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Impressum

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Erste Auflage der Printausgabe März 2012

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einers Fotografie von OJO Images.

ISBN 978-3-89656-529-7

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Widmung

Für Markus

Die verräterische Zahnbürste

„Weißt du, was dir fehlt? – Sex.“

„Ja, red doch noch lauter! Die ältere Dame da hinten konnte dich nicht verstehen.“

„Hab ich etwa unrecht? Wie lange ist es her, seit dieser egoistische Mistkerl dich sitzengelassen hat – ein halbes Jahr?“

Vier Monate, fünfzehn Tage, und wenn ich einen Blick auf die Uhr geworfen hätte, hätte ich ihm sogar die genaue Anzahl der Stunden und Minuten nennen können. „Bruno hat mich nicht verlassen“, erwiderte ich trotzig. „Wir haben uns getrennt.“

„Und wie oft hattest du seitdem Sex?“, fragte Nils. Als ich antworten wollte, unterbrach er mich mit einer herrischen Handbewegung. „Nein, Eigenleistung zählt nicht.“

„Es gibt mehr im Leben als Sex.“

„Das sagt nur einer, der schon lange keinen mehr hatte. Nein, im Ernst, Andy, wenn du nicht bald mal wieder unter Männer kommst, mach ich mir echt Sorgen um dich.“

„Unter Menschen …“, verbesserte ich ihn automatisch.

„Ich weiß schon, was ich gesagt hab.“ Nils grinste frech. Mit seinem akkurat gestutzten Kinn- und Oberlippenbart, von Bruno neckisch „Fick-mich-Bärtchen“ genannt, und dem zotteligen dunklen Haar, das ihm ins Gesicht fiel, hatte er etwas Mephistophelisches. Er drückte mir eine gelbe Geschenktüte mit roten Punkten in die Hand: „Alles Gute zum Geburtstag.“

Schlagartig befiel mich ein ungutes Gefühl. Vor Jahren hatte er mir ein Glas mit Sand und Muscheln aus dem Urlaub mitgebracht, hübsch anzusehen, aber voller Sandflöhe, die sich überall in meinem Schlafzimmer ausbreiteten. Oder vor sechs Jahren, zu meinem Fünfundzwanzigsten, hatte er für mich einen Stripper engagiert, der als Feuerwehrmann verkleidet war. Um seinen Auftritt möglichst effektvoll zu gestalten, hatte Nils ein brennendes Streichholz in meinen Papierkorb geworfen und laut gekreischt: „Es brennt! Es brennt!“ Irgendein Idiot hatte zum Löschen ein Glas ins Feuer gekippt, das dummerweise kein Wasser, sondern Wodka enthielt, so dass eine Stichflamme aufstieg und meine Tapete versengte. Die ganze darauffolgende Woche hatte ich damit verbracht, meine Wohnung zu renovieren und mich bei meinem Vermieter zu entschuldigen. Bei Nils und seinen Geschenken konnte man sich eben nie sicher sein. Vorsichtig schaute ich in die Tüte, in der sich jedoch nur eine unauffällige kleine Schachtel befand.

„Antifaltencreme. Wie aufmerksam.“

Was schenkt er mir wohl zum Vierzigsten, schoss es mir durch den Kopf. Spachtelmasse? Einen Gutschein für eine Botox-Behandlung?

„Tja, was soll ich sagen? Wenn man die dreißig erst mal hinter sich gelassen hat …“

„Dann hast du ja was, worauf du dich freuen kannst.“ Nils erreichte in diesem Jahr ebenfalls ein neues Lebensjahrzehnt.

„Man ist nur so alt, wie man sich fühlt. Das heißt, ich bin Anfang zwanzig, während du schon auf die Rente zusteuerst.“

Die ältere Dame ging zur Kasse, und ich folgte ihr. Sie kaufte einen Krimi von Ingrid Noll, langweilig, aber irgendwie passend. Ich stellte mir vor, dass sie Hagebuttentee trank und Haferflockenkekse aß, während sie ihn las, vorzugsweise in einem Schaukelstuhl am Fenster, und dass sie dabei immer wieder über den Seiten einnickte. Menschen nach ihren Lesegewohnheiten zu beurteilen war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Vermutlich so etwas wie eine Berufskrankheit. Nachdem ich die Kundin verabschiedet hatte, waren Nils und ich wieder allein im Laden. Heute war nicht besonders viel los. Heute und an den meisten anderen Tagen.

