Gerhard Pötzsch

Taschen

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Roman

mitteldeutscher verlag

Umschlagabbildung: © dream79 – Fotolia.com

2015

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 978-3-95462-512-3

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Für Regina, Anna und Maya

Die Bilder von damals verschwammen mir schon manchmal und gerieten ins Tanzen …

Wenn ich anfing darüber zu sprechen, wirkte ich jedes Mal wie ein Schlacks, der mit seinen Armen und Beinen herumschlenkert und dessen Körper darum bittet, schweigen zu dürfen. Als sei ich besessen, nervte ich die Menschen meiner Umgebung, die sich in den Verhältnissen unseres Landes zwangsläufig eingerichtet hatten, mit dem Versuch, von gerade erlebten Ereignissen erzählen zu wollen. Ich sprang, angepasst an die jeweilige Situation und Örtlichkeit, meinem momentanen Alkoholpegel und der Anzahl meiner Zuhörer geschuldet, in meiner stockenden Rede vor und zurück und beschwor dadurch, ungewollt, oft Heiterkeit herauf. Ich versuchte mich dann in Sarkasmen, was mir durchgehend misslang. Ich wurde nie konkret. Das nervte. Bestenfalls sagte ich noch: Im Raum war ein Kübel drin. Wenn überhaupt, erwiderte die angesprochene Person dann so etwas wie: Furchtbar. Nicht betroffen. Wovon denn auch! Eher hilflos. Oder peinlich berührt, ob meiner – übrigens in meinen eigenen Kreisen: Ach, der schon wieder! – als penetrant empfundenen Zumutung. – Ist eigentlich ein ganz netter Kerl. Gelegentlich ein bisschen anstrengend. Na ja – irgendeiner hat ihn wieder eingeladen …

Mir selbst erschien es so, als erreichte ich, je mehr ich mich bemühte, mein Gegenüber immer weniger. Mir wurde klar, was ich geahnt hatte: Sie waren gewöhnliche, mit sich selber beschäftigte Heuchler und Arschkriecher, die vor lauter Fracksausen, Balkan und Balaton nicht zuhören mochten, aber brav und sittsam der Ungeheuerlichkeit meiner Andeutungen wegen mir gegenüber Erschütterung mimten, innerlich in Wahrheit hofften: Der Spinner möge doch endlich schweigen. Ich nervte wirklich. Ich hob dann beide Schultern, wies mit dem Arm in ein Nichts hinter mir, grinste und erbarmte mich: Kannst ja nicht in die Ecke scheißen. Spätestens nach einer Aussage solcher Wucht trat wieder Stille ein. Was sonst? Ach – leckt mich doch, dachte ich dann für gewöhnlich und brach den Bann der Situation, indem ich mit Eiswürfeln im Glas klingelte und mir das nächstbeste starke Getränk eingoss. Es war alles so banal und berechenbar geworden. Man mied mich Sturzsäufer nach derartigen Eskapaden noch mehr. Natürlich registrierte ich das. Ich war ja nicht blöd. Nein, ich war in jener Zeit kein umgänglicher Mensch. Ich war, meiner festen Überzeugung nach, der tief sitzende Stachel im Fleische meiner Mitmenschen geworden, welche ich insgeheim längst verachtete. Ich hatte zigmal erlebt, dass jeder Versuch, mit meinem Erzählen einen Widerhall zu finden, ergebnislos verpuffte. Ich wurde nie enttäuscht. Dieser ständig gleich erbärmlich ablaufende Hergang verfestigte in mir die Einsicht, dass meine Geschichte Teil einer störenden Wahrheit sei, die es nicht geben durfte. Von der Sehnsucht, mich verständlich zu machen, befreite mich niemand. So lungerte ich herum wie ein nutzloser Gedanke. Fand weder Gehör noch Gnade und war darüber müde geworden. Romantik war mir längst eine Lachnummer. Sehr viele Jahre später bat mich einer, der mich und meinen biografischen Hergang ein wenig kannte, ihm doch bei passender Gelegenheit einmal zu erzählen, wie ich das denn alles so durchlebt hätte, diese Dunkelhaft; ohne dabei meschugge zu werden und einen an der Klatsche zu bekommen. Nicht gleich heute, mein Lieber … hat durchaus noch Weile … besser gründlich, also später! Ich schreckte völlig überrumpelt hoch und sagte zu. Als alles frisch war, damals, fünf Jahre nach dem Arrest in der Haft oder elf, und es in mir wühlte und ich nach Worten suchte, was diesen Arrestraum denn nun eigentlich ausmachte in jenem Gefängnis, das ja für sich genommen schon kein Zuckerschlecken war und in den mich die Beamten des Vollzuges der bestehenden Gesetze verbracht hatten.

EINUNDZWANZIGTAGEUNDNÄCHTE – und was der Arrest mit mir gemacht hatte, da fragte mich, zu meiner eigenen Verblüffung, niemand danach. Dabei sehnte ich die Gelegenheit herbei, davon erzählen zu dürfen. Eine hörbare Sucht. Besonders nachts. Ich glaubte in jenen Jahren übrigens noch, ich könne mich durch Erzählen von Erinnerungen befreien. Aber das erhoffte Signal blieb aus. Wer sollte mich erlösen und warum? Nur mein eigenes Schweigen zerrte weiter an mir. Später dachte ich manchmal – wäre ich tatsächlich und vielleicht nur ein einziges Mal auf Interesse gestoßen und ich hätte, und wäre es nur um der Antwort auf diese Frage willen gewesen, deshalb eine Sprache für jene Wochen meines Lebens finden müssen, sicher wäre ich heute ein Anderer! Die Frage blieb aus und meine Geschichte unerzählt. Ich fühlte Schuld und empfand Scham vor einer Welt, die meine Antwort so offensichtlich verschmähte. Es hatte weitere Maße an Zeit gedauert, ehe ich verstand, dass manchmal Jahrzehnte dahingehen müssen, bevor Fragen und Antworten mehr sein können, als nur bewegte Luft. Als dieser Zeitpunkt für mich gekommen war, wusste ich aber auch: Von nun an wäre halbherziges Erzählen Betrug an meiner eigenen Geschichte! Ich blieb auf der Hut und so misstrauisch, wie ich es in den zahlreichen Jahren meines Lebens geworden war.

Die Bilder von damals verschwammen mir schon manchmal und gerieten ins Tanzen …

Nichts ist je zu Ende.

Es war einer dieser zeitigen Sommerabende, welcher anfangs noch die Frische des Frühjahrs atmet und damit betört. Wind kam auf. Ein Fetzen Papier wirbelte bis zur dritten Etage hoch, verhielt einen langen Moment und tanzte schließlich in ausladenden Schwüngen sanft zum Boden zurück. Dann wurde es rasch dunkel. Die Konturen der Gegenstände verschwammen allmählich mit der Nacht. Es roch nach Gemüseeintopf.

Die Straßen waren um diese Zeit längst menschenleer und vis-á-vis, über der Toreinfahrt neben der ehemaligen Röntgenstelle, in der, lange Zeit her, Jahr um Jahr im zähen Kampf gegen die Tuberkulose Brustkorb um Brustkorb durchleuchtet worden war, schepperte das lose Aluminiumblech der Halogenlampe bei jedem neuen Windstoß.

