgemach der Lärm der Dorfkinder. Es wurde Nacht, und auch der gutmütige, wohlmeinende geistliche Herr ging nach Hause, höflich von dem Vetter Just bis zum Hoftor begleitet.

"Wir haben uns lange nicht gesehen, liebe Irene," sagte jetzt der Ire leise; doch die Frau antwortete mit merkwürdig fester und klarer Stimme:

"Ja, lieber Ewald; es ist sehr lange her, und nun führt uns eine so traurige Gelegenheit wieder zusammen! Dir ist es aber gottlob gut ergangen auf deinem Lebenswege, du hast vieles ausgerichtet; ich habe den Vetter Just und hier den Doktor Fritz gern davon erzählen hören."

Hier räusperte sich der Vetter Just ziemlich vernehmlich und brummte:

"Hm, hm, hm."

"Mein Bruder ..." wollte Eva einfallen, doch ich faßte rasch nach ihrer Hand, und die Frau Irene fuhr fort, und der energische Wille, sich nichts vergeben zu haben, kämpfte bedenklich mit noch unterdrückten Tränen:

"Du hattest es aber auch viel leichter in der Welt als ich."

"Ja, liebe Irene!" sagte der Freund. "Ich weiß das nur zu genau. Ja, ich habe es leicht gehabt und viel Glück!" Seine Stimme aber wurde rauh und hart, als er hinzufügte: "Ich habe jahrelang keine Zeit gehabt, an meines Vaters Haus zu denken, um dir das deinige wiederzugewinnen!"

"Aus Zorn und Mitleid, Ewald Sixtus! O Eva, Eva, liebe, liebe Schwester, behalte mich bei dir unter deines Vaters Dach diese Nacht! Nein, nein! Just, o lieber Just, wie bin ich nur hierher gekommen? wo soll ich bleiben?"

Zum ersten Mal in dieser treuen, wahren Lebensgeschichte klang die Stimme des Vetters ärgerlich, ja fast böse, als er sich erhob und sagte:

"Bei mir, Just Everstein! Eine Nacht geht bald vorüber. Auf Schloß Werden, Gräfin Irene Everstein! Ich schaffe dir in dem alten Spuknest als alter amerikanischer Hinterwäldler und Baumfäller ein Strohlager und ein Bund Heu unter den wilden Kopf. Kommt herein zu dem Vater; Eva hat zwei Lichter neben sein Bett gestellt, wir wollen dabei den Kauf richtig machen, Ewald! Ich, Just Everstein vom Steinhofe, bin hiermit Eigentümer und Herr von Schloß Werden!"

Es ist nicht die Kraft, es ist die Angst des gefangenen Edelfalken, die das Schreckliche ist und das Publikum vor den Gittern des Käfichts am meisten interessiert; ich aber verspüre an dieser Stelle am allerwenigsten das Bedürfnis, die Frau Baronin Rehlen interessant zu machen durch ihr Flattern und Flügelschlagen. Habe auch kein Recht dazu.

Wir gingen wohl zu dem toten Vater hinein, aber nicht um einen Handelskontrakt neben den zwei Lichtern, die sein stilles, friedliches, freundliches Greisengesicht beleuchteten, abzuschließen. Irene stand an Ewalds Schulter gelehnt, von seinem Arm umschlungen, und weinte leise und flüsterte:

"Kannst du mich denn noch lieb haben?"

Er war unverbesserlich, der brave Freund Ewald Sixtus! er hätte wirklich schon von Geburt aus als Ire in diese nüchtern-tragische Welt hineingesetzt werden sollen.

Dem Weinen war er gleichfalls näher als dem Lachen, und seine Stimme zitterte gleichfalls, als er an dem Sterbelager seines Vaters seine Liebe fester an sein Herz zog; aber doch mußte es heraus und kam ganz in der alten Dummen-Jungen-Weise:

"Ich kriege dich ja nur in den Handel, altes Mädchen! Aber, bei den ewigen Göttern, die mir wahrhaftig den Weg bis zu dir schwer genug gemacht haben, den Vetter Just halte ich bei seinem Worte! Wir beide, mein Herz, mein liebes, liebes Herz, wir sehen uns nicht mehr um nach Schloß Werden; aber der Vetter da, der Vetter Just Everstein, der war von Gottes Gnaden allewege der Gescheiteste von uns und hat mit unserer Schwester da allein die Gabe, alles ruhig abzumachen. Du und ich, mein Herz, wir haben nur einmal den Versuch gemacht. Die beiden müssen für uns mit wissen, was mit Schloß Werden anzufangen ist!"

Von Schloß Werden wurde nun nicht mehr gesprochen bis zum anderen Morgen, und dann zwischen dem Vetter Just und mir. Wir verbrachten alle diese Nacht unter dem nämlichen Dach; doch wohl keiner von uns in einem sehr festen Schlaf. Auch ich nicht, der ich in jedem Augenblick vorgeben konnte daß wichtigste, unaufschiebbare Geschäfte mich augenblicklich nach Berlin zurückriefen und meine Gegenwart bei dem Begräbnis, bei dem Schmerz und dem Trost der alten Heimat unmöglich machten.

Zwei Stunden nach Sonnenaufgang schon trieb es mich heraus. Wahrscheinlich weil irgend etwas was, kann ich nicht sagen meinte: So mag er doch wenigstens den Historiographen festhalten! Im Unterstock des Hauses traf ich nur die bleiche, traurige Eva an der Tür der Wohnstube. Sie hatte jetzt ein weißes Laken über den toten Vater gelegt, und ich erhob das Tuch nicht mehr. Ich wollte mir die Erinnerung an das schöne, ruhige Greisengesicht von gestern Abend unversehrt erhalten, und ich wußte es, wie der alte Maulwurf, das Leben, in dem an der Arbeit bleibt, was der Mensch einen Leichnam nennt.

Als ich mich nach den anderen erkundigte, erfuhr ich, daß Ewald zum Meister Dröge, dem Dorftischler, gegangen sei, und daß Irene ihn begleitet habe.

"Und Vetter Just?"

"Just wirst du wohl im Garten finden. Ich habe den Kaffeetisch dort hergerichtet. O Gott, es ist ein so schöner Morgen o Fritz, ich kann es mir noch immer nicht denken! Er war so vergnügt und gut, als er gestern in diese nämliche Morgensonne hinein wegging! Er holte sich noch bei mir in der Küche Feuer für seine liebe alte Pfeife, und ich sah ihm nicht einmal nach und gab ihm das Geleit wie sonst bis ans Hoftor, und nun muß ich ihn in alle Ewigkeit mit seinem weißen Haar und seinem guten freundlichen Gesicht bei mir am Herde stehen sehen! Ein paar Stunden später, in denen ich nicht einmal an ihn dachte, brachten sie ihn zurück!"