„Da ist übrigens noch was in der Tüte.“

Ich sah nach und tatsächlich, ganz unten lagen zwei Kinokarten für Star Trek.

„Ich hol dich um halb sieben ab“, sagte Nils, die Hand schon auf der Türklinke. „Und wehe, du kriegst wieder deine Migräne.“

Durch das Schaufenster beobachtete ich, wie er zu seinem roten Mini ging und zurück in den Marmortempel seines Lovers in der Maximilianstraße fuhr, wo er Uschi Glas die Haare blondieren oder Monika Hohlmeier eine neue Dauerwelle verpassen würde. In den letzten Monaten hatte ich schon mehrere seiner Versuche, mich von meinem Liebeskummer abzulenken, torpediert, indem ich behauptet hatte, krank zu sein. Die Abende verbrachte ich meist allein auf meiner Couch mit einem guten Buch und aß Schokolade. Viel zu viel Schokolade. Seit Bruno und ich uns getrennt hatten, schlief ich schlecht und grübelte zu viel über das nach, was war und was ich verloren hatte, oder zur Abwechselung auch mal über das, was hätte sein können, wenn ich nicht so verdammt feige wäre. Meine Gedanken fuhren unablässig Karussell, und das Resultat war immer dasselbe: Er war fort, ich vermisste ihn, und dass ich an dieser Tatsache selbst schuld war, verlieh meinem Selbstmitleid eine bittere Note. Bruno war im Januar 2009 ausgezogen und hatte mich im nasskalten München zurückgelassen. Jetzt war wieder Frühling, die Sonne schien, und ich musste endlich aufhören, an ihn zu denken.

Gegen zwei kam Siggi, meine beste Freundin und meine einzige, etwas übereifrige Mitarbeiterin, die mich an drei Nachmittagen in der Woche unterstützte. Ihr Äußeres erinnerte mich immer an diese Schiebefiguren, bei denen man Kopf, Rumpf und Beine vertauschen konnte. Sie hatte ein niedliches Puppengesicht mit roten Ringellocken und Stupsnase und bis zur Taille den Körper eines zierlichen Mädchens. Ihr Unterleib schien jedoch einer megalithischen Muttergottheit zu gehören. Ihre Schenkel glichen Baumstämmen, und ihr Hintern sah aus, als hätte sie sich zwei Medizinbälle in die Jeans gestopft.

Sie gratulierte mir überschwänglich zum Geburtstag und drückte mich fest an sich, wobei ihre Brille verrutschte. Ich mochte ihren unerschütterlichen Optimismus, ihren unbedingten Glauben daran, dass das Leben wie ein Buch mit Happy End war, auch wenn man manchmal etwas länger darauf warten musste. Na ja, sie war vierundzwanzig und wusste es noch nicht besser.

„Hier, das ist für dich. Hab ich selbst gemacht. Mit ganz, ganz viel Liebe.“

Das Päckchen war in rosa Glanzpapier eingewickelt und überraschend schwer. Als ich es schüttelte, klapperte es geheimnisvoll. Ihr Geschenk bestand aus drei Tafeln Schokolade, einem Steingutteller und einer farblich dazu passenden Kaffeetasse, die wie ein geschmolzener Gummistiefel aussah und ungefähr drei Kilo wog. Ideal, um Kaffee zu trinken und gleichzeitig seinen Bizeps zu trainieren.

„Toll. Danke dir.“

„Ach was, ist doch nichts Besonderes.“ Sie druckste verlegen herum. „Ich hab mich gefragt, jetzt wo Bruno … Na ja, da du ganz allein bist, willst du heute vielleicht zum Essen zu mir kommen?“

„Das ist schrecklich lieb von dir, aber Nils hat mich schon ins Kino eingeladen.“

„Oh …“ Ihre Finger spielten mit einer Haarlocke. Mit einem Lolli im Mund hätte sie glatt als Dreizehnjährige durchgehen können. „Das macht nichts. Ich kann die Steaks bestimmt einfrieren.“

„Steaks?“ Siggi war Vegetarierin.