Kaltes Licht. Die Wolken schoben sich in immer kürzeren Abständen vor den Mond. Bald riss der Himmel überhaupt nicht mehr auf. Das schwarze Tuch schmeichelte dem Bild. Später begann es zu regnen. Man sah es unter dem Lichtschirm der Straßenleuchte erst leicht sprühen, zügig wurde es heftiger, und schließlich, der Wind hatte ruckartig nachgelassen, prasseltees kerzengerade herab. Schwere Tropfen platschten auf die Granitplatten des Gehwegs, sprangen zurück und zogen kräftige Blasen. Auf der leicht abschüssigen Fahrbahn schoss alsbald ein brodelnder Bach und schäumte Richtung Hauptstraße. Morgen würden dort riesige Pfützen stehen. Sehr groß. Sehr glänzend. Und sehr tief. Seit ewigen Monaten war das nun schon so. Nach jedem starken Regen lief man anderntags Gefahr, von vorbeikommenden Fahrzeugen, den eigentlichen Herrschern der Straße, von oben bis unten eingesaut zu werden. Aber das war, der Regen hatte ja erst vor einer halben Stunde begonnen, Zukunftsmusik. Das passierte dann morgen. Im Moment gurgelte und plätscherte es noch im Rinnstein und manchmal rülpste ein Abfluss bereits so satt, als erinnere er sich gerade widerwillig seiner Pflicht.

Unten halbierte sich der Wasserstrom beidseits der Straßeneinmündung nur scheinbar zu gleichen Teilen. Ein genauer Beobachter vermochte festzustellen, dass jener Teil, welcher sich jetzt nach rechts wandte, ein wahrnehmbares Quantum mehr Wasser mit sich führte, als sein linkes Gegenüber. Weiter vorn, dort, wo die Einbindung des offenen Gleiskörpers der Straßenbahn in den Asphalt bereits vollzogen war und sich die Schienen unter dem Gewicht der schweren Wagen im Laufe der Jahre deutlich erkennbar gesenkt hatten, begann nun ein See zügig und völlig selbstverständlich zu wachsen.

Nichts hinderte ihn. Nichts engte ihn ein. Alles war auf sein Wachstum ausgelegt: die desolate Straßendecke, die eingesunkenen Schienen, die mit Unrat verstopften und seit Jahren nicht entleerten feuerverzinkten Auffangkörbe der Gullys, welche an den Ringscharnieren ihrer Henkel bereits rundherum Rost angesetzt hatten, die geborstenen Abflusskanäle unter den bröselnden Fassaden der Stadt und alles gespeist von einem mittlerweile immer länger andauernden, ergiebigen Regen. Noch Jahrzehnte später konnte man vereinzelt argumentieren hören, dass vorausschauende Verkehrsplaner eben bereits damals ein Projekt jener späterhin im Lande so beliebten Wildwasserbahnen konzipiert gehabt hätten, lange, bevor die zweifelhaften Segnungen eines künstlich angelegten „Vergnügungsparks“ (was für ein Bankrott modernen Zusammenlebens!) in meiner Gegend tatsächlich in einem Fall Realität geworden waren. Solche Art von verlogen behaupteter seherischer Kraft gehörte für mich damals aber ins Reich des Unbekannten, Ungeübten und dadurch Ungelernten und somit in die noch endlos weit entfernte Zukunft des jungen Mannes, der auch ich einst gewesen war: „Geschenkt!“

Wer allerdings wenigstens einmal miterlebt hat, mit welch kurios anmutenden Verzweiflungssätzen, bei gleichzeitigen Verrenkungen aller übrigen Gliedmaßen, ahnungslose Fußgänger den nahenden Wasserfontänen, welche eine bereits mit mittlerer Geschwindigkeit dahinfahrende Straßenbahn zu bilden in der Lage ist, auszuweichen versuchen, übrigens ein todsicher zum Scheitern verurteiltes und somit eigentlich auch zutiefst hoffnungsloses Unterfangen, weiß den Unterhaltungswert solcherart Bemühungen für den Rest seines Lebens zu schätzen! Ortskundige umgehen solche Gefahren. Sie beginnen den Tag völlig natürlich, indem sie vermeiden.

Keine Geschichte, kein Beginn einer Handlung, kein Versprechen auf ein Ende hin. Nichts ist je zu Ende. In jedem Augenblick beginnt ein neuer. Ortskundige wissen. Sie beschützen sich instinktiv. Sie weichen aus: „Mach dich nicht nass!“

Ab wann und zu welchem Zeitpunkt verlässt uns eigentlich diese animalische Gabe? Und was verwandelt einen Kundigen in sein Gegenteil? Warum verlassen Menschen ihre Heimat? Ist es Gier? Wonach? Oder Sehnsucht? Können wir vermissen, was wir nicht kennen? Die Welt ist voller Tücke.

Der neuerlich auffrischende Wind schob Wolken wie einen ruckelnden Vorhang im morbiden Mondtheater über die Bühne der Nacht. Fahles Licht mischte sich mit dem sterilen Schein der Peitschenleuchten über der Straße. Einen endlosen gedehnten Augenblick lang offenbarte sich dem Betrachter die Sicht auf jene unwirklich erstarrte Kulisse der nun nutzlos gewordenen Einrichtung zur Hebung der Volksgesundheit. Die Täuschung gelang perfekt.

Kein Geräusch.

Kein Zeichen.

Zeit stand unvermittelt still.

Der Gong der Erlösung folgte einem Moped. Seinem Geknatter hinterher querte es, vom eben neu geborenen Hauptstraßensee kommend, widerborstig den Asphalt entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung und plärrte selbst dann noch aufgeregt weiter, als es ein hagerer Mann im Ledermantel kurz aufbockte, nur, um einen Eichenholzflügel der wuchtigen Doppeltür zur Toreinfahrt hin aufzusperren, durch die er dann mitsamt dem leichten Krad auf Nimmerwiedersehen verschwand.

Abrupt trat neuerlich Ruhe ein.

Kein Vogel.

Kein Wind.

Kein Laut.

Nirgends.

