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Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Erste Auflage September 2013

Lektorat: Regina Nössler

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale
unter Verwendung eines Fotos von Fotolia
(© mmmauri – Fotolia.com)

ISBN 978-3-89656-552-5

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Kapitel 1

„Was ist los mit dir? Ich dachte, wir hätten das besprochen.“

Julia hob den Kopf und blickte ihrem Spiegelbild in die Augen, als würde sie einer möglichen Antwort misstrauen. Im Badezimmer, im grellen Licht der in die Decke eingelassenen Halogenstrahler, mit Philip dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem im Nacken spüren konnte, verloren seine Argumente der letzten Tage an Glaubwürdigkeit. Niemals hätte sie Philips Vorschlag zustimmen dürfen. Sie hätte kategorisch ablehnen und ihn bitten sollen, allein zu fahren. Das hatte sie nicht getan.

Statt einer Antwort griff sie nach einem der beiden Ohrringe, die auf der Ablage vor dem Spiegel über dem Waschbecken lagen und die Philip ihr zu ihrem ersten Jahrestag letzten Sonntag geschenkt hatte. Den Kopf nach rechts geneigt, führte sie den Ring durch ihr linkes Ohrloch, verschloss das winzige Scharnier und wiederholte mit dem zweiten Ring die Prozedur. Sie ließ sich Zeit dafür. Es waren tropfenförmige Ohrringe aus einem Geflecht dünner Goldfäden und einem roten Edelstein jeweils in der Mitte. Julia hatte sie ihm bei einem Spaziergang über den Kurfürstendamm im Schaufenster eines Juweliers gezeigt, nicht ohne Hintergedanken. Philip war hilflos, wenn es darum ging, die Wünsche und Bedürfnisse anderer zu erkennen, und dankbar für jeden Hinweis. Die Ringe, erinnerte sie sich, waren unverschämt teuer gewesen. Aus diesem Grund hatte Julia sie gewählt. Sie hatte wissen wollen, inwieweit er bereit war, Opfer zu bringen.

Philip betrachtete sie weiterhin im Spiegel. Wie immer, wenn er nervös wurde, zeigten sich wellenförmige Falten auf seiner Stirn, begannen der Adamsapfel oberhalb des enganliegenden Kragens seines Hemdes zu hüpfen und seine Ohrmuscheln zu erröten. Sein Blick aus den dunklen, müde wirkenden Augen blieb starr auf sie gerichtet. Julia erwiderte ihn mit einem Lächeln, von dem sie aus Erfahrung wusste, wie er darauf reagieren würde. Diesmal allerdings blieb ihr Lächeln ohne Erfolg.

„Es ist doch nur für diesen einen Tag“, sagte er, ohne ihr die Möglichkeit zu bieten, ihre Entscheidung zurückzunehmen, und rückte mit beiden Händen die Krawatte zurecht, dessen Knoten sie ihm wortlos und etwas nachlässig vor wenigen Minuten gebunden hatte. Wie ausweichend und schweigsam sie geworden war, mit jeder Minute, die der Aufbruch näher rückte, hatte Philip spüren können. Deshalb war er ihr ins Badezimmer gefolgt.

„Hast du eine Ahnung“, erwiderte Julia, „was dieser Tag für mich bedeutet? Ich werde durch die Hölle gehen.“

„Ich weiß. Aber wir wussten beide, dass es irgendwann so weit sein würde. Je früher, desto besser. Dann haben wir es hinter uns.“

„Ich“, verbesserte sie und nahm einen der zahlreichen Flakons, um ihren Hals und ihr Dekolleté mit dem Parfum zu besprühen. „Ich muss da durch. Nicht du.“

„Natürlich, Schatz. Du hast ja recht.“

Das Badezimmer roch nach Flieder, nach Sandelholz und zartem Weihrauch. Julia hasste es, wenn er so mit ihr sprach. In einem Tonfall wie zu einem Kind, das er besänftigen musste. Womöglich, schoss es ihr durch den Kopf, waren die Ohrringe der Versuch gewesen, sie für den geplanten Besuch bei seiner Familie zu entschädigen.

„Ich bin sicher“, fügte Philip hinzu, „niemand wird dich verurteilen oder auch nur ein einziges, abschätziges Wort über dich verlieren.“

Er lehnte sich vor, strich ihr die schulterlangen, naturblonden Haare zur Seite und küsste sie sanft auf den Nacken. Sie ließ ihn gewähren, angespannt und reglos. Den Impuls, sich abzuwenden und das Badezimmer zu verlassen, unterdrückte sie. Es hatte keinen Sinn, abermals einen Streit anzufangen. Denn natürlich stimmte sie ihm zu.