„Das ist doch dein Lieblingsessen.“

Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen und versprach ihr, meinen Besuch in einigen Tagen nachzuholen. Siggi war eine Seele von Mensch, sie hatte ein übergroßes Herz und war beständig auf der Suche nach einem kreativen Ventil, um die Welt an ihrem empfindsamen Innenleben teilhaben zu lassen. Bis vor ein paar Monaten hatte sie Gedichte geschrieben und sie auf jedem Poetry Slam in der Stadt vorgetragen. Und als guter Freund hatte ich sie tapfer zu jedem einzelnen dieser Auftritte begleitet. Ich erinnerte mich noch gut an jenen peinlichen Abend, an dem sie „Meine fröhliche Vagina“ vorgetragen hatte – alle sechsundzwanzig Strophen. Als sie kurz darauf die Töpferkunst für sich entdeckte, war ich unglaublich erleichtert. Bis jetzt.

Verlegen drehte ich den Teller in der Hand, der mit dem Bild eines menschlichen Kopfes verziert war, auf dem sich Dutzende von Schlangen wanden. „Der ist wirklich schön. Vor allem der Medusenkopf.“

Sie lachte und stieß mir ihren Ellbogen in die Rippen. „Medusenkopf“, schnaubte sie. „Aber das bist doch du!“

Im Herbst wollte sie den Töpferkurs für Fortgeschrittene besuchen, und für Weihnachten versprach sie mir ein weiteres Gedeck. Ich hoffte inständig, sie würde bis dahin anfangen zu malen.

Um halb sieben holte Nils mich ab und lud mich zu unserem Lieblingsvietnamesen in Schwabing ein. Während wir unsere Hanoi-Suppe löffelten, fragte ich ihn, wie es dem Maestro ging. Nils senkte den Blick und murmelte etwas, das wie „Innungssitzung“ klang. Sein Lebensgefährte und ich mochten uns nicht besonders, und selbst Nils hatte es inzwischen aufgegeben, an dieser Tatsache etwas ändern zu wollen. Begegnungen mit dem Meistercoiffeur von München waren mir immer etwas unangenehm und ließen mich zu viel über meine Haare nachdenken. Abgesehen von Nils hatten wir einfach nicht das Geringste gemeinsam, und so gingen wir uns nach Kräften aus dem Weg und behandelten uns bei gelegentlichen Treffen mit diplomatischer Höflichkeit.

Nach dem Essen gingen wir ins Kino. Der Film war spannend und unterhaltsam, auch wenn ich mit Science-Fiction an sich nicht viel am Hut hatte. Nils, der sich selbst einen wahren Trekkie nannte, war völlig begeistert.

„Der junge Kirk ist wahnsinnig sexy, findest du nicht?“

„Toller Body“, stimmte ich ihm zu, „aber der alte Kirk hatte auch was.“

„Du hast ja einen Vaterkomplex.“

„Ich meine den Kirk aus der Urserie aus den Sechzigern“, erwiderte ich genervt. „Außerdem – wer ist denn mit einem Mann liiert, der glatt sein Vater sein …“

Er grinste mich an. Obwohl ich Nils seit zehn Jahren kannte, fiel ich immer noch auf seine Sticheleien herein. Manche Dinge änderten sich wahrscheinlich nie.

Während wir uns durch das gut besuchte Kinofoyer zum Ausgang durchkämpften, schlug Nils vor, etwas trinken zu gehen, um für mich, wie er es formulierte, ein verspätetes Geburtstagsgeschenk aufzureißen. Aber mir war nicht danach, die Nacht mit einem Fremden zu verbringen, ich wollte nach Hause.

