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© Querverlag GmbH, Berlin 2008

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von getty images.

ISBN 978-3-89656-550-1

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Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

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Eins

Manchmal denke ich, dass ich ihn sehe. Wenn ich morgens beim Rasieren in den Spiegel schaue, glaube ich, seine Konturen zu erkennen. Verborgen unter den ersten kleinen Falten um meine Augen oder neben den Mundwinkeln starrt er mir ins Gesicht – mein Vater.

Natürlich weiß ich, dass das nicht sein kann, aber trotzdem fahre ich mit der Hand erschrocken über Wange und Kinn. Mein Vater ist jünger, als ich es jetzt bin, so jung wie auf der einzigen Fotografie, die ich von ihm besitze, und mit einem permanenten Stirnrunzeln und einer gewissen Melancholie in den blassgrünen Augen, die ich von ihm geerbt habe, beobachtet er mich. Erst wenn ich mich auf die Klinge in meiner Hand konzentriere und darauf achte, dass ich mir nicht mit einer ungeschickten Bewegung die Haut verletze, verschwindet er und ich fühle mich wieder wie ich selbst. Aber ich weiß, dass er da ist, tief in mir drin, und nur darauf wartet, dass ich den Nebel durchschreite, der uns trennt.

Manfreds Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Der Kaffee ist fertig und ich beeile mich, wische mir den Rasierschaum vom Gesicht und springe unter die Dusche. Zehn Minuten später stehe ich mit einem Badetuch um die Hüften in der Küche.

Nach einem kurzen, abwesenden Seitenblick auf meinen nackten Oberkörper sagt Manfred: „Na, endlich.“

Ich versuche, den vorwurfsvollen Ton zu überhören. „Gut geschlafen?“, frage ich gezwungen fröhlich, während ich mir Kaffee eingieße. Die Frage ist ein morgendliches Ritual, inhaltsleer und ohne Bedeutung.

„Hm“, antwortet er, ohne zuzuhören. Früher haben wir uns bei unserem hastigen Frühstück unterhalten, jetzt sieht er mich meist nicht einmal an, die Sichtung der Morgenzeitung hat Priorität. Immer häufiger habe ich das Gefühl, wir haben uns gesagt, was es jemals zwischen uns zu sagen gab. Unser Vorrat an gemeinsamen Worten ist erschöpft. Jede unserer Gesten, jeder Gedanke, jeder unserer Schritte ist vorhersehbar. Was bleibt, sind Wiederholungen und Schweigen.

„Hat jemand vom Pflegedienst angerufen, während ich im Bad war?“ Ich rechne jeden Tag mit einem Telefonat, jede Stunde. Mein Freund schüttelt den Kopf.

Manfred ist fertig angezogen: weißes Hemd, Anzug, Krawatte. Bürokleidung. Der Hauch eines Aftershaves umgibt ihn, das Gel in seinen dunklen Haaren glänzt, sodass die ersten grauen Stellen kaum auffallen. Mit dem Hund war er schon draußen, jetzt noch ein schneller Biss in den Toast, er ist auf dem Sprung.

„Wann bist du zurück?“, frage ich.

Er zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich habe Termine in Gütersloh und Bielefeld. Kann dauern. Ach so, heute kommt der Heizungsfritze.“

„Wann?“

„Zwischen siebzehn und achtzehn Uhr. Kannst du das übernehmen?“

Ich nicke vage und er drückt mir einen Kuss auf die Wange. Einen Ich-seh-dich-heute-Abend-Kuss: eine flüchtige Berührung der Haut, aus der ich einmal mehr herauslese, wie sehr die Gleichgültigkeit die Oberhand gewonnen hat. Dann klappt die Tür hinter ihm zu. Ein paar Augenblicke später höre ich seinen Wagen wegfahren.

Ich streichle dem Hund über den Kopf und gebe ihm zu fressen. Er ist so groß wie ein Bernhardiner, aber rabenschwarz, mit dichtem, zotteligem Fell. Eine Promenadenmischung. Wir haben ihm nie einen Namen gegeben, weil wir uns nicht entscheiden konnten; mittlerweile hört er auf die Bezeichnung seiner Gattung.

Müde glotze ich aus dem Fenster. Die Kinder der Nachbarn von gegenüber warten an der Haltestelle auf den Schulbus. Die Tage werden kühler, es geht auf den Herbst zu und die Kinder tragen Anoraks. Der Junge, Boris, acht Jahre und für sein Alter ein ganz schönes Früchtchen, streckt mir die Zunge heraus. Ich zeige ihm den Stinkefinger und er schreckt überrascht zurück. Im Radio läuft ein Kommentar über den Nahen Osten, danach Werbung. Ich schaue auf die Küchenuhr über dem Herd, denke: Scheiße! und renne ins Schlafzimmer. Springe in meine Klamotten, rufe dem Hund zu, dass er brav sein soll, und dann bin auch ich auf dem Weg zur Arbeit.

Mein Vater starb 1961 bei einem Verkehrsunfall, kurz nach meinem ersten Geburtstag. Er ist mit seinem Motorrad, einer alten DKW RT 125/2H, aus einer Kurve getragen worden und mit über neunzig Stundenkilometern frontal gegen einen Baum geprallt. So stand es in der Zeitung damals, ein kurzer, unscheinbarer Absatz unter der Rubrik „Vermischtes“: „Das Unfallopfer hinterlässt Frau und Kind.“ Kein Foto, keine Namen. Tragisch, aber nicht tragisch genug für einen größeren Aufmacher. Ich habe den Artikel im Archiv eingesehen, später, auf einer meiner vergeblichen, halbherzigen Spurensuchen.

Als ich mit sieben oder acht Jahren wissen wollte, wie sich der Unfall genau abgespielt hat, erklärte mir meine Mutter mit einem noch immer verbitterten Zug um ihre Lippen, dass er ein rücksichtsloser Fahrer gewesen sei. Als ob sie den Tod ihres Mannes als persönlichen Affront betrachtete. Die Kaffeetasse klirrte, als sie sie auf den Unterteller zurücksetzte.

