cover.jpg
671.png

Impressum

© Querverlag GmbH, Berlin 2013

Erste Auflage März 2013

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von Martin E. Kautter.

ISBN 978-3-89656-541-9

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

www.querverlag.de

Glückspilz

Mario Wirz

Auf Bänken sitze ich und spreche mit Bäumen. Werde ich wunderlich?

„Lerne wachsen“, murmelt die Buche und schaut sanft auf den schwatzhaften Zwerg.

„Lerne fallen“, kichern die Blätter der Birke. „Der Herbst ist weit entfernt“, summen die Bienen und flirten mit jeder Blume. „Ich bin ganz betrunken von diesem Frühling“, trällert die Blaumeise und balzt für ein Rotkehlchen, das sachte noch etwas mehr errötet. „Schreib ein Gedicht über mich“, ruft der Zitronenfalter kess und flattert davon.

„Was gaffst du so verschwärmt? Vor einer Woche war ich viel schöner“, murrt der Magnolienbaum und räkelt sich in seiner schon etwas müden Pracht.

Auf Bänken sitze ich und kann es immer noch nicht glauben, dass ich nach all den elenden Wochen der Rumkrebserei wieder neue Kraft in mir spüre.

Kraft für einen Freudensprung unter diesen blauen Wolken. Warum nicht vor den Augen der anderen Spaziergänger einen Purzelbaum schlagen? Mein dankbares Glück unter diesem Himmel ist frei für jede Übergeschnapptheit. „Pass auf, dass du nicht über deinen dicken Bauch stolperst“, warnt mich das Eichhörnchen und verschwindet zwischen den Bäumen. „Hast du schon das Gedicht über mich geschrieben? Es wäre mir eine große Ehre“, säuselt der Zitronenfalter und gaukelt mir kess vor der Nase rum.

„Den Text über mich fand ich etwas sentimental“, sagt die Linde, „aber ich verstehe nichts von moderner Lyrik.“

„Immerhin hat sich der Herr Dichter bei seiner Buchpremiere im BKA-Theater am Mehringdamm zu dir bekannt. Das mir gewidmete Gedicht auf Seite 144 hat er dem Publikum vorenthalten. Ganz schön dämlich. Hätte er es vorgelesen, wäre der Erfolg der Buchvorstellung ein Triumph geworden“, zetert das Eichhörnchen, das nach seiner Kritik erneut verschwindet. „Sogar aus Wien kamen zwei Freunde angeflogen, um die malade Dichterkrähe bei ihrer Wiederauferstehungslesung zu bestaunen“, lästert ein Igel respektvoll und kugelt sich. „Wer hätte es gewagt, die Sensation dieser offensichtlichen Unverwüstlichkeit zu versäumen? Die alte Zirkuskrähe hat Ärzte, Schwestern, Pfleger und sogar den Pförtner der Klinik genötigt, zum wirzlichen Weltereignis zu pilgern. Ganz zu schweigen von den Nachbarn und der Verwandtschaft der Nachbarn“, spöttelt der Specht und klopft amüsiert aufs Holz einer Schwarzerle.

„Dass wir wegen dieser behämmerten Klopferei alle unter chronischen Kopfschmerzen leiden, interessiert keine Sau“, beschweren sich einige Käfer und krabbeln genervt in ihren Baumhöhlen. „Und dann dieser großmäulige Titel. ‚Vorübergehend unsterblich‘“, witzelt der Maulwurf unter der Erde, aber kaum jemand versteht ihn, weil der Specht zu laut ist. „Wir mögen deine neuen Gedichte sehr, und wir freuen uns über die tollen Rezensionen“, sagen die Narzissen, und ich bedanke mich artig und spüre die Aprilsonne auf meiner Haut und weiß, dass ich ein Glückspilz bin.

Glauben will ich den Marienkäfern, die mir in diesem Frühling Leben versprechen.