Wenn alles vorbei sein wird, bleibt noch die Erde, die sich bis hinter den Horizont erstreckt, über das Land, den Kontinent und die ganze Welt. Der Wind wird sie kosen, ihre Haut aus Stein und Grün. In ihre Schluchten und Furchen wird er dringen und sie streicheln, und keiner der ihn hört. Das Erinnern wird erloschen sein ab diesem Tag. Und die Wünsche. Und nichts und niemand wird etwas vermissen. Die Bäume werden ihre raschelnden Schlünde in die Weite eines blauen Himmel strecken, über den die Wolken endlos ziehen werden wie eh und je. Das Licht der Sonne wird lodern und sein immerwährendes und heißes Spiel treiben: ha, Sonne! Die Farben werden tanzen und flirren, als seien sie trunken vor Glück und schließlich doch, von Ewigkeit zu Ewigkeit, in blauschwarzer Nacht versinken. Ein Regen wird fallen, satt und fett, und sich morgens wieder als weißer Dunst erheben. Die Vögel werden auf ihren Ästen sitzen, die Flügel spreizen und mit gelben Schnäbeln ihren glitzernden Brustflaum pflücken. Sie werden die Köpfe dabei gelenkig verbiegen und es wird keine Angst sein und kein Grauen und keine Scheu vor Gefahr. Alles ist rund und warm und ist fruchtbar und wird wachsen und vergehen. Das Sein der kosmischen Monotonie wird unsere Gattung überdauern; unsere verlockenden Spiele um Liebe, Lust und Macht und Freiheit. Unser rotes Blut ist längst verdorrt. Kein Blitz zuckt mehr verführerisch durch die faltige Landschaft eines menschlichen Hirns. Der Raum ist unbegreifbare Tatsache ohne Idee von Zeit.

Der Regen hatte naturgemäß irgendwann nachgelassen. Seine fetten Tropfen wandelten sich allmählich zu einem frischen Hauch. Dann war auch das vorbei. Von den Bordsteinen sichelten lockere Fähnchen Nebel, mischten sich mit der glitzernd rein gewaschenen Luft, gewannen in Myriaden winziger Tropfen erneut an Raum und Höhe und schmiegten sich, von Luna beleuchtet, als feuchte Schleier um die nächtliche Szene, in welcher sie schließlich, dunkel und schwer werdend, einfach wieder versanken.

Aber ich entsinne mich …

Das Haustor war inzwischen längst verschlossen. Die Suppe gelöffelt. Die Welt begann sich erneut um sich selber zu drehen.

Der schönste Garten ist der, der kurz vor dem Verwildern steht.

Mein Großvater Paul, über den ich jetzt reden werde, sagte, wenn er mithilfe der Straßenbahn, die im gerade aufkommenden Zeitalter der rasch zunehmenden Industrialisierung unmittelbar der Pferdebahn gefolgt war, in die Innenstadt wollte: „Ich fahr nach Leipzig!“ Er hätte nie gesagt: „Ich fahr ins Zentrum.“ Sein Zentrum, das seiner Kinder, Enkel und Urenkel, also der Mittelpunkt seines Lebens, war immer Lindenau, das einst grüne Dorf vor der Stadt.

Am 22. Juli 1882, genau am Tage seiner Geburt, eröffneten die Betreiber der Pferdebahnlinie im Depot Plagwitz die Lindenauer Straßenbahntrasse. Sie war von der Leipziger Pferde-Eisenbahn zur Erschließung der Nordwestvorstadt und der Gemeinde Lindenau angelegt worden. Die Betreiberfirma, zehn Jahre zuvor unter dem Namen Leipzig-Tramways-Company-Limited und nicht ganz ohne Risiko in London gegründet, verwaltete zu diesem Zeitpunkt von ihrem Stadtsitz in Reudnitz aus bereits bestehende Trassen in Connewitz, Plagwitz, Eutritzsch, Gohlis und auf dem Leipziger Ring. Also beschränkte sie vor Geschäftsbeginn erst einmal ihre Haftung: Man weiß ja schließlich nie! Alle von der Gesellschaft befahrenen Linien endeten damals stets in der Mitte der Stadt, auf dem Augustusplatz.

Als Großvater vierzehn Jahre alt war, wurde das gerade erst errichtete Streckennetz der Pferdebahnen in der Stadt bereits schon wieder und sehr grundlegend modernisiert. Masten wurden aufgestellt und Haken aus Eisen in die Wände der Häuser zementiert. An diesen hingen Isolatoren aus Porzellan. Dicke Kupferleitungen transportierten nun den Strom. Die Elektrifizierung hatte Einzug gehalten. Es war eine gewaltige Zeit des allgemeinen Aufbruchs. Aus Kutschern wurden Fahrer. Großvater Paul, damals selber noch ein Halbwüchsiger, beliebte es so auszudrücken: „Aus Arschguckern wurden Kurbelknechte!“

Die Arbeiter wechselten in jenen Tagen natürlich mehr als einfach nur ihre Uniformen. Die Bauernsöhne und Landarbeiter wurden allmählich zu Proleten der Industrie. Der Flächenbedarf der Mistmieten vor den Toren der Stadt, in denen bis dahin Berge von Stroh, Pferdescheiße, Laub und andere natürliche Abfälle zu fetter Komposterde heranreiften, schrumpfte sichtbar. Kraftvoll blitzte überall das neue Jahrhundert auf. Die Pferdebahnlinie aus Lindenau, die vorher eine grüne Kreisscheibe mit weißem Punkt als Liniensymbol getragen hatte, wurde nun offiziell in Große Leipziger Straßenbahn umbenannt, die unter den Leuten schon bald Die Blaue hieß. Großvater nannte sie für die Dauer seines gesamten Lebens nur noch Die Elektrische. Allenthalben zog unaufhaltsam technischer Fortschritt ein.

Der Opa meiner Kindheit roch immer nach Äpfeln, Zigarren und Waschbenzin. Er hatte nach dem zweiten Großkrieg, Anfang der Fünfziger, nicht nur seine zweite Frau, sondern mit ihr auch einen Garten geheiratet. So oft es nur ging, verbrachte er seine Zeit fortan im Schrebergrün an der Rietschelstraße, unten, nahe dem Auenwald, der in alter Friedenszeit immer nur Mittelwald geheißen worden war und dessen Stieleichen und Ulmen Großvater sehr wohl von Schwarz-Pappeln und Schwarzerlen zu unterscheiden wusste. Welche er übrigens alle gleichermaßen zu lieben vorgab. Zumindest aber ebenso herzlich, wie die im Frühling gelbblass blühenden Leipziger Windröschen oder das denen im Jahresreigen unmittelbar folgende, und eben oft über Nacht quasi neu und unvermutet und immer wieder überraschend, großflächig daliegende schneeweiße Perigon des Bärlauchs. Wehmütig und ernst gemahnte dessen plötzliche Pracht ein letztes Mal an den gerade vergangenen Winter, bevor sein urig quellender Duft alsbald die Nasen im gesamten Revier herzhaft ausfüllte, die Organe der Menschen weitete und in ihnen das aufbrechende Frühjahrsgefühl vorerst endgültig und unwiderruflich manifestierte!

Großvater erschienen diese wunderbaren Pflanzen dennoch gelegentlich wie die neidischen Brüder der auch schon aus dem Waldboden hervorlugenden Maiglöckchen. Seltsamerweise haftete deren kleinen und schwesterlich nickenden Blüten seit Ewigkeiten jedoch der unausrottbare Ruhm an, die wirklich frühesten, echten und somit auch die einzig wahren Vorboten des Frühlings zu sein! Vielleicht lag das ja aber auch vordergründig an der vasentauglichen Leichtigkeit ihrer filigranen Erscheinung. Faktisch zu erklären war dieser Ruf jedenfalls nicht. Wer“, so fragte Großvater ehrlich entrüstet, trifft nur solcherart merkwürdige Verabredungen auch in meinem Namen? Das kräftige Lauchkraut taugt doch wenigstens zum leckeren Salat.“

Einst in dem Dorf vor der Stadt aufgewachsen, bestellte er – nachdem die kurze Ehe mit seiner ersten Frau, sie war urplötzlich am Krebs gestorben und ich erinnere nicht, dass er einmal länger als ein einziger Satz gemeinhin dauerte, von ihr gesprochen hätte – fortan nun den Garten der zweiten.

