Cover-klein.jpg

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Erste Auflage der Printausgabe März 2012

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos Fotolia (Natursee © Christian Schwier)).

ISBN 978-3-89656-528-0

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH und Salzgeber & Co. Medien GmbH

Mehringdamm 33, 10961 Berlin

www.querverlag.de - www.salzgeber.de

Kapitel 1

Langsam, begleitet vom ohrenbetäubenden Quietschen der Räder, kommt der Zug der Ostdeutschen Eisenbahn zum Stehen. Mit zweiundzwanzigminütiger Verspätung steigt Tobias Kramer aus dem vorletzten Waggon und blickt verunsichert den Bahnsteig entlang.

Es ist 21:35 Uhr.

Hinter ihm schließen sich die Türen des Zuges, der sich erneut in Bewegung setzt und Tobias auf dem verwaisten Bahnhof zurücklässt. Niemand sonst ist mit ihm ausgestiegen. Die Wartehalle, verriegelt und düster, macht einen heruntergekommenen Eindruck. Personal gibt es hier schon lange nicht mehr. Laut Fahrplan halten die Züge nur alle zwei Stunden. Ein winziger Ort, wie so viele in dieser Gegend, mit einem winzigen, eingleisigen Bahnhof, einem leerstehenden Gebäude aus Backsteinziegeln und einem verbeulten Ortsschild an der bröckelnden Fassade.

Tobias sieht dem Zug hinterher.

Ganz wohl ist ihm nicht zumute. Die Nacht ist kühler als gedacht. Er trägt ein T-Shirt unter der dünnen Windjacke, Jeans und weiße Turnschuhe. Zudem ist es dunkel. Die wenigen Laternen werfen gelbes, kegelförmiges Licht auf den schmalen Bahnsteig. Alles andere verschwimmt vor dem tiefblauen, wolkenverhangenen Himmel.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise abgeerntete Felder, die sich über geschwungene Hügel zum Horizont erstrecken, unterbrochen von wenigen Bäumen. Weit entfernt die Silhouette eines Hochstands für Jäger. Vor ihm ein unbeleuchteter Parkplatz, auf dem lediglich ein alter Lieferwagen steht, und dahinter die Umrisse der ersten Häuser. In den Fenstern vereinzelte Lichter. Passanten sind keine in Sicht.

Tobias richtet sich auf, holt einmal tief Luft, als müsste er sich überwinden, und folgt dem gepflasterten Weg am Bahnhofsgebäude vorbei, durch das in den Scharnieren hängende Gatter des Holzzauns, bis auf den Vorplatz.

Tobias Kramer ist neunundzwanzig, seit drei Jahren verheiratet, und wohnt eine halbe Stunde mit dem Zug entfernt in einem Ort, nicht größer als jener, vor dessen Bahnhof er sich gerade befindet. Er arbeitet in einem Malereibetrieb, der kurz vor der Insolvenz steht. Seine Frau, ein Jahr jünger, ist im siebten Monat schwanger. Auf ihrem Reihenhaus lasten zwei Hypotheken, die Tobias, wenn sein Sohn geboren und er im Frühjahr arbeitslos geworden sein wird, nicht mehr abbezahlen kann.

Doch darüber denkt er nicht nach. Tobias verdrängt. Seine Probleme erstickt er in dem, was ihn treibt. In diesen Momenten ist ihm alles egal. Dann verblasst seine dumpfe Realität hinter Fantasien, die sein bisheriges, verpfuschtes Leben auf den Kopf stellen und ihn leben lassen, wie er es verdient.

Was seine Frau, seine Familie und Freunde nicht wissen: Tobias chattet mit Männern im Internet. In einem abgetrennten Bereich im Keller, den er als Rückzugsraum für sich deklariert und zu dem seine Frau keinen Zutritt hat, knüpft er an seinem Laptop Bekanntschaften und trifft Verabredungen. Mit Männern, denen die Anonymität ebenso wichtig ist wie ihm.

Deshalb ist er hier.

Er geht ein paar Schritte auf den Lieferwagen zu, dessen Fahrertür in diesem Moment geöffnet wird. Jazzmusik schallt laut über den leeren Parkplatz, bevor jemand eilig das Radio ausstellt, um die Stille der Nacht nicht weiter zu stören.

Tobias hält inne und überprüft, ob er von einem der nahegelegenen Häuser aus beobachtet wird. Zum Glück scheint ihn niemand bemerkt zu haben.

Den Mann, der aus dem Wagen gestiegen ist, kann er aus dieser Entfernung kaum erkennen. Tobias weiß nicht viel über ihn: seinen Namen und seinen Wohnort, wenige Kilometer von dem Bahnhof entfernt.

„Tobias?“

Die Stimme klingt einladend, freundlich und unsicher zugleich.

Tobias ist sichtlich erleichtert. Er will dieses Treffen unbedingt. Und er will, dass sie einander sympathisch sind. Mehr erwartet er nicht. Für eine Nacht ist das ihm genug.

Läuft es schief, geht der nächste Zug erst um elf.

„Bist du Norbert?“

„Schön, dass es geklappt hat. Ich dachte schon, du kommst nicht.“

Seine Nervosität hat sich ein wenig gelegt. Tobias tritt näher, streckt dem Unbekannten die Hand entgegen und lächelt. Ein fester, von der Anspannung verschwitzter Händedruck, steif und formell. Sein kindlich erregter Blick mustert den Fremden, gleitet an ihm herab und wieder hinauf. Mit dem, was Tobias in der Dunkelheit erkennen kann, ist er zufrieden.

Nach der Begrüßung weiß er nicht recht, wohin mit den Händen. Ständig sieht Tobias sich um. Seine Furcht, entdeckt zu werden, sitzt tief. Die Ungewissheit ist sein ständiger Begleiter. Und dennoch kann er nicht anders, als seiner Lust zu gehorchen.

„Du siehst noch besser aus als auf dem Foto“, sagt der Mann, dass Tobias errötet.