Ich fand den Vetter Just nicht an dem Kaffeetische im Garten, und ich hielt es auch nicht lange allein daran aus, in dem schönen Licht und Schatten, unter den Sommerblumen ringsum, dem Bienensummen, Käfer- und Schmetterlingsflug.

"Der Herr Vetter Just spaziert auf der Chaussee," sagte ein Dorfkind, das in die kleine Pforte in der grünen Hecke guckte; und auch ich trat aus diesem Gartentürchen auf die Landstraße.

"Er ist nach dem Schlosse zu," meinte die kleine barfüßige, flachshaarige Ostfalin, und ich kannte den Weg, der auch von hier aus quer über die Landstraße nach Schloß Werden führte, und so ging ich dem Vetter Just Everstein nach, wohl tief in Gedanken wie er, und in ähnlichen, wenn auch nicht ganz in den gleichen.

In dem letzten Hause des Dorfes nach dieser Seite hin, wohnte der Meister Dröge, der Tischler. Die helle, staubige Landstraße führte an seinem Eigentum und dem Wiesenfleck, auf dem er seinen Vorrat von glatten Brettern und Balken aufgeschichtet hatte, vorüber und ließ es zur Linken. Rechts aber führte ohne Steg durch den mit Gras, Sternblumen und Kletten, Brennesseln und Thymian ausgefüllten Chausseegraben der Schlupfweg durch jetzt noch im Tau funkelndes, wirres Gestrüpp und Gebüsch, untermischt mit einzelnen höheren Bäumen, nach dem verwünschten Schloß, dem alten, teuren Nest, in dem auch ich flügge geworden war.

In seiner Werkstatt war der Meister Tischler an der Arbeit; ich hörte seinen Hammer laut und deutlich genug. Eines seiner Kinder war's gewesen, das mir den Weg angedeutet hatte, auf dem ich den Vetter Just finden konnte.

Aber ich zögerte, ehe ich ihm folgte. Auf dem sonnigen Wiesenflecke, auf einer Lage jener glatten, weißen Tannenbretter, von denen der Meister Schreiner eines oder zwei zu seiner Arbeit die halbe Nacht hindurch verwendet hatte und an denen jetzt sein Hammer zur Vollendung des Werkes klang, saßen Ewald und Irene, dem Dorfe Werden und mir den Rücken zuwendend.

Sie saßen Hand in Hand, doch nicht dicht beisammen. Tief niedergebeugt, das Haupt in der Hand, saß der Freund; und ob sie auch miteinander gesprochen hatten, jetzt redeten sie nicht miteinander. Sie saßen still und horchten auf den Hammer, der die Nägel scharf und hell und doch auch wieder melodisch in das weiche Holz trieb. Kein Glockengeläut konnte feierlicher in einen Brautmorgen hineinklingen, und ich wagte es wahrlich nicht, diese zwei Verlobten anzureden.

Der Pfad durch das taufunkelnde Gebüsch nahm mich auf und hinter mir verhallte dieser ernste, bedeutungsvolle Hammerschlag. Durch hohes, gelbes Kornfeld zog sich der enge Weg, die Lerchen hingen unsichtbar, fröhlich darüber; und seltsam! gerade in diesem Augenblick drängten sich die Bilder und Gewohnheiten meines so lange gewohnten Daseins, die bekannte Umgebung meines ruhigen Einsiedlerlebens durch mein Gedächtnis. Meine vier Wände in Berlin, die Bücher an den Wänden und der Blick durchs Fenster in die bunte lärmende Gasse. Du träumst, Friedrich Langreuter? Was aber ist nun ein Traum? Besinne dich!

"Wo bist du eigentlich, Fritz?" fragte der Vetter Just. "Du stiegest über den Hof weg wie ein Nachtwandler. Wie siehst du denn aus, Doktor? Wie stolperst du her? Freilich, Steine des Anstoßes liegen hier genug im Wege!"

Da stand ich wieder in dem verwahrlosten Schloßhofe von Werden, und der Vetter nickte mir von der mehrfach beschriebenen Steintreppe und Rampe zu.

"Es ist mir übrigens lieb, daß du kommst," brummte er. "Komm nur dreist herauf, ich werde dich nicht mehr auslachen, wenn du behauptest, daß es hier umgehe. Jedenfalls gehe ich nun seit einer Viertelstunde um dies alte Gemäuer herum, und immer ist's mir, als schleiche etwas hinter mir drein oder sehe gar aus dem Fenster auf mich herunter. Die Sache ist mir nun doch außer allem Spaß! Der Vetter Just Everstein vom Steinhofe Herr von Schloß Werden! Den Ire kenne ich. Der Strick hält mich am Wort, wenn ich es selber nicht zurücknehme. Und er hat auch recht! Was will er mit seinem Weibe hier? In die Försterei setzt die Regierung einen neuen Mann in Grün; alles für uns ausgeflogene Nester! Mein Weib nehme ich mit nach dem Steinhofe; das wäre mir wirklich eine Burgfrau hier, die Bäuerin vom Steinhofe, mit Jule Grote als Stewardess! Sahst du auch die beiden, ich meine Ewald und Irene, auf der Wiese des Meisters Dröge? Das ist mir nun ganz klar und deutlich, als flösse schon das Weltmeer zwischen ihnen und Schloß Werden. Es weiß keiner etwas anzufangen mit Schloß Werden und ich auch nicht! Doktor, was meinst du, wenn du es von mir in Pacht nähmest?"

Ich glaube fest, daß ich damals den Vetter ziemlich starr und mit etwas weitgeöffnetem Munde angesehen habe; es war aber nur eine Schulmeister-Reminiszenz aus Neu-Minden von ihm, wie sich gleich auswies.

"Ländereien nicht vorhanden," sagte er, "aber genügend Gartenland zu Spielplätzen und Turnanstalten und was sonst dazu gehört. Ausgezeichnetes Trinkwasser, gesunde Lage, frische Luft. Wald ringsum. Fritz, so 'ne Erziehungsanstalt für unverbesserliche Jungen aus den besten Familien! Mit der Miete würde ich dich nicht drängen, zum Inventar würde ich zuschießen; wir behielten dich hier in der Nähe, gut zahlende junge Engländer schickte Ewald, deine Berliner brächtest du dir selber mit. Gekommen ist mir diese Idee freilich eben erst, seit du hier bei mir stehst: aber überlege dir mal die Sache!"