Talismänner

Christoph Klimke

Es stürmt heute Nacht. Mein Schlafzimmerfenster steht offen und ich höre den Sommerwind. Wolken rasen am Himmel entlang. Ab und zu schaut der Halbmond hindurch und die schwarzen Wipfel werden dunkelgrün. In den Nachbarhäusern wird längst geschlafen. Aus dem Arbeitszimmer meines Vaters leuchtet Leselicht und ich schleiche mich aus dem Haus zum Fahrrad. Dreißig Minuten und ich bin bei meinem ersten Freund. Wir reden die halbe Nacht, trinken Chianti aus Bastflaschen, ziehen am Joint, schauen in die Nacht und versprechen uns alles. Wir beide sind zwanzig und offensichtlich Spätzünder. In der Schulzeit mochte ich meinen besten Freund natürlich am meisten, er mich auch, bis er dann mit vierzehn seine erste Freundin vor meinen Augen knutschte. Seltsam, dachte ich damals, komisch, dass ich nun an die zweite Stelle rückte.

Leistungssport lenkte mich vortrefflich ab und ich machte ziemlich Karriere. Hauptangreifer in der Klever Volleyball-Mannschaft, mit dem Schulsport unterwegs durch ganz Nordrhein-Westfalen und zudem noch Trainer der A-Jugend-Besten-Staffel. Schiedsrichter wollte ich werden und in so vielen Missionen on tour war keine Zeit für Liebe. Die galt schließlich im Stillen der Literatur. Ich las mir das Leben her und zwischen manchen Zeilen auch den Richtigen in mein Zimmer.

Erste tragische Gedichte entstanden, die über die Jahre in Papierkörben landeten. Das Abwesende betört uns sowieso und mich mehr und mehr der abwesende Andere. Klar wurde mir das erst in diesem Sommer. Zivildienst ist zu leisten und ich werde zu einem politischen Menschen. Nicht allein die Nazi-Vergangenheit unserer Elterngeneration, sondern soziale Ungerechtigkeit überhaupt und der Weltfrieden im Ganzen werden zur Verantwortung, die auf den jungen, inzwischen unsportlichen Schultern lastet.

Das ist über dreißig Jahre her und einige Männer an meiner Seite sind tags und nachts bei mir geblieben, unzählige aber auf der Strecke durch die Szenen. Parks, Saunen, Kinos, Bars. Unterwegs machen wir uns an und die Zeiten sind unbeschwert. Ausprobiert muss alles werden, erst dann weißt du, was du willst.

Den Teddy meiner Kindheit gebe ich nicht her, wohl aber so manchen fleischlichen Irrtum. Doch auch die kurzen Begegnungen – einmal und nie wieder –, wo du den Namen des anderen nicht einmal weißt und sein Gesicht schnell vergisst, es hat dir Glück gebracht, ein anderes zwar, als du heute genießt, aber eben Glück. Über die vielen Unglücks-Unfälle schweigt der Gentleman. Ob die anderen sich an dich erinnern, ich weiß es nicht, es spielt auch keine Rolle, denn längst habe ich nur einen Glücksbringer in meinem Leben, ach nein, zwei, denn unser Hund, der uns ausgesucht hat, lässt unsere Seele laufen, durch die Jahreszeiten Berlins oder auf unseren Reisen. In Erinnerungen an manchen Beau will ich nicht schwelgen, denn so alt bin ich nun auch wieder nicht. Dem Tode waren wir nahe, aber wir sind ihm in die Quere gekommen.

Ach ja, die Nächte mit Giorgio in Rom, mit Gianpiero in Palermo, mit Luciano in Paris, die vielen Sommer im Süden und keine Nacht ohne dich und dich, Tränen bei der Trennung, das Fliegen auf den Neuen, die Entgrenzung der eigenen Welt, all die Inseln aus Komplizenschaft und Zuneigung, nun also doch zu euch.

Der schönste Park, den ich für nächtliche Jäger kenne, ist der Monte Caprino in Rom. Du schaust auf das Kapitol, auf den Tiber, siehst die Kuppel des Petersdoms, die mächtigen Türme der Stadt, das Forum Romanum und zwischen dem Gestrüpp Streunende aus aller Welt, die ganz heutig und jetzt den Richtigen suchen und zumeist für den Augenblick auch finden.

Alessandro habe ich hier kennengelernt. Mit ihm war ich einen Sommer auf seinem Sardinien. Familie, deutsche Politik und die inzwischen wiederum veränderten Missionen sind hier weit weg. Für einen Sommer habe ich einen sardischen Talisman und auch ich will ihm gut: ti voglio bene, flüstert man dem anderen ins Ohr.