Meine Enttäuschung war grenzenlos. In meiner kindlichen Naivität wollte ich einen tragischen Helden, jemanden, der durch den Einsatz seines Lebens ein anderes Leben gerettet hatte, aber sie gab mir nur einen Verkehrsrowdie, der sein Schicksal herausgefordert hatte. Mehr hatte sie zu diesem Thema nicht zu sagen und irgendwann habe ich aufgehört zu fragen. Meine Mutter ist ein Mensch, der nicht gerne zurückblickt. Nicht einmal jetzt, da ihre eigene Zukunft vorhersehbar geworden ist. Für sie ist Vergangenheit etwas, das gut verpackt auf dem Dachboden dem Vergessen anheimgegeben wird, abgehakt und erledigt wie ein Einkaufszettel für den Supermarkt.

Abgesehen von der Art, wie er zu Tode kam, ist das Einzige, was ich mit Sicherheit über meinen Vater weiß, die Tatsache, dass er für meinen Namen verantwortlich zeichnet: Felix. Wenn es nach meiner Mutter gegangen wäre, wäre ich wohl Andreas, Michael oder Christian getauft worden, Allerweltsnamen, die Anfang der sechziger Jahre in Mode waren. Aber mein Vater hat auf diesem Vornamen bestanden, hat sogar einen Streit mit seiner Frau auf sich genommen, wie ich aus dem Munde meines Großvaters, dem Vater meiner Mutter, weiß. Felix. Der Glückliche. Warum mein Vater so viel Wert auf diesen Namen gelegt hat, konnte mir aber auch mein Großvater nicht sagen und meiner Mutter war wie immer keine Antwort zu entlocken.

Wenn er versucht hat, mir damit einen positiven Lebensweg vorzuzeichnen, in einer Art selbsterfüllender Prophezeiung, dann ist sein Vorhaben wohl misslungen. Nicht, dass ich unglücklich wäre, das sicher nicht. Aber glücklich? Eher würde ich mich als halbwegs zufrieden beschreiben, leicht gelangweilt mit den Umständen, die über die Jahre aus einer Anhäufung von Zufällen entstanden sind und nun das Puzzle ergeben, das man landläufig als Lebensumstände bezeichnet. Glück erscheint mir als ein zu großes Wort für das, was mich umgibt und ausmacht; die Implikation von großen Gefühlen, Sehnsüchten und wilder Romantik ist mir zu suspekt, zu dramatisch, um mich mit diesem Substantiv identifizieren zu können. Neulich habe ich in einer Zeitschrift gelesen, dass Leute, die den Namen Felix tragen, tatsächlich glücklicher seien als andere. Ich würde sie gerne kennenlernen, diese Felixe, nur um sie nach ihrem Geheimnis zu fragen.

Ich kenne es nämlich nicht.

Mein Leben ist eher medium, durchschnittlich, fast bieder. Alles ist nüchtern und wohlgeordnet: Das Haus, in dem ich wohne, liegt in einer kleinen Reihenhaussiedlung in einem Vorort von Köln; die dazugehörigen Hypotheken haben wir jahrelang abbezahlt. Ich fahre in einem Mittelklassewagen jeden Morgen in die Stadt, um in einer Grundschule zu unterrichten, und komme jeden Nachmittag gegen drei Uhr zurück, um den Hund Gassi zu führen, im Vorgarten an den Blumenrabatten zu zupfen oder ins Fitnessstudio zu gehen, um meinen beginnenden Bauchansatz wegzutrainieren.

Das Aufregendste, was mir in meinem Leben passiert ist, war wahrscheinlich die Begegnung mit Manfred, mit dem ich seit zehn Jahren zusammenlebe. Aber was ist an der Tatsache eines schwulen Pärchens in einer Großstadt heutzutage noch erwähnenswert? Wir leben angepasst, integriert und unaufgeregt, nicht einmal der Sex scheint mir von Belang zu sein. Er ist eine mehr oder weniger lustvolle Notwendigkeit, um sich der Zuneigung des anderen zu versichern – eben medium.

Letztendlich bin ich doch mehr zu einem Michael oder Andreas geworden als zu einem Felix. Ich bin sicher, dass dieser Gedanke meiner Mutter zupass käme, wenn sie wüsste, wie ich empfinde. Aber da wir seit Jahren nicht miteinander sprechen, kann sie ihren Triumph nicht auskosten. Sie hat sich nie mit meiner Homosexualität versöhnen können, nicht einmal dieses kleine Stückchen Außergewöhnlichkeit gönnt sie mir.

Mein Handy klingelt, als ich im Stau auf der Severinsbrücke Richtung Innenstadt stehe. Sofort beginnt mein Herz zu rasen. „Hätte ich fast vergessen“, sagt Manfred über seine Sprechanlage im Auto. Es knistert, die Verbindung ist schlecht und mein Puls beruhigt sich wieder. „Ich hab heute Abend ein Essen mit den Bezirksvertretern von Westfalen. Also rechne nicht vor zwölf mit mir.“

Ich weiß, was das heißt. Auf dem Rückweg wird er für eine Stunde eine Klappe oder einen Parkplatz ansteuern, um Druck abzulassen, also wird es auf jeden Fall ein Uhr, bis er wieder zu Hause ist.

„Okay“, sage ich. „Kein Problem.“ Die kleinen Abstecher auf Rastplätze oder in Saunen machen uns nicht mehr eifersüchtig, ich suche selbst hin und wieder Pornokinos oder Darkrooms auf, um mich zu erleichtern. Es ist wie Geschirr spülen oder Haare schneiden. Hinter mir hupt ein Auto. Der Stau löst sich auf, es geht weiter.