Die abfälligen Blicke und Bemerkungen, die es unweigerlich geben würde, wären ausschließlich an sie gerichtet. Sie war der Eindringling, der Feind. Die Neue, die seiner Gattin den Mann ausgespannt, die die Idylle und Familie zerstört und auseinandergetrieben hatte. Dass Philip daran ebenso viel Mitschuld trug wie sie, ja, dass er sich allein dafür verantwortlich zeigen müsste, da Julia erst Wochen nach ihrer ersten Begegnung von seiner Ehe erfahren hatte, würde niemanden interessieren. Darüber war sie sich im Klaren. Damit wusste sie umzugehen. Was sie ärgerte, war seine Wortwahl gewesen, die diese Verantwortung abzuschieben versuchte, als wäre sich Philip keiner Schuld bewusst. Für ihn war die Welt eine Scheibe. Zweidimensional, überschaubar und flach. Für Philip gab es, sobald er die Dinge in eine subjektive Kausalität gezwungen hatte, keinen Grund, dieses Konstrukt zu korrigieren.

Und Julia wusste es besser, als ihm jetzt die Gegenargumente aufzuzählen, weil Philip nicht verstehen konnte, was er nicht verstehen wollte.

In der Reflexion des Spiegels lächelte sie ihm erneut entgegen. Sie würde ihm den Gefallen tun und ihn begleiten. Sie würde es durchstehen, wie sie so vieles in ihrem Leben durchgestanden hatte, mit erhobenem Haupt und aufrechter Haltung. Um zu bekommen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, waren ihr fast jedes Mittel und jede Konfrontation recht.

„Du hast es ihnen doch gesagt. Dass ich mitkommen werde, meine ich“, sagte sie, nachdem Philip sie ein weiteres Mal auf den entblößten Hals geküsst hatte.

„Mutter weiß es natürlich“, antwortete er. „Und ich bin sicher, sie hat es den anderen gegenüber erwähnt.“

„Du hast mir versprochen, es Anna selbst zu sagen.“

„Dann habe ich es wohl vergessen. Hör auf, dir darüber Gedanken zu machen. Was Anna denkt, kann uns egal sein.“

Selbstverständlich wäre es Julia auch egal, gäbe es da nicht Philips Unfähigkeit, sich den Gegebenheiten zu stellen. Ein ganzes Jahr hatte immerhin vergehen müssen, ehe er sich zu ihr bekannte. Zwölf Monate, in denen sie die heimliche Geliebte blieb, so klischeehaft wie abgedroschen, mit den Treffen in Hotelzimmern oder bei ihr zu Hause, mit dem Warten auf seinen Anruf, ob er es einrichten konnte, sich von seiner Frau und dem Sohn davonzuschleichen, und mit seinen ständigen Beteuerungen, sich endlich scheiden zu lassen. All das hatte Julia, zumindest vorerst, akzeptiert.

Vor zwei Monaten dann hatte sie eine Entscheidung verlangt. Es war ein Wagnis gewesen, da sie Philips Angst vor Veränderungen und dem damit womöglich einhergehenden Schaden seines Ansehens kannte. Die Vorstellung, ein geschiedener Mann zu sein, bereitete ihm Unbehagen. Ein Makel auf seiner weißen Weste, den er nicht würde abwaschen können. Doch ebenso hatte er gespürt, wie ernst es ihr war. Julia hatte den Zwiespalt in seinen Augen sehen können, das verzweifelte Ringen mit sich selbst. Drei Tage lang hatte er sich nicht bei ihr gemeldet. Drei Tage, in denen auch sie nicht zum Telefon gegriffen hatte, um ihren Standpunkt zu erhärten. Damit er endlich einsah, dass sie keine Kompromisse mehr eingehen würde. Sie hatte hoch gepokert.

Was in diesen drei Tagen geschehen war, darüber verlor Philip kein einziges Wort. Und Julia wusste es besser, als danach zu fragen. Die anschließend gefällte Entscheidung war ihr Sieg genug.

Seinen Ehering, nachdem sie Philip wiedersah, hatte er abgestreift. Was blieb, war ein blasser Abdruck um den Ringfinger und eine ständige Unruhe, sobald ihre Gespräche versiegten und er sich zurückgeworfen fühlte auf seine Gedanken und Zweifel, von denen er nicht wusste, wie er sie eindämmen konnte. Er hatte das gemeinsame Haus mit Anna verlassen, hatte Julia den Zweitschlüssel seiner neuen Wohnung ausgehändigt und ihr die Scheidungspapiere vorgelegt. Als Beweis für die Einlösung eines Versprechens. Als Zeichen seiner Loyalität. Eine großzügige Geste, die Julia, anstatt zu besänftigen, verunsicherte, da sie plötzlich befürchten musste, Philip über sein zumutbares Maß hinaus bedrängt zu haben. Denn solange die Scheidung nicht vollzogen war, blieb ihre Zukunft so ungewiss wie zuvor.

„Machst du mir den Reißverschluss zu?“, fragte sie, ohne auf seine letzte Bemerkung einzugehen. Sie würde nicht streiten. Nicht wegen Anna. Sie würde Philip wie versprochen begleiten und sich seiner Familie stellen, ganz egal, ob diese von ihrer Anwesenheit vorgewarnt worden war oder nicht. Und sie würde Tatsachen schaffen, die Philip weder ignorieren noch rückgängig machen konnte.