Meinen ersten Freund sehe ich immer noch ab und zu, manch einer der Geliebten lebt inzwischen auf einem anderen Planeten und sieht vielleicht wie jener Halbmond auf mich und uns und dann hör ich im Traum dich sagen: ti voglio bene.

Scherben

Mario Wirz

„Der Befund der ersten Computertomografie nach der Chemo- Radio-Therapie lässt sich nicht besser denken und wünschen“, sage ich etwas hölzern und fühle mich mit meinen Wahrheiten wie ein Schauspieler bei der ersten Probe.

In den nächsten Wochen werde ich diesen Satz noch oft zu Freunden und Kollegen sagen, so oder so ähnlich, und meine dankbare Freude vielleicht etwas natürlicher und weniger verkrampft ausdrücken. Wieder einmal begreife ich, dass es für die wesentlichen Themen unseres Lebens keine tauglichen Worte gibt.

Glück und Unglück verweigern sich der Mitteilbarkeit. Beide Erfahrungen sind so intensiv und elementar, dass wir stammeln und stottern, wenn wir sie beschreiben wollen.

Christoph und Joi, seine in der Kunst des Überlebens geübte Hündin aus Spanien, schauen geduldig auf ihren ramponierten Freund, dessen wuchtige Wampe sich durch keine Katastrophe hat vertreiben lassen.

„Natürlich kann der Krebs wieder nachwachsen, aber das soll heute nicht meine Sorge sein. Heute bin ich nur dankbar und glücklich“, dröhne ich mit Bassstimme, als müsste ich meine Entschlossenheit zur Rückkehr ins Leben akustisch beweisen.

Einige Gäste an den anderen Tischen drehen sich genervt zu mir. Ich deute eine ironische Verbeugung an und ärgere mich, dass ich unerträglich künstlich klinge.

Warum finde ich für das neue Wunder in meinem Leben keinen echten Ton?

Wahrscheinlich bin ich überfordert vom pathetischen Drehbuch meines Schicksals. Seit fünfundzwanzig Jahren sterbe ich HIV-positiv mehr oder minder vital vor mich hin.

Christoph hebt sein Weinglas und prostet mir zu.

„Glückwunsch, mein Freund. Ich freue mich mit dir“, sagt er leise.

Vielleicht erinnert er sich in diesem Augenblick an meine erste Krebsdiagnose vor fünfzehn Jahren. Ich schwitze jede Nacht wie ein Boxkämpfer im Ring, kurz vor der Niederlage, und magere herunter auf vierzig Kilo, als wollte ich mich mit meinen nächtlichen Verflüssigungen in jenes Element zurückverwandeln, aus dem wir alle gekommen sind.

Christoph geht täglich mit seinem geschwächten Freund spazieren und zwingt ihn mit sanfter Beharrlichkeit zu kleinen Mahlzeiten. Da ich keine Waschmaschine besitze, holt er mehrmals in der Woche mein nass geschwitztes Bettzeug ab und wirft es in seine Maschine. Eine Waschmaschine reicht nicht aus, meine ungeheure Menge an Schmutzwäsche zu reduzieren. Mehrmals in der Nacht falle ich schlafend in den See der Plagen und muss das Bett neu beziehen und meinen Pyjama wechseln.

Auch andere stellen mir ihre Waschmaschinen und ihre Arbeitskraft zur Verfügung.

Das Wunder, dem ich seit fünfundzwanzig Jahren mein Immernochdasein verdanke, trägt die Namen meiner Freunde.

„Mario, Bello, was willst du trinken?“, fragt Andrea, der Mitbesitzer vom „I due emigranti“, in dem ich mich mindestens einmal im Monat mit Christoph treffe.

„Bitte einen trockenen Rotwein“, antworte ich und bin froh, dass ich mir nach monatelanger Abstinenz wieder promillehaltige Freuden gönnen darf.

Vino rosso und Pizza Mozarella und italienische Schlagerschnulzen und die von Frühlingserwartung aufgehellten Stimmen und Gesichter an den Nachbartischen.

Ich lebe und bin einer von ihnen und gehöre dazu.

