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Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

© Querverlag GmbH, Berlin 2006

Erste Auflage März 2006

Zweite Auflage Juni 2010

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von getty images.

ISBN 3-89656-549-5

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Für Norbert, wie jedes Mal –

und für Susanne,

weit weg und doch immer nur ein Telefongespräch entfernt

Am Anfang …

… ist es Sommer und es ist heiß. Die Sonne brennt an diesem Julitag erbarmungslos vom Himmel herunter. Schon seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. Die Luft riecht nach Staub, das Gras auf den Wiesen ist braun und vertrocknet, die Erde knochenhart. Die Häuser im Dorf haben die Türen geschlossen und die Fensterläden gegen die Hitze verbarrikadiert, kein Geräusch dringt nach außen. Die Straßen sind wie leer gefegt, nur ein paar herrenlose Katzen streifen über die Bürgersteige und suchen nach Schatten unter den geparkten Autos. Auch abseits des Dorfes, dort, wo die Fel­der und der Wald beginnen, ist es merkwürdig still; nirgends ist das sonst übliche, unentwegte Vogelgezwitscher und das Summen von Insekten zu hören. Nicht einmal der kleinste Windhauch fährt durch das Unterholz und raschelt im Laub des vergangenen Jahres. Die Natur ist wie betäubt.

Das Ufer des kleinen Baggersees einige Kilometer entfernt ist jedoch überfüllt mit Menschen, die im Wasser und im Schatten der Bäume nach Abkühlung suchen. Am Wochenende sind vor allem junge Familien hier. Auf ausgebreiteten Decken stehen Kühlboxen bereit mit Tupperdosen voller Kartoffelsalat, kalten Koteletts und Getränken. Badehosen und Handtücher liegen zum Trocknen in der Sonne, Schwimmflügel und Kreuzworträtselhefte sind fein säuberlich in den mitgebrachten Tragetaschen untergebracht, die Geldbörsen vorsichtshalber in Schuhen versteckt. Gebrauchsgegenstände für einen Tag im Strandbad.

Die Väter verschanzen sich auf Liegestühlen, lesen Zeitung oder verfolgen mit kleinen Transistorradios die Spiele der Bundesliga. Ihre Mienen deuten an, dass sie an diesem Familienausflug nur gezwungenermaßen teilnehmen. Die Mütter stricken unermüdlich an Pullovern für den Herbst, verteilen Sonnenschutzcreme und versuchen, ihre Sprösslinge nicht aus den Augen zu verlieren. In regelmäßigen Abständen rufen sie Ermahnungen zum See, die im Geschrei und Lachen der herumtobenden Kinder untergehen, oder sie kümmern sich um den noch nicht lauffähigen Nachwuchs, der unter einem Sonnenschirm am Schnuller nuckelt. Die größeren Kinder halten sich in der Nähe des Wassers auf. Sie kraxeln auf Bäume, springen Arschbomben ins Wasser, spielen Fangen und Ball oder planschen in Ufernähe herum.

In der Mitte des Baggersees, wo das Wasser eine Tiefe von mehr als vier Metern besitzt, ist ein Ponton aus Holz verankert, den man nur erreicht, wenn man schwimmen kann oder zumindest eine Luftmatratze hat. Dorthin haben sich die Teenager zurückgezogen, damit sie so weit wie möglich außer Sichtweite ihrer Eltern sind. Hier sonnen sie sich, rauchen Zigaretten, die sie heimlich in wasserdichte Hüllen unter ihre Badehosen geklemmt haben, und üben Kopfsprünge von den Holzplanken, um die anderen zu beeindrucken. Beliebt sind auch kleine Raufereien, bei denen die Jungen die Mädchen unter allgemeinem Gelächter ins Wasser werfen oder sie unter die Oberfläche tunken. Gemeinsame Sache machen die Jugendlichen aber immer dann, wenn es darum geht, ihre Insel gegen Eindringlinge zu verteidigen, wie zum Beispiel kleinere Kinder, die sich neugierig zum Ponton vorwagen.

Eines dieser Kinder, ein Junge, nähert sich langsam und etwas ängstlich den Planken. Er hat den schmalen, unfertigen Körper eines Siebenjährigen und ein paar Sommersprossen auf der Nase. Die rotblonden Haare kleben nass an seinem Kopf und auf seinem Rücken pellt sich die Haut. Von seinem Vater hat er den Auftrag erhalten, seine Schwester zurückzuholen. Der Nachmittag neigt sich dem Ende zu und die Familie möchte aufbrechen. Besonders gut schwimmen kann der Junge noch nicht, deshalb hat er sich auf seine blaugrün gestreifte Luftmatratze gelegt und paddelt mit Händen und Füßen.