„Du wirst noch als verbitterter alter Mann enden, der nach seinem Tod wochenlang in der Wohnung liegt und von seinen Katzen gefressen wird.“

„Ich habe keine Katzen“, sagte ich. „Falls du’s vergessen hast, ich bin allergisch.“

„Dann hab ich eine gute Nachricht für dich, sie haben anti­allergische Katzen gezüchtet.“

„Du meinst allergenfrei.“

Nils streckte mir die Zunge raus. Plötzlich stieß er mir den Ellbogen in die Rippen und deutete mit dem Kopf in Richtung der Süßwarentheke. „Siehst du den Typ in der Jeansjacke? Der ist doch voll süß. Warum gehst du nicht rüber und sprichst ihn an?“

Ich folgte seinem Blick und taxierte neugierig den Mann, den ich auf Ende zwanzig schätzte. Er sah wirklich gut aus, wirkte auf mich aber keineswegs schwul. Nils war anderer Meinung, und bevor ich ihn daran hindern konnte, hatte er sich schon durch die Menge gedrängt und ihn angesprochen. Peinlich berührt beobachtete ich, wie die beiden sich unterhielten und dabei immer wieder in meine Richtung sahen. Der Jeanstyp wirkte verlegen, was ich sehr gut nachfühlen konnte; am liebsten wäre ich im Boden versunken.

„Das war leider nichts“, sagte Nils, als er zu mir zurückkam.

Ich packte seinen Arm und zerrte ihn unsanft in Richtung Ausgang. Im Hinausgehen warf ich einen Blick über die Schulter. Der Jeanstyp bestellte gerade Popcorn; wenn ihn die Anmache verärgert hatte, ließ er es sich nicht anmerken.

„Ich hab dir doch gesagt, er ist hetero“, zischte ich vor der Tür.

„Ist er nicht“, erwiderte Nils grinsend und blickte zurück zur Süßwarentheke. Ein blonder, junger Mann im Sweatshirt gesellte sich zu dem Jeanstypen, der ihm vermutlich sofort von seinem Erlebnis berichtete. Beide schauten sich suchend im Foyer um, und ich zerrte Nils schnell vom Eingang weg.

„Sein Freund. Sie sind seit drei Jahren zusammen.“

„Wie machst du das immer?“ Es war wirklich frustrierend, Nils brauchte nur einen Blick auf einen Mann zu werfen und konnte mit traumwandlerischer Sicherheit sagen, ob dieser schwul war oder nicht.

„Es ist eine Gabe“, sagte er nur.

Eine Viertelstunde später setzte er mich vor dem Haus ab. Wir saßen noch eine Weile im Wagen und plauderten. Als ich mich verabschiedete, hielt er mich am Arm fest.

„Es wird alles gut werden, okay?“ Er sprach so langsam und eindringlich, als hätte er es mit einem Lebensmüden zu tun. „Du wirst diesen egoistischen Mistkerl vergessen und der Liebe deines Lebens begegnen.“

„Nils, mir geht’s prima. Es ist ja nicht so, als ob ich mich jede Nacht in den Schlaf heulen würde.“ Das hob ich mir für die Wochenenden auf. Ich brachte ein Lächeln zustande, das tapfer und zuversichtlich wirken sollte.

„Das Schicksal hat dir einen Tritt verpasst und dich vom Pferd gehauen“, sagte er. „Aber du darfst jetzt nicht aufgeben, hörst du? Du musst raus aus dem Matsch und zurück in den Sattel. Das Leben mit den Hörnern aufspießen …“

„Nils, bitte, hör auf.“ Mit Redewendungen und Sprichwörtern stand der Mann seit jeher auf Kriegsfuß. „Wenn es so etwas wie eine Metaphern-Polizei gäbe, wärst du wohl der Staatsfeind Nummer eins.“

„Ich mein ja nur, weil du heute Geburtstag hast und so. Du grübelst einfach zu viel, das war schon immer dein Problem. Du grübelst zu viel und vögelst zu wenig.“

„So, jetzt wird es aber allerhöchste Zeit für mich …“

Bevor ich die Tür zuwerfen konnte, musste er mir noch eine weitere Lebensweisheit mit auf den Weg geben: „Wenn er dich verlassen konnte, war er sowieso nicht der Richtige.“

Ich dachte darüber nach, als ich die Treppe zu meiner Wohnung hinaufstieg, und auch noch, als ich ein paar Minuten später mit einer Tafel Nougatschokolade und Nicholas Christophers Eine Reise zu den Sternen auf der Couch saß. Das Problem war, dass ich Nils nicht glaubte. Bruno war der Richtige gewesen, und ich Vollidiot hatte ihn gehen lassen. In den zwei Jahren, die wir zusammen gewesen waren, erzählte ich jedem, der mich danach fragte – und auch den meisten, die mich nicht danach fragten –, dass das Schicksal uns zusammengebracht hatte. Streng genommen war es jedoch nicht das Schicksal gewesen, sondern der Tod.

