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Eike Geisel

Die Wiedergutwerdung der Deutschen

Essays & Polemiken

Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von

Klaus Bittermann

FUEGO

– Über dieses Buch –

»Some of my best friends are German«, machte sich Eike Geisel gerne über das antisemitische Stereotyp lustig, demzufolge einige Juden zu den besten Freunden zählen. Eike Geisel war aber nicht nur ein unnachgiebiger Kritiker des deutsch-jüdischen Verbrüderungskitsches und der Entsorgung deutscher Vergangenheit, sondern machte als Historiker mit seinen Arbeiten u.a. über den jüdischen Kulturbund und das Berliner Scheunenviertel aufmerksam.

Dieser Band versammelt Geisels große essayistische Arbeiten wie über den Antisemitismus des »anderen Deutschland« und den Mythos vom Widerstand des 20. Juli.

 

 

»Die Deutschen haben sich nie als Bürger dieser Welt, sondern immer als Verdammte dieser Erde gesehen. Auch die Wiedervereinigung hat daran nichts geändert. Gab es vor dem Fall der Mauer 60 Millionen Opfer, so hat sich deren Zahl nun um 17 Millionen Insassen einer Einrichtung erhöht, die nicht nur der Kanzler schon vor 1989 als Konzentrationslager bezeichnet hatte.«

Eike Geisel

Some of my best friends are German

 

Vorwort

 

Der 1997 verstorbene Historiker und Journalist Eike Geisel gehörte zusammen mit Wolfgang Pohrt, Henryk M. Broder, Lothar Baier und Christian Schultz-Gerstein einer Generation von Kritikern an, die sich seit den siebziger Jahren radikal, scharfsinnig und originell mit dem ideologischen, politischen und kulturellen Zeitgeist auseinandersetzten, ohne einer institutionalisierten Opposi­tion oder Gruppe anzugehören. Als Achtundsechziger hatte Geisel sein Denken wie viele andere an Adorno und Horkheimer geschult, im Unterschied zu vielen anderen aber auch an Hannah Arendts »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« und an ihrem Eichmann-Buch. In einer Zeit, als die Literatur über den Nationalsozialismus noch sehr spärlich war, beschäftigte er sich u.a. mit H.G. Adlers Theresienstadt-Studie, las Eugen Kogons Standardwerk »Der SS-Staat« und Jean Améry, dessen rhetorische Vortragskunst er bewunderte.

Er promovierte über »Marx und die nationale Frage«, arbeitete zwischen 1973 und 1975 am Otto-Suhr-Institut, bevor er anschließend (von 1975 bis 1981) zusammen mit Wolfgang Pohrt als Dozent an der Pädagogischen Hochschule in Lüneburg lehrte (eine zeitlich befristete Anstellung, was sich im nachhinein als Glücksfall herausstellte), wo er u.a. Seminare über die Aktualität des Faschismus und über Marx abhielt. Damals lernte er die kommunistische Jüdin, Partisanenkämpferin und KZ-Über­lebende Hanna Lévy-Hass kennen und überredete sie, ihre Tagebücher »Vielleicht war das alles erst der Anfang« im Rotbuch Verlag (1979) zu veröffentlichen, denen ein langes Gespräch mit der Autorin beigefügt war.

1981 erschien das von ihm herausgegebene Buch »Im Scheunenviertel«, ein Bildband mit einem großen Essay, Fotos, zeitgenössischen Texten und Dokumenten über die während der Kriegs- und Revolutionswirren nach Berlin geflüchteten Ostjuden, ein Buch, das zahlreiche Auflagen erlebte. Weil die DDR in den 35 Jahren nach Kriegsende wenig getan hatte, um diese verrufene Gegend zu sanieren (was dem Westen innerhalb weniger Jahre dann vollständig gelang), verwiesen alte Schriftzüge an der Wand, Einschusslöcher und Elendsbehausungen noch rudimentär auf das jüdische Leben, das da einmal auf engstem Raum stattgefunden hatte.

Zu dieser Zeit lernte er Henryk Broder kennen, der sich schon seit den siebziger Jahren mit dem Antisemitismus in der Linken auseinandersetzte und mit linker Prominenz und Zeitschriften wie Emma und Konkret im Clinch lag, u.a. deshalb, weil Ingrid Strobl Israel das Existenzrecht absprach und Alice Schwarzer einer Redakteurin Kontaktverbot zum »militanten Juden« Broder erteilte. Immerhin ein Vorfall, der zur Planung einer kleinen Anthologie über das Verhältnis der Linken zum Antisemitismus führte, die dann allerdings nicht zustande kam.

Mit Broder verband Geisel eine enge Freundschaft. Gemeinsam suchten sie in den USA und Israel Überlebende des Jüdischen Kulturbunds auf, sammelten Dokumente und drehten den Film »Es waren wirklich Sternstunden«, der 1988 ausgestrahlt wurde. Geisel erstellte das Konzept für eine dann 1992 an der Akademie der Künste gezeigten großen Ausstellung mit einem umfangreichen Katalog (»Geschlossene Vorstellung«). Zudem erschien im gleichen Jahr ein Buch von ihm und Broder zu diesem Thema mit dem Titel »Premiere und Pogrom«.

Broder beteiligte sich da allerdings nur noch sporadisch an der historischen Forschung, denn mit der am 2. August 1990 beginnenden Annektierung Kuweits durch Saddam Hussein und der Intervention der USA und ihrer Verbündeten am 16. Januar 1991 begann in Deutschland eine heftig geführte Debatte, in die beide leidenschaftlich in­volviert waren. In der Text­sammlung »Liebesgrüße aus Bagdad. Die ›edlen Seelen‹ der Friedensbewegung und der Krieg am Golf« spotteten sie über die wieder von den Toten auferstandenen Pazifis­ten, die weiße Laken als Zeichen der Kapitulation aus dem Fenster hängten, und polemisierten gegen Leute wie Rudolf Augstein, Alice Schwarzer und Christian Ströbele, die dem vom Irak durch Raketenbeschuss bedrohten Israel eine gewisse Mitschuld am Krieg gaben. Sie mieteten eine große elektronische Werbetafel an der Ecke Joachimsthalerstraße und Kurfürstendamm gegenüber vom Café Kranzler, auf der dann zu lesen war: »An die deutsche Friedensbewegung: Vielen Dank für die moralische Nachrüstung. Ihr Saddam Hussein.«