Von diesem Vorschlage hatte ich mir wahrlich nichts träumen lassen, als ich mich eben auf dem Wege nach der alten Jugendheimat aus den bewegten, wunderlichen, traurigen und doch so von der Sonne überglänzten und vom Grün umrauschten gegenwärtigen Tagen plötzlich und ohne daß ich es wußte, wie es zuging, in mein einsames großstädtisches Gelehrtendasein zurückverloren hatte. Es war seltsam, aber wegleugnen ließ es sich nicht; ein gewisses leises, unbestimmtes Heimwehgefühl hatte sich bemerkbar gemacht: Wohin gehst du, Friedrich Langreuter, wenn sich nun in der allernächsten Zeit dieser Kreis, der sich hier so schicksalsvoll geschlossen hatte, wieder auflöst? Sie sind nun am Ende doch alle geborgen. Aber du, Fritz Langreuter, wenn du nun morgen mitgegangen bist zu der letzten friedlichen Ruhestätte des guten, alten, treuen Freundes? Wohin gehst du, wenn ihr morgen vom Kirchhofe zurückgekommen seid und für die übrigen das Lebensrad mit erneutem Schwunge sich wieder aufwärts drehen wird? Was bleibt dir in den Händen als Gewinn von dieser melancholisch-süßen Reise nach Schloß und Dorf Werden, der Fahrt in die Jugend zurück?

Fast drollig klang nun in alle diese Fragen an das eigene Geschick der treffliche Rat des Freundes, aus Schloß Werden ein Erziehungsinstitut zu machen, hinein. Ich mußte auch lachen, aber heiter kam das gerade nicht heraus; und dabei stand der Vetter Just mit seinem heitersten Lächeln auf dem ehrlichen, breiten Gesicht weitbeinig, die Hände auf dem Rücken, vor mir:

"Na?! Was sagst du zu meinem Vorschlag?"

"Daß dies ganz der richtige Just Everstein ist. Neu-Minden, wie es leibt und lebt. Ja, wenn nur ein jeder am Wege gesessen hätte wie dieser Mensch hier, und Weisheit aus dem Wind und den Wolken wie aus dem alten Broeder gezogen hätte! Ich danke dir herzlich, Vetter Just; aber für mich wäre das wirklich das letzte."

"Dann ist mir Schloß Werden nur auf den Abbruch hin auf den Hals geladen worden," seufzte Just Everstein vom Steinhofe und legte die Hand auf eines der Bretter, mit denen die hohen Fenster des Unterstocks des Gebäudes teilweise vernagelt waren. "Es wird wieder mal allerlei von einer festen Brücke bei Bodenwerder geschwatzt und geschrieben. Da könnte ich vielleicht einen Teil der Steine los werden. Schade, daß unser Landsmann, der Freiherr von Münchhausen, sein Wort bei den maßgebenden Behörden nicht mehr dazu geben kann! Über das Gartenland wollte ich mich schon mit den Bauern von Werden verständigen, Gewissensbisse mache ich mir nicht darüber, wenn du auch nicht gerade jetzt mit Irene Everstein darüber zu sprechen brauchst. Everstein? Everstein? Was würde der Herr Graf dazu sagen? und was mein seliger Vater von meinem Großvater gar nicht zu reden?!"

"Es geht alles in der Welt mit rechten Dingen zu, Vetter Just," erwiderte ich. "Freilich die große, trostvolle Wahrheit, daß hinter jedem Ding als solches eben die Welt als solche steht, wird einem meistens nur bei einer solchen Gelegenheit wie diese klar. Das ist ein Gedanke: aus Schloß Werden eine Brücke zu bauen! Ein trefflicher Gedanke, der einen selbst in der Vorstellung schon mit Kindern und Kindeskindern sicher und fest in die Zukunft hineinführt!"

"Ein kurioses Ende vom Liede, würden die Werdenschen Bauern sagen," brummte der Vetter kopfschüttelnd.

"Aber die Quadern würden sie dir doch herzlich gern abfahren zu dem Werk."

"Das würden sie! Und das Fell würden sie mir dabei über die Ohren ziehen, wie es kein Everstein auf seinem alten Raubnest dort weiter ins Land hinein seinerzeit besser verstand. Ja, auch das Lied hat kein Ende! Na ja, und wenn ein Stern zerspringt, so werden die Planetoiden daraus; verwerten kann ich das Material schon. Der Herr Graf! der Herr Graf! was würde der Herr Graf dazu sagen, wenn er den Bauer vom Steinhofe sagen hörte: Das hat ja aber Zeit, ich aber habe heute keine mehr, mich um das alte leere Nest zu kümmern! Über Jahr und Tag kannst du mir immer noch deinen guten Rat schriftlich geben, Fritz; oder du bringst mir ihn mündlich, oder ich hole mir ihn und zeige meiner Eva dabei zu gleicher Zeit die Stadt Berlin. Dann werden Ewald und Irene jenseits des Kanals sitzen, und wir können doch noch ein wenig unbefangener über Schloß Werden und sein letztes Schicksal zu Rate sitzen. Jetzt habe ich schon allzu lange um das öde Gemäuer mein armes, betrübtes Mädchen bei dem toten Vater allein gelassen. Komm nach Hause, Doktor!"

Wir gingen, und nun sind wir im letzten Akt, und da ich noch ganz und gar zur alten Komödie gehöre, so hätte ich nunmehr das vollkommenste Recht, meinen Oberrock aufzuknöpfen, meinen Stern und mich als Serenissimus zu zeigen. Als der Serenste, der Heiterste? Wenn ich sagen wollte, als derjenige, welchem doch von allen das bequemlichste Los zuteil geworden sei, so würde ich damit wohl das richtigere treffen. Ich habe Zeit, wie ich es hier tue, den Geschichtsschreiber von Dorf und Schloß Werden, den Biographen des Steinhofes zu spielen. Habe ich meine Sache erträglich gemacht, so ist's gut; ist das Ding unter aller Kritik ausgefallen, so habe ich im Grunde ja doch nur für den alten Vetter Just Everstein vom Steinhofe geschrieben, und der wird gottlob nur lächelnd sagen:

"Ja, unser Berliner Doktor! Lesen mußt du's, Evchen; mir ist mehr als einmal die Pfeife drüber ausgegangen, und auf dein Gesicht dazu bin ich auch nicht wenig gespannt. Mittelalterliche Geschichtsquellen hat der alte Junge auch in unserem Falle gut studiert na, laß ihn; während der Universitätsferien rückt er wieder ein auf dem Hofe, und dann hoffe ich mündlich von ihm zu erfahren, ob er mir in seiner Chronik mehr Schmeicheleien oder mehr Grobheiten gesagt haben will. Nach England muß jedenfalls eine Kopie hinüber; denn das sehe ich doch gar nicht ein, weshalb Ewald und Irene nicht gerade so gut wie wir über diesen wunderbaren Historien den Kopf zwischen beide Hände nehmen sollen! Es ist wirklich die Möglichkeit, was ein Mensch in der Einbildung des anderen an Glück und Geschick und dem Gegenteil davon befahren kann! Ja, ja, mein Herz, von Rechts wegen müßten wir nun, ich und du und Freund Ewald und Frau Irene, uns hinsetzen und zu Papiere bringen, wie wir dies alles angesehen haben, als wir es erlebten. Sollen wir, Herz?"