„Wunderschön siehst du aus“, sagte Philip, seine ungeschickten Finger an ihrem Rücken, die den Reißverschluss nach oben zogen, sein Becken dabei fest gegen ihr Gesäß gedrückt, dass sie seine Erektion deutlich spüren konnte. Sie ließ ihn gewähren und betrachtete sich im Spiegel. Nicht, weil sie an seinen letzten Worten gezweifelt hätte, sondern um sich ihrer zu vergewissern.

„Meinst du, das Kleid ist unpassend?“, fragte sie und drehte den Oberkörper mehrmals zu beiden Seiten, damit sie sich vom Resultat ihrer Wahl überzeugen konnte. Es war ein knöchellanges, smaragdrotes Kleid mit tiefem Ausschnitt, das ihre Figur betonte und von dem sie wusste, wie sehr es Philip gefiel.

„Es ist perfekt.“

„Ich könnte auch das dunkelblaue anziehen. Du weißt schon, das mit den langen Ärmeln. Ich möchte niemanden schockieren.“

„Bleib, wie du bist“, sagte er, sein Gesicht in ihrem Nacken und den blonden Haaren vergraben, seine Arme um ihre Hüften geschlungen.

Julia lachte und wand sich aus seiner Umarmung. Es war so einfach, ihn glücklich zu machen. Ihn vergessen zu lassen, was ihn bedrückte. Das rote Kleid war kein Zufall gewesen. Eine bewusste Provokation, mit der sie sich einen Schutzwall errichten wollte, eine Barriere zwischen sich und seiner Familie. Unnahbar musste sie in ihrer Jugend und Schönheit sein, damit die Anfeindungen, mit denen sie rechnete, an ihr abprallen würden.

„Wie spät ist es?“, fragte Julia, da sie bereits einige Zeit im Bad vertrödelt hatten. Philips Komplimente und Berührungen waren seine Art, das Unausweichliche hinauszuschieben. Sie bräuchte nur auf die Annäherungen einzugehen und er würde im Rausch des Augenblicks den bevorstehenden Besuch verdrängen. So sehr er selbst diesen Termin forciert und sie dazu überredet hatte, so sehr verlangte sein Unterbewusstsein nach einem Weg, ihn zu umgehen. Er musste gespürt haben, dass eine Begegnung mit ihr und seiner Frau ihm mehr Schaden zufügen als nützlich sein könnte.

Julia dagegen hatte sich entschieden. Anna war keine Konkurrenz. Auf Fotos wirkte sie unscheinbar und immer ein wenig verkniffen, als hätte die Kamera sie jedes Mal im falschen Augenblick erwischt. Nie schien sie direkt in die Linse zu blicken, den Kopf wie zufällig zur Seite gedreht, ihr Lächeln erzwungen und starr. Eine Frau in Philips Alter. Ihr Äußeres konnte Julia nicht schrecken. Was sie beunruhigte, waren die Macht der Gewohnheit und der familiäre Druck, die beide schwer auf Philip lasteten und gegen die sie ankämpfen und sich behaupten musste.

Während Philip auf seine Armbanduhr sah, blickte sie ihn abschätzend an. In seinem hellgrauen Anzug mit dem schwarzen Hemd und der schwarzen Krawatte wirkte er steif und seriös. Einen Eindruck, den sie unbedingt vermeiden wollte.

„Warte einen Moment“, sagte sie und löste behutsam den Knoten der Krawatte.

„Was ist damit?“, fragte er erstaunt, ohne sie zu hindern. Dann legte sie die Krawatte neben das Waschbecken und öffnete die beiden obersten Knöpfe seines Hemdes.

„So ist es besser.“

Philip betrachtete sich im Spiegel. Unwillkürlich legte er seine Hand an die Brust, als fühlte er sich plötzlich entblößt. Julia war zufrieden. Mit dem geöffneten Hemd schien er unbefangener und weniger verkrampft. Eine winzige Veränderung, die zumindest nach außen hin sichtbar wurde und von der sie sich eine entsprechende Wirkung versprach.

„Ich weiß nicht recht“, murmelte er. „Ist das nicht zu salopp?“

„Es macht dich jünger“, antwortete sie. „Mit der Krawatte sahst du aus, als wolltest du auf eine Beerdigung.“

Sein zweifelnder Blick auf sie suchte nach der möglichen Ironie hinter den Worten. Philip reagierte empfindlich, ging es um den Altersunterschied, der sie trennte. Jede Anspielung darauf missverstand er als Angriff auf seine verlorene Jugend. Auf seine ehrlichen Gefühle für eine rein zufällig jüngere Geliebte. Solchen Illusionen gab Julia sich nicht hin. Und es amüsierte sie, wenn er glaubte, sich dahingehend verteidigen zu müssen.