Er hatte ihre Vorgängerin, seine Erstfrau, der Sitte gemäß, und, wie sich das gehörte, natürlich angemessen und unter Inanspruchnahme aller notwendiger Zeremonien, beerdigen lassen und nach einem komplett und in voller Gänze verstrichenen Trauerjahr, und das nicht etwa nur der Leute wegen“, dann eben erneut geheiratet. „Ein Mann soll nicht allein bleiben. Dafür ist er schließlich nicht gemacht.“ Dieses geschah dann aber im Rahmen einer den Umständen angemessenen, also maßvollen Feier. „Ohne jedes äußerliche Brimborium. Für wen denn auch?“

Und wie sich das für einen lebenserfahrenen und in der Mitte desselben stehenden gebürtigen Lindenauer schickte, beackerte er diesen Flecken Boden von Stunde an direkt mit seinen beiden eigenen Händen!

Gleiches war schon längst dahingegangenen Generationen von Männern vor ihm ebenso bestimmt gewesen: lockern, düngen, säen, ernten – und solches sollte nun künftig auch für ihn bis ans Ende seiner Tage gelten!

Sein neues Leben begann also mit einem Garten! Auch wenn sein Neuland nur auf gepachtetem Grund und somit nicht einmal in seinem Besitz lag; dass er ackern muss, dass dies vielleicht sogar seine eigentliche Bestimmung war, diese anfangs noch sehr vage Erkenntnis wuchs sich von Tag zu Tag und von Ernte zu Ernte immer deutlicher aus und wurde mit den Jahren somit zur unerschütterlichen Gewissheit.

„Ein Mann, der nicht auf einer Scholle gräbt, der ist – jawohl, das behaupte ich – in Wirklichkeit doch nur ein armseliger und bestenfalls ein halber Hahn!“

Großvater meinte, was er sagte. Sein Garten, das waren Zaun, Wegkreuz, Obst, Gemüse und die Kräuterspirale. Sein von ihm fortan lauthals und bei jeder sich bietenden, passenden und auch unpassenden Gelegenheit verkündetes Credo lautete: Nutzpflanzen, meine Lieben! Der schönste Garten ist der, der kurz vor dem Verwildern steht!“

Die schon immer weitverbreitete Sehnsucht nach geraden oder abgezirkelten Rundwegen und nach den diese begrenzenden exakt geschnittenen Zierhecken beargwöhnte er eisern und lebenslang. Sein Garten war üppig und fruchtbar und bekam, was jeder richtige Garten seiner Überzeugung nach stets und immer brauchte: Luft, Wasser, Kompost, Samen und Freiheit!“ In seinem Garten wucherten Pflanzen aller Arten und eine auf Nichts-wollende-Schaulust gegründete Liebe! Sein Garten war ihm Anschauung und Vorstellung.

Und wenn es die Umstände zuließen und er seine notwendigen Tagesarbeiten erledigt hatte, saß er da, seinen Gedanken hingegeben, von denen er sich nur allzu gern einfach so überraschen ließ.

„Wem hat der Boden wohl einst gehört, aus dessen fetten Lehm ER uns geknetet hat? Und überhaupt, wer ist ER? Wie sieht ER aus? Und woher ist ER wann gekommen? Warum spricht ER nicht? Und warum lacht ER nie?“

War Großvater an solchem oder ähnlich schwierigen Punkt angelangt, schüttelte er diese Art Kopfabenteuer bald auch wieder wie eine lästig gewordene Fliege schulterzuckend von sich ab, befand: „Unlösbar!“ und musste spätestens zu solchem Zeitpunkt dann über sich selber lachen: „Blödsinn!“ Er rekelte sich gern, wenn das Wetter es hergab, nur mit einer Netzunterhose bekleidet, in seinem von mittäglicher Sonne überfluteten Liegestuhl. Einmal, ich war zufällig vorbeigekommen, hob er, nachdem er mich längere Zeit still angesehen hatte, den Kopf und sagte: „Ihre Strahlen säugen die Beete.“

Das Klappmöbel, auf dem er dabei fläzte, hatte er im Gang zwischen den Beeten zum Behufe der Beobachtung so herum aufgestellt, dass er den Weg vor seinem Zaun samt dem wuchtigen Eingangstor in sein geliebtes Refugium ständig im Blick behalten konnte. Er lag vor mir und war in diesem Augenblick dennoch unerreichbar weit weg. Ich ging also einfach bald darauf weiter …

Seine textile Vorliebe war natürlich längst bemerkt worden. In seiner Umgebung witzelte man deshalb schon über ihn. Großmutter nannte ihn eine Zeit lang sogar nur noch „mein Adam“. Aber Großvater nahm das gelassen. „Alles braucht Luft“, war sein knapper und einziger Kommentar zu diesem Thema. Auf dem Balkon, der von ihm gewöhnlich zu Beginn der frostfreien ersten Wochen des neuen Jahres mit brauner und weißer Ölfarbe aufgehübschten Holzlaube, thronte schräg über seiner bevorzugten Schönwetter-Freiluft-Liegestatt eine Narrenfigur aus rotbrauner Keramik. Der Schellenkappen und der Einfachheit wegen nannte er sie Till. Ihre Bemalung hatte von den zahllosen niedergegangenen Wolkengüssen schon oft den Pelz gewaschen bekommen und war im Laufe der darüber verronnenen Zeit allmählich verblichen. Wenn sie jedoch noch regenfeucht schimmerte, also unmittelbar nach einem Schauer, offenbarte sie, dabei kurzzeitig förmlich aufflammend, dem genaueren Betrachter eine Ahnung ihrer einst teuflisch glitzernden Farbenpracht; anverwandelte sich unter dem trocknenden Wind aber alsbald wieder in den schlichten erdfarbenen Träger steten Verfalls, als der sie dem normalen Betrachter in niederschlagsfreien Tagen und Zeiten üblicherweise immer erscheinen musste. Ich, der ich die Figur des Öfteren aber eben auch nass wahrgenommen habe, vermeinte manchmal sogar, neben dem Regenfarbenspiel, noch einen Hauch Zimbelgerassel zu hören! Aber vielleicht machten ja nur die Zwerge ihren gewöhnlichen Kobold-Radau. Jene von dunklen Geheimnissen umwitterten zipfelmützigen Trugwesen, von denen mir Großvater, als gebe er ein von ihm enthülltes Geheimnis preis, einmal ganz ernsthaft erzählt hatte, dass sie unter seinem Komposthaufen wohnen würden … Übrigens genau dort, wo er in die tiefen Eckenmulden „in schier endloser Plackerei“ einst viele mächtige Feldsteine übereinander geschichtet hatte; auf dass die rohen Holzpfosten der Kompostecke, welche er damals genau dort zu errichten gedachte, künftig erdgleich, aber eben auch trockenen Fußes stehen konnten! Mit diesem raffinierten Trick vermochte er dann wirklich nicht nur den Fäulnisbefall der Balken durch die aus dem Boden aufsteigende Nässe zu stoppen; was ja an und für sich schon eine tolle Geschichte gewesen wäre; nein, mein Großvater hatte, und das war für mich weitaus wesentlicher, damit zugleich auch tatsächlich einen Treppeneingang in die Welt der Koboldbergleute geschaffen!