Danach setzte die Debatte um die Stasi ein, die für Broder allerdings eine andere Bedeutung hatte als für Geisel. Er sah in der kollabierten DDR nicht so sehr den mit dem Nationalsozialismus vergleichbaren Unrechtsstaat, sondern eine kommode und lächerliche Diktatur, mit der sich die Bevölkerung arrangiert hatte, bis die Verlockungen des Westens in Form von Beate Uhse und Bananen und weniger von Freiheit sie überlaufen ließen. In der öffentlichen Diskussion über die Stasi erkannte er das Bedürfnis der Deutschen, die nicht stattgefundene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nach 1945 nachzuholen, um sich ein gutes Gewissen zu machen. Die Outings von ehemaligen Stasimitarbeitern fand er nicht weniger erbärmlich als die »Schwerter-zu-Pflugscharen«-Pazifisten, die sich als Fundamentalopposition stilisierten, lächerlich. Empörend fand er die Jagd auf Ausländer im Osten, die schließlich im Pogrom in Lichtenhagen kulminierte, und über die Rechtsradikalen, die es zusammen mit dem Mob phasenweise schafften, »national befreite Zonen« einzurichten, in die sich keine Bürger anderer Staaten mehr trauten. Als er 1992 zu einem Vortrag in die Vereinigten Staaten reiste, schrieb er mir: »Es wird höchste Zeit, dass ich abhaue, ehe alle Brüder und Schwestern aus der Zone kommen. Die Wiedervereinigung sehe ich mir gerne aus 6.000 km Entfernung an.«

 

Der 1945 geborene Eike Geisel passte nicht in das Bild, das sich die Öffentlichkeit von den Achtundsechzigern machte, die zu Beginn der Neunziger angeblich überall in der Gesellschaft den Ton angaben. Eike Geisel hatte sich nicht auf den langen Marsch durch die Institutionen begeben, um eine Beamtenstelle mit Pensionsanspruch zu ergattern. Zwar hatte er gegen eine solche nichts einzuwenden, aber er besaß weder die Geduld noch die Zähigkeit, eine Karriere einzuschlagen, bei welcher der Erfolg durch Verbitterung erkauft wird. dass es andere taten, warf er ihnen nicht vor, er mochte sich bloß nicht damit abfinden, dass mit der Karriere der ehemaligen Genossen in der Bundesrepublik der freiwillige Verzicht auf Kritik an ihr einherging. Aus erklärter Feindschaft gegen den Staat wurde die Sorge um sein Ansehen in der Welt, mit dem Effekt, dass die Umstürzler von einst sich zum Objekt ihrer Fixierung nunmehr wie Kosmetikberater verhielten. Sie traten den Beweis für die These an, dass das Einverständnis mit dieser Gesellschaft nur um den Preis der eigenen vorzeitigen Verblödung möglich ist.

Die Intellektuellen verhielten sich schon vor der Wiedervereinigung als ihrem nationalen Erweckungserlebnis so, als wollten sie beweisen, dass Adorno dreißig Jahre nach seinem Befund noch aktuell war: »Der Glaube an die Nation«, hatte Adorno 1960 geschrieben, »ist mehr als jedes andere pathische Vorurteil die Meinung als Verhängnis; die Hypostasis dessen, wozu man nun einmal gehört, wo man nun einmal steht, als des Guten und Überlegenen schlechthin. Er bläht die abscheuliche Notstandsweisheit, dass wir alle im gleichen Boot sitzen, zur moralischen Maxime auf. Gesundes Nationalgefühl vom pathischen Nationalismus zu scheiden, ist so ideologisch wie der Glaube an die normale Meinung gegenüber der pathogenen; unaufhaltsam ist die Dynamik des angeblich gesunden Nationalgefühls zum überwertigen, weil die Unwahrheit in der Identifikation der Person mit dem irrationalen Zusammenhang von Natur und Gesellschaft wurzelt, in dem die Person zufällig sich findet.«

Zwar ließ sich gegen die Rauner des Nationalen und der Wiedervereinigung mit Polemik wenig ausrichten, aber es bereitete Eike Geisel dennoch großes Vergnügen, die als »Identitätssuche« ver­edelte Anbiederei bloßzustellen, um zu demonstrieren, wie überaus eifrig die Intellektuellen ihren eigenen Bankrott bewerkstelligten. Vor allem, wenn ihre unheilbare Liebe für den Befreiungskampf des palästinensischen und irakischen Volkes entflammte und sie sich als Nationa­lis­­ten und Antisemiten entpuppten, befanden sie sich in einer Tradition, die ihrer Überzeugung nach schon lange vorüber war, derzufolge die Vergangenheit verarbeitet sei und die Deutschen aufgeklärt und liberal wie nie. Die Deutschen aber zeigten sich »resistent gegen jede Aufklärung über die eigene Vergangenheit«.

In den achtziger Jahren fing dann das Geschäft mit der Erinnerung zu boomen an, eine »unspezifische Erinnerungswut« (Clemens Nachtmann) setzte ein, aber die hatte nur wenig mit Einsicht zu tun. »Verordnete Aufklärung«, schrieb Eike Geisel, »ist so unsinnig wie die komplementäre Bereitschaft, an ihr wie durch massenhafte Verabredung organisiert teilzuhaben. Dass die Deutschen mit der nämlichen Betriebsamkeit, die sie einst beim Vernichten und dann beim Vergessen an den Tag gelegt hatten, sich nun an die eigene Vergangenheit machten, diesem Umstand haftet etwas Groteskes an. Erst in der beflissenen Erfassung der Nazizeit kommt Horkheimers Verdikt, er kenne kein verhärteteres Kollektiv in der ganzen Welt, zu seiner vollen Wahrheit. Gemünzt auf die geschäftige Verdrängung der Verbrechen, erfährt jenes Urteil gerade durch die treibende Kraft der deutschen Rückschau eine paradoxe Bestätigung. Denn in der eifrigen Materialsammlung und der sie begleitenden gefühligen Anschauung wurde aus der Besinnung auf den Nationalsozialismus eine neue Besinnlichkeit und der Verstand wurde vom Verständnis abgelöst [...] Gerade die offenherzige Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ging reibungslos konform mit wachsendem Ausländerhass und parteiübergreifendem Patriotismus, wohingegen wahrhafte Aus­einandersetzung mit der Vergangenheit einzig darin bestünde, den notorischen Zusammenhang zu kündigen.«

Mit dem Boom der Erinnerungskultur und den sich häufenden Jubiläen von Ereignissen, die Meilensteine auf dem Weg zur Vernichtung der Juden und mit deren Erforschung zahllose Wissenschaftler beschäftigt waren, wurde ein lukrativer Erwerbszweig hervorgerufen: das »Shoabusiness«. Eike Geisel stellte seine Beteiligung an diesem Geschäft, welcher man auch in aufklärender Absicht nicht entgeht, nie in Abrede, zeigte sich vielmehr amüsiert darüber. In einer Notiz vom 14. April 1988 schrieb er mir, ob ich nicht Lust hätte, etwas über Broder und ihn zu schreiben unter der Überschrift: »Die neue deutsch-jüdische Symbiose. Zwei Vernichtungsgewinnler.« Trotz dieses nicht sehr ernst gemeinten Vorschlags: Aus Deutschen wurden Experten, und die Experten meldeten eine Art Copyright auf die »Shoa« an – »Auschwitz bleibt deutsch« –, während andere Experten wiederum jedes kleinere Massaker schon mit der nationalsozialistischen Vernichtungs­politik gleichsetzten.