„Ich kann dir die Krawatte wieder binden“, kam sie ihm zuvor, „wenn es dir nicht gefällt.“

„Nein, nein. Lass nur“, sagte er, den Blick erneut auf sein Spiegelbild gerichtet, seine schmalen Lippen dabei unschlüssig nach innen gewölbt. „Es ist nur so ungewohnt.“

„Wir sollten jetzt wirklich gehen.“

Philip drückte sie mit einer unbeholfenen Geste an sich, seinen rechten Arm zu fest um ihre Brust geschlungen, und flüsterte ihr ins Ohr. „Es wird alles gut“, sagte er. „Ganz bestimmt. Du kannst mir vertrauen.“

Julia hob ihr Gesicht und versuchte zu lächeln.

Lange würde Martin das Schweigen nicht mehr ertragen. Seit sie vor einer knappen halben Stunde ins Auto gestiegen, dem Wochenendverkehr der Innenstadt entkommen und der kerzengeraden Heerstraße in Richtung Spandau gefolgt waren, hatten weder er noch Konrad ein einziges Wort miteinander gewechselt. Martin konzentrierte sich auf den Verkehr, während sein Freund, den Kopf gegen die Nackenstütze gelehnt, starr wie in Gedanken versunken aus dem Seitenfenster blickte. Nur aus dem Radio, das Martin gleich nach Antritt der Fahrt eingeschaltet hatte, erklangen leise, von Popmusik unterbrochene Stimmen, gedacht als Rechtfertigung, nicht selber reden zu müssen.

Für beide war ihr Schweigen keineswegs ungewöhnlich, auch wenn sich die Gründe hierfür langsam verschoben. Waren es früher Momente der inneren Ruhe und Zufriedenheit gewesen, die Sprache überflüssig machten, so erschienen sie Martin in den letzten Wochen und Monaten immer häufiger wie ein Ausdruck einer schleichenden Entfremdung. Es gab keinen Streit, keine Auseinandersetzungen, die das Verstummen durchbrochen oder zumindest zu einer Offenlegung ihrer Differenzen geführt hätten. Es gab lediglich diese Verschlossenheit, die über das Notwendigste ihres Alltagslebens nie hinauskam. Eine Stille, die belastender wurde mit jeder unterdrückten Äußerung.

Auch jetzt, beim Überqueren der Havel, auf deren ruhigem, in der Sonne glitzerndem Wasser die Segelboote trieben, hätte Martin gern etwas gesagt. Doch wie so oft fehlten ihm dafür die Worte. Worte, die nicht bloß klangen, als wollte er Banalitäten kundtun, wie über das Wetter oder diesen Blick von der Brücke, sondern Worte, die etwas bewirken konnten, die zu Konrad durchdringen und einen neuen Anfang finden würden. Worte also, die er nicht fand, weil es für das, was sie ausdrücken sollten, womöglich gar keine Worte gab.

Dabei hatte es heute früh einen Anfang beinahe gegeben. Konrads fordernd vorgetragene Bitte, ihn zu chauffieren, gepaart mit dem unterschwelligen Vorwurf, Martin würde sowieso nichts Besseres vorhaben, hatte in ihm eine angestaute Wut aufkommen lassen, die sich endlich hätte entladen sollen. Stattdessen war Martin, wie die unzähligen Male zuvor, der Konfrontation einfach ausgewichen und hatte widerstandslos seine Zustimmung signalisiert. Die Angst vor dem, was eine Auseinandersetzung zutage fördern könnte, ließ ihn wie immer verstummen. Zumal Konrad mit dem, was er ihm unterstellte, nicht ganz Unrecht hatte.

Seit Wochen kam Martin mit seiner Arbeit nicht voran. Er fühlte sich blockiert, unfähig, etwas auf die Leinwand zu bringen, das seinen und vor allem Konrads Ansprüchen genügte. Die geplante Ausstellung hatte Konrad deshalb, ohne Absprache, zu Gunsten eines anderen, jüngeren Künstlers verschoben. Eine Entscheidung, die Martin ihm nicht einmal verübeln konnte, weil er wusste, wie es um die finanziellen Belange der Galerie bestellt war, die einen Verkaufsgewinn dringend erforderlich machten. Was als kongeniale Beziehung begonnen hatte, zwischen dem Galeristen und seinem aufstrebenden Maler, kehrte sich nun, da die Erfolge ausblieben, in jene schweigsame Schuldzuweisung um, von der Martin nicht wusste, wie er sie rückgängig machen sollte. Für seine Bilder brauchte es Zeit. Inspiration ließ sich nicht erzwingen. Und dennoch spürte er in den Blicken und den Gesten seines Freundes eben diesen stummen Zwang, der jede Eingebung, jeden Pinselstrich von vornherein zum Scheitern verurteilte. Was er brauchte, war Ruhe. Und die finanzielle Sicherheit im Nacken, die diese Ruhe gewährleisten konnte.