Einmal, ich mag acht oder neun Jahre alt gewesen sein, erzählte er mir sehr ernsthaft von einer weiteren märchenhaften Begebenheit, die ihm neulich widerfahren sei, welche ich damals natürlich noch nicht verstanden habe und die ich dennoch nie vergessen konnte: „Die schwarze Hexe kommt immer erst nach dem Mittag. Dann ist sie vom Essen satt. Sie will nach Hause. Nickerchen machen. In ihrer Laube steht nämlich kein Sofa. Sie ist alt und arm. Und sie belauert mich schon lange! Nur wegen ihr trage ich diesen Fummel.“

Verächtlich zupfte er während dieser Worte an seiner ominösen Hose …

„Schleicht sich heran, meist vom Hauptweg da vorn, wie von ungefähr! Und wenn sie glaubt, ich sei schon eingeschlafen, richtet sie sich hinterm Zaun auf. Kerzengerade wird sie dabei! Und dann, mucksmäuschenstill, lauert sie … Halte ich die Augen aber offen, wieselt sie, als sei nichts, haltlos davon … Die müsste sich doch an allen zehn Fingern abklamüsern können, dass es völlig sinnlos ist …“ Er schüttelte den Kopf. „Ein wirklich lüsternes, altes Weib …“ Dann lachte er kurz auf. „Ich dachte, ich könne sie so verschrecken … Ha, hab ich wohl verkehrt gedacht! Die und ich – wir haben uns über die Zeit womöglich schon zu sehr aneinander gewöhnt … Mir graut direkt vor den Tagen, wenn es wieder kälter wird!“

Mag sein, es lag zuvörderst an jenem merkwürdig ernsten Tonfall, mit dem er diese Geschichte so abrupt endete, dass ich sie selbst nach so langer Zeit noch dermaßen wortgetreu zu erinnern vermag …

Großvater hatte über die Jahre die Marotte ausgebildet, die prächtigsten Früchte der unmittelbar zurückliegenden Ernte von Grüner Boskoop oder Jonathan nicht sofort zu essen oder sie von seiner Gertrud in Ringgläser einwecken zu lassen, sondern sie „für alle Fälle“ so lange als möglich, mindestens bis weit ins kommende Frühjahr hinein, oben auf seinem dreitürigen Schlafzimmerschrank auf ausgebreiteten Bogen von Zeitungspapier zu lagern. Das war für ihn eine Art Sport!

In der Spalte zwischen Schrank und Wand stand hinter dem Bügelbrett hochkant ein zweistufiger Klapptritt. Wöchentlich wenigstens einmal kontrollierte er fortan unter dessen Zuhilfenahme die Früchte gründlich auf Druckstellen. Er sortierte dabei sofort diejenigen erbarmungslos aus, auf deren Schale er auch nur die geringste Spur einer Unregelmäßigkeit oder gar eine Druckstelle ausmachen konnte.

„Was krank ist, muss weg. Wenn du das auch nur ein einziges Mal verpasst, ist rasend schnell alles andere gleich mit im Arsch. Da steckt eins ruck zuck das Nächste an. So fix kannst du gar nicht gucken!“

Besuchte ich ihn, bekam ich stets mein obligatorisches Exemplar geschenkt. Dabei drehte und wendete Großvater bei diesem Ritual, welches gewöhnlich an jedem x-beliebigen Sonntagvormittag der Nach-Ernte-Ära hätte aufgeführt werden können, die Äpfel behutsam und fast schon zärtlich zwischen seinen Fingern.

Der Schönste war, je länger das Jahr dabei bereits vorangeschritten war, dann selbstredend längst nicht mehr so knackig und saftig wie unmittelbar nach der Ernte. Er war sogar oft äußerlich, natürlich abhängig von der Sorte und den vergangenen Kalendertagen, schon entweder samten und pelzig weich oder, falls noch hartschalig glatt, hier und da, wenn erst auch nur ganz vereinzelt, schon rissig und rau geworden. Spätestens jedoch nach Weihnachten muffelten, so ist es mir noch heute aus der Erinnerung heraus ganz gewärtig, die Kerngehäuse aller mir bekannten Äpfel dieser Erde; und sie waren, wie ich beobachten konnte, und das gar nicht einmal so selten, häufig sogar schon mit einem Anflug von Schimmel versehen: quasi durch die Frucht hindurch langsam nach außen wuchernd!

Großvater war trotzdem davon überzeugt, dass seine Äpfel noch voller kostbarer Vitamine steckten, welche meiner Entwicklung guttaten.

„Eigene Ernte, riech doch mal. Und niemals schälen. Sonst ist die ganze Kraft sofort futsch!“

Um ihm zu gefallen, verputzte ich das Obst, besonders wenn Großmutter nicht in der Nähe war, gleich mitsamt seinem Gehäuse. Ich verschluckte dabei mannhaft den eventuell leise aufsteigendem Ekel gleich mit.

„Reinbeißen und runterschlucken!“ lautete seine Devise, die längst auch meine geworden war. Ich war ja schließlich kein Mädchen!

Großvater registrierte das mit Wohlgefallen. „Vollkommen richtig, mein Junge. Rohverzehr räumt den Magen auf!“

Sein zeitig verstorbener Schwiegervater, den ich nicht mehr kennengelernt habe und von dem mir Opa Paul später manchmal erzählt hat, war der alte Kronberg gewesen. Ein, Großvaters Reden nach, sehr respektabler Mann! Mit Rothe, Hendel, Marschall, Kietz, Meisel, Kühn, Haupt, Hahn, Amme und Max Richter verdiente er schon seit einigen Jahren bei der Firma Pittler in Wahren von Montag bis Sonnabend als Dreher seine Groschen. Er hatte dort bereits 1894, noch als ganz junger Kerl, bei seinem Chef begonnen. Der war zu diesem Zeitpunkt selbst auch gerade erst so um die Mitte dreißig.