Mein Großvater hatte vor vier Jahren einen schweren Schlaganfall. Bis dahin war er ein rüstiger Dreiundachtzigjähriger gewesen, der allein in seiner Wohnung lebte, mehrmals im Jahr verreiste und sein Leben in vollen Zügen genoss. Da mein Vater, sein einziges Kind, bereits vor vielen Jahren gestorben war, war ich alles, was er an Familie besaß. Wir standen uns nahe, ich besuchte ihn ein, zwei Mal die Woche, erledigte seine Einkäufe und spielte mit ihm Schach und Mau-Mau. Meistens schlug er mich, allerdings mogelte er auch, was ich großzügig übersah. Wenn ich nach Hause ging, steckte er mir meistens ein bisschen Geld zu, und auch da tat ich so, als würde ich es nicht bemerken. Mein Großvater akzeptierte mich, anders als meine Mutter, so wie ich war, und ich liebte ihn.

Der Schlaganfall veränderte alles. Ich fand ihn bewusstlos im Schlafzimmer, wo er bereits mehrere Stunden gelegen hatte. Der Arzt versicherte mir, dass er gestorben wäre, hätte ich ihn nur ein oder zwei Stunden später entdeckt, und manchmal denke ich, dass es vielleicht besser gewesen wäre.

Mein Großvater war ein vornehmer älterer Herr, altmodisch auf eine angenehme Art, das Relikt eines höflichen Zeitalters, einer Welt der Nadelstreifen und Uhrketten und Hüte. Wenn ich an ihn dachte, roch ich den dezenten Veilchenduft seines Rasierwassers und hörte das vertraute Klacken seiner Manschettenknöpfe, wenn er, ein Buch in der Linken, seine goldgefasste Brille in der Rechten, seine Arme auf die Lehnen des Sessels sinken ließ. Er besaß vollendete Manieren und die Eloquenz eines Diplomaten, einen funkelnden Verstand und das romantische Herz eines Abenteurers. In jüngeren Jahren war er ein begeisterter Segler gewesen, der allein den Atlantik überquert hatte, lange bevor es Satelliten und computergesteuerte Navigationssysteme gegeben hatte, er hatte die Häfen Neuenglands besucht und die Inseln der Karibik, ein eingeschworener Freund der Sterne und Winde. Jetzt vegetierte er halbseitig gelähmt und stumm in einem Pflegeheim vor sich hin und wartete auf den Fährmann, der ihn über den Styx bringen würde. Ich besuchte ihn jeden Tag, saß an seinem Bett und las ihm aus seinen Lieblingsbüchern vor – Joseph Conrad und Jack London, John Galsworthy und Thomas Mann. Früher, als ich klein war, hatte er mir immer vorgelesen, von ihm hatte ich meine Leidenschaft für Bücher geerbt.

Sein Sterben dauerte über ein Jahr und war ein langsamer, qualvoller Prozess, der mich mehr mitnahm als das jahrelange Siechtum meines Vaters. Nach seinem Tod erbte ich das Mietshaus, in dem er sein gesamtes Leben verbracht hatte, und knapp dreißigtausend an Bargeld. Was immer er sonst noch an Ersparnissen besessen hatte, war vermutlich für das Pflegeheim draufgegangen. Das Haus war solide und alt, gebaut in einem Zeitalter der Beständigkeit, aber es befand sich in einem erbärmlichen Zustand, die Fassade pockennarbig und verblasst. Viel zu lange hatte mein Großvater größere Investitionen gescheut oder hinausgezögert. Die elektrischen Leitungen mussten erneuert werden, die Heizung war marode, und das Dach musste neu gedeckt werden. Im Erdgeschoss befanden sich zwei kleine Geschäfte, die ich zusammenlegen und in einen Buchladen verwandeln wollte. Ich hatte schon immer von meinem eigenen Laden geträumt. Für all das brauchte ich Geld – weshalb ich eine Hypothek aufnahm – und einen Architekten. So lernte ich Bruno kennen.