Er hat sich nie für besonders gutaussehend gehalten. Er wäre gern größer, ein paar Kilo leichter, und vor allem hätte er gern eine kleinere Nase. Dafür hat er schöne Augen, sagt seine Frau, und beneidenswert dichtes, pechschwarzes und schulterlanges Haar.

„Danke“, erwidert Tobias verlegen und will so schnell wie möglich fort von hier. Fort von diesem Parkplatz, der, obwohl völlig verwaist, ihn gerade deshalb in den Mittelpunkt zerrt. „Ist es weit?“

„Zehn Minuten. Wollen wir fahren?“

Tobias nickt, will um den Lieferwagen herum zur Beifahrertür.

„Warte. Ich hatte keine Zeit, den Sitz vorne freizuräumen. Macht es dir etwas aus, hinten zu sitzen?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnet der Mann die beiden Türen an der Rückfront des Wagens. Für einen Moment ist Tobias irritiert. Er sieht durch das Seitenfenster auf den Beifahrersitz. Tatsächlich liegen dort kleine Kartons gestapelt auf dem Boden und Werkzeug wahllos auf dem Sitz. Dann gleitet sein Blick auf die Beschriftung des metallenen Aufbaus. Klempnerei Blumenholz steht dort in blauen Lettern, darunter ein Symbol aus zwei Rohrzangen und einer Wasserwaage.

„Ich weiß“, lacht der Mann und hebt entschuldigend die Hände. „Das ist nicht sehr einladend. Ich mache es wieder wett, versprochen.“

Sie sehen sich an. Norberts Lachen klingt entwaffnend. Im matten Schein der winzigen Lampe im Lieferwagen, die lediglich seine rechte Gesichtshälfte beleuchtet, hat er nichts Bedrohliches an sich. Sein Äußeres ist gepflegt, beinahe bieder. Auch er ist kein schöner Mann, älter vielleicht, als er im Chat angegeben hat, aber sympathisch, mit schlankem Körperbau und einem Drei-Tage-Bart in seinem leicht schief wirkenden Gesicht. Tobias hat keinen Anlass, misstrauisch zu sein.

„Es ist wirklich nicht weit. Und es liegen Kissen drin.“

Aus der Ferne ertönt das Signal eines herannahenden Zuges. Das erleichtert Tobias die Entscheidung.

„Kein Problem“, sagt er, den linken Fuß bereits auf der Ladefläche.

Der Schlag trifft ihn mit voller Wucht über der linken Schläfe. Mit einem erstickten Schrei fällt er bewusstlos vornüber.

Aus den wenigen beleuchteten Fenstern der umliegenden Häuser fällt spärliches Licht, flackert hier und da ein Fern­seher auf. Die letzten Bewohner sind seit Stunden von der Arbeit zurückgekehrt und haben die abendliche Runde mit dem Hund längst gedreht. Es gibt keinen Grund, auf einen verwaisten Parkplatz zu blicken, auf dem nie etwas geschieht.

Während der Zug an dem Bahnhofsgebäude donnernd vorbeirast, wird Tobias auf die Ladefläche geschoben und werden die beiden Flügeltüren geschlossen. Kurz darauf rollt der Lieferwagen vom Parkplatz nach rechts in die Nacht.

Minuten später erst, auf der kaum befahrenen Landstraße, gehen die Scheinwerfer an.

Kriminalhauptkommissarin Monika Seyfarth ist noch immer erstaunt, wenn sie morgens neben ihm aufwacht. Zu neu und befremdlich scheint ihr die Anwesenheit eines Mannes in ihrem Bett zu sein, als dass sie diese Tatsache einfach als Normalität akzeptieren könnte. Hinzu kommt das schlechte Gewissen.

Es ist nur der erste Augenblick, bevor sie über ihre morgendliche Verwunderung lächeln muss, bevor sie sich über seinen nackten Rücken beugt und behutsam die zarte Stelle zwischen den Schulterblättern küsst. Seine Haut ist warm und weich, gebräunt von der Sonnenbank. Stundenlang könnte sie ihm beim Schlafen zusehen. Vincent Schröter schläft wie ein kleiner Junge, so fest und tief, und von allen Sorgen befreit, was sie neidisch macht. Gleichmäßig hebt und senkt sich seine unbehaarte Brust mit jedem Atemzug, entkommt ihm dabei ein leises Schnarchen durch die halb geöffneten Lippen seines zur Seite gebetteten Kopfes.

Einen solchen Schlaf hätte sie auch gern. Sich umdrehen und einschlafen können. Einfach abschalten, um die Probleme auf den nächsten Tag zu verschieben. Stattdessen wälzt sie sich Nacht für Nacht hin und her, gerät ins Grübeln und träumt wirres Zeug. Wenn sie aufwacht, hat sie jedes Mal das Gefühl, gerade erst ins Bett gegangen zu sein.

Richtig ausgeruht fühlt sie sich nie.

Leise, um Vincent nicht zu stören, steht Monika auf, zieht sich den Morgenmantel über, schlüpft in die Pantoffeln und geht in die Küche. Ihr Sohn, bemerkt sie mit Blick auf sein Zimmer, ist ebenfalls wach. Leise Musik dringt durch die geschlossene Tür. Sie füllt die Kaffeemaschine mit Wasser, den Filter mit übertrieben viel Kaffee, und wartet daneben gegen die Küchenzeile gelehnt, bis ihr Lebenselixier in die Kanne getröpfelt ist.

Wenn Vincent aufwacht, wird sie den Tisch längst gedeckt und mindestens zwei Becher getrunken haben. Und wenn sie es geschickt anstellt, wird Sven vom Bäcker am Ende der Straße zurück sein.

Vorsichtig klopft Monika an und steckt den Kopf in sein Zimmer. Sven sitzt, wie nicht anders erwartet, vor dem Computer.

„Guten Morgen“, sagt sie. „Bist du schon angezogen?“

Langsam dreht sich ihr Sohn in seinem Stuhl um hundertachtzig Grad. Zeit oder Lust zum Kämmen hatte er noch nicht. Seine blonden Haare stehen in alle Richtungen ab. Er trägt seine grauen Jogginghosen, keine Socken und ein ärmelloses T-Shirt.