Eike Geisels Kritik am deutsch-jüdischen Verständigungskitsch einerseits, der auf Tagungen evangelischer Akademien zelebriert wurde, und andererseits an der weitverbreiteten Auffassung, dass Auschwitz eigentlich eine »Besserungsanstalt« gewesen sei, aus der die Juden geläutert hätten hervorgehen müssen, was leider nicht der Fall war, weshalb die Deutschen glaubten, die Juden ihrer besonderen Fürsorge unterziehen zu müssen, Eike Geisels Kritik an diesen Haltungen hatte einen Ausgangspunkt. Und dieser bestand in seinem immerwährenden Umkreisen und Hinweisen auf das, was die Nazis den Juden angetan hatten, die durch die willkürliche Entrechtung und Erniedrigung in einen Zustand gebracht wurden, in dem sie bereits verwaltungstechnisch ausgelöscht waren, bevor sie dann in den Lagern auch physisch aus dem Leben geschafft wurden.

»Die vollendete Sinnlosigkeit« der Lager schließlich, wie Eike Geisel einmal eine Studie Hannah Arendts über die deutschen Konzentra­tionslager übersetzte, war eine weitere Besonderheit, die für Eike Geisel Voraussetzung war, um das nationalsozialistische System zu begreifen, die Überzeugung der Nazis, »es sei wichtiger, die Vernichtungsfabriken in Betrieb zu halten als den Krieg zu gewinnen« (Hannah Arendt). Dass dafür bis auf Ausnahmen keine Menschen vonnöten waren mit einem besonders ausgeprägtem Hang zum Sadismus, damit setzte er sich in seinem Film über Eichmann mit dem Titel »Erbschaft eines Angestellten« von 1990 auseinander, der sich in typisch deutscher Tradition auf den Befehlsnotstand berief, der ihn unter anderen Vorzeichen und in der Nachkriegszeit auch zu einem ausgezeichneten und leidenschaftlichen »Judenpfleger« gemacht hätte, wenn es von ihm verlangt worden wäre. Unabhängig davon, dass es sich bei Eichmanns Prozessaussagen um Schutzbehauptungen handelte und er in Wirklichkeit ein überzeugter, ja fanatischer Antisemit war, hätte er unter bundesrepublikanischen Bedingungen eine gegenteilige Bestimmung gefunden, und diese charakterliche Eigenschaft war es, die Eike Geisel in der deutschen Geschichte nach­wirken sah.

Für die Vernichtung der Juden waren also lediglich eine funktionierende Bürokratie und ganz normale Menschen aus ganz normalen Familien nötig, die vielleicht die Auswüchse nicht gut hießen, aber dennoch bereit waren, ihren Teil an der Vernichtung der Juden beizutragen, und das war ebenfalls eine wesentliche Prämisse, die das Denken Eike Geisels prägte und die wichtig war in der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, wie sie in Politik und Gesellschaft bis in die heutige Zeit hinein geführt wird und die Eike Geisel in der Regel als Versuch wertete, die Opfer mit haftbar zu machen für das, was ihnen angetan wurde. Insofern stand er jedem Versuch der Versöhnung skeptisch gegenüber, denn es war »etwas passiert, womit wir alle nicht mehr fertig werden«, wie Hannah Arendt einmal gesagt hat, etwas, das »nicht hätte geschehen dürfen«, weil sich ein Abgrund geöffnet hatte, der sich der Logik des Denkens entzog.

Trotz Bezugnahme auf das tagespolitische Geschehen wirken Eike Geisels immer auch als Invektiven ebenso wie als Interventionen gemeinten Artikel nie antiquiert. Davor bewahrt sie der sarkastische, manchmal auch ironische Ton, der schon Hannah Arendt in der Eichmann-Debatte vorgeworfen wurde. Ein Ton, der jedenfalls nie weihevoll, selbstgefällig oder bemüht wirkte. Ein Ton, der dazu führte, dass sich Rezensenten seiner Bücher nie besonders wohl fühlten. Empfindet ein Journalist im Neuen Deutschland die »Bösartigkeit des Autors« noch als »wohl­tuend«, fragt er sich vier Zeilen später, »wie weit Kritik an der israelischen Politik gehen darf, ohne dass er [Eike Geisel] sie als antisemitisch bewertet?« In diesem Punkt war die Presse sehr sensibel. Selbstverständlich war niemand in der aufgeklärten Linken antisemitisch, und wenn dennoch der Vorwurf erhoben wurde, konnte man sicher sein, dass man folgende Begründung zu hören bekam, derzufolge man gar kein Antisemit sein könne: »Einige meiner besten Freunde sind Juden«. Eike Geisel machte sich über dieses jeglicher Logik entbehrende Argument gerne mit dem Bonmot lustig: »Some of my best friends are German«.

Ausgewogene Artikel zu schreiben oder betuliche Vorträge zu halten, wäre Eike Geisel sinnlos erschienen, denn er wollte nicht das Für und Wider abwägen, sondern Reaktionen provozieren in dem Wissen, dass sich im Streit nachhaltiger Erkenntnisse gewinnen lassen und Differenzen klarer werden als in lauer Zustimmung. Seinen Aufsätzen wurde in der Regel »Kälte« und eine »bemerkenswerte Herzlosigkeit« attestiert. Die gleichen Vorwürfe hatte man auch Hannah Arendt gemacht.

Als er am 20. Februar 1991 von der Aktion Sühnezeichen/Frie­densdienste Hamburg, dem Deutsch-Israeli­schen Arbeits­kreis, der GAL, der Solidarischen Kirche und Konkret eingeladen wurde, an einer Diskussion zum Verhältnis der deutschen Friedensbewegung und Israel teilzunehmen, rief sein »unausgewogener, unfairer Beitrag« (wie er ihn selbst ankündigte) erhebliche Unruhe hervor. Eike Geisel sagte, dass Saddam Hussein zumindest in Deutschland »ein Kriegsziel bereits erreicht hatte. Der Karneval war ausgefallen, und ersatzweise bevölkerten lauter gutgesinnte Menschen die Straßen«. Er wurde als »Kaffeehaus-Zionist« beschimpft, ein Vorwurf, den er mit »Du hast leider nicht die Möglichkeit, den damit verbundenen Gedanken in die Tat umzusetzen. Das ist vorbei« konterte.