"Mir bleib damit vom Leibe," wird dann Frau Eva Everstein sagen. "Irene wird auch keine Zeit dazu haben. Die ist froh, wenn sie meines Bruders Korrespondenz besorgt hat. Also fällt es einzig und allein auf dich, Just, wenn wirklich in dem dicken Bündel Schriften (und was für eine Hand schreibt das Menschenkind dazu!) was drin steht, was von einem von uns beantwortet werden muß."

"Ja, wenn man nur nicht zu behaglich in dem alten Neste säße, und wenn einem nur der Tag Ruhe ließe!" wird der Vetter Just die Unterredung mit seinem Weibe über das Manuskriptum des "Doktors in Berlin" fürs erste zu einem behaglichen Ende bringen.

Nun wird es natürlich wieder Leute geben, die nie zufrieden sind, wo es sich um den Schluß einer Geschichte, die man ihnen erzählt, handelt; die alles immer noch genauer und ausführlicher zu wissen wünschen, als der Erzähler es vortragen kann oder will. Wo es sich um eine Hochzeit handelt, wollen sie die Zahl der Musikanten kennen, wo eine Taufe das Ende ist, soll ihnen nicht ein einziger Gevatter unterschlagen werden, und im vorliegenden Falle (o, ich kenne sie!) möchten sie mit "zur Leiche" gehen, das heißt den guten alten Vater Sixtus mit begraben, und dann ganz genau in Erfahrung bringen, ob Schloß Werden wirklich ebenso vom Erdboden verschwunden sei wie die Nester, die wir aus dem Schlosse einst in die Luft und das grüne Gezweig hingen, oder was eigentlich zu allerletzt der Vetter Just Everstein damit angefangen habe. Ich für mein Teil hätte nun wohl noch mancherlei von Ewald und Irene zu berichten; aber sonderbarerweise würde ich dafür die wenigsten aufmerksamen Ohren finden, denn "Das kann sich ja ein jeder leicht denken".

Und so sage ich nur, daß Irene mir die Instandhaltung eines Kindergrabes auf einem Berliner Kirchhofe anvertraut hat, und daß es mir, unberufen, sonst nach Wunsch geht. Was das übrige anbelangt, z. B. auch Jule Grote und Mademoiselle Martin (Schloß Werden nie zu vergessen!), so weiß nur der Vetter Just Everstein das Allergenaueste. Wer also noch eine Frage auf dem Herzen hat, der wende sich an ihn. Von Bodenwerder, wo der Freiherr von Münchhausen geboren wurde, führt der Feldweg nach dem Steinhofe an jenem Steine vorbei, auf welchem er, der Vetter Just, den Kopf in den Händen und die Arme auf die Kniee stützend und so in das Blaue hineinstarrend, einst saß und wartete auf menschliche Schicksale.

 

 

Inhalt



Erstes Buch


Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel

Zweites Buch


Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel

 

 

 




Erstes Buch

Erstes Kapitel



Eine Blume, die sich erschließt, macht keinen Lärm dabei; auch das, was man von der Aloe in dieser Beziehung behauptet, halte ich für eine Fabel. Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit, das wahre Glück und das echte Heldentum. Unbemerkt kommt alles, was Dauer haben wird in dieser wechselnden, lärmvollen Welt voll falschen Heldentums, falschen Glücks und unechter Schönheit; und es ist kein eitles, sich überhebendes Wort, was ich hier zu Anfang dieser Blätter hinsetze; denn es sind die Lebensgeschichten anderer Leute, die ich beschreiben will, nicht meine eigenen. Das Heldentum und die Schönheit der Rolle, die ich dabei abspiele, lassen sich wohl halten in der hohlen Hand. Aber eines ist auch wahr und darf gesagt werden: Glück, viel Glück habe ich wohl nicht gehabt, aber doch dann und wann mein Behagen, meine Belustigung und meine Ergötzlichkeiten; und das alles ist gleichfalls ganz natürlich und ziemlich unbemerkt gekommen und gegangen, so daß es heute, in den gegenwärtigen stillen, nachdenklichen, überlegenden Stunden nichts Erstaunenswürdigeres für mich gibt als mein unleugbar vorhandenes Wohlgefallen nicht nur an der Welt, sondern auch immer noch an mir.

Mein erstes Aufblicken in dieser Welt fällt in die Zeit der Gründung des deutschen Zollvereins, also in den Anfang der vierziger Jahre dieses Säkulums. Wer eine Ahnung davon hatte, daß aus dieser anfangs etwas unbequemen und viel bestrittenen Institution einmal das einige Deutsche Reich aufwachsen könne, behielt dieselbe ruhig für sich, und eine kleine Ausnahme machte da vielleicht nur ein kleiner Mann im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten in Paris, Mr. Louis Adolphe Thiers genannt. Das deutsche Volk ließ sich murrend, wenn auch nach seiner Art gutwillig, die ersten Lebensbedürfnisse und vor allem das Salz durch den segensreichen politischen Schachzug verteuern.

Da war nun so ein Stätlein (auf die Landkarte bitte ich dabei nicht zu sehen), das diesem "preußischen Verein" beigetreten war, aber seine Planetenstelle nicht verändern konnte, sondern liegen bleiben mußte, wo es lag: nämlich ganz und gar umgeben von einem anderen Staat, der nicht "beigetreten" war, und das junge Reichsvolk von heute hat gottlob keine Idee davon, was das seinerzeit bedeutete, obgleich es eigentlich noch gar so lange nicht her ist. Zog der eine deutsche Bruder seinen Grenzkordon, so zog ihn der andere ebenfalls. Daß wir im ganzen das deutsche Volk und der erlauchte deutsche Bund dabei blieben, konnte den Zeitungsleser nur mäßig erquicken und ihn höchstens ganz kosmopolitisch in seiner Selbstachtung über dem Wasser erhalten.