Von der Heerstraße bog Martin, ohne dass Konrad seinen Kopf ein einziges Mal ihm zugewandt hatte, nach links in die Gatower Straße in Richtung Süden. Die Hälfte der Strecke war geschafft. Wieder verlief die Straße kerzengerade, vorbei an Einfamilienhäusern, an ehemaligen Rieselfeldern und kleineren Wäldern, bis sie irgendwann hinter Gatow und Kladow vor einer Villa am Wannsee Halt machen würden. Dort würde Konrad aussteigen und Martin umkehren, um am Abend denselben Weg noch einmal zurückzulegen und Konrad abzuholen. Ein zeitlicher Aufwand von insgesamt dreieinhalb Stunden, die er, in Erwartung einer künstlerischen Eingebung, im Atelier hätte verbringen können. Dreieinhalb Stunden ohne Konrad. Nur mit sich und den zurzeit leeren Wänden und den Ankündigungen der nächsten Vernissage, die über Scheitern und Überleben der Galerie entscheiden sollte. Dreieinhalb Stunden, in denen Martin gehofft hatte, den nötigen Abstand zu finden und seinen Kopf von den bedrückenden Gedanken an eine fehlgeschlagene Beziehung zu befreien. Stattdessen aber verbrachte er den Tag als Chauffeur.

Kurz vor der Ausfahrt eines Gasthauses, inmitten eines Kiefernwaldes, konnte Martin ihr Schweigen nicht länger ertragen. Er verlangsamte den Wagen, scherte seitlich auf den ungepflasterten Weg und hielt an. Konrad zeigte endlich eine Reaktion. Er rückte in eine aufrechte Position, die Augenbrauen ungläubig zusammengezogen, den Blick über die Schulter geworfen, als befürchtete er, in eine Polizeikontrolle geraten zu sein.

„Was ist?“, fragte er. „Warum hältst du an?“

„Ich habe mich umentschieden“, erwiderte Martin, schaltete das Radio aus und starrte gebannt durch die Windschutzscheibe. „Ich fahre dich hin, aber ich hole dich nicht wieder ab. Du musst den Bus nehmen oder ein Taxi.“

„Und das fällt dir jetzt ein?“

Martin zuckte mit den Schultern. Gründe zu nennen, darauf war er nicht gefasst gewesen. Er hatte lediglich seinen Standpunkt kundtun wollen, in der Hoffnung, Konrad würde diese Entscheidung stillschweigend akzeptieren, weil auch hier die Gefahr bestand, sich mit Reden in ausweglose Diskussionen zu verstricken, für deren Klärung das beengte Auto nicht genügend Raum bieten würde.

„Ich habe gedacht“, begann er, „es macht mir nichts aus. Aber das stimmt nicht. Es macht mir sehr wohl etwas aus. Dich dorthin zu fahren und allein wieder umzukehren. Das ist … demütigend.“

Konrad wandte den Kopf und sah durch das Seitenfenster den Waldweg entlang, so dass Martin den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht erkennen konnte.

„Du weißt, wie sie ist“, sagte er. „Das weißt du seit Jahren. Warum regst du dich plötzlich darüber auf?“

„Ich rege mich nicht auf. Ich sehe es bloß nicht mehr ein, dich zu chauffieren, nur um an der Tür abgewiesen zu werden. Warum setzt du dich nicht einfach mal über ihre verknöcherten Ansichten hinweg?“

Nie zuvor hatte Martin diese Gedanken geäußert. Bisher war es ihm egal gewesen, was Konrads Mutter über ihren Sohn und dessen Freund dachte. Wenn sie diese Beziehung verachtete, dann war das nicht sein Problem. Bei familiären Anlässen wie heute hatte es ihn nie gestört, allein in der Wohnung zu bleiben. Er hatte seine Arbeit, seine Malerei. Und er hatte Konrad, der, sobald er zurückkehrte, ihn umarmte, küsste und sich für das Verhalten seiner Mutter entschuldigte. Was bedeuteten schon ein paar Tage im Jahr, in denen Konrad ihn verleugnete, wenn die Welt sich anschließend weiterdrehte wie zuvor?

Konrad antwortete nicht. Auf der Gatower Straße fuhren vereinzelt Autos in Richtung Kladow, deren an- und abschwellende Motorengeräusche durch die geschlossenen Türen drangen. Martin spürte das Versagen aufsteigen, das ihn in immer kürzer werdenden Abständen überfiel, das er verdrängte und bagatellisierte und das dennoch nie gänzlich verschwand. Was er als nichtig hatte abtun können, solange seine Beziehung zu Konrad die Kraft besaß, über Hürden zu springen, drohte in der Krise seiner künstlerischen Blockade und den erdrückenden Geldsorgen unüberwindbar zu werden.

„Könntest du nicht wenigstens mit ihr reden?“, fragte er schließlich, nachdem das Schweigen erneut unerträglich geworden war. „Oder mit Philip?“

„Philip hat eigene Sorgen“, erwiderte Konrad.