Als Konkret in der Ausgabe 8/93 einen umstrittenen Vortrag von Christoph Türcke, den dieser auf dem Konkret-Kongress am 12. Juni gehalten hatte, veröffentlichte, um, wie Konkret schrieb, »eine Versachlichung der andauernden Debatte zu ermöglichen«, da kommentierte Wolfgang Pohrt: »Mir ist der Unterschied zwischen Bewohnern verschiedener Erdteile herzlich egal. Wichtig ist mir, mich von einem wie Türcke zu unterscheiden. So wie der mag ich nicht sein. Und wenn er in konkret publiziert, tue ich es nicht.«

Und auch Eike Geisel, der gerade wieder aus den USA zurückkam, kündigte seine Mitarbeit bei Konkret auf: »Irgendwo bei Adorno steht, dass ein Grenzübertritt nach Deutschland so etwas wie der Wiedereintritt in die Barbarei sei. dass mich neulich bei der Rückkehr aus dem Ausland ein derartiges Gefühl beschlich, lag nicht daran, dass neue Nazis gerade eine Parade in Hessen abhielten, sondern daran, dass alte Linke publizistisch nach Fulda hinübergrüßten mit der Frage: ›Gibt es ein biologisches Substrat, das es gestattet, Menschenrassen in nichtdiskriminierender Absicht zu unterscheiden?‹ [Christoph Türcke] Noch vor Jahresfrist woll­te man den Rechten nicht die Nation überlassen; jetzt ist man bei dem Wettstreit folgerichtig bei der Rasse angelangt. Der Skandal ist nicht Türckes Text, der in die ›Junge Freiheit‹ oder in den ›Spiegel‹ gehört; skandalös ist der Gestus, mit dem ›konkret‹ ihn als ›Türcke-Kontro­verse‹ abdruckt. Skandalös vor allem aber ist Gremlizas Kommentar, der sich zu Türckes Melange aus Adorno und Gobineau, einer nun wirklich postmodernen Zuchtwahl, verhält wie der Sozialarbeiter zu den rassistischen Brandstiftern: wenig Verstand, viel Verständnis. Bei die­ser Suche nach einer neuen Nürnberger Gesetzlichkeit möchte ich nicht mehr zu den Autoren von ›konkret‹ zählen.« Erst über ein Jahr später erschien wieder ein Artikel von Geisel in Konkret.

Die Redakteure, die er belieferte, waren von der »begnadeten Niedertracht seines gewitzten Stils« beeindruckt. Nur drucken wollte man sie in der bürgerlichen, aber auch linken Presse wie der taz in der Regel dann doch lieber nicht. Die bürgerlichen Medien wollten sich keinen Ärger einhandeln, Redakteure der taz bekamen »Bauchschmerzen« von seinen Artikeln. In Israel hingegen, wo einige Arbeiten Eike Geisels in der Tageszeitung Haaretz veröffentlicht wurden, gab es damals zwar nicht unbedingt eine bessere öffentliche Meinung, aber die Angst vor ihr und möglichen Abokündigungen hatte noch nicht dazu geführt, dass man sich ihr unterwarf und ihre Ressentiments teilte, indem man Verständnis für diese aufbrachte.

Trotz dieser unerfreulichen Auseinandersetzungen mit Redakteuren, die oft mühseliger waren, als die Artikel zu schreiben, landete Eike Geisel mit einem seiner letzten Texte einen Coup, der im Leben eines freien Autors nicht sehr häufig vorkommt. Eike Geisel hatte das Buch »Auge um Auge. Opfer des Holocaust als Täter« von John Sack, eine Übersetzung aus dem Amerikanischen, in der Frankfurter Rundschau (die taz hatte den Artikel abgelehnt) als »Antisemitische Rohkost« vorgestellt. In der Februarausgabe von Konkret erschien zur gleichen Zeit unter dem Titel »Die Protokolle der Rächer von Zion oder die neuen ›Opfer der Opfer‹« eine ausführliche Fassung.

Noch bevor das Buch ausgeliefert wurde, zog der Piper Verlag es am 9. Februar 1995 zurück. Dieser nunmehr publik gemachte Skandal wurde sogar in der New York Times und der Herald Tribune registriert. In der folgenden ausgedehnten Kontroverse waren die meisten Journalisten trotz der primitiven antisemitischen Töne John Sacks dem Überbringer der schlechten Nachricht nicht sehr freundlich gesonnen, weil viele von ihnen der dünnen These von der Angleichung der Opfer des Nationalsozialismus an die Täter eine gewisse Plausibilität abgewinnen konnten.

Tagesspiegel, Welt, taz, Spiegel, Süddeutsche Zeitung, ja sogar die Zeit, die den »Opfern der Opfer« nicht nur ein ganzes Dossier widmete, sondern auch einen Leserbrief John Sacks im redaktionellen Teil veröffentlichte, waren sich einig, dass ein tapferer und wegen seiner jüdischen Herkunft unverdächtiger Autor zwar etwas naiv, aber durchaus verdienstvoll das »Tabuthema Vertreibung« behandelt habe, dem man sich, wie es in der taz hieß, »unverkrampft« nähern wollte. Zu diesem Thema nämlich könne man sich »entweder überhaupt nicht, oder wenn, dann (nur) unter permanenter Hinzufügung, dass die Vertreibung letztendlich eine Folge des von Deutschen begangenen Weltkrieges, von Auschwitz und den deutschen Verbrechen sei« (taz), äußern. Der Mühe der »permanenten Hinzufügung« wollte man sich nicht mehr unterziehen, man wollte reden dürfen wie ein Vertriebenenfunktionär, und insofern hat Eike Geisel diesen Journalisten zu ihrem coming out verholfen.

Auf ein nicht mehr realisiertes Projekt verweist der Artikel »Das Ende der Schonzeit« über jüdische Rächer nach 1945, eine Art Exposé für ein Buch, das bei Rowohlt Berlin erscheinen sollte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte zunächst Interesse an einem Vorabdruck gezeigt, dann aber doch lieber Abstand davon genom­men. Ein anderes Vorhaben, das nicht mehr mit Hilfe des Autors zustande kam, war ein dritter Band seiner Aufsätze, der dann 1998 unter dem Titel »Der Triumph des guten Willens« als seine nachgelassenen Schriften veröffentlicht wurde.

Dieser dritte Essay-Band war nur einer der zahlreichen Pläne, die Eike Geisel immer gerne schmiedete und von denen er mit einer Begeis­terung erzählte, die äußerst an­steckend war. Zuletzt bemühte er sich um einen Lehr­auftrag in den Vereinigten Staaten, den er zum einen mit Archivforschungen für sein Buchprojekt über die jüdischen Rächer nutzen wollte, zum anderen hoffte er, mit der Ortsveränderung etwas Abstand von den immer unerträglicher und zäher werdenden Debatten in Deutschland zu gewinnen. Aber daraus wurde nichts mehr.

Es ist etwas einfach, darauf hinzuweisen, dass seinen Artikeln heute aufgrund des weltweit grassierenden Antisemitismus und der Toten in Paris wieder große Aktualität zukommt, aber es ist nicht zu leugnen, dass es tatsächlich so ist, auch wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse seit 1995 erheblich verändert haben. Aber gerade in einer Zeit, in der selbst das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin im Nahostkonflikt einen nachvollziehbaren Grund für die »generalisierte Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden« erkennt, wäre es spannend gewesen zu erfahren, wie Eike Geisel dagegen angeschrieben hätte, denn mit Sicherheit hätte ihm die Krankheit dieser Zeit keine Ruhe gelassen.