Als er in Rufweite ist, schreit er den Namen seiner Schwester, aber das Mädchen ignoriert ihn mit einer genervten Grimasse und dreht ihm den Rücken zu. Sie und ihre Freunde finden es peinlich, an Familienverpflichtungen erinnert zu werden. Außerdem sitzt neben ihr ein Junge, für den sie sich schon seit langem interessiert und der ihr an diesem Nachmittag erstmals seine Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Ihr Bruder ist unschlüssig, was er jetzt tun soll. Kehrt er unverrichteter Dinge ans Ufer zurück, wird sein Vater verärgert sein, schwimmt er noch näher an das Holzfloß heran, bekommt er Krach mit seiner Schwester. Der Junge entscheidet sich für das kleinere Übel und dockt zaghaft an dem Ponton an. Noch scheint niemand Notiz von seinem Vorstoß zu nehmen und der Junge wird mutiger. Er stützt sich mit den Ellenbogen auf den Planken auf und versucht, sich hochzuziehen. Dabei ruft er erneut den Namen seiner Schwester, aber seine Kräfte reichen nicht aus, seinen Körper auf das Holz zu wuchten. Seine Beine rutschen von der wackeligen Luftmatratze und plötzlich hat er nur noch Wasser unter den Füßen. Als er sich umsieht, treibt die Matratze schon außerhalb seiner Reichweite. Über ihm tauchen zwei Jungen auf, die doppelt so alt und doppelt so kräftig sind wie er. Sie grinsen zu ihm herab und machen sich über seine Versuche lustig, sich nach oben zu ziehen. Dann erinnern sie ihn daran, dass Kleinkindern das Betreten des Pontons verboten ist. Der Junge registriert neidisch, dass seinen Widersachern schon dunkle Haare auf den Waden wachsen. Er sieht hilfesuchend zu seiner Schwester, die gerade die beiden Freunde beschwichtigen und sie ungnädig bitten will, ihren Bruder nach oben zu ziehen, als die zwei nach dem Jungen greifen und ihn lachend zurück ins Wasser werfen.

Mit einem Schrei taucht er unter und verschluckt sich. Heftig mit den Armen rudernd versucht er, wieder an die Luft zu kommen, dabei ist er schon erschöpft von seinen Bemühungen, sich auf das Holz zu ziehen. Der Junge kann nichts sehen und verliert die Orientierung, denn das Wasser in der Nähe des Floßes ist grün vor Algen. Plötzlich weiß er nicht, wo oben und unten ist, links und rechts. Er macht ein paar hektische Schwimmzüge dorthin, wo er die Oberfläche vermutet, und dabei schlägt sein Kopf gegen etwas Großes, Dunkles genau über ihm. Der Junge ist in seiner Panik genau unter das Holzfloß geschwommen, nun machen ihm die Planken das Auftauchen unmöglich. Etwas Scharfes, vielleicht ein Nagel, mit dem die Bretter zusammengehalten werden, ratscht an seinem Gesicht entlang und reißt eine Wunde in die Haut über der Oberlippe. Der Junge schmeckt Blut. Er bekommt keine Luft und schluckt noch mehr Wasser. Sterne beginnen vor seinen Augen zu tanzen. Verzweifelt schlägt er um sich, strampelt mit Armen und Beinen. Luftbläschen und Algen wühlen das Wasser auf und das Bedürfnis nach Luft wird immer größer. Der Junge hat das Gefühl, dass ihm gleich der Brustkorb platzt. Er hat Angst, er kann nicht mehr klar denken, er will nur atmen, atmen, atmen. Wieder stößt sein Kopf gegen den Ponton, er versucht sogar instinktiv, mit letzter Kraft die Holzplanken nach oben zu stemmen – und dann kann er nicht mehr. Er muss atmen. Der Junge öffnet seinen Mund und das Wasser strömt in seine Lungen.

Im letzten Moment, als seine Arme schon erschlaffen und sein Körper nach unten, auf den Grund des Sees, zu sinken beginnt, fühlt er eine Hand unter seiner Achsel, dann zwei, und er wird zur Seite gezogen, weg von dem Ponton und nach oben. Ein Gesicht taucht vor ihm auf, das Gesicht eines jungen Mannes, das er noch nie zuvor gesehen hat, auf jeden Fall war er bestimmt nicht eben auf dem Holzfloß. Das Gesicht strahlt Zuversicht aus und lächelt und der Junge hat plötzlich keine Angst mehr. Er schaut nach oben und sieht, dass das Wasser heller wird. Er hat es fast geschafft, gleich wird er wieder Luft holen können.

Der Junge streckt seine Arme aus und fremde Hände ziehen ihn hoch, bis sein Kopf die Wasseroberfläche durchbricht. Eine Stimme raunt ihm etwas ins Ohr, das er nicht versteht, und dann wird er auf den Ponton gehievt und auf den Rücken gelegt. Jemand pumpt Luft in seine Lungen. Der Junge hustet und erbricht einen Schwall brackiges Seewasser und dann tut er seinen ersten, rasselnden Atemzug. Er starrt in das hysterische und verheulte Gesicht seiner Schwester, die sich über ihn beugt, und fragt sie: „Wo ist er? Wo ist der Mann aus dem Wasser?“ Er blickt sich suchend um, aber sein Retter ist nicht zu sehen und seine Schwester schüttelt den Kopf und fragt, wen er denn meine, da sei niemand gewesen.

Aber der Junge weiß es besser.