Die Hauptsache für mich, auch heute noch, ist, daß das, was damals von zivilversorgungsberechtigten Militärpersonen vorhanden war, fest darauf rechnen durfte, "unter die Steuer gesteckt zu werden", und daß mein braver, seliger Vater mit dem Titel Herr Kontrolleur natürlich gleichfalls hineinfiel, und meine Mutter ebenso selbstverständlich mit ihm. Meine erste deutliche Lebenserinnerung aber ist, daß ich von einem Wagen gehoben und in ein Haus getragen wurde, das mir aus einem einzigen großmächtigen, kindlich ungeheuerlichen schwarzen Scheunenflur, einer Rauchwolke unter der Decke und zwei Reihen Kuhkrippen, nebst den dazugehörigen heraäugigen, hauptschüttelnden, kettenrasselnden gekrönten Herrschaften zu bestehen schien.

Dem war jedoch nicht ganz so. Es fanden sich in dem unteren Raume dieses Hauses noch zwei oder drei Gemächer, die den zu dem Feuerherde und den Haustieren gehörigen Menschen zu allerlei Gebrauche dienten; und eine leiterartige steile Stiege führte sogar in ein oberes Stockwerk, wenigstens in der Front des Gebäudes, empor, in unsere Wohnung, die einzige, die meinen Eltern bei ihrer Versetzung in dieses Gebirgsstädtchen offen gestanden hatte. Dicht an unsere Wohnung stieß der Heuboden, und wir hatten deshalb mit Feuer und Licht sehr vorsichtig umzugehen, was wir denn auch taten, und vorzüglich ich, dem alles unnötige Spiel damit mehrfach in schlagender Weise verleidet wurde.

Mein Vater, der reitende Steuerkontrolleur Hermann Langreuter, trug einen Säbel und eine Uniform, die mir heute in der Erinnerung den Eindruck von Grünblau und Blau und vielen gelben Metallknöpfen mit dem Landeswappen macht. Was den Anzug meiner Mutter betrifft, so halte ich es hell in dem Gedächtnis fest, daß sie stets in hellen Kleidern ging, bis zu dem Ereignis, das sie für immer in Schwarz und Grau warf.

Die Salzschmuggler haben mir nämlich meinen Vater erschossen. Um einen Sack voll Salz mußte er damals sein Leben im Walde auf der lächerlichen Grenze lassen. Ich aber habe wahrlich später keine Verlustliste, die um des deutschen Volkes Einheit ausgegeben wurde, gelesen, ohne an den alten Griesgram auf seinem Felde der Ehre wehmütig und kopfschüttelnd zu denken. Der Donner der tausend Kanonen in den großen Siegesschlachten der Gegenwart hat die Schüsse, die seinerzeit hinüber und herüber gewechselt wurden, nicht übertönen können. Gottlob ist es heute nur höchstens ein Drittel der Nation, das sich jenes brüderliche Nachbargeplänkel zurückwünscht, was in Anbetracht des Nationalcharakters merkwürdig wenig ist, zumal wenn man noch die sehr verschiedenartigen Gründe, aus denen jener Wunsch aufwächst, in Betracht und in Rechnung zieht.

Auch aus diesem letzten politisch-historischen Exkurs wird meinem Leser einleuchtend hervorgehen, daß der schöne Sommermorgen, an dem uns die schlimme Nachricht über den Vater gebracht wurde, ziemlich weit zurückliegt. So ist es; es ist viel mehr als ein Menschenalter seit dem Tage hingegangen, und ich kann dreist die objektivsten Bemerkungen an ihn anknüpfen.

Dessenungeachtet liegt jener Tag und alle seine Stimmungen heute schier klarer vor meiner Seele als der gestrige, an dem es mir zuerst einfiel, mir selbst einmal schriftlich von mir selber und dem, was dazu gehört, Rechenschaft zu geben.

Daß der Sommermorgen schön war, sage ich, weil ich heute noch sein Licht, seine Wärme, seinen Landstraßenstaub und seinen Waldduft in mir und um mich spüre. Wir aber, meine Mutter und ich, sind um Sonnenaufgang mit der schrecklichen Nachricht geweckt worden, kurz vor dem längsten Tage.

Ich saß aufrecht in meinem kleinen Bette, und meine Mutter hielt mich und hielt sich an mir. Da erscholl das ewige, jedenfalls Jahrhunderte alte Leibstücklein des Kuhhirten in der Gasse des Ackerstädtchens. Die Sonne schien mir auf die Bettdecke, unten im Hause brüllten die Kühe. Meine Mutter war in einem Weinkrampf, und die Hausgenossenschaft und ein paar Nachbarinnen und ein alter eisgrauer Kamerad und Steuerkollege meines Vaters waren auch in der Kammer, und die Stube nebenan war voll von Menschen. Unter den Leuten in der Stube aber befand sich ein Mann in einer fremden Uniform, wie es mir schien. Das war aber die Livree derer von Everstein, die ich nachher sehr genau kennen gelernt habe.

Der Herr Graf hatte den Diener mit dem Eberkopfe auf den Rockknöpfen an meine Mutter geschickt und seinen Wagen dazu. Mein toter Vater lag auf dem Hause Werden, dem Wohnsitze des Herrn Grafen, und ich hörte, wie der alte Kamerad des Vaters zu meiner Mutter sagte:

"Frau Steuerkontrolleurin, liebe Frau, Sie müssen es ja leider Gottes, also fassen Sie sich! Sehen Sie doch mal an, gefaßt mußten Sie ja immer im Grunde auf so was sein. Wie wäre es denn nun gewesen, wenn uns der liebe Herrgott während unserer Militärdienstzeit einen guten, braven Krieg beschert hätte? Eben vielleicht nicht anders als jetzt; nur wäre es vielleicht dann noch früher eingetroffen, und das wäre dann noch viel betrübter für Sie gewesen. Nicht wahr? Sie sind doch nun gottlob eine Soldatenfrau, und Ihren Jungen haben Sie ja da auch noch, und er nimmt sich gewiß in dieser ernsthaften Stunde ein Beispiel an seinem lieben Vater, und macht es ihm in allen Dingen nach. Nicht wahr, Fritz, das versprichst du uns?"

"Ja, ja!" heulte ich, ohne im geringsten zu wissen, was alles ich hier versprach; aber ich fühlte, wie meine Mutter mich fester faßte und heftiger mich an sich drückte, als werde sie mich nie mehr aus ihren lieben, schützenden Armen loslassen:

"Fritz, du bleibst bei mir! du gehst nie von mir!"