Im Sommer 1995 fiel Eike Geisel in ein Koma, aus dem er nicht wieder erwachte. Er starb am 6. August 1997. Am 1. Juni 2015 wäre er 70 Jahre alt geworden. Er liegt auf dem Friedhof Stubenrauchstraße in Berlin-Frie­denau in unmittelbarer Nähe von Marlene Dietrich, die er bewunderte und die bis über ihren Tod hinaus in Deutschland als Verräterin galt. Ich glaube, das hätte ihm gefallen.

Klaus Bittermann

 

Foto des Autors

Eike Geisel, 1984 - Foto: Wolfgang Pohrt

Runder Tisch mit Eichmann

 

Über den kleinen Unterschied zwischen dem »anderen Deutschland« und der zivilisierten Welt

 

1984 wurde Joshua Sobols »Getto« in Deutschland zum ersten Mal aufgeführt. Seitdem wissen zumindest das deutsche Theaterpublikum oder die Leser des Spiegel, dass eine »Art Wahlverwandschaft zwischen Opfer und Henker« existiert hat. Erst 1994 wurde dieser Gedanke zu Ende gedacht. Erst in diesem Jahr wurde die logische Entsprechung zum moralisch zweifelhaften Opfer gefunden: der moralisch zweifelsfreie Täter. Und die Entdeckung des Jahres ist deshalb der »gute Nazi«. Vorher war diese Formel als Verdikt in Gebrauch. Bezeichnet wurde damit das besonders rührige Mitglied einer kriminellen Vereinigung. Seit Oskar Schindler – außen Nazi, innen gut – weiß man es besser. Und dieser Einzelfall hat Appetit auf mehr gemacht. Nach dem Deutschen, der gut sein konnte, weil er besser verdiente, sollten nun aus besonderem Anlass jene Deutschen gefeiert werden, die ein weiches Herz hatten, das unter einem Eisernen Kreuz schlug. Man steckte Schindler in eine Uniform und ließ ihn in Kompaniestärke zum 50. Jahrestag der Offiziersrevolte gegen Hitler als Repräsentanten des »anderen Deutschland« antreten.

Am 20. Juli 1994 wurde in Berlin an historischer Stätte ein ganz besonderer Staatsakt zelebriert. Der Bundeskanzler, immer auf symbolische Gesten erpicht, ob auf den Schlachtfeldern von Verdun oder auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, hatte sich für die historische Feierstunde eine besonders reizvolle Zeremonie ausgedacht. Auf dem Hof des Gebäudes, wo vor 50 Jahren ein Füsilierkommando unter dem Befehl »Legt an!« einige der Verschwörer noch am Abend des missglückten Attentats auf Hitler erschoss, brachte das Wachbataillon der Bundeswehr bei der Gedenkfeier die Gewehre in Anschlag: »Präsentiert das Gewehr«. Ein uniformierter Musikzug blies einen preußischen Armeemarsch dazu.

Mit den jährlichen offiziellen Feiern zum 20. Juli war man bislang nicht besonders erfolgreich gewesen. Die Anteilnahme am Schicksal der militärischen Verschwörer war so gering, wie die Kenntnis antifaschistischer Widerstandsaktionen von Kommunisten oder Sozialdemokraten mangelhaft war. Generationen von Schülern der Bundesrepublik gähnten an diesem Tag, wenn ihre Geschichtslehrer den Versuch unternahmen, ihnen die Generäle und Offiziere des 20. Juli pädagogisch schmackhaft zu machen. Man sollte sie schätzen lernen als eine Art Rote-Kreuz-Truppe, als Vorläufer eines Kirchentagspräsidiums oder als frühe Kinkel-Initiative, weil es – wie dem Außenminister heute, wenn Türken in Deutschland angezündet werden – den Verschwörern schon damals hauptsächlich um das Ansehen des Staates im Ausland gegangen war. In einem für die Nazi-Wehrmacht gedachten Auf­ruf der Verschwörer hieß es 1944: »Wir müssen handeln, weil – und das wiegt am schwersten – in Eurem Rücken Verbrechen begangen wurden, die den Ehrenschild des deutschen Volkes beflecken und seinen in der Welt erworbenen guten Ruf besudeln.« Doch dass die Naziarmee keine Verbrecherbande, sondern ein Verein zur Veranstaltung von Abenteuerreisen gewesen war, das glaubte allenfalls noch die Bundeswehr. Selbst ein CDU-Minister gelangte trotz der jährlichen patriotischen Pflichtübung einmal zu der kurzlebigen Einsicht, dass Auschwitz nur so lange funktionierte, wie die Wehrmacht dafür die logistischen Hilfsdienste leistete.

Die Schüler begriffen nur, dass Aufstand in Deutschland eine ziemlich verschlafene Angelegenheit sein musste, wenn die endlosen Debatten und Denkschriften der Verschwörer ein »Aufstand des Gewissens« sein sollten. An diesem besonderen Tag wurde man als Jugendlicher regelmäßig mit Gewissenskonflikten von Leuten gelangweilt, die sich endlos damit abgequält hatten, ob sie Hochverrat üben, ihren Eid brechen oder Tyrannenmord begehen dürften. Sie hätten alle umstandslos geputscht, wenn der Führer es ihnen befohlen hätte. Aber leider lag kein Befehl dazu vor. Andererseits hatten sie keine sichtbaren Probleme damit gehabt, halb Europa in Schutt und Asche zu legen und Millionen von Menschen umbringen zu lassen. Sie hatten ein reines Gewissen, weil sie es nie benutzt hatten. Dass ausgewiesene Zerstörungs- und Vernichtungsexperten in genau dem Augenblick, als die Firma pleite ging und sie den Chef loswerden wollten, sich als absolute Dilettanten erwiesen, das konnte keinen nachhaltigen Eindruck bei jungen Leuten hinterlassen, die im Unterricht etwas über Julius Caesar, Ludwig XVI. oder den Zaren erfahren hatten. Sie mussten zu der Auffassung gelangen, dass die dramatische Hauptperson des Putschversuchs das Telefon war, denn die Protagonisten der Verschwörung kämpften hauptsächlich mit der Telefonanlage auf ihrer Büroetage im Oberkommando des Heeres. Ein Stockwerk tiefer war das Dritte Reich ungefährdet.