Etwas in mir kann es immer noch nicht glauben. Nach all den vielen Jahren hätte ich es dem Wunder nicht übelnehmen dürfen, wenn es auf meiner Seite müde geworden wäre.

„Vielleicht meinen die Engel, dass ich mir meine Unsterblichkeit noch mit einigen guten Büchern verdienen muss“, lache ich und streichele Joi, die skeptisch äugt, weil sie von Engeln wohl mehr weiß als der dicke Mann, der sich gerade sein drittes Glas Rotwein bestellt. Christoph, der mich sonst immer schnell schöner und klüger trinkt, als ich bin, sitzt heute noch vor seinem ersten Glas und lächelt versonnen.

„Ich weiß nicht, was deine Engel denken, aber ich denke, dass wir beide ein Buch über das Glück schreiben sollten“, sagt er und schaut wach aus dem Fenster, als sähe er draußen bereits die Zukunft und das Plakat, das unsere gemeinsame neue Buchpremiere ankündigt.

„Ich bin zu bescheiden für dieses Angebot, aber nach dem Triumph unseres ersten gemeinsamen Buches würden uns die Verleger des Landes den neuen Bestseller natürlich aus den Händen reißen“, kichere ich weinselig und weiß, dass die Zukunft gerade eben begonnen hat.

Die verlässliche Abwesenheit unserer Bücher auf den Bestseller-Listen hat uns zu keinem Zeitpunkt daran gehindert, glücklich zu sein.

Wir antworten auf das komische Leben mit Gedichten und Erzählungen, die wir gerne auch unseren zahlreichen Meisen vorlesen, wenn sich keine anderen Zuhörer herbeidichten lassen.

„Der Spatz in der Hand und die Taube auf dem Dach werden unser neues Buch zu schätzen wissen“, lärme ich herzbunt und kippe mit einer großen Geste das Weinglas vom Tisch, das auf dem Steinboden in mehreren beschwipsten Einzelteilen davonspringt.

„Scherben bringen Glück“, sagt Andrea und klopft mir beschwichtigend auf die Schulter.

Schwein gehabt

Christoph Klimke

„Wir müssen alle sterben. Auch mir kann ein Ast auf den Kopf fallen oder ich verunglücke bei einem Autounfall oder Flugzeugabsturz. Vielleicht solltest du noch einmal eine schöne Reise machen. Ans Meer. Nach Rügen, die Insel, die dein Freund für dich ersegelt hat. Schreib darüber. Schreib dir das Leben her, wie lange es auch währen mag, das weiß doch letztlich niemand. Letztlich. Niemand.“

Was soll ich ihm nur gleich sagen, wenn die Diagnose endgültig ist? An diesem kalten Märzabend sitze ich im Taxi von meiner Wohnung in Kreuzberg zu unserem langjährigen Treffpunkt „I due emigranti“, einem sardischen Restaurant, in dem wir unzählige feucht-fröhliche Abende mit Lästern, Streiten und Lachen verbracht haben. Die heimkehrenden Passanten auf den Bürgersteigen, die vorbeifahrenden Autos, das Farbengewirr der Leuchtreklamen über den schließenden Geschäften und den Kneipen, die kleinen Parks und die Hunde, die ihre Menschen ausführen, all das kann ich kaum wahrnehmen.

Ich sehe die Krankenhausgänge der neunziger Jahre, rechts und links die Zimmer, die Türen stehen offen, große, dunkle Augenhöhlen abgemagerter, junger Greise starren mich an; alles riecht nach Chemie, einer Mischung aus Medikamenten und Desinfektionsmitteln. Ich sehe den bemüht mitleidigen Blick der Krankenschwestern, die gehetzten Ärzte, Kinder, die ihre Schwester oder ihren Bruder noch einmal sehen möchten, heulende Eltern, Geliebte, deren unendliche Zuneigung einen Weg sucht, sehe all die Freundinnen und Freunde, die es nicht mehr gibt.

Die Zeiten habe sich gebessert, Aufgegebene sind zu Kräften gekommen und haben ihr Lachen wiedergefunden. Zuvor, am Ende der achtziger Jahre, haben wir eigentlich immer nur an die nächsten zwei, drei Jahre gedacht. Wenn ich dann noch so bin wie heute, schaffe ich wohl auch weitere zwei, drei Jahre.