"Ja, Mutter, ich fahre mit, ich darf mit ausfahren zum Vater! Nicht wahr, und ich darf auf des Vaters Braunen nach Hause reiten?"

"Der Wagen hält schon seit einer Stunde vor der Tür," sagte der alte Kamerad. "Und es ist doch auch recht freundlich von der Herrschaft auf Schloß Werden, daß sie ihre eigene Equipage schickt. Von Amts wegen sind wir schon längst zu Pferde hinaus; da wird nicht das geringste verabsäumt werden, was Ihnen zum Trost gereichen kann, Frau. Und jetzt kommen Sie; die Nachbarinnen ziehen Ihnen den Jungen an, und dann fahren wir langsam nach. Es geht ja alles im menschlichen Leben hin, und eins in das andere. Erinnern Sie sich nur recht genau an alles, was Sie mir so gut und brav zum Troste sagten, als ich so bei meiner seligen Frau saß, und sie dalag. Sie wissen ja also alles Beste, was Ihnen einer jetzt sagen kann, schon von selber. Fritze, du kannst mitfahren."

Achtzehntes Kapitel



Ich habe es wohl vergessen, zu sagen, daß wir damals im März des laufenden Jahres waren. Der Tag war hell und trocken, wenn auch noch immer windig. Auf den verhängten Fenstern lag ein gut Teil des Tages hindurch die Vorfrühlingssonne, und in das Nebenzimmer schien sie voll hinein, bis sie hinter die gegenüberliegenden hohen Häuser hinabglitt.

Wir verlebten diesen Tag vom Mittag an in diesen zwei Zimmern, dem verdunkelten und dem hellen; der Vetter Just und ich. Mademoiselle Martin deckte uns sogar in dem hellen Raume ein Tischchen und legte vier Kuverts auf und stellte vier Stühle daran. Wir aßen daran zu Mittage, Mademoiselle, der Vetter und ich; und auch Irene setzte sich einmal zu uns. Da aber hatte der Vetter ihren Platz an dem kleinen Bette eingenommen. Wir gingen ruhelos ab und zu, aus der hellen Stube in die dunkle. Es wurde auch eine Zeitung gebracht, und Mademoiselle Martin reichte mir dieselbe. Ich nahm sie und habe sie bis in die Dämmerung hinein wohl hundertmal hingelegt und von neuem aufgenommen. Wer diese Weise, eine Zeitung, ein Buch oder sonst einen beliebigen Gegenstand in Angst, Herzensweh und langer Weile, ja, langer Weile, hin- und herzuwenden durch die kriechenden Stunden, nicht kennt, der preise das Geschick, das ihm solchen Zeitvertreib ersparte, und bitte, daß es ihn auch fernerhin davor bewahre, sich daran halten, im vollsten Sinne des Wortes sich daran halten zu müssen, bis das schlimme, öde, tödliche Warten sein Ende gefunden hat, einerlei welches.

So warteten wir an jenem Nachmittage.

Das kranke Kind wimmerte und schlief und wimmerte wieder und schlief wieder.

Die Mutter sang ihm mit leisester Stimme und kam zu uns und weinte und erzählte auch abgebrochen aus ihrem Leben und fragte nach dem meinigen. Wenn der Vetter Just irgend etwas sagte, so horchten wir alle mit momentan leichterem Atemholen; aber auch er schwieg oft viel zu lange und wußte nichts zu sagen. Mademoiselle ging ab und zu; die war noch am besten dran, denn sie hatte den Haushalt für den kommenden Tag zu besorgen und von uns allen also das meiste um die Hand. Manchmal aber stand auch sie beschäftigungslos am Fenster, und ich bin fest überzeugt, dann haben sich Leute an den Fenstern drüben auf der anderen Seite der Gasse einander heiter auf sie aufmerksam gemacht:

"Guck nur die Alte! wie in einem Bilde! Die möchte ich mir freilich nicht am frühen Morgen über den Weg laufen lassen!"

"Die könnte Geschichten aus ihrer Seele erzählen, gegen die wir beide, Fritz, alle unsere Erlebnisse still zusammenpacken könnten," flüsterte mir einmal der Vetter zu, mit dem Daumen über die Schulter auf die soeur ignorantine an dem Fenster hindeutend. "Was meinst du, wenn die am Jüngsten Gericht ihre auf Erden verschluckten Tränen auf einmal fließen läßt?!"

"Ja, Just," sagte ich, "aber es läuft alles in einen Strom. Ich kann es dir nicht sagen, was für einen Damm das letzte Tribunal dagegen aufbauen wird, um nicht mit Sessel, Bank und grünem Tisch weggeschwemmt zu werden."

"Darf ich Ihnen noch eine Tasse Kaffee einschenken?" fragte im Augenblick darauf Mademoiselle Martin. "Sie trinken ihn noch immer recht süß?"

Und ich sah in demselben Augenblick wieder vollständig genau die grünlackierte Zuckerdose von Schloß Werden vor mir undfühlte auf meinen Knöcheln den Schlag, mit welchem Mademoiselle meinen verstohlenen Griff in dieselbe zu verhindern gewohnt war, und hörte dazu das vorwurfsvolle Wort meiner Mutter: "Aber Fritz?!" und dabei das mutwillig glückselige Kichern der Komtesse Irene, der währenddem der Griff unbeachtet gelungen war.

Die schwersten Tage, Stunden und Minuten erzeugen ihre geschwindesten, wunderlichsten und buntesten Phantasmagorien.

Wenn wir zusammen sprachen, so sprachen wir sehr häufig von Eva Sixtus. Das Wort des Vetters: "Ach, wenn wir sie doch hier hätten!" kam zur vollsten Geltung. Jede heller auftauchende Erinnerung an sie, jedes Geschichtchen von ihr aus der Kinderzeit war uns wie ein Trunk aus einer kühlen klaren Quelle an einem schwülen Tage und unter schwerer Mühe. Wir konnten sie uns auch heute noch nicht anders vorstellen, als immer noch umgeben von dem alten Zauberreich der Erde, weiter lebend still und freundlich in dem süßen Licht, den Tönen und Düften des von uns verlorenen oder aufgegebenen Paradieses.