Der Tag verläuft eintönig, vorhersehbar. Einer meiner Erstklässler nässt sich vor lauter Aufregung ein, im Lehrerkollegium herrscht die übliche Stutenbissigkeit – kein Wunder, wenn neunzig Prozent der Pädagogen in der Grundschule Frauen sind. Am Nachmittag erledige ich die notwendigen Einkäufe: Eier, Milch, Manfreds Energydrinks und für mich ein großes Stück Schwarzwälder Kirschtorte zur Belohnung. Ich unterschreibe den Zettel, den mir der Heizungsmonteur unter die Nase hält, und gehe mit dem Hund einmal um den Block. Am Abend lese ich den neuen Krimi von Mankell. Der Höhepunkt meines Tages ist das Abspielen einer CD von Bruckner, die ich mir vor einigen Tagen geleistet habe. Während die Musik remastered, digitalisiert und im Dolby-Surround-Sound durch den Raum schwebt, werde ich müde. Immer wieder fallen mir die Augen zu, auch der Hund hat sich längst auf seinem Kissen neben der Heizung zusammengerollt.

Als Manfred in der Nacht ins Bett kriecht und sich an mich kuschelt, werde ich wach. Sein Körper ist klamm vor Kälte, kalt, aber vertraut. Er riecht nach Sex, nach einem anderen Mann.

„Spaß gehabt?“, murmele ich und lege gewohnheitsmäßig meinen Arm um ihn.

Er brummt etwas Unverständliches und gleich darauf sind seine Atemzüge tief und regelmäßig. Ich allerdings starre in die Dunkelheit. Ich habe ihn noch nicht einmal vermisst.

Es fühlt sich nicht länger richtig an, unser Leben.

Am nächsten Morgen trägt Manfred ein anderes Hemd, ansonsten ist alles wie immer. Die Dusche, der Hund, der Toast, die Eile. Ich fühle mich wie Bill Murray in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Eingesperrt in einen zeitlichen Looping, dazu verdammt, auf ewig dasselbe zu erleben.

Ich schütte Milch in meinen Kaffee und frage plötzlich: „Warum sind wir eigentlich noch zusammen?“ Ich weiß selbst nicht, woher die Frage kommt. Sie war auf einmal da, lag auf meiner Zunge wie ein störendes Haar und wollte ausgespuckt werden.

Manfred schaut über den Rand der FAZ und beäugt mich misstrauisch. „Bist du sauer wegen gestern Nacht?“

„Nein“, erwidere ich und es stimmt. Ich bin nicht verärgert. Ich empfinde keine Eifersucht, keine Verlustängste, keine Wut. Ich fühle … nichts.

„Was meinst du mit ‚nichts‘?“, fragt Manfred. Ich war der Meinung, ich hätte meinen Mund gehalten, aber anscheinend habe ich laut gedacht. Er wirft einen hastigen Blick auf seine Armbanduhr. Ich spüre, wie ungehalten er ist. Dramen am Frühstückstisch sind ihm zuwider. Aber ich will ihm gar keine Szene machen. Ich will nur wissen, warum wir noch zusammen sind. Denn ich weiß es nicht mehr.

„Ich fühle mich irgendwie leer, ausgebrannt“, mache ich einen lahmen Versuch, meine Gefühlslage zu erklären. „Als ob alles seinen Sinn verloren hätte.“

„Du bist doch sauer“, konstatiert Manfred genervt. „Was für ein Schwachsinn. Wir sind seit über zehn Jahren zusammen und jetzt fängst du an, einen auf Monogamie zu machen! Es war nur ein Quickie auf dem Rastplatz, weiter nichts.“

„Darum geht es mir gar nicht“, widerspreche ich. „Wirklich! Es ist mir egal. Aber genau das ist es vielleicht: Es sollte mir nicht egal sein, oder?“ Ich sehe ihn hilflos an und wärme meine Finger an der Kaffeetasse. Ich weiß nicht, was auf einmal mit mir los ist oder worauf ich hinauswill, aber dieses unbestimmte Gefühl der Leere macht sich schon seit Längerem in mir breit, nimmt jeden Tag ein bisschen mehr Raum ein. Der Hund klopft mit dem Schwanz auf den Boden und sieht mich erwartungsvoll an. Es ist Zeit für sein Fressen.

„Stellst du schon am frühen Morgen unsere Beziehung in Frage?“, möchte Manfred wissen.

„Nein, natürlich nicht …“ Ein Leben ohne meinen Freund ist so lange her, dass ich es mir gar nicht vorstellen kann. „Ich will nur wissen, ob …“

„Wir haben ein gemeinsames Haus, einen Hund“, unterbricht mich Manfred. Als ob ich das nicht selbst wüsste. Als ob das mit irgendetwas zu tun hätte.

„… wir uns noch lieben“, beende ich meinen Satz und schaue betreten zu Boden. Dieses kleine Wort wirkt seltsam peinlich. Es klingt nach aufgewühlten Teenagerhormonen, pubertären Sehnsüchten, Coming-out-Romantik.

Manfred steht auf und räuspert sich. Es ist sein Verlegenheitsräuspern, das er immer benutzt, wenn er eine Diskussion unterbinden oder Zeit schinden will. „Ich muss jetzt zur Arbeit“, sagt er und wirft sich sein Jackett über die Schulter. „Wir können ja heute Abend noch mal darüber sprechen, wenn du nicht mehr hysterisch bist.“

„Ich bin nicht hysterisch!“, rufe ich der zufallenden Tür hinterher. Nur ein wenig ratlos, hohl.

Das Telefon hat immer noch nicht geklingelt. Wieso braucht sie so lange?

Nach dem Tod meines Vaters ist meine Mutter mit mir, ihrem einzigen Sohn, umgezogen. Schon vier Wochen nach der Beerdigung zog sie von Köln, wo sie ihre Lehre gemacht und meinen Vater kennengelernt hatte, zurück in die Kleinstadt in der Nähe von Koblenz, aus der sie kam. Die Entfernung, die sie von ihrem bisherigen Leben trennte, war nicht besonders groß, gerade mal fünfzig Kilometer, aber sie schien ausreichend zu sein, um neu anzufangen. Vielleicht hatte meine Mutter nicht den Mut, sich völlig von ihrer Heimat, dem Rheinland, zu trennen. Vielleicht wäre das ein zu großer Schritt gewesen. Vielleicht hatte sie gehofft, die zurückgelegte Distanz würde ausreichen, um der Trauer, die sie verspürt haben musste, zu entkommen. Wenn ja, dann ist ihre Rechnung aufgegangen. Ich habe sie niemals weinen sehen, aber das Erinnerungsvermögen kleiner Kinder ist sehr unzuverlässig. Vielleicht hatte sie ihre Trauerphase schon hinter sich gebracht, bevor mein Gedächtnis einsetzte. Zumindest war die Entfernung weit genug, um sie in eine hartherzige, kalte Frau zu verwandeln.