„Wieso immer ich?“, fragt er, weil er weiß, was kommt. „Ich hab Ferien.“

„Vincent schläft noch.“

„Na und? Dann weck ihn auf.“

„Ach, komm schon. Bitte. Wir hatten gestern einen langen Tag.“

„Das ist schon das dritte Mal diese Woche.“

Wirklich?, denkt sie überrascht, weil jeder Morgen mit Vincent Schröter so neu ist, dass sie an eine Wiederholung kaum glauben mag. Dabei kennt sie Vincent seit Jahren. Seit er sich freiwillig aus Hessen nach Berlin versetzen ließ, um unter ihrer – wie er es ironisch nennt – Herrschaft im Kriminalamt zu arbeiten. Und genau hier liegt der Grund für ihr schlechtes Gewissen. Sie hat sich auf einen Mitarbeiter eingelassen, auf einen rangniedrigeren und jüngeren noch dazu. Lange Zeit hat sie deshalb mit sich gehadert. Erst vor drei Wochen, als sie gemeinsam ihren letzten Mordfall gelöst haben, war sie seinen Avancen nicht länger ausgewichen. Nach zwei Flaschen Rotwein und schrecklich romantischem Kerzenlicht ist es einfach passiert. Seitdem sind sie beide ein Paar, ohne dass im Büro jemand davon weiß. Sie kennt ihre Kollegen nur allzu gut. Sobald das Gerücht die Runde machen würde, wäre das Getratsche hinter ihrem Rücken unerträglich. Wie vor fünf Jahren, als ihre Ehe mit Fred in die Brüche ging.

„Ich erhöhe auch dein Taschengeld“, bietet sie leichtfertig an, damit Vincent frische Brötchen bekommt.

Sofort ist Sven aufgesprungen, hat sich die Turnschuhe und seine Jacke übergezogen und ist aus der Wohnung geeilt. Be­stechung, fährt es ihr durch den Kopf, funktioniert immer.

Wenig später sitzt sie im Wohnzimmer am Esstisch, schlürft ihren Kaffee und blättert in Akten.

An diesem Fall sitzt sie bereits wochenlang. Eine bedrückende Sackgasse, ohne erkennbaren Ausweg. Sie wird mit Vincent noch einmal alles durchgehen müssen, jede noch so kleine Einzelheit. Es kann nicht angehen, dass ein Serienkiller in Berlin frei herumläuft, ohne einen einzigen Fehler zu begehen. Und dennoch scheint er genau dies zu tun.

Vorsichtig holt sie unter der Akte eine weitere hervor, die sie sich aus Marburg, Vincents Geburtsstadt, hat kommen lassen. Ein längst vergangener Mordfall, von dem sie glaubt, dass seine Eltern darin verwickelt waren. Während des Studiums hat sie sich für den Prozess interessiert, ihn jahrelang vergessen, um sich erst kürzlich darauf zu besinnen. Der Name Schröter sowie die Stadt Marburg haben die Erinnerung schlagartig zurückgeholt und sie aufhorchen lassen.

Seitdem lässt ihr der mögliche Zusammenhang keine Ruhe.

Vielleicht eine falsche Vermutung, aber eine, der sie nachgehen muss. Gegen die Neugier kommt sie nicht an. Ihn danach zu fragen, wäre ihr unangenehm. Vincent redet, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft von seiner Vergangenheit. Da sind Lücken, die Monika regelrecht hören kann. Lücken, über die er scheinbar mühelos in Gesprächen hinwegspringt und die trotz seiner Anstrengung eine winzige Veränderung in seiner Stimme hervorrufen und einen kurzen, betrübten Blick zur Seite. Doch da sie ihm schon erlaubt hat, ihr Leben zu betreten, will sie auch wissen, wer er ist und was ihn geformt hat. Zudem kann sie Geheimnisse nicht ertragen, selbst wenn diese sie nichts angehen. Dafür ist sie zu sehr Polizistin.

Ein Geräusch nebenan lässt sie schuldbewusst die Akte wieder unter der anderen verschwinden. Sie macht sich strafbar im zwischenmenschlichen Miteinander, darüber ist Monika sich im Klaren. Sie will ja nur wissen, ob an ihrem Verdacht etwas dran ist, weiter nichts. Wenn sie jetzt den Fall erwähnt, macht sie sich womöglich bloß lächerlich. Und wenn es doch eine Verbindung geben sollte, dann wird sie ihn fragen. Ganz sicher. Später.

Noch verschlafen, in zerknitterten Boxershorts, kommt Vincent ins Wohnzimmer, schlurft auf sie zu und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. An seine Schönheit hat sich Monika noch immer nicht gewöhnt. Vincent ist groß, breitschultrig, trainiert. Er hat blaue Augen unter dunklen Brauen, eine gerade Nase, schwarze Haare und ein niedliches Grübchen im Kinn. Er geht ins Sportstudio, legt sich zweimal wöchentlich auf die Sonnenbank und ist sich seines Aussehens durchaus bewusst.

Ein Angeber, hat sie gedacht, als er am ersten Tag bei ihr im Büro erschienen war. Ein Aufschneider und Weiberheld. Dabei ist Vincent weder arrogant noch blöd. Im Gegenteil. Seit dieser ersten Begegnung im Kriminalamt funktioniert ihre Zusammenarbeit ausgezeichnet, und eine Frau als Vorgesetzte zu haben, bereitet ihm nicht die geringsten Probleme. Was übrigens, wie sie weiß, keineswegs selbstverständlich ist. Und selbst die fünf Jahre Altersunterschied, obwohl zu Monikas Ungunsten, scheinen ihn nicht im Mindesten beeindruckt zu haben. Dass er wirklich etwas für sie empfindet, daran hat sie nie gezweifelt.

„Bist du etwa schon am Arbeiten?“, fragt er gähnend, sich den Schlaf aus den Augen reibend und fällt auf den Stuhl neben ihr.