Manchmal ist die Wahrheit ganz einfach. Ich habe in keiner Diktatur leben müssen und bin froh, dass meine Eltern Anfang der fünfziger Jahre aus der DDR geflohen sind. Wie mein Leben dort verlaufen wäre, ist reine Spekulation. Aber mir fehlt die Fantasie, mir dort ein Dichterleben vorzustellen. Von Naturkatastrophen, Kriegen oder Seuchen bin ich bislang verschont, lebe im fetten Europa, soll mir höchstens Sorge um meine Rente machen und mit Anfang fünfzig vielleicht doch mal zur Darmkrebsvorsorge. Ich habe einen verzaubernden Mann und eine verzauberte Hündin. Was fehlt mir eigentlich? Meine Eltern? Ja! Ein Haus? Nein. Ein Boot? Ich lasse lieber fahren. Noch ein Buch? Unbedingt. Eine Theateraufführung? Auf jeden Fall. Neue Freunde? Jünger sollten sie sein. Reisen? Fernweh habe ich nach Hause.

„Das macht 13 Euro“, knurrt mich der berlinernde Taxifahrer an. Ich zahle und eile durch den Regen an unseren Stammtisch neben dem Kamin. Die Wirte Andrea und Franco begrüßen mich herzlich wie immer und bringen gleich kleine Köstlichkeiten aus Vincenzos Küche. Das Bier trinke ich in einem Zug, da sehe ich Mario sich aus seinem Taxi hieven. Er winkt mir durchs Fenster zu, humpelt ziemlich theatralisch ins Lokal, wir umarmen uns fest und er droht lachend damit, dass wir uns wohl noch dreißig Jahre ertragen müssen. Alle Todesursachen werden an diesem Abend ertränkt und taumeln in den eigenen unsichtbaren Abgrund.

Auf dem Nachhauseweg ist dann jeder wieder glücklich allein. Zum Schreiben muss man allein sein, Ruhe haben und eine Tugend pflegen, die vergessen ist oder den Esoterikern überlassen wurde: das In-sich-Gehen. Hier findest du das verschüttete oder zerstörte Glück. Du empörst oder erfreust dich und – von der Unvernunft getrieben – beginnst zu schreiben, verrätselst, um zu enträtseln.

Mario hat mir zum Abschied ein kleines Glücksschwein aus Porzellan geschenkt. Jetzt mitten in der Nacht lacht es mich an oder aus und ähnelt uns beiden ziemlich.

Die Fledermaus

Mario Wirz

Einen Tag vor meiner ersten stationären Chemotherapie verirrt sich durch die geöffnete Balkontür eine Fledermaus in mein Zimmer. Ich erstarre auf dem Stuhl und starre entsetzt auf den mit unheimlicher Anmut mich heimsuchenden Flattergeist.

Die Fledermaus ist eine Botin des Dunklen und Unheilvollen, raunt es schreckhaft in mir. Sie will mir meinen baldigen Tod ankündigen. Es ist ganz sinnlos, dass ich mich auf die harte Krebstherapie einlassen will. Ich muss sterben.

Du alter, wehleidiger Narr. Entspanne dich. In Asien ist die Fledermaus ein Glückssymbol, murmelt eine andere Stimme in meinem Angsthirn.

Ich beschließe, ein Chinese zu sein, und befehle mir höfliche Gelassenheit für meinen späten Gast. Die Fledermaus scheint in meinem kleinen Zimmer sommernächtlich zu flanieren. Ohne Nervosität bummelt sie auf dem Luftweg um Dinge und Gegenstände herum. Im Hinterhof singt eine Amsel. Mein Herz schlägt sich furchtlos auf die Seite dieser Stunde. Es ist Juli, und ich lebe. Die Fledermaus ist nicht versehentlich in mein Zimmer geflogen, sondern mit Absicht. Ein beflügelter Gruß des Universums.

Sie meint es gut mit mir. Alles ist immer so, wie wir es denken und deuten. Solange ich bereit bin, an mein Glück zu glauben, bin ich nicht verloren. Davon handelt auch das Lied der Amsel. Würde sie morgen von der Katze gefressen, bliebe ihre Botschaft für uns wahr. Meine Besucherin kreist noch einmal entspannt um die vom Staub bedrängte Lampe. Dann fliegt sie kunstvoll in die milde Sommernacht des Hinterhofs zurück.