Wahrscheinlicher als diese hintergründigen, gefühlsbetonten Spekulationen – und dem pragmatischen Charakter meiner Mutter auch eher entsprechend – war der Grund für den Umzug, dass sie als gerade fünfundzwanzigjährige Witwe mit einem Säugling auf Unterstützung angewiesen war. Und meine Großeltern mütterlicherseits führten in dieser kleinen Stadt ein Schreibwarengeschäft, in dem meine Mutter von nun an mitarbeitete. Die Betreuung ihres kleinen Sohnes konnte sie sich so mit ihrer eigenen Mutter und deren zahlreichen Freundinnen teilen. Freundinnen, deren Männer größtenteils „im Krieg geblieben“ waren, ein Euphemismus, der mich anfänglich etwas ratlos zurückließ: Bedeutete er, dass die Ehemänner nur zeitweilig abwesend und damit beschäftigt waren, irgendwo in der Fremde Krieg zu spielen? Dass sie keine Lust hatten, nach Hause zu kommen?

Abgesehen von meinem Großvater, der für mich meist unerreichbar hinter dem Verkaufstresen stand und meinen Klassenkameraden und deren Geschwistern und Eltern bei der Auswahl von Schulheften, Radiergummis und Füllfederhaltern half, waren also die Respektspersonen meiner frühen Kindheit ausschließlich Frauen. Rückwirkend betrachtet war das vielleicht ein Fehler, den meine Mutter unwissentlich beging, allerdings auch nur dann, wenn man der Theorie Glauben schenkt, dass fehlende männliche Rollenvorbilder in der Kindheit die Entwicklung von Homosexualität begünstigen. Sie selbst, meine Mutter, käme nie auf diesen Gedanken. Ihre Rechtschaffenheit steht für sie in jeder Beziehung außer Frage. Und mir persönlich ist es egal, warum ich schwul geworden bin. Das sind Fragen, mit denen ich mich als Teenager herumgeschlagen habe. Mit Mitte vierzig hat man ein wenig mehr Distanz zu den Launen des Schicksals.

Wenn ich in der Schule von Klassenkameraden gefragt wurde, was mit meinem Vater sei, so antwortete ich wahrheitsgemäß, dass er bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war. Das war cool. Tote Väter waren schick, sie konnten nicht bestrafen oder Prügel austeilen; tote Väter, die Motorrad fuhren, waren nicht zu toppen. Schweigsam wurde ich nur, wenn die Fragen weitergingen: was er von Beruf gemacht hatte, was er für ein Mensch gewesen sei. Ich wusste die Antworten nicht.

„Dein Vater ist tot“, entgegnete meine Mutter kühl, wenn ich gegen meine Unwissenheit aufbegehrte.

„Ich weiß, dass er tot ist! Aber wie war er? Früher, als er noch lebte? Bin ich ihm ähnlich?“ Am liebsten hätte ich mit dem Fuß aufgestampft, aber das hätte mir nur eine Ohrfeige eingebracht.

„Was nützt es dir, das zu wissen? Das macht ihn auch nicht wieder lebendig.“ Die Erwähnung meines Vaters ließ meine Mutter jedes Mal wortkarg werden, die schmalen Lippen ihres Mundes pressten sich aufeinander, als ob sie mit einem Pflaster zugeklebt worden wären. Manchmal konnte ich spüren, wie ihre Augen danach auf mir ruhten und ihre Blicke mich heimlich, fast argwöhnisch abtasteten.

Der Hund hat Zecken. Ich bemerke es, als wir von einem Spaziergang über die Poller Wiesen zurückkehren. Er kratzt sich mit der Hinterpfote unentwegt am Hals und scheuert sich den Rücken. Ich durchwühle sein dichtes, schwarzes Fell und bekomme vier Zecken zu fassen, die Köpfe in der Haut des Hundes vergraben, die dunklen Hinterleibe obszön aufgebläht. Als ich vorsichtig versuche, eines der Spinnentiere herauszudrehen, schnappt der Hund nach mir. Ich fluche.

Beim Tierarzt muss ich lange warten. Das Wartezimmer ist überfüllt mit gebrechlichem Viehzeug. Ein Papagei mit einem gestauchten Flügel, eine Katze mit lahmem Bein, zwei weitere Hunde, deren Ohren entzündet sind. Alle sehen elend und leidend aus, wenn man ihnen in die Augen schaut, wie im Wartezimmer eines richtigen Arztes.

„Nun, was haben wir denn?“, fragt der Doktor und klopft mir auf die Schulter, als ich endlich an der Reihe bin.

Uh, oh!, denke ich angewidert. Wie ist der denn heute drauf? Distanzlosigkeit kann ich nicht ausstehen.

„Ich habe nichts, der Hund allerdings hat Zecken.“

Der Mann schüttet sich aus vor Lachen und führt mich und den Hund in den Untersuchungsraum. Der Hund ist völlig eingeschüchtert von der Umgebung; mit eingezogenem Schwanz schleicht er hinter mir her. Wahrscheinlich weiß er, dass er hier immer Spritzen und Impfungen bekommt, jedenfalls lässt er die Behandlung schicksalsergeben und winselnd über sich ergehen, als würde er zum Schafott geführt. Die ganze Zeit über sieht er mich mit vorwurfsvollen Augen an, als hätte ich ihn verraten.