„Ich will“, sagt sie und tippt mit dem Zeigefinger zur Bekräftigung ihrer Worte auf die Akte, „dass wir heute alles haarklein auf Herz und Nieren prüfen. Irgendetwas müssen wir übersehen haben. Nach drei Verstümmelungen muss es Indizien geben. Es gibt immer welche. Und solange wir die nicht gefunden haben, werde ich ungenießbar sein. Also, ich gehe mal davon aus, dass du heute nichts anderes vorhast.“

„Eigentlich wollte ich …“

„Vergiss es“, erwidert sie und verscheucht seine Hand von ihrem Knie. „Ehe wir nicht damit fertig sind, passiert gar nichts.“

„Okay. Du bist der Boss.“

Monika sieht ihn von der Seite aus an. Da liegen ein Grinsen auf seinem Gesicht und ein schelmischer Blick in den Augen. Er kennt ihre leeren Drohungen ganz genau.

„Gibt es heute keine Brötchen?“, fragt er enttäuscht und gießt sich Kaffee ein. Im selben Moment schließt Sven die Wohnungstür auf.

„Doch. Sind gerade im Anmarsch.“

Der Anblick eines halbnackten Mannes am Esstisch ist auch für Sven keine Selbstverständlichkeit. Seit ihrer Scheidung hat Monika keinen Mann mit nach Hause gebracht. Dass sie deshalb in ihrem Leben etwas vermissen könnte, danach hat Sven nie gefragt. Ob aus Desinteresse oder Schamgefühl, ist schwer zu sagen. Sie vermutet Ersteres. Solange er seine Mutter für sich allein hatte, war ihm ihr Gefühlsleben egal. Jetzt ist er gezwungen, sich mit der Tatsache notgedrungen zu arrangieren.

Sven versucht, nicht hinzusehen. Er verzieht übertrieben die Mundwinkel, wirft die Tüte mit den Brötchen auf den Tisch und macht kehrt.

„Zieh dir bitte nächstes Mal ein T-Shirt über“, flüstert sie Vincent zu, als Svens Zimmertür ins Schloss fällt. „Du weißt genau, wie peinlich ihm das ist.“

Vincent greift in die Tüte, fischt ein Sesambrötchen heraus und schneidet es auf. Die kleine Szene mit Sven amüsiert ihn.

„Ich meine es ernst“, fährt Monika fort. „Das ist schließlich das Gleiche, als wenn vor dir eine halbnackte Frau sitzen würde.“

„Ich fände es klasse.“

Natürlich macht er sich über sie lustig. Doch sobald es um Sven geht, hört der Spaß bei ihr auf. Immerhin hat es lange genug gedauert, ehe ihr Sohn sein Schwulsein endlich akzeptieren konnte. Damit unbefangen umzugehen, ist auch für Monika viel zu neu, als dass sie Witze oder Anzüglichkeiten darüber verträgt. Ganz egal, wie harmlos diese auch gemeint sein mögen.

„Tut mir leid“, sagt Vincent, mit einem versöhnlichen Kuss auf ihre Wange. „Kommt nicht wieder vor.“

Monika nickt und fragt sich erneut, was Sven über ihre Beziehung zu Vincent denkt. Wie gewöhnlich hat er bisher kein einziges Wort darüber verloren. Zumindest seine Verschlossenheit ihr gegenüber hat er aufgegeben, seit sie ihm direkt ins Gesicht gesagt hat, sie halte ihn für schwul.

Diese Offensive liegt nicht einmal vier Wochen zurück. Während des letzten Mordfalls, in den eine Gruppe schwuler Männer verwickelt war, die Sven, wenn auch nur flüchtig, kannte, hat Monika sich das erste Mal Gedanken über seine Sexualität gemacht. Darüber, dass Sven nie eine einzige Freundin erwähnt, geschweige denn mit nach Hause gebracht hat, und darüber, dass weder Poster von Popsternchen noch Busenwundern in seinem Zimmer hängen. Und natürlich hat sie die Blicke gesehen, mit denen er die Männer damals beobachtet hat.

Schließlich, die Ungewissheit nicht länger ertragend, hat sie sich einen Ruck gegeben und ihn darauf angesprochen. Völlig überrumpelt war Sven rot angelaufen, obwohl beide lange genug um den heißen Brei geredet hatten, als dass diese Erkenntnis sie hätte überraschen können. Nach dem ersten Schock war Sven zwei Tage später zu ihr gekommen, und sie hatten sich unterhalten. Ein intensives Gespräch, wie es Monika nicht mehr für möglich gehalten hatte.

Seitdem ist das Verhältnis zu ihrem Sohn wesentlich besser und entspannter. Vincent allerdings betrachtet er mit Skepsis. Vielleicht, weil er ihn als Eindringling ansieht, als Rivalen. Wäre Vincent weniger anziehend, womöglich hätte Sven ihn eher akzeptieren können. Doch das sind Spekulationen. Schon bald, befürchtet sie, wäre es Zeit für ein weiteres Gespräch.

„Jetzt lass ihn doch“, sagt Vincent, der ihre Gedanken errät. „Natürlich ist er verunsichert. Und wahrscheinlich hat er Angst um dich. Dass ich dich verletzen könnte.“

Sie zuckt mit den Schultern. Mag sein, dass er recht hat. Die Scheidung von Fred hat Sven schwer verkraftet. Mit zwölf war für ihn eine Welt untergegangen, die er nun, mit seinen fast achtzehn Jahren, nicht erneut gefährden will.

Begleitet von einem tiefen Seufzer, trinkt Monika den Kaffee aus und zwingt sich, wenigstens eines der Brötchen zu essen.

„Fahren wir wieder getrennt ins Büro?“, fragt Vincent nach dem Frühstück.

„Für einen Auftritt zu zweit fühle ich mich heute nicht in der Lage“, erwidert sie, steht auf und greift nach den Akten.

„Irgendwann kriegen die das sowieso mit.“

„Aber nicht heute“, erwidert sie ein wenig zu hart, dass Vincent überrascht zu ihr aufblickt.