Der Vetter Just, der natürlich am genauesten über sie Bescheid wußte und sie vor vierzehn Tagen noch gesprochen hatte, sagte:

"Das ist auch so mit dem guten Mädchen, und sie verdient es wirklich. Schon die Art, anzusehen, wie sie mit ihrem alten Papa und seinen Hunden und seinem kuriosen Papstbuche umgeht, ist ein wahres Vergnügen. Beiläufig, wenn ich an das Papstbuch denke, so fällt mir dabei jetzt immer Freund Ewald in England ein. Seit ich den braven Jungen dort besucht habe, meine ich inplain terms, daß ein gut Stück mehr als genug aus dem Schmöker an ihm hängen geblieben ist. Das hat sich der Papst Sixtus der Fünfte wohl auch nicht träumen lassen, daß man einmal im Königreich Großbritannien und Irland Ingenieurkunst und dergleichen nach seinen Maximen treiben würde. Ich wollte nur, er schriebe häufiger an unser Evchen und den Alten, den Mr. Ewald und nicht Seine Heiligkeit meine ich selbstverständlich. Ja, das liebe, alte Försterhaus von Werden! Daß die Regierung was daran gewendet habe, kann keiner behaupten; aber ungemütlicher ist es darum doch nicht geworden. Im Gegenteil, nur noch gemütlicher hat es sich zwischen seine Lindenbäume, Büsche und Gartenkultur eingenistet, ihr wißt, angenuselt nennen wir das bei uns zu Hause. Über Bodenwerder hinaus ist, während wir anderen sämtliche Münchhausens Abenteuer in der Welt erlebten, weder Eva noch der Förster gekommen. O Irene, wie werden sie demnächst einmal Ohren, Nase und Mund aufsperren, wenn wir ihnen unsere Allerweltshistorien heimbringen! Das steht fest, diesen Sommer treffen wir uns alle auf dem Steinhofe bei dem Vetter Just! Wozu bin ich denn der Vetter Just, wenn ich das nicht ganz genau wüßte, und dazu, daß es immer wieder Sommer wird, wenn es Winter gewesen ist?! Das steht fest wie der Magister matheseos, Fritz Langreuter: ja, ja, Miß Martin, man kann es zu einer ungeheuren Gelehrtheit und Weisheit in der Welt bringen, wenn man nur seinerzeit an nichts denkt und die Leute reden und lachen läßt. Ein Verdienst war das damals aber bei mir nicht, sondern nur Blödigkeit und Schüchternheit, und dazu Angst und Verwunderung, weil ich nur der dumme Junge auf dem Steinhofe war und die Welt und der Himmel umher so weit und voll und allmächtig; liebe Irene, bleib sitzen, ich sehe schon nach dem Kind!"

Sie wußte es, daß er ihren Platz an dem kleinen Schmerzenslager ebenso gut ausfüllte als sie selber; sie lief ihm doch vorauf in das verdunkelte Zimmer. Er ging aber dennoch mit ihr; und Mademoiselle Martin und ich blieben uns an dem Kaffeetische allein gegenüber.

"Haben Sie nicht vorhin gesagt, daß Sie an unserer Haustür mit Mr. le prince de ** zusammengetroffen seien, Mr. Fritz?" fragte Mademoiselle.

Ich bestätigte das noch einmal.

"Sie wissen gar nichts von uns, Frédéric, und wenn Sie etwas sehr verwundert, so behalten Sie auch das für sich. Dies war immer Ihre manière so; schon als Sie noch so groß waren."

Sie zeigte es durch eine Handbewegung, wie hoch ich war, als ich bereits alle meine Verwunderungen für mich selber behielt.

"Es tut mir leid, Mademoiselle Martin..."

"O, es tut Ihnen gar nichts leid, monsieur le docteur, denn sonst hätten Sie sich schon nach vielen Dingen erkundigt. Par exemple, wie kommen Sie nach Berlin, Mademoiselle? Mais c'est navrant, ces gémissements de la petite! bleiben Sie sitzen, Fritz, wir können doch nichts helfen dort, und der Vetter hilft der Komtesse. Es ist der Fürst und seine Familie, die uns haben weggeholt von Wien und uns haben leben lassen hier. Das sind sehr gute Leute, und die Väter und Großväter haben sich auch schon geholfen gegenseitig depuis les siècles, und vorzüglich, als der Kaiser Napoleon war in Deutschland der Herr. Damals ist es monsieur le comte d'Everstein-Werden gewesen, der helfen konnte; aber das Glücksrad geht herum toujours, toujours, toujours! Und Seine Durchlaucht ist gekommen und hat gesagt: Sie können nicht bleiben in Wien, madame la baronne. Je suis garçon, sonst sollten Sie wohnen in meinem Hotel in Berlin; aber ich muß sein Ihr Vormund, das ist mir eine Pflicht. Sie sollen still leben in Berlin und die Vergangenheit vergessen, ich werde alles besorgen. Bien, was wäre aus uns geworden ohne ihn? La grande mer hätte uns übergeschlungen. Voyez par exemple madame de ** und madame de ** und so viele andere arme Frauen dans la rafale de la vie! So haben wir gelebt hier durch seine Herzensgüte und auf seine Kosten, bis neulich gekommen ist monsieur Just, der Herr Vetter von dem Steinhofe, o, der Vetter Just, o, und es ist sehr gut, daß Sie an unserer Tür haben einander vorgestellt den Herrn Fürsten und den Herrn Vetter. Wir hatten noch keine Gelegenheit dazu gehabt, denn Seine Durchlaucht waren verreist bis gestern."

In dem Nebengemache war das leise, klagende Gewimmer wieder still geworden, und der Vetter Just setzte sich wieder zu uns. Es war gegen sechs Uhr am Nachmittage und die Sonne eben dem Untergange nahe. Der Vetter seufzte schwer und gab wortlos der alten soeur ignorantine die Hand. Mademoiselle ließ die Schuhe von den Füßen fallen und ging auf den Strümpfen zu der Tür des Nebenzimmers, kam zurück und fragte:

"Schläft sie auch? Sie hat den Kopf mit auf das Kissen gelegt."

"Weiß nicht," sagte der Vetter kaum hörbar. "Ich wollte es wohl, aber ich glaube es nicht. Sie horcht nur."

Wir horchten alle; dann ging Mademoiselle mit ihren Pantoffeln in der Hand von neuem ihren Haushaltungsgeschäften nach, und in der immer mehr über uns hinsinkenden Dämmerung waren jetzt Just Everstein und ich wieder für eine Zeit allein einander gegenüber gelassen.

"Es kann noch Stunden dauern. Ich kenne das leider nur zu genau aus mancher Ansiedlerhütte drüben, jenseits des Atlantic. Wir hatten dort immer nur Calomel und wieder Calomel; aber es ist egal, denn es bleibt immer dasselbe, hier und im Hinterwalde. Die Mütter legen dann immer ihren Kopf mit auf das Kissen," sagte der gelehrte Bauer vom Steinhofe. "Sie machen auch die Augen zu, und wer sonst dabei sitzt, kann nichts tun, als stille sein. Wolltest du etwas sagen, Fritz?"