Dessen war Martin sich bewusst. Letztens, als Philip bei ihnen zum Essen erschienen war, hatte er das Scheitern seiner Ehe mit Anna verkündet. Ein Eingeständnis, das für ihn selbst wohl unerwarteter gekommen war als für jeden anderen. Was immer Philip sich vorgemacht haben mochte, die Risse waren seit Jahren deutlich sichtbar gewesen.

„Er bringt sie heute mit“, ergänzte Konrad so leise, dass Martin ihn verblüfft ansehen musste.

Sie, das war Julia, die Neue.

„Weiß deine Mutter davon?“, fragte er, während Konrad, dessen Blick ihn nur flüchtig gestreift hatte, eilig den Kopf senkte und die Hände um seine Knie klammerte. Diese Geste war Martin Antwort genug.

„Sie erlaubt die Anwesenheit seiner Geliebten und weigert sich weiterhin, mich zu sehen?“

„Philip lässt sich scheiden“, sagte Konrad, um seine Mutter wie gewohnt zu verteidigen. Eine Rechtfertigung, die auf einer engen Bindung und nicht zuletzt auf einer finanziellen Abhängigkeit beruhte. „Mutter hat endlich eingesehen, dass eine Trennung unausweichlich ist. Es ist besser für alle. Besonders für meinen Neffen.“

„Wieso soll das besser sein für Tim?“

Abgelenkt von einem Schatten, der im Unterholz des Waldes neben der Einfahrt verschwand – von einem Fuchs oder einem Kaninchen vielleicht –, sah Konrad erschrocken aus dem Seitenfenster und zuckte mit den Schultern.

„Klare Verhältnisse, nehme ich an. Keine Heimlichtuereien mehr. Tim wird die Spannungen seiner Eltern natürlich mitbekommen haben. Und das ist das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann.“

„Was ist mit Anna?“

„Ich weiß nicht, wie sie es aufnimmt. Das werde ich nachher sicher erfahren. Jedenfalls, wenn du irgendwann gedenkst weiterzufahren.“

Martin legte die Hände ums Lenkrad, ohne den Motor anzulassen. Ihr Gespräch war vom eigentlichen Thema abgekommen. Weg von ihm und hin zu Konrads Familie, an deren Leben er nur begrenzt teilnehmen durfte und deren Sorgen seinem Freund mehr am Herzen lagen als die Spannungen in ihrer Beziehung. Womöglich, befürchtete Martin, löste auch Konrad sich langsam von ihm, so wie Philip es bei Anna getan hatte, und ihr Schweigen war weniger den Folgen externer Faktoren, wie den Geldsorgen, geschuldet als vielmehr einer inneren Unzufriedenheit, deren Ursachen er nicht einmal genau benennen konnte. Und jede Gelegenheit, diese Gefühle in Worte zu fassen, hatte Martin bisher verstreichen lassen. So wie hier, zwischen Straße und Wald, auf einem schmalen Streifen einer ungepflasterten Ausfahrt, eingepfercht in einem Auto, dessen begrenzter Innenraum keine Nähe erzeugte, sondern die erdrückende Enge und Ausweglosigkeit stärker verdeutlichte. Konrad scheute eindeutige Antworten, weil er selbst die eindeutigen Fragen nicht zu stellen wagte.

Er griff nach dem Zündschlüssel, den Blick in den Rückspiegel gerichtet, und legte den ersten Gang ein. Erst beim vierten Mal sprang der Motor an. Lange würde der Wagen nicht mehr durchhalten. Sie hatten ihn bereits als Gebrauchtwagen gekauft, mit dem restlichen Geld, das Konrads Mutter ihm als Start­hilfe für die Galerie geliehen hatte. Kapital, das sich bisher, trotz der anfänglichen Erfolge, nicht amortisiert, das den Traum vom Leben als Künstler nicht ermöglicht hatte und das zurückzuzahlen ihnen niemals gelingen würde. Im Gegenteil. Sie bräuchten mehr davon. In der vagen Hoffnung, dass mehr Geld ihnen mehr Zeit verschaffen könnte.

Schneller als zuvor legte Martin das letzte Drittel der Strecke zurück, Konrad erneut schweigend neben ihm, die Augen geschlossen. An der Bundeswehrkaserne, kurz hinter Kladow, bog er links ab und hielt wenig später vor dem Grundstück, dessen Garten auf der Rückseite der Villa direkt an den Wannsee grenzte. Konrad löste den Gurt und öffnete die Beifahrertür.

„Fährst du zurück in die Galerie?“, fragte er, weil er wohl glaubte, noch etwas sagen zu müssen.

„Ich denke schon. Ruf mich einfach an, wenn du abschätzen kannst, wann die Feier zu Ende geht.“

Es war ein leises Entgegenkommen. Der Versuch, seine Weigerung, Konrad am Abend abzuholen, zaghaft zu revidieren. Im Atelier würde ihm nichts gelingen, das konnte er spüren. Die leeren, weißen Leinwände wüssten ihm nichts mitzuteilen, sie würden leer und weiß bleiben, ganz egal, wie sehr er sie mit bunter Farbe auch bemalte.