Mit vielen anderen, die die Erinnerung an den 20. Juli für einen nationalpädagogischen Auftrag halten, bedauert die Mitherausgeberin der Wochenzeitung Die Zeit, Gräfin Dönhoff, seit Jahren, »dass der 20. Juli 1944, der als moralisch-politische Tat weit herausragt aus der deutschen Geschichte, nie wirklich in das Bewusstsein eingegangen ist.« Mehr noch als heimische Gleichgültigkeit macht sie, die mit einigen der Verschwörer befreundet war und sich als Wahrerin des geistigen Erbes der Widerständler versteht, die westlichen Alliierten für das Desinteresse der Deutschen verantwortlich. Sie hat Engländern und Amerikanern bis heute nicht verziehen, dass diese die Militärs damals nicht als gleichberechtigtes Gegenüber, sondern als politische Bankrotteure betrachteten, weil die Offiziere von einem Großdeutschland, also vom Anschluss Öster­reichs und des Sudetenlands oder gar von der Rückgabe der Kolonien, träumten. »Im Ausland aber wurde die Existenz eines deutschen Widerstands von den Alliierten wider besseres Wissen geleugnet«, heißt es in ihrem Jubiläumsbuch »Um der Ehre willen«. Für ganz besonders ehrverletzend hält sie eine Erklärung Churchills, der im Sommer 1944 im Unterhaus gesagt hatte, bei den Vorgängen des 20. Juli 1944 handle es sich »um Ausrottungskämpfe unter den Würdenträgern des Dritten Reiches«. Mit Sicherheit irrte der britische Premier nicht darin, dass er von den Würdenträgern Deutschlands sprach. Am meisten freilich nimmt sie den Engländern noch heute übel, was schon die Verschwörergruppe 1944 mehr umgetrieben hatte als der organisierte Massenmord: »Vermutlich wollte Churchill nicht nur Hitler erledigen, sondern ein für allemal die Macht der Deutschen brechen.« Gräfin Dönhoff wird Trost bei dem Gedanken finden, dass wie zur Rache für jene vernünftige Absicht die Ehre der Verschwörer nun wiederhergestellt ist, indem deren Vorstellung von einem vereinten Europa unter deutscher Vorherrschaft endlich verwirklicht scheint.

Seit der Wiedervereinigung und seit insbesondere auch die ehemaligen Friedensfreunde heftig nach dem ersten Großeinsatz der Armee rufen, ist das Bedürfnis gewachsen, auch an dieser Front die Geschichte zu entsorgen. Jetzt kommen wieder die psychologischen Ladenhüter des deutschen Landsers zu Ehren, der sich, je weniger er es selbst glaubte, desto heftiger immer einreden musste, dass er anständig geblieben sei. »Das ist die einzige Lebensform, in der man noch mit einigem Anstand existieren kann«, kolportiert zustimmend Gräfin Dönhoff die Auskunft des Mitverschwörers Schulenburg, der, ehe er 1941 mit einigem Anstand seinem Kriegstagebuch anvertraute, der Überfall auf die Sowjetunion sei ein »Auftrag des Schicksals«, 1932 in die NSDAP eingetreten war.

Auch die Rechtsradikalen wollen bei dieser Generalüberholung nicht abseits stehen. Galten ihnen bislang die Verschwörer, die den Mut für das Attentat aufbrachten und mit dem Leben dafür bezahlten, alle samt und sonders als Verräter, so verleihen sie ihnen nun, im Einklang mit dem Bedürfnis nach einer gereinigten Nationalerinnerung posthum den Ehrentitel von »Reformnationalsozialisten«. Wolfgang Venohr, ehemals Chefredakteur des Fernsehkanals Stern TV, auf seine alten Tage vom jungen Hitler begeistert, erklärte angelegentlich seiner Rehabilitierungsschrift »Patrioten gegen Hitler«, warum der Widerstand eigentlich eine Notwehrmaßnahme war, mit welcher der Nationalsozialismus gerettet werden sollte. Über die in seinen Augen ehrenvollen Motive der Verschwörer, die nur Hitler vor Hitler schützen wollten, sagte Venohr: »Hitler hatte in ihren Augen sein eigenes Credo verraten, als er vom Nationalisten zum Imperialisten denaturierte. Die Grundidee des nationalen Sozialismus bekämpften die jungen Aktivisten des Widerstands mitnichten. [...] Man könnte sagen: Sie erstrebten einen na­tio­nalen deutschen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.«

Wie auch immer begründet, würde die Publizistin Gräfin Dönhoff dagegen einwenden, »entscheidend war nur, ob der Betreffende für oder gegen Adolf Hitler war. Ob er dies als Monarchist, Sozialist oder aufgeklärter Konservativer war, das interessierte niemanden, jedenfalls nicht in der frühen Phase.« In der etwas späteren Phase wird man aber vielleicht nachfragen müssen, ob in diesem pluralistischen Panorama nicht eine Farbe fehlt. Wenn schon alle in einen Topf geworfen werden, dann sollte man den Antisemitismus als würzende Zutat nicht vergessen. Er hat dem Verschwörerkreis nämlich genau jenes Aroma verliehen, das Hannah Arendt 1963 in einem Brief an den Philosophen Karl Jaspers folgendermaßen beschrieben hat: »Was ich meine, ist, dass jeder, der politisch auftrat, auch wenn er dagegen war, auch wenn er im geheimen ein Attentat vorbereitete, in Wort und Tat von der Seuche angesteckt war. In diesem Sinn war die Demoralisation komplett.«

Die Verschwörer des 20. Juli dürfen Reaktionäre oder Reformer, Nazis, Parafaschisten oder Christen gewesen sein, aber von ihrem antijüdischen Einverständnis soll nicht die Rede sein. Selbst der renommierte Historiker Hans Mommsen widersteht in seinem immer wieder aufgelegten und überarbeiteten Essay über »Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstands« erfolgreich der Versuchung, auch nur andeutungsweise diesen politischen Charakterzug der ganzen Verschwörung zu erwähnen. Einzig die akademische Garde, die der – einst jüdische – Ullstein-Verlag jüngst mit der Rettung der Nation durch den Sammelband »Für Deutschland« beauftragt hat, zeigt keine Scheu, die antisemitische Grundausstattung vieler Akteure des 20. Juli offenzulegen: »Dem Gedanken, die Juden aus ihrer teilweise beherrschenden Stellung im Zeitungs- und Theaterwesen zurückzudrängen, stimmten die Stauffenbergs zu.« Gelegentlich aber sind die Autoren selber ratlos angesichts der Weiterungen derartiger Kavaliersdelikte und »müssen zugeben, dass wir es nicht wissen«, warum General Carl-Heinrich von Stülpnagel ein Schreiben des Ober­kom­man­dos in Russland unterzeichnete, in welchem ein »vermehr­ter Kampf gegen das Judentum« gefordert wurde, oder dass er verlangte »bei Notwendigkeit raschen Zugriffs besonders [auf] die jüdischen Komsomolzen als Träger der Sabotage und Bandenbildung« zurückzugreifen.