Schon nach fünf Minuten sind wir fertig. Der Arzt drückt mir eine Zeckenzange in die Hand, für den Hausgebrauch. „Immer schön gegen den Uhrzeigersinn drehen“, empfiehlt er. „Und darauf achten, dass die Köpfe dranbleiben!“ Ich schüttele mich innerlich und beschließe, dass solche Sachen in Zukunft in den Zuständigkeitsbereich meines Freundes fallen. Draußen kann der Hund gar nicht glauben, dass er dem Tode noch einmal entronnen ist. Er führt sich auf wie ein Verrückter und ich muss mehrmals die Leine stramm ziehen, damit er vor lauter Freude nicht einen Passanten umwirft.

Ich kontrolliere das Display meines Handys, immerhin war ich eine Stunde nicht erreichbar. Aber da ist nichts, keine SMS, kein Anruf in Abwesenheit. Die Warterei macht mich ganz kirre. Die Schwester hätte mir nicht sagen sollen, dass ich jetzt jederzeit mit dem Schlimmsten rechnen muss.

Manfred und ich haben uns in einer Kneipe kennengelernt. Ganz banal, die altmodische Art. Ich habe ihn zu einem Bier eingeladen, weil ich ihn attraktiv fand mit seinen damals noch tiefschwarzen Haaren, den langen, seidigen Wimpern und dem südländischen Teint. Er sah aus wie einem Erotik-Bildband entsprungen. Wenn das Licht gnädig ist, kann ich Reste dieser Schönheit in seinem Profil noch erkennen.

Was er an mir anziehend fand, weiß ich nicht. Er hat es mir bis heute nicht gesagt. Aber etwas an mir muss er ja mögen, sonst wären wir nicht seit zehn Jahren zusammen. Am ersten Abend sind wir nicht einmal miteinander ins Bett, sondern essen gegangen. Wir schwitzten über einem Curry und Chicken Vindaloo, tranken Unmengen Wasser und Manfred erzählte von seiner Kindheit, seinem Beruf, breitete sein ganzes Leben vor mir aus. Er hatte einen verrückten Onkel, der in der geschlossenen Psychiatrie saß und sich ständig entblößte, einen blinden Bruder und zwei Cousinen, die seit Jahren nicht mehr miteinander sprachen, weil die eine mit dem Mann der anderen ein Verhältnis gehabt hatte. So eine große Familie, so viele Geschichten. Ich war neidisch, denn ich besaß nur die eine Geschichte.

„Mein Vater ist bei einem Motorradunfall gestorben, kurz nach meiner Geburt.“

„Und sonst?“, fragte er.

Das hat mich beeindruckt.

„Meine Mutter hasst mich“, versuchte ich es weiter.

„Mach dich nicht lächerlich“, winkte er ab. „Das zählt nicht.“

Am nächsten Tag sahen wir uns wieder. Ich besuchte ihn am Abend in seiner Wohnung. Er hatte Kerzen angezündet, eine Flasche Rotwein aufgemacht und eine CD mit dem Titel Jazz for Lovers aufgelegt. Die romantische Stimmung tropfte förmlich von den Wänden. Ich bat ihn, eine andere CD zu spielen, und er entschied sich für Orlando di Lasso, Renaissance-Musik, eine überraschende Wahl.

Diesmal hatten wir Sex, der ziemlich gut war, auch wenn wir beide keine Bettakrobaten sind und wahrscheinlich nie sein werden. Viel entscheidender, jedenfalls für mich, war, dass ich in der Nacht ein dezentes Schnarchen neben mir vernahm. Es klang wohltuend beruhigend, einschläfernd, wie das sanfte Rollen der Meeresbrandung. Ich fühlte mich, als wäre ich endlich angekommen.

Nach sechs Monaten kauften wir zusammen das Reihenhäuschen und einige Jahre später kam der Hund. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns einmal gesagt hätten, dass wir uns lieben, aber keiner von uns beiden bestand auf einer solchen Formalie. Es war irgendwie klar, dass wir zueinander passen. Vielleicht wäre es besser gewesen, eine Phase voller Sehnsucht und wilder Romantik zu durchlaufen, mit nächtlichen Beteuerungen, ohne den anderen nicht leben zu können, und Sexmarathons, die einen verschwitzt und atemlos zurücklassen. Phasen, auf die man in späteren Jahren zurückblicken und von deren Erinnerung man zehren kann, aber so waren wir nicht. So bin ich nicht.

„Nein“, sagt Manfred bedauernd. Es ist Abend und er sitzt mit einem Bier in der Hand am Küchentisch. Der zeckenbefreite Hund liegt zu seinen Füßen. „Das bist du nicht. Du bist eher der emotionslose Typ. Bevor dir ein gefühlsbeladenes Wort herausrutscht, hackst du dir lieber den rechten Fuß ab. Wahrscheinlich hast du das von deiner Mutter.“

Ich bin sprachlos. „Wie kannst du so etwas sagen? Du hast sie doch nie kennengelernt.“

„Stimmt“, sagt Manfred und läuft ins Wohnzimmer, als wollte er einer Diskussion erneut aus dem Weg gehen. „Eben. Bloß niemanden an sich heranlassen. Bloß keine Nähe ertragen müssen.“

„Sie kann halt nicht damit umgehen, dass ich schwul bin. Was erwartest du?“ Ich fühle mich ungerecht behandelt. Manfred zwingt mich, die Position meiner Mutter zu verteidigen, obwohl ich das gar nicht will.

„Sie ist alt genug, um es besser zu wissen. Und du bist feige.“

„Nein“, widerspreche ich. „Nur zu müde, um gegen Windmühlen anzukämpfen.“

„Was hat sie denn gegen Schwule?“

„Ich weiß es nicht“, sage ich gleichgültig. Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe aufgegeben, nach den Gründen zu forschen. „Jetzt ist es sowieso egal.“

Kurz nachdem ich volljährig geworden war, fand meine Mutter heraus, dass meine sexuellen Vorlieben gleichgeschlechtlicher Natur sind. So oder ähnlich unverständlich drückte man es damals im Biologieunterricht aus – wenn das Thema überhaupt angesprochen wurde. Wenn meine Großmutter über Schwule sprach, sagte sie immer: „Das ist auch einer von denen!“ Dazu rollte sie die Augen und deutete vielsagend mit dem Daumen rückwärts, als ob jemand „von denen“ hinter ihr stünde. Dann wusste jeder Bescheid.