Er hatte Humor. Das war mir als Erstes an ihm aufgefallen. Bruno war acht Jahre älter als ich, hatte graue Haare und den sehnigen Körper eines Langstreckenläufers. Wir verstanden uns auf Anhieb, sprachen aber nur über die Vor- und Nachteile von Gas- und Ölheizungen, tragende Wände und Dämmmaterial. Auf seinen Vorschlag hin ließ ich das Dachgeschoss zu einer Penthouse-Maisonette-Wohnung ausbauen, die ich gerne selbst bezogen hätte, wenn ich nicht auf die Miete angewiesen gewesen wäre. In meine Traumwohnung zog der Topmanager einer Immobilienbank ein, und ich residierte weiterhin im ersten Stock, in der alten Wohnung meines Großvaters.

Es war kein großer Auftrag, aber Bruno widmete sich ihm so gewissenhaft, wie man es sich nur wünschen konnte. Da ich lange arbeiten musste, trafen wir uns meistens am Abend. Irgendwann lud er mich zum Essen ein. Ich holte ihn mit dem Wagen ab und brachte ihn später heim. Er fragte mich, ob ich noch auf ein Glas Wein mit hinaufkommen wolle. Es wurde spät. Als ich mich schließlich von ihm verabschiedete, starrte er mich unverwandt an. Lange. Dann fragte er mich plötzlich, ob ich schwul sei. Ich bejahte.

„Na, Gott sei Dank“, sagte er und küsste mich.

In den ersten zwölf Monaten entdeckten wir, wie viel wir gemeinsam hatten. Wir liebten italienisches Essen und vertrödelte Sonntage im Bett. Kaffee, Croissants und Himbeermarmelade. Kitschige Sonnenaufgänge über der Lagune von Venedig. Das melancholische Plätschern von Wassertropfen auf Blattwerk. Mozart und die Romane von Charles Dickens.

Nach einem Jahr zog Bruno bei mir ein, und in den nächsten zwölf Monaten entdeckten wir, was uns am anderen störte. Wir stritten uns über belanglose Dinge wie Marmeladenflecken auf der Zeitung, seine Angewohnheit, die Schuhe im Schlafzimmer und nicht in der Diele auszuziehen, oder meinen Fimmel, alle Küchengewürze alphabetisch zu ordnen. Er liebte Kafka, ich dagegen war nie über die dritte Seite von Der Prozeß hinausgekommen, ohne Kopfschmerzen oder Selbstmordgedanken zu bekommen.

Trotz aller Unterschiede kamen wir uns immer näher. Es war die beste Beziehung, die ich je hatte, und allmählich wurde mir klar, dass ich Bruno liebte. Ihm zuliebe ging ich joggen, auch wenn ich es hasste. Er besuchte mit mir ein Konzert von Madonna, obwohl er jede Note, die nach 1911, dem Todesjahr von Mahler, geschrieben worden war, nicht als Musik betrachtete, sondern bestenfalls als rhythmischen Lärm. Mein Leben änderte sich. Ich dachte immer häufiger in der ersten Person Plural, legte ein paar Kilo zu, weil ich öfter kochte – und zu wenig joggte –, und war zum ersten Mal wirklich glücklich.

Allerdings gingen Brunos Geschäfte schlecht. Die Aufträge blieben aus, und vor neun Monaten musste er sein Architekturbüro schließen. Ich weiß nicht mehr, wann er zum ersten Mal Sydney erwähnt hatte, aber es muss kurz danach gewesen sein. Ein ehemaliger Kommilitone von ihm lebte und arbeitete dort und hatte ihm von den tollen Möglichkeiten Down Under vorgeschwärmt. Bruno fragte mich, ob ich schon einmal mit dem Gedanken gespielt hätte auszuwandern, und ich sagte nein.