Sie hat ihre Mission erfüllt.

Ich packe meinen Koffer für die Klinik und nehme auch den bunten Kimono mit, den Jan mir vor einigen Jahren aus Hongkong mitgebracht hat.

Eleganz auch für das Elend. Das hat Stil, spöttelt der Spiegel nachsichtig.

Wir kennen uns schon sehr lange.

Der erste Chemo-Zyklus dauert fünf Tage und fesselt mich an einen Chemo-Ständer, als dessen Geisel ich kaum Gelegenheiten haben werde, meinen edlen Kimono zu tragen.

Alle Dinge im Zimmer wissen, warum ich das Geschenk von Jan mit in die Klinik nehme.

Ich habe ihm verboten, in dieser Nacht nach Berlin zu kommen, weil mir die Kraft fehlt, der tapfere und hoffnungsvolle Gefährte zu sein, den er jetzt dringend braucht.

Wir sind beide von der neuen Krebsdiagnose überfordert. Dabei leben und lieben wir seit meinem HIV-Positivbefund vor fünfundzwanzig Jahren auf dem Seil.

So lange schon ist der Tod der Dritte in unserem Bunde, und trotzdem sind wir immer noch Amateure vor unserer Sterblichkeit.

Wenn wir nun zusammen sind, simulieren wir beide eine zuversichtliche Sachlichkeit, um irgendwie durch den Tag zu kommen, ohne zusammenzubrechen.

Jan arbeitet als Psychologe in einer nicht weit von Berlin entfernten Stadt in Brandenburg und ist Tag für Tag mit dem Leid seiner Patienten konfrontiert. Krebspatienten. Menschen, die den Tod ihrer Partner nicht verkraften. Jeder ein Spiegelbild für die Angst, von der Jan glaubt, dass er sie vor mir verstecken muss.

Am Wochenende fühlt er sich an meiner Seite verpflichtet, stark zu sein.

Ich revanchiere mich mit dem Heroismus einer Hoffnung, deren Vokabeln ich wie eine Fremdsprache lernen muss. Beide spielen wir füreinander eine Rolle, in der wir nicht sehr glaubwürdig sind.

Die Spinne über meinem Bett zieht den seidenen Faden, an dem mein Leben hängt.

Der Chinese lächelt und träumt in dieser Nacht von einem Schornsteinfeger.

Rituale

Christoph Klimke

Endlich! Endlich ist es so weit. Ich liege schon eine Stunde wach in meinem Bett und schaue auf die blaue Wand, die in der Morgendämmerung schwarz zu sein scheint. Mein Bruder atmet ruhig im Nachbarbett und merkt nicht, wie Vater langsam und leise die Tür zu unserem Kinderzimmer öffnet.

Ich sehe ihn in seinem gestreiften Schlafanzug barfuß über den Teppichboden schleichen. Er bückt sich, streut Lametta vor sich und baut so einen fragilen, silbernen Weg von den Betten zur Tür zum Flur.

Jetzt steht meine Mutter auf und bereitet in ihrem schweren, roten Bademantel das Frühstück vor. Tee und Marmeladentoast gibt es wie jeden Morgen und wie an jedem 24. Dezember ist Eile geboten. Geschenke müssen noch verpackt werden, der Christbaum ist zwar schon am Abend zuvor geschmückt, aber letzte Besorgungen müssen erledigt werden. Wir Kinder holen mit Fahrrad oder Schlitten den Wildbraten für morgen vom Metzger und den Karpfen für heute Abend vom Fischhändler.

Nach dem Frühstück verschließen die Eltern das Wohnzimmer und lassen die Rollläden herunter. „Das Zimmer ist für euch tabu“, befehlen die beiden uns vier Geschwistern. Wir malen noch schnell ein Bild für Mutter oder die Älteren verpacken Parfum und Tabak für die Eltern.