Ich steckte mitten im Abitur und hatte allgemein wenig Zeit, auf die Richtung meiner Triebe zu achten. Sich zwei- oder dreimal am Tag einen runterzuholen, ist eine Sache, die trigonometrischen Formeln, Kants kategorischen Imperativ und die englische Parteiengeschichte im viktorianischen Zeitalter zu beherrschen, eine völlig andere. Zudem hatte ich keinen blassen Schimmer, was ich nach dem Abitur machen wollte. Von der Bundeswehr war ich ausgemustert worden, es wurde also Zeit, Weichen für eine wie auch immer geartete Zukunft zu stellen.

„Dein Großvater wird alt. Er würde dir das Geschäft überlassen, wenn du eine gute kaufmännische Ausbildung gemacht hast“, schlug meine Mutter vor.

Das Letzte, was ich tun wollte, war, für den Rest meines Lebens hinter einem Tresen zu stehen und Schultüten und Taschenrechner zu verkaufen. „Nur über meine Leiche!“, murmelte ich.

„Um eine Familie gründen zu können, braucht man einen sicheren Beruf.“

„Was für eine Familie?“ Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie ein Mädchen geküsst, geschweige denn eine feste Freundin gehabt. Der Gedanke daran kam mir irgendwie absurd vor. Nackte Frauenkörper gab es in der Werbung genug, aber mein Gehirn schien sie weniger zu registrieren als die muskulösen Oberkörper, die für Rasierwasser und Duschgels Reklame machten. Ich duschte ganz gerne, vor allem zusammen mit den anderen Jungs nach dem Schwimmen. Den offensichtlichen Schluss aus dieser Beobachtung hatte ich meiner Mutter allerdings noch nicht mitgeteilt. Dafür war die ganze Sache noch zu neu und unheimlich für mich.

Ihre Stimme nahm einen lauernden Tonfall an. Rückblickend hätte ich auf der Hut sein sollen, aber ich kämpfte am Küchentisch gerade mit Tangensfunktionen und Additionstheoremen. „Interessierst du dich denn gar nicht für Mädchen? Ich habe dich noch nie mit einem zusammen gesehen.“

„Nein“, erklärte ich und legte schließlich das Lehrbuch zur Seite. Vielleicht war jetzt ein guter Zeitpunkt. „Ich glaube, ich bin schwul“, sagte ich zögernd. Das schien mir der beste Weg zu sein, die lästige Diskussion zu beenden, und sobald ich es ausgesprochen hatte, klang es auch wahr.

Aber ich hätte nichts Schlimmeres von mir geben können. Meine Mutter jedenfalls schien hinter meinem Rücken geradewegs zu implodieren. Noch heute erinnere ich mich an die unheimliche Stille, die meinem beiläufigen Geständnis folgte.

„Mutter?“ Ich drehte mich um und sah eine Frau neben dem Bügelbrett stehen, die nur noch entfernte Ähnlichkeit mit meiner Mutter hatte. „Was ist los?“ Tiefe Linien hatten sich in Sekunden in ihr Gesicht eingegraben, das eine ungesunde, blasse, feuchtglänzende Farbe angenommen hatte. Ihre Hände zitterten und umklammerten das Bügeleisen. Ihr Mund öffnete und schloss sich tonlos, ich musste unwillkürlich an einen Fisch denken.

Ich wollte gerade aufspringen, um einen Arzt zu rufen, als sie ihre Stimme wiederfand. „Solltest du wirklich diese … diese verhängnisvolle Neigung haben, wirst du nicht länger mit mir unter einem Dach wohnen“, presste sie zwischen ihren blutleeren Lippen hervor.

„Aber …“

„Ich meine, was ich sage. Also?“

„Mein Gott, Mutter, es ist 1980! Nun stell dich doch nicht so …“

„Raus!“

„Aber du kannst mich doch nicht einfach …“

„Doch!“, erwiderte sie leise, aber entschlossen. „Ich kann.“

Ich glaubte ihr kein Wort, hätte beinahe gelacht. Erst als sie mir eigenhändig zwei Koffer packte, mir die Wohnungsschlüssel abnahm und mich vor die Tür setzte, wurde mir klar, dass sie es bitter ernst meinte.

„Und wovon soll ich leben?“ Wie zum Hohn schien mir die Sonne ins Gesicht und blendete mich, bis ich mir schützend die Hand vor die Augen hielt. Ich hatte noch immer keine Ahnung, was eigentlich los war.

„Darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich werde deine weitere Ausbildung finanzieren. Ich will dich bloß nicht mehr sehen.“ Das Zuschlagen der Haustür klang genauso hart wie die Stimme meiner Mutter.

Ich setzte mich an die nächste Haltestelle und ließ einen Bus nach dem anderen vorbeifahren. Es war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich geweint habe. Trotzige und wütende Tränen schossen mir über die Wangen. Wenn meine Mutter zu so etwas fähig war, dann war etwas mit ihr nicht in Ordnung. Es war nicht meine Schuld. Im Tierreich mochte es durchaus gang und gäbe sein, die Jungen aus dem Nest zu schubsen, aber selbst da geschah das, um sie zur Selbstständigkeit zu zwingen, und nicht, weil den Eltern das sexuelle Verhalten ihrer Jungen missfiel. Aber meine Mutter hatte es getan, der Beweis stand neben mir. Fassungslos starrte ich auf die beiden Koffer. Ich bewahre sie noch immer im Keller auf, hinter den Kartons für unsere Computer. An dem einen sind inzwischen die Griffe kaputt und der andere hat ein defektes Schloss. Aber ich kann sie einfach nicht wegwerfen.

Manfred klopft mit dem Zeigefinger gegen meine Stirn. „Jemand zu Hause?“

Ich schüttele mich. „Sorry“, sage ich. „War irgendwie weggetreten. Wie spät ist es?“

„Gleich zwölf. Zeit fürs Bett.“ Er hat schon die Zahnbürste im Mund. Aus seinen Mundwinkeln quillt weißer Schaum.