Derlei darf das offizielle Gedenken nicht belasten, denn die Offiziere des 20. Juli sollen ein moralisches Bindeglied der neuen Großmacht zu ihrer eigenen Vergangenheit sein. Traditionsbewusst, allerdings etwas vorlaut, hat sich dabei das Wachbataillon der Bundeswehr neulich hervorgetan, als einige seiner Angehörigen zur Ausführung eines in ihrem Inneren schlummernden Tagesbefehls schritten und »Juden raus«! grölten. Zur Strafe dürfen diese Leute, die sonst bei Empfängen für ausländische Staatsoberhäupter strammstehen, nun ins Kino und »Schindlers Liste« ansehen.

Bei der Gedenkfeier zur 50jährigen Wiederkehr des Attentats könnten sie durchaus unter dieser Parole antreten, denn das »andere Deutschland«, das hier gefeiert werden soll, war, wie Hannah Arendt einmal schrieb, »noch durch einen Abgrund von der zivilisierten Welt getrennt«. Der traditionsstiftende Begriff vom »anderen Deutschland« gehört zu den zählebigsten Gründungsmythen der Bundesrepublik. Wie aus einem Jungbrunnen entstieg mit dieser contradictio in adjecto, kaum war es mit der kriminellen Volksgemeinschaft vorbei, ein runderneuertes Kollektiv, das ganz anders, vor allen Dingen anders deutsch, nämlich anständig gewesen war. Abgesehen vom völkischen Denkmuster, das mit dem Begriff vom »anderen Deutschland« tradiert wird; abgesehen von der Berufung auf die Anständigkeit, einen Charakterzug, auf den gerade die Nazis ihre Schlächter immer eingeschworen haben; abgesehen von der Tatsache, dass es Widerstandsaktionen von einzelnen Personen und isolierten Gruppen, nicht aber eine anderen Ländern vergleichbare Widerstandsbewegung gegeben hat; abgesehen von all diesen Momenten wird bei der Berufung auf das »andere Deutschland« dessen größte Schande sanktioniert: die im besten Fall absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden.

Gleichgültigkeit in dieser Frage brauchen sich freilich die Verschwörer des 20. Juli bestimmt nicht vorwerfen zu lassen. Die Akteure hätten sich mit Eichmann durchaus an einem Runden Tisch zur Judenfrage zusammensetzen können, denn auch sie wollten eine Lösung der Judenfrage, eine »Dauerlösung«. Bei diesem Treffen hätten sie Eichmann dann versichert, sie »hätten die Rassengrundsätze des Nationalsozialismus an sich bejaht, hätten sie aber für überspitzt und übersteigert gehalten« (so ein Bruder des Attentäters beim Verhör durch die Gestapo). Diese Einschränkung allerdings hätte Eichmann weniger interessiert als die Durchführungsbestimmungen, die von der präsumtiven Regierung vorgesehen waren. Denn hier hätte er sich wieder auf vertrautem Terrain befunden. »Ich komme immer noch in die alte Tour«, wird er später in Jerusalem sagen, wo ihm vorgehalten wurde, er rede immer noch wie ein waschechter Nazi. Aber genau diese »alte Tour« war von den Verschwörern gefragt. Vertraut gewesen wäre Eichmann nicht nur der Ton der Gruppe (»dass das jüdische Volk einer anderen Rasse angehört, ist eine Binsen-Weisheit.«), sondern auch deren Vorstellung, die Juden in Kanada oder in Südamerika anzusiedeln. Das war nichts anderes als eine Reprise des »Madagaskar-Projekts«, mit dem sich Eichmann 1940 beschäftigt hatte, als er mit der Austreibung der Juden aus Deutschland und Österreich nicht mehr so richtig vorankam. Eichmann jagte, wie er später nicht ohne Stolz bekannte, die Juden aus Sympathie für den Zionismus aus dem Deutschen Reich. Von ähnlicher Zuneigung war die Absicht der Verschwörer durchdrungen, für den Fall, der Putsch gelänge, die Juden nach Übersee zu verfrachten, denn die Welt käme nicht eher zur Ruhe, so ihre Auffassung, bis nicht eine globale »Neuordnung der Stellung der Juden« erreicht sei. Als alte Bekannte hätte Eichmann auch die juristischen Maßnahmen zur Ausgrenzung von Juden im Innern begrüßen können. Eingedenk der von vielen Verschwörern geteilten Auffassung, dass – so ein Stauffenberg–Bruder im Verhör – »die Grundideen des Nationalsozialismus [...] in der Durchführung fast alle in ihr Gegenteil verkehrt worden« sind, besann man sich auf eine nationalsozialistische Grundidee: auf einen Passus des sogenannten 25-Punkte-Programms der frühen NSDAP, in dem einigen »Verdienstjuden«, wie sie später hießen, die Möglichkeit eingeräumt wurde, deutsche Staatsangehörige zu werden. Carl Goerdeler, dessen Hand­schrift alle diese 1941 formulierten und noch in der Todeszelle bekräftigten Verwaltungsbestimmungen tragen, brauchte nur bei sich selbst abzuschreiben: im Sommer 1934, damals noch Oberbürgermeister von Leipzig, hatte er sich in einer Denkschrift an Hitler für eine »Konsolidierung der deutschen Rassepolitik« eingesetzt. Er forderte Hitler auf, »eine echte Volksgemeinschaft herzustellen«, und hoffte, worauf auch die Naziführung spekulierte, nämlich auf das internationale Einverständnis der Antisemiten: eine gesetzliche Regelung der Judenfrage werde im Ausland »als Selbstschutz kaum beanstandet werden.« Diese Regelung, so riet er Hitler, müsse sich, »unter eiserner Disziplin und unter Vermeidung von Ausartungen und Kleinlichkeiten vollziehen.« Um Schlimmes, nämlich die unkontrollierten Übergriffe der SA, zu verhindern, hatte er damals für Schlimmeres plädiert: ein Sonderrecht für Juden, das die Nazis dann auch zügig verwirklichten. Diese einfühlsame Voraussicht auf die bürokratisch-legalistischen Bedürfnisse der Nazis ist kürzlich als »Versuch der Durchsetzung einer alternativen Politik« in den Titel einer wissenschaftlichen Untersuchung in Deutschland eingegangen.

Eichmann hätte den Verschwörern, die er natürlich alle für Lumpen hielt, aus eigener Erfahrung bestätigen können. Was die Gestapo im Verhörprotokoll mit Geringschätzung vermerkt hatte, nämlich dass sie in ihrer »Einstellung zur Rassenfrage [...] auch nicht über einen einzigen neuen fruchtbaren und konstruktiven Gedanken verfügten.« Neu war keiner der Gedanken, die der als Reichskanzler vorgesehene Goerdeler in einer Denkschrift (»Das Ziel«, 1942) für die Verschwörergruppe formuliert hatte. Neu und nun wirklich originell war freilich, dass die Verschwörer sich Maßnahmen zur Sonderbehandlung von Juden ausdachten, die schon sonder- behandelt, nämlich ermordet waren.