„Es wird nicht ewig dauern“, sagte Konrad und nahm den in Seidenpapier eingewickelten Blumenstrauß von der Rückbank. „Sobald ich kann, melde ich mich.“

„Okay.“

Martin blickte seinem Freund hinterher. Wie er ausstieg, wie er an seiner schlanken Gestalt herabsah, das weiße Hemd am Hosenbund zurechtzupfte, den Kragen umlegte, der sich im Laufe der Fahrt hochgestellt hatte, und wie er mit weiten, eiligen Schritten durch das offene Gartentor eilte, den Strauß gelber Rosen seitlich von sich gestreckt. Was Martin ihm eigentlich hatte sagen wollen, darüber hatte er, wie so oft, geschwiegen. Es gab Dinge, die einfach geschehen mussten, weil sie, einmal ausgesprochen, unwiderruflich blieben. Worte trafen Entscheidungen. Im Schweigen dagegen herrschte Ambivalenz, blieben Alternativen denkbar, die auf das Gute hoffen ließen, ohne am Schlechten verzweifeln zu müssen. Daran hielt Martin unbeirrt fest.

Er wendete, nachdem Konrad die Stufen zum Haupteingang bestiegen hatte, den Wagen. Auf der schmalen Straße kam ihm ein Auto entgegen, dem er ausweichen musste. Philip saß dort am Steuer und winkte ihm zu. Neben ihm eine Frau in einem auffallend roten Kleid. Ihre blonden, schulterlangen Haare unterstrichen die großen, blauen Augen und den im gleichen Rot wie das Kleid bemalten Mund. Auffallend jung schien sie zu sein, um einiges jünger jedenfalls als Philip. Martin sah in den Rückspiegel. Der BMW bog durch das Gartentor auf das Grundstück und verschwand aus seinem Blickfeld.

Kapitel 2

Anna Wohlfarth lehnte auf der Balustrade des schmalen Balkons, der die Veranda vor der Rückfront des Hauses überdachte, und blickte hinüber zum Wannsee. Tim stand dort am Ende des Stegs, den Rücken ihr zugewandt, die Hände in den Taschen seiner tiefhängenden Jeans vergraben. Den Kragen seiner Sportjacke hatte er hochgestellt und der böige, für diese Jahreszeit angenehm warme Wind zerzauste ihm seine ohnehin struppigen, rotbraunen Haare. Minuten bereits verharrte er in dieser Stellung, bewegungslos und die Schultern ein wenig nach vorn gekrümmt, als starrte er gedankenverloren ins trübe Wasser.

Sie griff nach dem Glas Weißwein, das sie auf der Balustrade abgestellt hatte, und nahm einen tiefen Schluck. Die Sonne stand über den Wipfeln der anliegenden Bäume, die ihre gefärbten Blätter langsam zu Boden warfen. Es roch nach dem gestrigen Regen und dem schlammigen Ufer des Sees. Nach dem zweiten Schluck stellte Anna das Glas zurück. Sie hätten nicht herkommen dürfen, weder sie noch Tim. Nicht bei all den bevorstehenden Veränderungen, die die Familie endgültig auseinandertreiben und aus denen unweigerlich neue Allianzen und neue Brüche entstehen würden, von denen sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Dass ihre Ehe gescheitert war, darüber machte Anna sich keine Illusionen mehr. Lange genug hatte sie die Anzeichen ignoriert, hatte mit erfundenen Ausreden Philip in Schutz genommen und die Augen verschlossen. Damit war Schluss. Sie musste die Realität akzeptieren, die in Form der Scheidungspapiere zu Hause in Zehlendorf auf ihre Unterschrift warteten, um anschließend als geschiedene Frau Mitte vierzig ein neues Leben zu beginnen.

Wie Tim damit zurechtkam, darüber konnte sie nur spekulieren. Seit über einem Jahr verlor er kaum mehr ein Wort. Er igelte sich ein. Sein Schweigen wie Stacheln zum Schutz gegen die Ohnmachts- und Wutanfälle seiner Mutter, die sich Sorgen machte und verzweifelt versuchte, ihn aus seiner selbstgewählten Isolation zu befreien. Bisher ohne Erfolg. Die Ereignisse um ihn herum nahm er stoisch hin, ohne ein sichtbares Zeichen der Ablehnung oder der Zustimmung, als wäre ihm alles egal. Beim Auszug seines Vaters aus der gemeinsamen Wohnung ebenso wie bei der Ankündigung der Scheidung hatte er keine Miene verzogen. Wenn er Philip in der neuen Wohnung besucht hatte, verschloss er sich anschließend in seinem Zimmer und übte Tonleitern auf der Trompete. Zu der neuen Freundin an Philips Seite, zu der Anna ihn aus Neugier und Eifersucht befragt hatte, besaß er keine eigene Meinung. Desinteressiert hatte er mit den Schultern gezuckt und gesagt, das ginge ihn nichts an.