Als wir im Dunkeln nebeneinander liegen, fragt er: „War das ernst gemeint von dir heute Morgen?“

„Was?“

„Das mit dem ‚ob wir uns noch lieben‘.“ Er klingt unsicher, verletzt, fast wie ein Kind.

„Ach, Kerl …“

Früher hatte dieser Seufzer etwas Liebevolles, wenn ich zum Beispiel eine Macke an Manfred bemerkt hatte und wusste, dass ich mich damit abfinden musste, weil sie zu ihm gehört. Heute bringt der Seufzer nur noch meine Resignation zum Ausdruck. Ich starre in die Schatten der Bäume vor dem Schlafzimmerfenster. „Ich weiß es nicht“, antworte ich endlich. „Bist du dir denn sicher, dass das, was wir jetzt haben, für den Rest unseres Lebens ausreicht?“

„Hätte ich dich sonst vor ein paar Monaten gefragt, ob wir nicht …“

„Schon gut!“, unterbreche ich ihn. Ich hätte nicht damit anfangen sollen.

„Ist es denn so wenig, was wir haben?“, versucht er es erneut.

„Ich rede nicht von den materiellen Dingen.“

„Ich auch nicht. Aber glaubst du nicht, dass wir allmählich zu alt sind für solche emotionalen Achterbahnfahrten?“

Ich wünschte, ich könnte ihm Recht geben, aber ich kann meine Zweifel nicht einfach verleugnen. Deshalb sage ich besser gar nichts und auch Manfred verstummt.

Kurz bevor ich einschlafe, höre ich, wie er flüstert: „Tu das nicht, Felix“, und ich weiß nicht, ob er meine Hand meint, die über seinen Oberschenkel streicht, oder die Tatsache, dass ich kurz davor bin, unsere Zukunft zu zerstören.

Der Anruf kommt mitten in der Nacht. Er reißt mich aus einem Traum und ich stolpere ins Wohnzimmer. Der Hund hebt verschlafen den Kopf. Noch bevor ich das Gespräch annehme, kenne ich den Inhalt der Botschaft. Es ist Schwester Ruth, eine der Nachtwachen.

„Wir müssen das Morphium erhöhen“, sagt sie. „Die Schmerzen nehmen zu. Sie wird bald nicht mehr ansprechbar sein.“

„Wie lange hat sie noch?“ Ich habe einen pelzigen Geschmack im Mund.

„Das ist schwer zu sagen. Ein paar Tage, ein paar Wochen … Aber wenn Sie noch einmal mit Ihrer Mutter sprechen wollen, sollten Sie jetzt kommen.“

Ich weiß nicht, ob ich mit ihr sprechen will. Über all die Jahre hat sie jeden Kontakt abgelehnt, ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie mich sehen will.

„Ich muss noch einige Dinge hier klären“, sage ich ausweichend. „Mich in der Schule abmelden, jemanden für den Hund finden. Mein Freund kann ihn nicht versorgen, er ist ab morgen dienstlich unterwegs.“ Es hat keinen Sinn. Ich kann mich nicht drücken. „Also schön, ich komme morgen Vormittag.“

„Bringen Sie den Hund doch einfach mit. Sie mag Tiere. Das Haus ist doch groß genug.“

Sie mag Tiere? Als Kind durfte ich nicht einmal ein Meerschweinchen haben. „Ist gut“, erwidere ich überrascht. „Bis morgen dann.“

Ich gehe langsam ins Schlafzimmer zurück. Manfred hat die Leselampe angeknipst und sieht mich fragend an.

„Es ist so weit“, sage ich, während ich ins Bett zurückkrieche. „Sie liegt im Sterben.“

Er zieht mich zu sich und ich verstecke mich dankbar in seiner Umarmung. „Wirst du fahren?“, fragt er.

„Ja“, erwidere ich, plötzlich zitternd vor Kälte.

Der Brustkrebs wurde vor sechs Monaten diagnostiziert. Bösartige Tumore mit Metastasen in den Knochen, den Eierstöcken und den Lymphdrüsen. Sie hatte die Knoten in der Brust ignoriert, bis es zu spät war und auch die heftigste Chemotherapie keinen Erfolg mehr versprach. Die Ärzte hätten sie ausweiden müssen wie ein geschossenes Reh, um den Krebs zu besiegen.

Nicht, dass sie mir etwas davon erzählt hätte. Eher wäre ihr die Zunge abgefault, als dass sie ihren Sohn über ihren bevorstehenden Tod informiert hätte. Mein Großvater, selbst über neunzig und mittlerweile so gebrechlich, dass er sich nur noch mit Tippelschritten und auf einen Stock gestützt durch sein Zimmer in einem Seniorenstift bewegen kann, hat mich angerufen, als sie ihm das Ergebnis der Untersuchungen mitgeteilt hat. Alles, was ich von ihr weiß, alles, was nach ihrem abrupten, lächerlichen Liebesentzug geschehen ist, weiß ich von ihm, aus zweiter Hand. Sie selbst hat nie wieder auch nur einen Finger nach mir ausgestreckt.

Zuerst wollte ich es nicht wissen. Ich wollte nicht wissen, wie es der Frau geht, die ich in all den Jahren nur noch in Anführungszeichen und mit einem zynischen Unterton als meine Mutter bezeichnet habe. Ich wollte, dass es mir egal ist.

„Aber du bist ihr Sohn!“, erinnerte mich mein Großvater. Ich konnte ihn förmlich vor mir sehen, die rotgeäderten, trüben Augen hinter dicken Brillengläsern versteckt, die übergroßen Zifferntasten seines Telefons anstarrend, dazu der abgenutzte Rosenkranz in seinen Händen, der schon fast automatisch durch seine zittrigen Finger glitt. „Trotz allem, was passiert ist.“

„Ich weiß ja nicht einmal, was passiert ist!“, regte ich mich auf. „Bis heute warte ich auf eine Erklärung.“

„Dann wirst du sie fragen müssen.“ Mein Großvater hustete. Der Schleim in seinen Bronchien brodelte.