An dieser Heimlichtuerei scheiden sich die Geister. Nicht, weil Monika sich für ihn schämen müsste, weiß Gott nicht, oder weil sie sich wegen der Sache mit der unterschiedlichen Rangordnung womöglich rechtfertigen müsste, sondern weil … Ach, so genau weiß sie selbst nicht, warum. Abgesehen von dem Getratsche natürlich.

„Entschuldige“, wiegelt sie ab und streicht Vincent durch sein pechschwarzes Haar. „War nicht so gemeint. Ich bin ein wenig gereizt wegen der verdammten Morde. Was ist, wenn er weitermacht und wir nicht in der Lage sind, ihn zu stoppen? Wir haben ja nicht einmal eine winzige Spur!“

Alles tut weh.

Der Schmerz durchströmt ihn, noch bevor er völlig bei Bewusstsein ist. In seinem Kopf herrscht Chaos. Nur langsam dringt die Erinnerung zu ihm durch. Vorsichtig öffnet Tobias Kramer die Augen. Das linke ist verklebt von dem Blut, das sich von der Wunde an der Schläfe einen Weg über das Gesicht gebahnt hat. Daher der pochende, dröhnende Schmerz. Der Versuch, sich aufzurichten, scheitert. Seine Hände sind auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt. Er liegt auf kaltem, steinernem Boden, an seinem rechten Fußgelenk eine eiserne Manschette, verbunden mit einer Kette, die im Mauerwerk verankert ist. Was er sieht, sind kahle Wände, in einer Ecke Werkzeuge auf und neben einer Bank sowie einen schweren Stuhl, im Boden verschraubt. Eine geschlossene Stahltür. Ein winziges Fenster, hoch oben unterhalb der Decke, ebenfalls geschlossen und dreckverschmiert. Spärlich fällt Licht hindurch, in dessen gelblichem Schein der Staub Pirouetten dreht.

Jede Bewegung schmerzt, durchzuckt seinen Körper wie ein Blitzschlag. Er schreit nach Hilfe, so laut es eben geht. Der Mund ist trocken, die Kehle auch. Er zerrt an den Handschellen, was sinnlos bleibt. Jeder Ton verursacht ein unsägliches Stechen und Pochen in seinem Kopf. Schon bald sind seine Schreie nicht mehr als ein wundes Röcheln. Ein Wimmern. Ein verzweifeltes Weinen.

Keine Ahnung, wo er sich befindet. Alles, was er noch weiß: dieser Mann mit dem Lieferwagen, seine Bitte, hinten auf die Ladefläche zu steigen, und der Schlag auf den Hinterkopf. Wie viel Zeit ist seitdem vergangen? Und warum gerade er? Er will nicht sterben. Nicht hier, nicht so. Denn davon geht Tobias aus. Er wird sterben müssen.

Er denkt an Sabine, seine Frau. Die nicht ahnt, was er hinter ihrem Rücken treibt und wofür er nun büßen wird. Seine Strafe.

Noch einmal schreit Tobias aus voller Kraft, bis die Stimme gänzlich versagt. Niemand hat ihn gehört. Alles bleibt still. Kein Geräusch dringt durch die Tür oder das Fenster. Er hat schrecklichen Durst und sein Magen knurrt. Wann wird Sabine ihn vermissen? Wann sich Sorgen machen? Das Licht, das trübe und schwach den Keller erhellt, könnte der nächste Morgen sein.

Manchmal, wenn Tobias auswärts einen Job erledigt, bleibt er über Nacht in einem kleinen Hotel. Sabine wäre nicht sonderlich verwundert, sollte sie ohne ihn aufwachen. Sie wird verärgert sein, weil er nicht angerufen hat. Vor heute Abend allerdings käme sie nicht auf die Idee, dass etwas passiert sein könnte.

Wieder zerrt er verzweifelt an den Handschellen, die eng um die Gelenke liegen und sie blutig schürfen. Der verfaulte Gestank des feuchten, steinernen Kellerbodens steigt ihm unangenehm in die Nase. Es riecht nach abgestandenem Wasser, nach Fäulnis, nach Tod.

Endlich gelingt es Tobias, sich aufzusetzen. Er lehnt gegen die Wand und lässt seinen Blick noch einmal durch den Keller gleiten. Die Kette an seinem Fuß ist zu kurz, um an das Werkzeug oder bis zur Tür zu gelangen. Was ihn beunruhigt: der am Boden verschraubte Stuhl. Wieso einen Stuhl verankern? Einen schweren, aus Holz gearbeiteten Stuhl mit hoher Rücken- und breiten Armlehnen, mit insgesamt sechs vernieteten Lederriemen, dort, wo Arme, Beine, Hals und Brust sich befänden, säße jemand aufrecht darin.

Und dann das wahllos herumliegende Werkzeug. Ein Schraubenzieher, zwei Messer mit Holzgriff, eines davon mit gezackter Klinge, ein Hammer, eine Säge, ein kurzes, metallenes Rohr. Ein elektrischer Bohrer. Alles verdreckt oder fleckig. Dunkle Stellen auf dem Eisen, wie Rost oder Blut.

Panik setzt ein, die Tobias unterdrücken muss.

Panik bedeutet Schwäche, bedeutet aufzugeben. Er reißt sich zusammen, atmet tief, bis das Zittern seines Körpers sich legt.

Schwankend, mit stechendem Schmerz in der Schläfe, steht Tobias auf. Vorsichtig macht er ein paar Schritte nach vorn. Gerade einmal zwei Meter ist der Radius, den die Kette ihm lässt. Wenn er sich vorbeugt, kann er schräg hinauf durch das Fenster sehen. Schatten von Blättern, die sich im Wind bewegen, Sonnenlicht, das dahinter blinzelt, mehr nicht. Die Stille dabei unwirklich und fremd. Wieder versucht er, um Hilfe zu schreien. Und wieder verhallen die Rufe im Nichts.

Was hat sein Entführer vor?