Kurz vor diesem Jahr also, in dem sein Schwiegervater in dem neugegründeten Betrieb seine Arbeit aufnahm, hatte der ursprünglich aus Ostpreußen stammende junge Industrielle und Erfinder Julius Wilhelm von Pittler seine neue Universalmaschine zur Metallbearbeitung, inbegriffen diverser Möglichkeiten der Anwendung, und die tatsächlich erste Revolverkopf-Maschine der Welt, welche er auch selbst entworfen hatte, auf den Markt gebracht! Die damals gerade aufkommende Fahrradindustrie, allen voran Ernst Sachs, der in Schweinfurt eine Drahteselfabrik führte, zeigte sofort großes Interesse an dieser Innovation. In kurzer Folge konstruierte Wilhelm Pittler nun auch einen schwingenden Doppelsupport zur Herstellung von Fahrradnaben, eine Naben-Drehbank, und entwarf bis ins Jahr 1900 hinein noch zahlreiche weitere Sondermaschinen. Er lieferte sage und schreibe über hundert Maschinen für Sachs ins unterfränkische Schweinfurt! Der Fahrradbau war der erste Industriezweig, in dem die Maschinen des ursprünglich gelernten Gärtners ihre hohe Eignung für den Austauschbau beweisen konnten. Das garantierte dem immer noch sehr jungen Fabrikbesitzer wirklich traumhafte Gewinne und legte somit den kräftigen und nachhaltigen Grundstock für sein expandierendes und bald darauf auch international sehr erfolgreich agierendes Unternehmen. Großvaters Schwiegervater hingegen sicherte es für sein gesamtes Berufsleben zumindest einen höchst stabilen und soliden Arbeitsplatz!

Eine später nur allzu gern kolportierte Erfolgsgeschichte der Gründerjahre, welche eben nicht nur ausschließlich für den jungen Wilhelm von Pittler zu seinem eigenen Vorteil war, sondern die tatsächlich allen daran Beteiligten zu Nutz und Frommen gereichte! Vorerst jedenfalls fanden selbst notorische Skeptiker und die durch die katholische Soziallehre oder die Gewerkschaften der Arbeiterbewegung inspirierte Gilde der Kapitalismuskritiker einfach kein Haar in der Suppe!

Großvaters späterer Schwiegervater entwickelte sich also im Fahrwasser seines Brötchengebers rasch zu einem selbstbewussten und reihum respektierten Mann: intelligent, zuverlässig, stets lernbegierig, allem Neuen gegenüber grundsätzlich interessiert und wirklich ehrlichen und offenen Herzens aufgeschlossen. Kurz: Er wurde zu jenem selbst außerhalb der Fabrik außerordentlich geschätzten Fachmann Kronberg. Und so war es letztlich folgerichtig und verwunderte deshalb auch niemanden besonders, dass er dann sofort und vom Fleck weg von seinen Kollegen zum Schriftführer des Vereins berufen wurde, den die Arbeiter damals gerade gemeinsam begründeten. Die Anzahl derer, denen man in wichtigen Fragen Vertrauen zu schenken bereit ist, schwindet mit den Jahren ja eher. Aber Kronberg galt nicht nur als verlässlicher und gerechter Mann, er war, so sagte Großvater oft: „Ein richtig vigilanter Hund!“

Da ihm auch das Schriftliche lag, war er nun sogar zum Meister in der Produktion avanciert. Er verfügte über eine gestochen scharfe Handschrift und sofort, unmittelbar nach ihrer offiziellen deutschlandweiten Einführung, beherrschte er quasi vom ersten Tag an selbst das neumodische Sütterlin. Letztlich hat der Vater der zweiten Frau meines Großvaters, welche ja nicht meine leibliche, dafür aber meine eigentliche Lebens-Oma war, also eigentlich meines Großvaters zweiter Schwiegervater (von dem seiner ersten Frau sprach er übrigens sogar noch seltener als von ihr, demzufolge quasi nie!), den für mich untrennbar mit meinem Opa Paul verbundenen Garten angelegt! Allein dafür gebührte ihm unserer Familie Dank!

Dieser bewunderte zweite Schwiegervater meines Großvaters gehörte mithin zu jenen legendären vierundzwanzig Beherzten, welche sich im Herbst des Jahres 1901 nach etlichen Treffen, und zahllosen sich oft noch unmittelbar daran anschließenden stundenlangen Besprechungen, schließlich und endlich zusammengerauft hatten. Sie bekamen von ihrem Chef ja Tag um Tag vorgelebt, wie weit man es als gelernter Gärtner, als solcher hatte der Fabrikbesitzer von Großvaters Schwiegervater als junger Mann ursprünglich einmal tatsächlich seine Laufbahn begonnen, mit Fleiß, Beharrungsvermögen und etwas Glück bringen konnte! Die Zugehörigkeit zur erfolgreichen Pittler-Familie stärkte das Selbstbewusstsein jedes einzelnen Mitglieds der jungen Belegschaft wirklich gewaltig!

Viele der jungen Familienväter waren auch Anhänger dieser neu aufkommenden Schreber-Garten-Bewegung. Und etliche wurden nun sogar organisierte Mitglieder im Liebscher’schen Gartenverein. Zu jenem Zeitpunkt war dieser noch ein zwangloser Verbund von Naturfreunden an der Leutzscher Straße gewesen. Es gab keine geschriebene Satzung und somit auch keinerlei Sicherheit, was die Nutzung des von ihren Vätern und ihnen einst gemeinsam in zahllosen Arbeitsstunden mühsam kultivierten Bodens betraf.

Dieser war ihnen einst vor Jahren zwar per Handschlag von der Gemeinde auf Treu und Glauben überlassen worden, aber die Männer befürchteten nun, und das wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht, die verwaltungsmäßig genehmigte Auflösung dieses eben noch nicht amtlich verbrieften Zustandes, durch die dafür zuständigen Behörden der Stadt!

Im Viertel munkelte man nämlich, dass der von ihnen unter gemeinsamer Anstrengung einst hergerichtete Grund demnächst als Bau-Areal für ständig weiter expandierende Kapitalisten aufgeteilt werden sollte! Und wenn die Geldsäcke winken, da werden die Oberen gewöhnlich zu allen Zeiten schwach!

Die mitten ins Randgebiet der Stadt hineinwuchernden Industrieanlagen und Fabriken verlangten damals schon hemmungslos nach weiterem Bauland. Der neue Gott der Zeit hieß Wachstum und gierte nach: Mehr! Und mehr! Und noch mehr! Und als hätten sie nur auf die Verkündung seiner Botschaft gewartet, drängten in jenen Jahren tatsächlich immer mehr und noch mehr Menschen aus dem darbenden ländlichen Umland in die Ballungszentren der aufblühenden Städte. Es herrschte Gründerzeit! Kein Ende abzusehen! Tausende lechzten nach Arbeit. All die bislang Verdammten, Entrechteten und Zukurz-Gekommenen wollten zwischen den hoch aufschießenden Verheißungen aus Häusern und modernen Maschinen endlich ihr Glück versuchen! Wollten einmal wenigstens auch in ihrem eigenen einzigen Leben so richtig ankommen!