„Will sie mich überhaupt sehen?“ Am anderen Ende der Leitung war es auf einmal still. „Also nicht! Aus welchem Grund sollte ich dann zu ihr kommen? Sie hat es so gewollt, nicht ich!“

„Um ihr zu vergeben“, erklärte mein Großvater schließlich.

„Warum hat sie es getan?“ Ich stellte diese Frage zum hundertsten Mal und erhielt auch dieses Mal keine Antwort. Die Loyalitäten meines Großvaters sind eindeutig.

Ich konnte mich jedoch darauf einlassen, über ihren Zustand informiert zu werden und Kosten zu übernehmen. Ärztliche Bulletins wurden mir wie Wasserstandsberichte weitergegeben, ich setzte mich mit medizinischen Fachausdrücken auseinander, die in diesen Berichten wie Schlingpflanzen im Dschungel die wahre Bedeutung von Worten überwuchern. Telefonate mit Ärzten, Kranken- und Pflege­kassen, Gespräche mit Sozialdiensten, weil meine Mutter sich weigerte, noch einmal ein Krankenhaus aufzusuchen, Organisation von Betreuung und Essen auf Rädern. Und in all der Zeit kein einziges Wort von meiner Mutter. Sie blieb so stumm wie das Grab, in dem sie beerdigt werden wollte. Einem Einzelgrab, nicht in Köln, nicht neben meinem Vater, auf keinen Fall neben meinem Vater. Ich erkannte ihre krakelige Handschrift kaum wieder auf dem Blatt Papier, auf dem sie ihre Grabverfügung niedergeschrieben hatte, und das mir über den häuslichen Pflegedienst zugeleitet wurde, der sie mittlerweile rund um die Uhr betreute.

„Vielleicht ist sie dement?“, mutmaßte Manfred, als ich ihm das Schreiben zeigte.

„Meine Mutter? Nein.“ Ich schüttelte ratlos den Kopf. „Verbittert vielleicht, aber dement? Niemals. Sie weiß ganz genau, was sie will. Ich verstehe nur nicht, warum. Er hat ihr doch nichts getan! Er ist seit über vierzig Jahren tot!“

„Du wirst es nicht erfahren, wenn du nicht hinfährst.“ Ganz die Unschuld kraulte er dem Hund den Nacken. Darauf habe ich mich immer verlassen können: auf Manfreds praktische und gleichzeitig undurchführbare Ratschläge.

Ich hätte nein sagen können zu all dem, nein zu der Verantwortung, immerhin war ich meiner Mutter nichts schuldig, aber genauso wenig, wie ich ihr gegenübertreten wollte, war ich in der Lage, diese letzte Verbindung zu ihr zu kappen. Als sie damals glaubte, sich meiner physischen Gegenwart entledigen zu müssen, hatte sie immerhin für meine Ausbildung bezahlt, hatte mir meinen Eintritt ins Leben finanziert. Ich hatte mir immer ausgemalt, dass sie damit ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollte. Jetzt konnte ich mich revanchieren. Ich bezahlte ihren Austritt aus dem Leben. Damit waren wir quitt. Ein einfaches Nullsummenspiel. Aber die Dinge sind nie so einfach, dass sie mit einer mathematischen Gleichung aus der Welt geschafft werden können. Das hat schon Einstein erfahren müssen: Alles ist relativ.

Der Morgen dämmert mit einem deplatzierten, romantischen Sonnenaufgang, Schleierwolken treiben in kleinen Gruppen über den Himmel; am Horizont Richtung Innenstadt kann ich den Dom erahnen. Die Schulleiterin hat mich ungnädig für einige Tage vom Dienst freigestellt und ich erwische mich dabei, wie ich Lebensmittel in den Wagen schaufele, als ob das kleine Städtchen, in dem meine Mutter wohnt, am Rande des Polarkreises läge.

Manfred steht stumm neben dem Auto, beobachtet mit zunehmendem Unmut meinen hektischen Aktionismus, die roten Flecken in meinem Gesicht und meine steigende Nervosität. „Das ist lächerlich!“, sagt er schließlich, verschränkt die Arme vor der Brust und schüttelt resigniert den Kopf. „Das ist völlig irrational.“

Ich halte inne und betrachte die Kartons mit Müsli, Dosensuppen und Hundefutter, die ich im Heck gestapelt habe. „Ich weiß“, erwidere ich verzweifelt.

„Du brauchst nur ein paar Klamotten zum Wechseln, eine Zahnbürste und Rasierzeug.“ Er hält mir eine gepackte Tasche unter die Nase. „Hier.“

Seit dem Aufwachen gehen wir merkwürdig behutsam miteinander um, unnatürlich zuvorkommend, als wüssten wir, dass nur eine falsche Bemerkung, ein lautes Wort das marode Gerüst unserer Beziehung zum Einsturz bringen könnte.

„Danke“, sage ich und werfe die Tasche auf die Rückbank. Sie rutscht vom Sitz herunter und fällt auf den Boden. Manfred zuckt fast unmerklich zusammen und ich bin versucht, mich zu entschuldigen.

„Du könntest abends zurückfahren“, schlägt er vor und schluckt. „Es sind nur sechzig Kilometer.“

Ich schüttele den Kopf. „Wozu? Du bist doch auch nicht da.“

„Rufst du wenigstens zwischendurch an?“

„Natürlich.“ Ich fingere meine Jackentasche ab und bemerke, dass ich mein Handy auf dem Schreibtisch habe liegen lassen.

Manfred sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, geht ins Haus und trägt mir das Mobiltelefon hinterher. Der Hund springt ins Auto, aufgeregt, schwanzwedelnd. Er hält das Ganze für ein Abenteuer. Ich wünschte, ich könnte die gleiche Begeisterung an den Tag legen.

„Und jetzt fahr los“, sagt Manfred zum Abschied. Er wirkt traurig und einsam, als er im Rückspiegel immer kleiner wird und reglos hinter mir herschaut. Ich setze die Sonnenbrille auf, biege um die Kurve und atme erleichtert auf, als er nicht mehr zu sehen ist.