Selbst wenn seine Frau die Polizei verständigt, wo sollte sie suchen? Es kann Tage dauern, ehe man zurückverfolgen wird, was er vorgehabt und dass er sich heimlich mit jemandem getroffen hat. Die Spur wird bis zu dem kleinen Bahnhof führen, an dem er ausgestiegen ist. Danach verläuft sie im Sand, in der Weitläufigkeit der Seen und Wälder Mecklenburg-Vorpommerns. Hier gibt es unzählige Häuser, abseits von jeglichen Nachbarn, die etwas gesehen haben könnten. Bis jemand ihn findet, ist alles zu spät.

Tobias wirft einen Blick über die Schulter zu dem Werkzeug am Boden. Bilder werden wach, aus Filmen wie Saw oder vom Kannibalen von Rothenburg. Er war zu leichtsinnig gewesen, zu gutgläubig.

Plötzlich, über ihm, Schritte.

Unwillkürlich drängt sich Tobias zurück gegen die Wand, den Kopf zur Decke erhoben. Die Dielen darüber knarren von links nach rechts. Er hört das Öffnen einer entfernteren Tür, schwere Schuhe auf ächzenden Stufen, und schließlich das Verharren vor dem Eingang zu seinem Gefängnis.

Eine Ewigkeit, scheint es Tobias, geschieht nichts. Als wartete sein Entführer hinter dieser Tür aus Stahl. Als könnte er seinen Atem hören.

Ein Schlüssel klappert im Schloss, Riegel werden krachend zurückgeschoben, und der Mann, von dem Tobias nichts weiter wollte, als die Nacht mit ihm verbringen, tritt ein.

Das Erste, was ihm in der schwachen Beleuchtung auffällt: Er ist älter, als Tobias ihn vor dem Bahnhof geschätzt hat. Ende vierzig, vielleicht Anfang fünfzig. Groß, hager, eingefallene Wangen und eine schiefe Nase, dunkle kurze Haare, Geheimratsecken. Er trägt Jeans, ein Hemd, eine Armeejacke darüber und lederne Handschuhe. Sein Blick ist starr, wirkt gekränkt und hasserfüllt.

„Okay“, sagt er, „bringen wir’s hinter uns.“

Als müsste er sich zwingen.

„Was wollen Sie? Bitte, lassen Sie mich gehen.“

Eine Antwort bleibt Tobias verwehrt.

Entschlossen kommt der Mann auf ihn zu. Tobias weicht panisch zurück. Bis die Kette ihn stolpern lässt. Er zerrt an den Handschellen, tritt mit den Füßen und schreit.

Der Mann ist dicht bei ihm. So dicht, dass Tritte sinnlos geworden sind. Mit geübtem Griff packt er Tobias am Hals, trifft gezielt die Karotis-Sinus-Punkte der beiden Halsschlagadern. Sofort fällt der Blutdruck rapide ab, wird ihm schwindlig.

Sekunden später sackt Tobias bewusstlos zu Boden.

Der Schreibtisch in ihrem Büro im Landeskriminalamt sieht aus, als wäre ein gewaltiger Tornado darüber hinweggefegt. Überall verstreute Akten, lose Blätter, Notizzettel. Nur einen winzigen Platz hat sie freigeschaufelt, um den Kaffeebecher abstellen zu können. Vincent, gerade erst eingetreten, schüttelt den Kopf.

„Und ich habe immer geglaubt, ich wäre unordentlich“, sagt er und lässt sich in den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen.

„Der Unterschied“, belehrt Monika ihn, während sie die zuletzt benötigten Papiere einfach auf den nächstgelegenen Stapel wirft, „liegt in der Beherrschbarkeit des Chaos. Ich habe meines im Griff.“

„Schon klar.“

„Nein, wirklich. Ich beweise es dir. Stelle irgendeine Frage zu unserem Nasenmörder, und ich ziehe dir den Bericht aus der nur scheinbaren Unordnung sofort heraus.“

Nasenmörder, so hat Monika den Täter inoffiziell getauft, nachdem die Nase das erste Körperteil gewesen war, das man gefunden hatte.

Selbstgewiss lehnt sie sich zurück, lässt die ausgestreckte Hand provokativ über die Papiere gleiten und lächelt. Die Zeit, während Vincent noch schnell nach Hause gefahren ist, um sich etwas anderes anzuziehen, hat sie nicht untätig vergeudet. Sie hat Ordnung gemacht. Auch wenn diese nur schwer zu erkennen ist.

Wie beim Frühstück angedroht, wird sie jede Einzelheit mit Vincent noch einmal durchgehen, Schritt für Schritt. Sie braucht dringend einen Erfolg, und zwar schnell. Der letzte Mordfall hat ihr immerhin ein Disziplinarverfahren eingebracht, weil sie verschwiegen hatte, dass ihr Sohn indirekt in die Sache verwickelt war und sie den Fall aus Befangenheit hätte ablehnen sollen. Glücklicherweise hat sie das Verfahren unbeschadet überstanden. Einige Kollegen haben das natürlich anders gesehen und Günstlingswirtschaft vermutet. Als Frau muss sie sich stärker behaupten als Männer. Umso dringender das Gefühl, sich mit einer baldigen Festnahme rehabilitieren zu müssen.

Ein Gefühl, das sie ärgert, ohne es einfach abstellen zu können.