Die Fabriken marschierten unaufhaltsam. Die Richtung hieß: vorwärts. Sie fraßen sich dabei immer tiefer ins willige Fleisch der Stadt hinein. Sie schnurrten, rülpsten, schrien und patschten unersättlich nach frischem Futter. Gelbe und rote Ziegelschornsteine husteten pausenlos Qualm, Rauch und Brocken von Ruß aus. Gleise aus Stahl wurden auf teergetränkte Schwellen gezwungen und in knirschende Betten voller Schotter gerüttelt, gehämmert, gepresst. Manchmal zischten Eisenbahnen von hohen Brücken. Ihre Kessel explodierten dann mit lautem Knall und in furchtbarem Getöse. Männer starben. In den Hallen der Werke griffen regenbogenfarben angelassene Zahnräder klirrend und ratschend und immer rasender ineinander. Es war augenscheinlich und mit Händen zu greifen und lag überall in der Luft: Ein stürmisch wachsender Moloch jagte auf einem glitschigen Teppich aus Öl voran. Kein noch so mächtiges Geschirr aus ledernen Transmissionsriemen vermochte ihn zu bändigen. Er flutschte und kreischte und tobte. Und manchmal überschlug er sich. Tag ward Nacht und die Nacht wieder Tag. In zahllosen der neu eröffneten Kontore kratzten Stahlfedern glühende Berichte seiner mirakulösen Taten beflissen aufs Tinte saugende Papier. Und im monotonen Gleichklang zerschnitten dabei messinggelbe Dampfpfeifen grell gellend den Rhythmus der zwölf-Stunden-Schicht der Lohnproleten in drei deckungsgleiche Teile, als seien diese zwölf herkulischen Arbeitsstunden ein auf Ewigkeit von Gott gegebenes Gebot. Nur in den winzigen Pausen der Dazwischen-Zeiten sprachen die Männer, anfangs unterdes noch vereinzelt und leise, zunehmend aber immer öfter auch miteinander, über Sinn und Zweck ihres zukünftigen Vereins. So wurde er ihnen langsam vertrauter Anker und mauserte sich allmählich zum Halt gebenden Versprechen eines gar nicht mehr fernen Nachher. Oft huschte nun sogar ein Lächeln der Vorfreude über ihre Gesichter. Nicht zu wissen, wohin sie demnächst an ihren Feierabenden oder den Wochenenden gehen sollten, an welchen Orten ihre Kinder unter der städtischen Sonne großzuziehen seien, wo sich ihre Frauen unterhalten sollten – also keine Gartenarbeit mehr verrichten zu können, keine Betätigung in der freien Natur – das hätte ihren neu erwachten Stolz zutiefst verletzt! Das wäre auch gemessen an den herzeigbaren Ergebnissen, welche sie ja in gemeinsam erprobter Anstrengung beim Kultivieren der Gartenflächen und Beete für sich bereits schon einmal erfolgreich errungen hatten, eine erniedrigende, quälende und wirklich richtig schmachvolle Pein gewesen. Das durfte einfach nicht sein!

Beim Rat der Stadt wurden die Männer schließlich fündig. Dort war man klug genug, willens und bereit, ihnen, und das sogar für weitere zehn Jahre, Pachtland zur Verfügung zu stellen!

Am zweiten April des Folgejahres, und dementsprechend nur wenige Monate nach ihrer ersten vagen Zusammenkunft, vollzogen die vierundzwanzig Beherzten im Lindenauer Restaurant Zum Waldhof die Gründung des Gartenvereins Leipzig-West!

Die Stadt indessen konnte in Ruhe weiter wachsen und gedeihen. Eine für alle Seiten nutzlose und diese Entwicklung letztlich nur hemmende und behindernde Revolte der Empörten – der lohnabhängigen Arbeiter und einfachen Leute aus den Vorstädten –, welche durch den drohenden Verlust an schon einmal errungener Lebensqualität bei beharrlicher Sturheit der Entscheider möglicherweise gedroht hätte und durch Restrektion nur allzu leicht hätte befeuert werden können, war somit bereits im Keim ihres Entstehens erstickt. Die Lunte der Revolution war so schon gelöscht, bevor sie auch nur zu glimmen begonnen hatte!

Die klugen und vorausschauenden Vertreter städtischer Interessen besiegelten im Rat das Geschäft zum gegenseitigen Nutzen und Frommen dann auch sehr rasch durch breiten Mehrheitsbeschluss! Und da alles seine gute Ordnung haben sollte, verabschiedeten die in der Verwaltung erfolgreich vorstellig gewordenen jungen Männer des Gründungskomitees nur kurze Zeit nach der für sie so glücklichen Entscheidung sogleich auch noch eine vorläufig erst einmal nur mit Hand geschriebene Satzung, die jedes neu aufzunehmende Mitglied des zukünftigen Vereins von diesem Tage an eigenhändig zu unterzeichnen hatte!

Natürlich wurde diese Satzung dann bald auch gedruckt. An entsprechenden Handwerksbetrieben gab es in Leipzig wirklich keinen Mangel. Kurz und knapp hatten sie also unter der Federführung des zweiten Schwiegervaters meines Opas auf ein paar Seiten formuliert, was für sie wichtig und richtig war:

Paragraph 1

Der Garten-Verein führt den Namen: Garten-Verein „Leipzig-West“, eingetragener Verein; hat seinen Sitz in Leipzig-Lindenau und seinen Gerichtsstand vor dem Kgl. Amtsgericht zu Leipzig. Er beantragt die Eintragung in das Vereinsregister des Kgl. Amtsgerichts zu Leipzig.

Paragraph 2

Zweck des Vereins ist: Förderung der Gesundheit und des Familienlebens der Mitglieder des Vereins und ihrer Angehörigen. Die Mittel der Erreichung dieses Zweckes sind:

1. Pflege des Gartenbaus und Liebe zur Natur, Förderung eines gesunden Familienlebens sowie Jugend- und Gartenzeugnisse, soweit es die Umstände gestatten. Kindererziehung im Sinne Dr. Schreber’s und Hauschild’s.

2. Abhaltung von Kinderfesten und geselligen Zusammenkünften.

3. Wahrung der Garteninteressen seiner Mitglieder untereinander, sowie gegen dritte Personen.

4. Veranstaltungen von Ausstellungen selbst erbauter Gartenerzeugnisse, soweit es die Umstände gestatten.

Paragraph 3

Mitglied kann jede volljährige und unbescholtene Person, beiderlei Geschlechts, in der Garten-Anlage werden. Ehefrauen bedürfen der Genehmigung des Ehemannes. Die Anmeldung zum Beitritt hat schriftlich bei einem Vorstandsmitglied zu erfolgen. Über die Aufnahme entscheidet der Gesamtvorstand durch Stimmenmehrheit (in geheimer Wahl). Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los. Gründe etwaiger Ablehnung dem Angemeldeten mitzuteilen, ist der Vorstand nicht verpflichtet. Die Mitgliedschaft beginnt nach Aufnahme vom Vorstand, sowie durch des Mitgliedes eigenhändige Eintragung in das Aufnahmeregister, Empfangnahme der Statuten und des Beitragbuches, wobei ein Eintrittsgeld von 5 Mk. zu entrichten ist. Dasselbe ist auch bei Besitz- oder Gartenwechsel zu entrichten. Als aktive Mitglieder gelten nur Inhaber eines Gartens.

Passive Mitglieder zahlen ein Eintrittsgeld von 10 Pfg., sowie 10 Pfg. monatlichen Beitrag.