Am Mittag gibt es nur eine Suppe. Es schneit und schneit und Vater geht mit uns raus durch die Siedlung. Ich ziehe meinen Holzschlitten hinter mir her und wir bewundern die ersten Christbäume in den weißen Gärten oder schon erhellten Wohnzimmern. Dann gibt es Kakao und Stollen, den Leuna-Oma uns im Paket geschickt hat.

Mutter geht in die Badewanne, Vater verkriecht sich hinter dem Qualm seiner Pfeife und vertieft sich in ein Buch. Wir lesen Comics, Märchen oder erzählen vom Weihnachten im letzten Jahr. „Was hast du dir gewünscht?“, fragen wir uns der Reihe nach und verraten die kleine Liste auf dem Wunschzettel, den jeder vor gut einer Woche abgeliefert hat. Ich: ein Kaufladen, mein Zimmernachbar: eine neue Lok für die Märklin-Eisenbahn, meine Schwester: ein erstes Party-Kleid und der älteste Bruder: ein Tonband-Gerät. Wir sind gespannt. Vergessen sind die Streitereien unter uns, so mancher Schlag unseres Vaters und die Tränen der Mutter, die nicht weiß, wie sie dazwischengehen soll.

„Kinder, essen kommen!“, ruft sie froh, dass alles so gut gelungen ist. Wir setzen uns um den Tisch herum, Vater liest die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vor, wir beten das Vater­unser und dann gibt es Karpfen mit Salzkartoffeln und Salat mit einer Soße aus Milch, Zucker und Zitrone. Vater erzählt von Weihnachten an der Front, Mutter von der Hungersnot, aber dass es trotzdem weihnachtlich war, wenn ihre Mutter in Herne aus den armseligen Resten etwas für die Kinder zauberte. Wir denken: Hilfe! Alte Sagen! Wann gibt’s Bescherung?

Nach dem Abwasch müssen wir im Flur Aufstellung nehmen. Ich trage eine Fliege, die Brüder schon Krawatten, die Schwester das Kleid, das Mutter ihr letztes Weihnachten genäht hat. Die kleine Glocke läutet aus dem Wohnzimmer, Vater öffnet die Tür. „Ihr Kinderlein kommet, oh, kommet doch all“, singen wir aus vollem Herzen und bewundern den Tannenbaum, die festlich verpackten Geschenke und die Leckereien auf dem Gabentisch.

„Kinder, der Tisch biegt sich ja wieder“, prahlt Vater und ist stolz auf seine Familie, seine schöne Frau und die Kinder, die wie Orgelpfeifen der Größe nach vor dem Baum stehen und ein Lied nach dem anderen singen.

Wir packen unsere Geschenke aus und jeder bekommt das eine Geschenk, das er sich gewünscht hat. Überraschungen? Mangelware. Auch Mutter bekommt wie jedes Jahr ein Römerglas, das sie bewundert und zu den anderen in die Kredenz stellt. Dabei trinkt sie doch gar keinen Alkohol, denke ich und wünsche mir ein anderes Weihnachten her.

Im Laufe der Jahre bemühen wir uns alle mehr und mehr, die anderen zu überraschen. Der Ablauf des Tages und Abends ist aber gleich geblieben. Inzwischen trinken und rauchen wir auch. Wir Geschwister haben Nichten und Neffen, unsere Eltern sind Oma und Opa. Dass ich irgendwann nicht mehr zu Weihnachten nach Kleve gefahren bin, hat meine Mutter zwar verstanden, aber dennoch traurig gemacht. Geschwister heiraten oder lassen sich inzwischen scheiden. Ich feiere mit meinem Mann Weihnachten beinahe genauso, wie ich es aus meiner Kindheit erinnere. Wir kochen allerdings auch für Freunde und erzählen am Ende des Abends von jenem Ritual, das ich – was meine Geschwister nicht wissen – selbst entzaubert hatte. Schließlich ging ich am Nachmittag vor Heiligabend heimlich in das Schlafzimmer meiner Eltern, die einkaufen waren. Ich öffnete die leise quietschende Kleiderschranktür und begutachtete die noch unverpackten Geschenke. Das tue ich heute nicht mehr.

Wünsche verändern sich nicht durch die veränderten Bedürfnisse, wenn man älter wird. Viele Träume bleiben, viele Alpträume auch. Aber das kleine Glück wird zum großen und zwar auch durch die Rituale an jedem Tag.