„Also“, besinnt sie sich, „frag!“

„Wie du willst“, erwidert Vincent und verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust. „Welche Vermissten kommen in Betracht, denen die gefundenen Körperteile zugeordnet werden könnten?“

„Gute Frage“, antwortet Monika, greift, ohne zu zögern, nach einem Blatt links neben der Lampe und überfliegt die Notizen. „Antwort: Wir wissen es nicht. Innerhalb des Zeitraumes, in dem die Teile gefunden wurden, gab es in Berlin sieben Vermisstenanzeigen, davon scheiden, aufgrund des Alters oder wegen falscher Blutgruppe, drei von vornherein aus. Die Namen und Wohnorte der verbleibenden vier sowie die Aussagen der Angehörigen dieser Betroffenen liegen uns vor. Nichts Auffälliges. Bei zwei von ihnen gab es Streit mit dem Ehepartner. Einer ist drogenabhängig. Anhaltspunkte dafür, dass er oder die anderen Deutschland verlassen haben könnten, gibt es derzeit keine. Die einzige Frau unter den Vermissten hat tatsächlich blaue Augen, wie die herausgetrennten. Die gefundene Nase ist ziemlich lädiert gewesen. Eine unauffällige, gerade Nase, die auf zwei der Vermissten hindeuten könnte. Bei den Ohren kommen ebenfalls zwei in Betracht. Solange die Vermissten aber nicht auftauchen, können wir keine eindeutige Zuordnung vornehmen. Sackgasse.“

„Was ist mit den anderen Bundesländern? Mit Brandenburg, zum Beispiel. Gibt es dort Verletzte oder Leichen, denen man was abgeschnitten hat?“

Monika schüttelt den Kopf.

„Nein. Nichts. Obwohl uns noch keine vollständige Auflistung von Vermissten vorliegt. Wie bei uns gibt es dort aber weder gemeldete Verletzte noch Leichen.“

Genau hier liegt das Dilemma. Alles, was sie vorweisen können, sind eine Nase, zwei Augen und Ohren. Sorgfältig vom Körper abgetrennt oder herausgeschnitten. Auf unterschiedlichen Spielplätzen der Stadt an verschiedenen Tagen der vergangenen vier Wochen von Passanten gefunden. Immer an einem Dienstagmorgen. Die Obduktion ergab, dass die Nase wie auch die Ohren von einem Mann stammen, die Augen von einer Frau. Ungefähres Alter jeweils um die dreißig. Und das Furchtbarste daran: Mit größter Wahrscheinlichkeit waren diese Körperteile den Opfern lebend abgetrennt worden. An den Fundorten, den Spielplätzen, keinerlei eindeutige Fingerabdrücke oder verwertbare Spuren. Niemand will etwas gesehen haben. All die Berichte und Auswertungen, die Monika so penibel auf dem Schreibtisch sortiert hat: wertlos. Was sie braucht, ist eine andere Vorgehensweise.

„Indizien“, fährt Monika fort, „bringen uns nicht weiter. Reden wir über den Täter. Wer ist er? Warum verstümmelt er?“

„Er? Warum ausgerechnet ein Mann?“

„Weil die Statistik zeigt, dass Serienmörder meistens Männer sind. Natürlich mit der berühmten Ausnahme von der Regel. Solange wir aber keine weiteren Erkenntnisse haben, ist es einfacher, von einem ‚er‘ zu reden.“

„Okay. Wer immer ‚er‘ ist, er empfindet vermutlich Spaß dabei. Sexuelle Erregung.“

„Gut möglich. Obwohl eine Präferenz hinsichtlich des Geschlechts der Opfer nicht vorzuliegen scheint. Es geht ihm womöglich um den Schmerz an sich. Um die Qualen, die er zufügt, ohne dass es zum eigentlichen Akt kommt.“

„Die Nase und die anderen Teile sind vielleicht Trophäen seiner Eroberungen“, spekuliert Vincent weiter.

„Mag sein.“

„Auf jeden Fall will er Anerkennung.“

Monika horcht auf. Vincent hebt lediglich seine linke Augenbraue. Eine Fähigkeit, die sie schon immer an ihm fasziniert und die sie manchmal heimlich im Badezimmer erfolglos zu kopieren versucht hat.

„Na ja“, erläutert er, „warum sonst hinterlässt er uns diese Trophäen? Er könnte sie genauso gut verschwinden lassen wie seine Opfer auch. Was er aber nicht tut. Er will, dass sie gefunden werden, und nimmt dabei das Risiko in Kauf, entdeckt zu werden. Es ist ihm wichtig.“

„Mach weiter. Das gefällt mir.“

Kurz ist Vincent verunsichert. Er streicht sich eine Strähne aus der Stirn und blickt zur Seite. Komplimente, wie vorsichtig auch immer geäußert, sind selten. Monika ist keine, die mit Lob leichtfertig um sich wirft. Das kennt er bereits. Umso überraschender, wenn es dennoch geschieht.

„Vermutlich ist er jemand“, fährt er fort, „der sich ungerecht behandelt fühlt. Von seiner Frau, seiner Familie, von der Gesellschaft im Allgemeinen. Jemand mit Minderwertigkeitskomplexen. Der sich etwas beweisen will. Eher der introvertierte, unauffällige Typ. Depressiv, mit Rachegelüsten. Daher vielleicht sein Trieb zur Gewalt.“

„Mm“, grummelt Monika, die Lippen nach innen gezogen. Ein Ausdruck, der das Kompliment von eben zurücknimmt. „Ist das nicht zu klischeehaft gedacht? Dieser Versagertyp, der zum Racheengel wird?“

„War ja nur so ein erster Gedanke. Es geht hier um Brainstorming, oder nicht?“

Diese Zurechtweisung war deutlich. Monika blickt ihn an. Manchmal, denkt sie, ist eine Vermischung von Beruflichem und Privatem alles andere als leicht. Was sie als Vorgesetzte ohne Widerspruch hätte sagen können, gerät als Freundin zu einer Gratwanderung. Noch müssen sie beide abwägen und ausbalancieren, was den anderen verletzen könnte. Noch ist der Umgang miteinander ein ständiger Test.

„Entschuldige. So habe ich das nicht gemeint“, sagt sie. „Ich bin wohl ein wenig gereizt, weil wir kaum einen Schritt weiter sind.“

„Entschuldigung akzeptiert“, erwidert Vincent mit einem Lächeln, das jegliche Unstimmigkeit beiseiteräumt.