Nicht also die Tatsache ist der Skandal, dass der Sohn des Attentäters Stauffenberg damit drohte, die offizielle Gedenkstätte in Berlin wie den Staatsakt zu boykottieren, wenn dort, wie ihm Rechtsradikale soufflieren, die »Pa­trio­ten des 20. Juli mit Landesverrätern moralisch auf eine Stufe gestellt (werden)«, soll heißen, wenn dort auch antifaschistischer Widerstandskämpfer gedacht werden sollte. Er hat mit seinem Protest völlig recht. Denn die Kommunisten hätten, wäre der unwahrscheinliche Fall einer Revolution gegen die Nazis eingetreten, seinen Vater wie alle anderen Militärs zum Teufel gejagt – im besten Fall. Selbst Sozialdemokraten fanden damals noch angemessene Worte, die ihnen kurze Zeit später recht peinlich waren. In der New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau schrieb Friedrich Stampfer wenige Wochen nach dem missglückten Attentat: »Nicht nur die Revolution, auch die Konterrevolution frisst ihre eigenen Kinder. Es ist immerhin ein Fortschritt, dass die Galgen schon stehen. Man wird sie noch brauchen.« Man brauchte sie bekanntlich nicht. In Deutschland war es nicht einmal nötig, »die wirklich Schuldigen vor dem Zorn der Leute zu schützen«, wie Hannah Arendt 1950 in einem Bericht über die Nachwirkungen der Naziherrschaft notierte. »Diesen Zorn gibt es nämlich heute gar nicht, und offensichtlich war er auch nie vorhanden.« Zu dieser Zeit hatten die Sozialdemokraten das Wirtschaftswunder noch vor, ein anderes Wunder aber bereits hinter sich, nämlich »das eine große Wunder, dass nach zwölf Jahren Diktatur noch so viele Menschen anständig geblieben sind«. Diese Zauberformel von 1946 stammt von Kurt Schumacher, dem ersten Nachkriegs-Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei.

Der Skandal in Deutschland heute besteht eher darin, dass niemand – keine jüdischen Gruppierungen, nicht die Reste der antifaschistischen Linken – auf dem Riß beharrt, der irreparabel durch die Geschichte geht. Auch die Gegner und Opfer von einst wollen heim ins Reich, wenigstens heim ins Reich der Erinnerung.

1994

No Business like Shoahbusiness

 

 

Hätten sie damals zu ihren Eltern gehalten, dann wären sie vielleicht heute auch irgendwo oben und nicht nur dazwischen. Mit großer Verspätung haben die Linken begriffen, dass die einzig erfolgreiche kriminelle Organisation die Familienbande ist. Die erfolgreiche Mutation der revolutionären Zellen zu Keimzellen des Staates fasste der SPD-Funktionär Glotz einmal in einem vernichtenden Lob zusammen, er sprach von der »zur Standhaftigkeit geläuterten Protestgeneration von 1968«. Trotz dieses Persilscheins benötigte der sozialdemokratische Parteivorstand noch fast zwei Jahre, um die selbst verschuldete Harmlosigkeit der ehemaligen Aufrührer zu honorieren.

Im Frühjahr 1988 traf die SPD mit der Aufhebung des »Unvereinbarkeitsbeschlusses« eine jener richtungsweisenden Entscheidungen, welche die Behauptung unterstreichen, die hundertjährige Geschichte der Sozialdemokratie sei die Geschichte des Aufstiegs von Karl Marx zu Hans-Jochen Vogel. Die Mitglieder des SDS, eines linksradikalen Vereins, den es schon seit 1970 nicht mehr gibt, dürfen diesem Beschluss zufolge also wieder der SPD beitreten. Genau so relevant wäre etwa eine Ankündigung des Finanzministeriums, die Krawattensteuer sei abgeschafft oder die Frustrationsabgabe für Verheiratete werde aufgehoben. Nicht einmal im Traum würde einer der geläuterten Revolutionäre auf den Gedanken kommen, den ehemaligen Verein wiederzubeleben, aber nach diesem Beschluss können sie doch besser schlafen. Denn wie der gläubige Katholik erst die Absolution braucht, um ohne Gewissensbisse zum Abendmahl zu treten, so wünschen die Genossen von einst, makellos dazustehen, wenn sie das Sakrament einer Planstelle empfangen.

Jahrzehnte, ehe sich so viele wieder familiär zusammenrotteten, legte der spätere Bundespräsident bereits jenen herzlichen Familiensinn an den Tag, den heute alle uneingeschränkt an ihm bewundern. Mit seiner Wahl hatte auch die deutsche Nachkriegsliteratur ihren ersten und einzigen politischen Erfolg vorzuweisen: Weizsäcker war die Antwort auf die Spätheimkehrerprosa Ende der siebziger Jahre, die Antwort auf ein von der sogenannten Väterliteratur formuliertes kollektives Bedürfnis. Deshalb kann man heute kaum mehr unterscheiden, ob der neueste Artikel Hochhuths vom Kanzler diktiert oder die letzte Kirchentagsrede des Bundespräsidenten von Walser verfasst wurde; deshalb gibt es heute keine Klassen mehr, sondern nur noch Väter, Söhne und Enkel.

Seinen Vater, bei dessen Verteidigung er im Nürnberger Prozess »aus tiefer Überzeugung« mithalf, würde Richard von Weizsäcker, wie er israelischen Journalisten erklärte, heute genauso unterstützen wie damals. Die vornehme Zurückhaltung des Bundespräsidenten, nicht die unmanierliche Wut, mit welcher der Stern-Redakteur Niklas Frank sich seines von den Alliierten gehängten Vaters annahm, wirkte stilbildend auf zahlreiche Bekenntnisse, die unter Titeln wie »Zweite Generation« oder »Kinder der Täter« zur neuen Betroffenheitsbelle­tris­tik zählen.

Alle diese Berichte illustrieren vornehmlich die Binsenweisheit, dass einer keine Nazieltern haben musste, um unter ihnen zu leiden – wie umgekehrt gilt, dass ein lieber fürsorglicher Familienvater die allerbesten Voraussetzungen mitbringt, auch ein guter Nazi zu werden. Die gestandenen und geständigen Mittvierziger, denen die eigenen Bälger mit unangenehmen Fragen nach dem gegenwärtigen Mitläufertum auf der Nase herumtanzen, entdecken nun, dass sie vor allen Dingen die lebenslänglichen Kinder ihrer Eltern sind. Nicht von ungefähr forderte deshalb eine Psychoanalytikerin, welche die Selbstdiagnose dieses Personenkreises als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ansah, die sofortige Umwandlung der Bundesrepublik in eine geschlossene Anstalt. Ihren Kollegen, so war im Spiegel zu lesen, warf sie vor, es versäumt zu haben, der »massenhaften Traumatisierung der Deutschen ins Auge zu sehen«.