„Aber Australien ist toll. Vor allem Sydney. Du hast eine Millionenmetropole mit Bergen und Strand, Theater, Museen, eine berühmte Oper …“

„Klingt gut“, sagte ich. „Wir können gerne unseren nächsten Urlaub dort verbringen, aber für immer da leben? Am Ende der Welt? Mein Zuhause ist hier.“

„Du hast keine Familie mehr, seit dein Opa tot ist. Bis auf deine Mutter, aber … na ja. Und für mich wäre es eine Riesenchance.“

„Was ist mit meinem Laden? Ich habe ihn doch gerade erst eröffnet. Und das Haus? Nach der ganzen Arbeit, die wir hier reingesteckt haben, soll ich von einem Tag auf den anderen alles im Stich lassen? Von meinen Freunden mal ganz zu schweigen.“

„Du kannst einen neuen Laden aufmachen. Oder mal was ganz anderes versuchen. Und Nils kann uns im Urlaub besuchen, und wenn du Sehnsucht nach München hast, setzt du dich einfach in den nächsten Flieger.“

Ich war hin- und hergerissen. Australien war am Ende der Welt, und die Vorstellung, dort leben zu müssen, war für mich nicht gerade verlockend. Was sollte ich dort? Alle meine Freunde lebten hier, mein Englisch war eher dürftig, und wovon sollte ich leben? Natürlich konnte ich hier alles verkaufen und mich eine Weile auf die faule Haut legen, oder ich fing tatsächlich noch einmal ganz von vorne an. Aber im Grunde hatte ich genau das gerade erst getan. Ich hatte meinen Job bei Hugendubel gekündigt und meine eigene Buchhandlung eröffnet. Mir gehörte ein Mietshaus, um das ich mich kümmern musste, weil ich es meinem Großvater versprochen hatte. Ich mochte mein Leben so, wie es gerade war. Allerdings machte Bruno einen großen Teil davon aus. Wenn ich ihn liebte, war es dann zu viel verlangt, ihm zu folgen, zur Not auch bis ans Ende der Welt? Aber galt das nicht auch umgekehrt? Konnte er nicht mir zuliebe auf sein Abenteuer in Australien verzichten und sich hier um einen neuen Job bemühen?

Im Oktober flog Bruno nach Sydney. Ich hatte im letzten Moment beschlossen, ihn nicht zu begleiten, und das nahm er mir übel. Nachdem er zurück war, stritten wir uns fast pausenlos, und Ende November eröffnete er mir, dass er den Job in Australien angenommen hatte und Anfang des neuen Jahres Deutschland verlassen würde. Für mich sei es noch nicht zu spät, sagte er, ich könne jederzeit nachkommen. Die Wahrheit war, dass ich Angst hatte vor dem Unbekannten, aber auch davor, mich von einem einzigen Menschen abhängig zu machen.

Wir verbrachten Weihnachten in ziemlich trübseliger Stimmung, aber wir stritten uns wenigstens nicht mehr, dafür waren wir viel zu erschöpft. Die Schlacht war vorüber. Das anhaltende Schweigen war jedoch schlimmer als jeder Streit. Ich war immer noch wütend auf ihn, weil er mich einfach vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, und er hielt mich vermutlich für unglaublich stur und unflexibel. Die Tage flogen nur so vorbei, das Jahr ging zu Ende. Nachdem Bruno fort war, fiel ich in ein tiefes Loch. Mit einem Mal war meine Wohnung viel zu groß, und alles darin erinnerte mich an ihn. Ich vermisste ihn und dachte mindestens einmal am Tag ernsthaft darüber nach, meine Sachen zu packen und ihm nach Sydney zu folgen. Er schrieb mir viele E-Mails, in denen er mir sagte, wie sehr ich ihm fehlte und er sich wünschte, ich käme zu ihm. Aber für dieses Abenteuer fehlte mir der nötige Mut. Ich fühlte mich mit einem Mal alt und festgefahren in meinen Gewohnheiten. Oder liebte ich Bruno vielleicht nicht genug?