Großvater sprach immer nur voller Respekt und Hochachtung von jenen Gründungsvätern des Vereins: „Da gibt es nichts zu meckern und zu tadeln!“ Speziell meinte er damit natürlich seinen Schwiegervater, den Fachmann Kronberg, dem er, bei Lichte besehen, sein erfülltes Altersglück zu einem großen Teil natürlich zu verdanken hatte! Und in all den vielen Jahren im Reigen der aufeinanderfolgenden Gartensaisons, die Opa Paul ab dem Zeitpunkt seiner zweiten Verheiratung nun noch vor sich hatte und von denen zum Glück kein Mensch wissen konnte, wie viele es letztendlich noch sein würden, nächtigte er nun so häufig und so selbstverständlich, wie das Frühjahr auf den Winter folgt und der Sommer vor dem Herbst liegt, immer wieder unten in seiner über alles geliebten Laube! Und immer einmal wieder pries er zu gegebenem Anlass die Weitsicht der Vorderen: „Die waren helle im Kopp. Das waren gute Leute!“

Ausnahmslos jeden Sonnabend, den er im Garten verbrachte, ging er dabei fortan an den vorstädtischen Mietshäusern vorbei zur Hauptstraße hoch, wo im Tabakladen hinten (in der Ecke mit Stehpult und der dortigen daneben auf einem Tischchen stehenden separat platzierter Kurbel-Kasse – samt all ihren blank gewienerten gelben Messingbeschlägen und ihrem hellen Kling-Klang-Ton beim Aufspringen der Geldfächer zum Verkaufsabschluss) nebenher auch die Annahmestelle für Lottoscheine betrieben wurde. Dafür gab es dann selbstredend eine weitere Kasse, die in der äußeren Anmutung aber deutlich schlichter gehalten war.

Die Verkäuferin war für beide Bereiche gleichermaßen zuständig. So konnte es schon Mal passieren, dass sich zu Stoßzeiten, also am Wochenende oder bei einer der angekündigten Sonderziehungen, mit den vom Kalender diktierten österlichen oder weihnachtlichen Gewinnversprechen, Kundschaft im Geschäft staute. Das bot dann allerdings auch immer Gelegenheit für einen lockeren Schwatz über dies und das: Der Gesprächsfaden konnte sich in der Nachbarschaft verfitzen oder sich darin verheddern, was die Ochsen da oben in Berlin wieder angerichtet hatten. Das konnte den Milchmann Sterzing um die Ecke unten umschlingen, welcher nicht mehr nur lose Milch aus der Kanne verkauft, sondern neuerdings neumodische Flaschenware anbietet – sogar Viertelliter mit Kakao- oder Erdbeermilch – oder sich am Fräulein Gisela aus der Eck-HO verknäulen. Da war von den neuen Buttermarken, die eventuell schon wieder eingeführt werden sollen: „Weil es im Lande in Wirklichkeit doch hinten und vorne nicht reicht!“ die Rede. Und, dass die Gehwegplatten endlich vernünftig abgesenkt werden müssten: „Weil man bei dem Gefälle, und das nicht nur im Winter bei Schnee und Eis, ganz fürchterlich auf die Fressen fallen kann!“

Das von manchen so bezeichnete Gefälle der Prießnitzstraße ist, selbst bei hellem Lichte besehen, kaum zu erkennen und eigentlich auch nur lachhaft! Aber in Leipzig, welches bekanntermaßen total flach auf dem Schüsselboden der mitteldeutschen Tieflandsbucht liegt, wird eben manchmal schon aus einer Warze ein Berg!

Großvaters unverfängliche Redewendung, mit der er seinen geliebten wöchentlichen Ausflug ins Abenteuer des städtischen Leben jedes Mal eröffnete, lautete ganz lapidar: „Ich geh zur Gundorfer hoch, meine Tipps machen!“

Die Straße war gleich nach dem zweiten Großkrieg nach dem von den Nazis noch kurz vor Ultimo ihres Dritten Reiches ermordeten Metallarbeiter Georg Schwarz benannt worden. Der aktive Widerstandskämpfer – ehemals Gewerkschafter und Sozialdemokrat, dann: Wer-hat-uns-verraten-Kommunist – hatte auf ihr viele Jahre in der nach wie vor emaillebeschilderten Hausnummer 24 gewohnt. Er war den außer Rand und Band geratenen braunen Verbrechern schließlich doch noch in die Hände gefallenen. In den Jahren des Tausendjährigen Reiches hatte man die Straße einst Albert Leo Schlageter geweiht. Dieser katholische Student und Freikorpssoldat wurde in jener zwölfjährigen Epoche zu einer mit strahlender Glorie umgebenen Märtyrerfigur der deutschen Rechten hochstilisiert. Er war in ihren Augen fortan der erste Soldat im braunen Hemd. Der Träger des EK I im Ersten Weltkrieg war von einem französischen Militärgericht im Jahre 1923 als aktiver Widerstandskämpfer gegen die französischen Besatzungsmacht an der Ruhr wegen Spionage und mehrerer Sprengstoffanschläge zum Tode verurteilt und letztlich auch hingerichtet worden.

Großvater nahm das alles zur Kenntnis. Für ihn änderte solch ein Geschehen in seinem persönlichen Alltag nichts. Unbeeindruckt von tagesaktueller oder politisch motivierter Konjunktur und deren penetranten Schwester, der unausweichlich aufdringlich werdenden Propaganda, benutzte er zeitlebens stets nur den Namen, der ihm seit seiner Jugend geläufig war und den er – „Tut mir leid, der ganze Käse kann mir gestohlen bleiben!“ – gelernt hatte: Gundorfer Straße.

Seit der von Staats wegen genehmigten Einführung des Lotteriewesens nach dem heißen Juni des Jahres 1953, wuchs sich im Bewusstsein meines Großvater Paul im ersten Drittel des laufenden sechsten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts fortan dieses Spiel ums Glück zu der „wirklich reellen Chance für den kleinen Mann“ aus. Daran glaubte er fest. Zeitlebens träumte er von einem Hauptgewinn. Lotto mauserte sich für Großvater rasch zur gesetzten Wochenpflicht.

„Wer nichts wagt, der nichts gewinnt! Aber niemals die gleichen Zahlen, mein Junge. Stell dir doch bloß vor, es kommt, weiß der Kuckuck, irgendwas dazwischen. Und genau an diesem Tag, da hast du dann den Schein nicht gemacht. Entsetzlich. Da wirst du doch irre! Nur: Systeme, mein Junge, und das ganze Gezocke damit, das kannst du getrost vergessen! Systeme und die ganze Scheiß-Politik, mein Junge – das hat noch nie funktioniert! Gibt viel zu viele Möglichkeiten. Das ist nur Betrug am Menschen. Das kannst du mir glauben. Weder im Großen, noch im Kleinen! Wenn du reif bist für das Glück, dann bist du es auch! Und wenn nicht, dann eben nicht. Da dreht wer ganz anderes dran. Da sind wir viel zu kleine Lichter. Das Glück, mein Junge, – das Glück ist ein scheues Reh! Das lässt sich nicht zwingen!“

Nur der Vollständigkeit halber: Von einer etwaigen relevanten Gewinnausschüttung schweigt die mir zu Ohren gelangte Familienerinnerung komplett.