Ich hatte nur einen etwas tieferen Atemzug getan, und so fuhr gottlob der Vetter fort.

"Man sitzt da still, wenn das Kind sterben will und die Mutter weiter lebt, und hat doch Zeit, an allerlei anderes zu denken. Von den größten und wirklichsten Wundern spricht, schreibt und druckt kein Mensch und kein Evangelium! Dies ist nun so eine Stunde, in der man mancher Angelegenheit, welche man sonst nicht so leicht anrühren würde, freimütiger auf den Grund geht, weil alles rundum ernst genug dazu aussieht und selbst der Mißtrauischste nicht an pure Neugier oder albernen überflüssigen Vorwitz denkt. Fritz Langreuter, unsere Eva Sixtus hatte dich einmal sehr gern. Weshalb hast du das nicht merken wollen?"

Es schwamm mir vor den Augen, die heißesten Blutwellen drängten sich nach dem Herzen und Hirn, es hämmerte sinnbetäubend; der Boden schwankte unter mir.

"Mich? Ich?!" stammelte ich, und der Vetter Just ergriff meine Hand und hielt sie während des folgenden in der seinigen fest.

"Natürlich!" murmelte er. "Er fragt! Er weiß gar nichts! O, wenn ich nur wüßte, wo ihr Menschenkinder in der besten Zeit eures Lebens eure Augen und Ohren hattet! Dich hatte sie lieb!"

"Mich?" wiederholte ich durch eine See von Wonne und Angst, nach einem unbekannten, noch unsichtbaren Ufer mich durchringend.

"Wen denn anders?" fragte der gelehrte Bauer vom Steinhofe, und ich fühlte, wie seine Hand dabei erzitterte; und meine Angst, die tödliche Angst in mir, hatte darin ihren Grund, daß ich wußte, was dieses Zittern bedeutete.

O Vetter Just! Vetter Just!

Als ob er mit einem anderen spräche, den Blick in die Weite gerichtet, fuhr Just Everstein fort:

"Da saß ich, der dumme, übergeschnappte Bauerjunge, um so manches Jahr älter als ihr, unter der Obhut und Vormundschaft von Jule Grote, zwischen meinen Düngerhaufen und Ackerfeldern, Wiese und Wald, und sah alles wie im Traume und doch ganz klar. Ich will nicht behaupten, daß ich der Gescheiteste von der Gesellschaft war, denn der ist und bleibt Freund Ewald, der ohne allen Traum und Duselei ebenfalls ganz klar sah und ganz genau wußte, wie er zu der Komtesse Irene stand und sie zu ihm. Er ist nicht ohne seine stichhaltenden Gründe in die Welt und nach Irland gegangen und schreibt wenig nach Hause. Wie Vieles möchten wir anders haben in der Welt, was doch nicht sein kann! Da sitzt sie; horch, und ihr Kind ist wieder wach, und sie spricht zu ihm, zu ihrem sterbenden Kind; und niemand darf sie fragen, ob es nicht doch möglich gewesen wäre, daß dies alles hätte anders sein können! Von ihr und Ewald rede ich auch gar nicht; da wird noch lange Zeit hingehen, ehe die Menschen es für etwas Selbstverständliches halten werden, auf der Erde zu ihrem Behagen unter dem rechten Dach zu Schauer zu kriechen.Nach deinen Versäumnissen möchte ich dich fragen, Fritz! nimm es mir nicht übel; es findet sich aber vielleicht keine bessere Stunde dazu in unserem Leben als diese gegenwärtige sehr melancholische und sehr, ich weiß nicht, wie ich mich darüber ausdrücken soll!"

Er sagte es wirklich, daß er nicht wisse, wie er sich über diese Stunde ausdrücken solle. Hätte er ein Wort dafür gefunden, so würde er freilich die deutsche Sprache für all ihre Zeit dadurch bereichert haben. Was mich anbetraf, so war es nicht nötig, daß er noch ein Wort fand oder erfand für sich. Ich wußte bis in die tiefste Tiefe seiner und meiner Seele hinein, was er mir deutlich zu machen gewünscht hatte.

Aber ich?!

In diesem Augenblick rief Irene aus dem Nebenzimmer angstvoll und laut unsere Namen. Der Vetter Just und ich, kamen an diesem Abend nicht mehr dazu, unsere Privatangelegenheiten weiter zu erörtern. Gegen Mitternacht starb das Kind.




Zweites Buch

Zweites Kapitel



Was für eine Magie liegt selbst für die Erwachsenen in dem sich drehenden Rad! Fahren! ausfahren! Fahren durch einen frischen, sonnigen Sommermorgen in die weite, weite Welt hinein. Gibt es ein glückseligeres Fieber als das, was bei diesem Worte und dieser Vorstellung das Kind ergreift und ihm in erwartungsvoller Wonne fast den Atem benimmt?

Ich war an jenem schrecklichen Morgen ungefähr fünf oder sechs Jahre alt; aber wie deutlich steht er mir noch vor der Seele! Mit allen seinen Einzelheiten! Da war das hastige Ankleiden, bei dem ein Dutzend aufgeregte Hände helfen wollten. Da war das Geflüster rundum, und dazwischen das stille Weinen und laute Schluchzen der Mutter, von Zeit zu Zeit ein neues Gesicht, das sich in die Tür schob und in einem Winkel sich "des Genaueren" berichten ließ. Dazwischen immer wieder von neuem die braven, guten Worte des alten Kameraden und Kollegen und dann, das Peitschenknallen des Kutschers in der Gasse, das allmählich immer mehr von steigender Ungeduld zeugte.

Und dann waren wir auf der Treppe und dann in der Gasse, und die Gasse rund um die gräfliche Kutsche war auch voll Menschen, die sich verhältnismäßig still verhielten, aber desto mehr und dichter sich im Kreis herandrängten und, wie mir schien, sämtlich nur allzu gern mitgefahren wären in die Weite hinaus und nach Schloß Werden.

Und die Mutter bekümmerte sich nun gar nicht mehr um mich. Ich hielt mich an ihrem Rocke, sie aber ließ sich starr, stumm und willenlos führen, und ich fürchtete mich vor ihren Augen, mit denen sie gar nichts mehr sah, selbst mich nicht. Ich aber sah auch nur beiläufig auf sie; denn der hellblaue Kutscher sah auf mich, und er hatte zwei Braune vor seinem Wagen.