Angeblich braucht man für jedes Jahr einer Beziehung einen Monat, um nach einer Trennung darüber hinwegzukommen. Bruno und ich waren zwei Jahre zusammengewesen, demnach hätte ich bereits vor Monaten den Schmerz überwunden haben müssen. Aber es tat immer noch verdammt weh. Ich vermisste ihn, und manchmal, wenn ich nachts aufwachte, meinte ich, ihn neben mir zu spüren und seinen sanften Atem zu hören. Offenbar war ich noch nicht bereit, das Kapitel Bruno abzuschließen und mir einen neuen Lover zu suchen oder auch nur einen Mann für eine Nacht. Obwohl es lächerlich und irrational war, hatte ich immer noch das verpflichtende Gefühl, mit Bruno zusammenzusein. So konnte das auf keinen Fall weitergehen.

Ich war heute einunddreißig Jahre alt geworden und damit in einem Alter, in dem sich immer mehr Türen schließen und immer weniger öffnen, ein Alter, in dem man bestimmte Dinge gelernt und Gewissheiten erlangt haben sollte, von Weisheit will ich gar nicht mal reden. Vielleicht das richtige Alter für ein großes Abenteuer oder eine gewaltige Dummheit. Entschlossen, den nächsten Flug nach Sydney zu buchen, startete ich meinen Computer. Auf jeden Fall sollte ich mir Australien einmal ansehen, bevor ich mich endgültig entschied. In meinem Postfach warteten einige E-Mails auf mich, Geburtstagsglückwünsche von Freunden, die üblichen Hinweise auf die Vorzüge einer Penisverlängerung oder wo man günstig an Viagra kam, und eine Nachricht mit Anhang von Bruno.

Er gratulierte mir ebenfalls und schickte mir einige Fotos von seiner Wohnung, „damit du siehst, wie heimisch ich mich inzwischen fühle“. Von seinem Balkon aus konnte man sogar das Meer sehen, ein blassgrauer, weit entfernter Fleck zwischen einigen furchtbar hässlichen Mietskasernen. Seine Wohnung war klein, aber gemütlich. Ich erkannte den Relax-Sessel wieder, unser Bücherregal und den Fernseher. Da stand unser Bett …

Nein, das war das falsche Possessivpronomen. Das heimelige Wir hatte sich zu Ich und Er zurückentwickelt. Die Gleichung war nicht aufgegangen, am Tag seines Auszugs hatten wir unseren Besitz wieder in Mein und Dein auseinanderdividiert, und meine Wohnung wirkte seither so lückenhaft wie das Gebiss eines Sechsjährigen. Es hatte Wochen gedauert, bis ich mir ein neues Bett gekauft hatte und aus dem Gästezimmer zurück ins Schlafzimmer gezogen war. Es gab einfach zu viele Erinnerungen an ihn.

Meine Sehnsucht nach Bruno war plötzlich so groß, dass ich kaum atmen konnte. Ich überlegte, zum Telefon zu greifen, wusste aber nicht, wie spät es gerade in Sydney war. Früher Morgen? Nachmittag? War er zu Hause oder eher im Büro? Ich sah mir die restlichen Fotos an. Beim Bad wurde ich stutzig. Rasch öffnete ich mein Bildbearbeitungsprogramm und sah mir das Foto genauer an, schnitt ein Detail aus und vergrößerte es. Tatsächlich, ich hatte mich nicht geirrt. Auf der Ablage über dem Waschbecken stand ein Becher aus weißem Porzellan. Und darin befanden sich zwei Zahnbürsten.

Na, da fühlt sich aber jemand schon ein bisschen zu heimisch, dachte ich.

Aber ich fühlte … gar nichts. Mir war ein wenig flau im Magen, aber die Erde blieb nicht stehen und ich hatte auch nicht das Gefühl, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Es war irgendwie komisch. Ich kam mir albern vor und wahnsinnig pathetisch. Im Gegensatz zu mir hatte Bruno unsere Trennung offenbar bereits überwunden. Ein neuer Job, ein neues Land, ein neuer Freund. Dieser egoistische Mistkerl.

Ich musste ihn endlich vergessen. Ich wusste das.

Jetzt musste es nur jemand meinem Herzen sagen.