„Du könntest natürlich recht haben. Andererseits glaube ich kaum, dass dies seine ersten Gehversuche sind, was kriminelle Energie anbelangt. Dafür geht er zu bedacht und vorsichtig ans Werk. Er hat Erfahrung mit Gewalt und ist eventuell schon früher straffällig geworden. Es gibt einige Kandidaten in unserer Kartei, denen das zuzutrauen ist. Auch wenn unsere Nachforschungen dahingehend noch keinen Erfolg hatten.“

„Diese Körperteile“, sagt Vincent nach kurzer Überlegung, „könnten eine Art Mitteilung sein. Jeweils drei verschiedene, von drei verschiedenen Opfern. Das kann kein Zufall sein. Da steckt System dahinter. Eines, das zumindest für ihn einen Sinn ergibt.“

Monika nickt.

„Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Nase, Ohren, Augen. Alles Sinnesorgane.“

Über den Tisch hinweg sehen sie sich an. Beide haben denselben Gedanken.

„Riechen, hören, sehen“, spricht Vincent es aus.

„Fehlen noch Tast- und Geschmackssinn.“

„Er wird also weitermachen?“

„Davon müssen wir ausgehen. Warum sollte er aufhören? Bisher hat er allen Grund, sich in Sicherheit zu wiegen. Wenn uns also nicht schnellstens etwas einfällt, haben wir es bald schon mit einer Zunge oder einer Hand zu tun.“

„Oder mit der Haut eines Opfers.“

Bei dieser Vorstellung, die Monika zu deutlich an sich heranlässt, erschaudert sie.

Schnell muss es gehen.

Lange wird die Ohnmacht nicht andauern.

Eilig entfernt er die Eisenmanschette um Tobias’ Fuß, zerrt den bewusstlosen Körper zum Stuhl, hievt ihn auf den Sitz und schnallt, nachdem er die Handschellen gelöst hat, die Lederriemen der Armlehnen und vorderen Stuhlbeine um Hand- und Fußgelenke.

Bereits jetzt stöhnt Tobias auf.

Geschafft.

Den nächsten, entsetzten Aufschrei unterdrückt er mithilfe des Riemens am Hals. Zieht ihn durch die beiden Schlitze links und rechts in der Lehne auf Höhe des Kehlkopfes, zerrt ihn fester als nötig und sichert ihn hinten mit einem Schloss. Dann den letzten Riemen um die Brust gespannt, dass ein Aufbäumen unmöglich wird. Auch diesen so eng gezogen, wie seine Kraft es erlaubt.

Aus Erfahrung weiß er, wie heftig ein Mensch sich wehrt, geht es ums nackte Überleben.

Tobias röchelt. Sein Gesicht läuft rot an. Die Luft wird genügen, ihn atmen zu lassen, wenn auch nur schwer.

Er stellt sich vor sein Opfer, den Kopf zur Seite geneigt, interessiert und ekstatisch zugleich.

Tobias zittert am ganzen Körper. Seine Finger ballen sich zu Fäusten, strecken und ballen sich erneut. Die Adern an seinem zugeschnürten Hals schwellen an. In den geweiteten Augen platzen winzige Kapillaren und formen ein Geflecht aus blutenden Bächen. Aus seinem offenen Mund dringen klägliche, tierische Laute.

Wie leicht es doch ist, denkt er, ein Menschenleben auszulöschen. Viel zu leicht. Nur einen Fingerschnipp entfernt vom Tod, immer an der Schwelle zwischen dem Alles und dem Nichts. Ein Übergang, der so viel bedeutet, der unweigerlich die entscheidende Frage zu stellen vermag, ohne die Antwort jemals preisgeben zu können. Ein Übergang, in dem das größte aller Rätsel verborgen liegt.

Er kann es sehen, in Tobias’ verzweifelter Anstrengung zu überleben. In seiner Erkenntnis, dass nichts ihn retten wird, dass diese Augenblicke seine letzten sein werden, ins Ewige verlängert.

Wofür er sorgen wird.

Denn der Tod an sich hat für ihn keinen Reiz. Es ist die Betrachtung des vollkommenen Schmerzes und der unendlichen Angst. Des ausweglosen Kampfes, den die anderen für ihn austragen müssen, der um seinetwillen geführt und verloren wird. Der im Ringen um das langsam entschwindende Leben sein eigenes stärkt.

Dies ist seine Erkenntnis, über Jahrzehnte gewachsen.

Was hast du für große OhrenDamit ich dich besser hören kann

„Wer weiß. Obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, dass der Wolf eine große Nase gehabt haben soll. Außerdem müssten wir dann als Nächstes einige Zähne finden.“

„Gibt es sonst noch Märchen oder Ähnliches, in denen diese Organe vorkommen?“

„Wir müssten uns schlau machen“, schlägt Monika vor. „Und alles über Sinnesorgane herausfinden. Literarisch, medizinisch, historisch, philosophisch, in der Kunst, was weiß ich.“

„Soll ich das erledigen?“, fragt er vorsichtig.

Sie weiß genau, wie sehr Vincent Nachforschungen dieser Art hasst. Er ist kein Bücherwurm, im Gegenteil. In seiner Wohnung steht ein zehnbändiges, veraltetes Lexikon, mehr zur Dekoration. Andere Bücher sucht man dort vergeblich. Doch Vincent hat gefragt, und sie kann nicht anders, als seinen rhetorisch gemeinten Vorschlag anzunehmen.

„Gern“, sagt sie grinsend, „mach das. Fang am besten gleich damit an, während ich mich Unterbergs Vorwürfen stellen werde.“

Ein wenig entsetzt über ihre Einwilligung starrt Vincent sie an. Sein Widerspruch liegt ihm bereits auf der Zunge. Er entscheidet sich dagegen und schluckt. Lieber nimmt er die Niederlage und das Lesen in unendlich vielen Interneteinträgen und Büchern in Kauf.

Sie wird es wieder gutmachen, beschließt sie. Sobald sie kann.

Bevor Monika ihr Büro verlässt, sieht sie noch einmal an Vincent vorbei auf die Karte. Bisher hat der Täter regelmäßig jede Woche seine Trophäen hinterlegt. Die zwei Ohren am letzten Montag, in der Nacht zu Dienstag.

Und heute, stellt sie beunruhigt fest, ist wieder Montag.