Erneut griff sie nach ihrem Glas. Tim hatte sich weiter vorgewagt, war in die Hocke gegangen und versuchte vergeblich, mit den Fingerspitzen die Oberfläche des Wassers zu berühren.

„Was ist mit ihm?“

Erschrocken, da Anna ihre Schwiegermutter nicht hatte kommen hören, drehte sie sich um. Christin stand in der offenen Balkontür, in der rechten Hand den metallenen Stock mit den drei Füßen, auf den sie sich stützte, und ihre linke über die Augen zum Schutz gegen die Sonne erhoben.

Anna schwieg, weil ihr die Frage wie Hohn erschien, oder zumindest wie Gedankenlosigkeit, für die sie im Moment nicht die Kraft besaß, sich dagegen aufzulehnen. Sie trank den Rest des Weißweins und wartete, bis Christin die wenigen Schritte zur Brüstung gemeistert hatte.

„Er hat mich nicht einmal richtig begrüßt“, sagte sie mürrisch. „Geschweige denn mir gratuliert.“

„Nimm es nicht persönlich“, antwortete sie. „Am besten, du lässt ihn einfach in Ruhe.“

„Wie, glaubst du, soll ich sein Verhalten denn sonst auffassen? Natürlich nehme ich es persönlich.“

„In diesem Fall könntest du dich vielleicht ein bisschen mehr um deinen Enkel kümmern. Es ist nicht seine Schuld, dass du ihn vernachlässigt und dass du …“ Anna hielt inne.

Beide Frauen wandten leicht den Kopf und sahen einander in die Augen, die mehr verrieten als ihre unbedacht gewählten Worte. Tims Verhalten ließe sich ohne weiteres erklären. Es gab nichts Geheimnisvolles an seinem Schweigen und dem ausweichenden Verhalten seiner Oma gegenüber oder an seinem einsamen Aufenthalt auf dem Steg. Die Gründe hierfür waren beiden bekannt. Gründe, die Christin niemals aussprechen würde und auf die sie lediglich indirekt hinwies, als erwartete sie, dass Anna etwas dagegen unternahm. Es ging Christin nicht darum, die Handlungsweise ihres Enkels zu begreifen oder zumindest zu akzeptieren, sondern darum, sie zu unterbinden.

„Ich möchte nicht, dass er so dicht am Wasser steht. Das ist alles.“

„Dann rede mit ihm“, antwortete Anna, ihr Tonfall so hart und auflehnend, dass sie selbst darüber erschrak. Doch worauf, fragte sich Anna, sollte sie Rücksicht nehmen? Sie gehörte nicht mehr hierher. Ihre Rolle in dieser Familie, in die sie vor siebzehn Jahren eingeheiratet hatte, neigte sich unaufhaltsam dem Ende entgegen. Sie war die Übergangsfrau geworden, degradiert zur Zweitbesetzung, bis sie endgültig, als Ehefrau wie als Mutter, abgelöst und ersetzt werden würde.

Ein Gedankengang, den Christin offensichtlich gespürt hatte, da sie nicht sofort auf die tadelnde Bemerkung eingegangen war. Weder ein Wort des Vorwurfs noch des Bedauerns oder der Anteilnahme über den Verlauf der letzten zwei Jahre. Damit hatte sie gerechnet. Von ihrer Schwiegermutter brauchte Anna keinen Trost zu erwarten. Dafür empfand sich Christin, mit ihren beinahe siebzig Jahren, zu sehr als das eigentliche Opfer, als die Gedemütigte und Betrogene, um solche Gefühle in anderen wahrzunehmen.

Noch immer sahen beide sich an. Für Anna gab es keinen Anlass mehr, Christins Blicken auszuweichen und sich ihnen zu unterwerfen. Was konnte sie jetzt noch verlieren, das sie nicht schon verloren hatte?

Die Leere in ihrem Weinglas, dessen Kelch sie mit den Fingerspitzen hielt und drehte, wurde ihr plötzlich unangenehm bewusst. Es war nicht einmal Mittag und zum Trinken deutlich zu früh. Vor allem, weil sie später mit Tim im Auto zurückfahren musste. In ein Zuhause, das ohne Philip zu groß für sie beide geworden war und das, je weiter ihr Sohn sich von ihr entfernte, immer größer und einsamer werden würde.

Während des Blickwechsels hatte Christin die ohnehin schmalen Lippen zusammengepresst, ihr Kinn dabei leicht erhoben, das von der schleichenden Krankheit zu zittern begann. Wie ein Leguan bei der Brunst wackelten die Hautfalten am Hals rhythmisch mit. Sie war alt geworden, fiel Anna auf. Nicht nur der Stock, auf den sie sich stützen musste, sondern hauptsächlich ihre Augen, auf die sich ein milchiger Film gelegt hatte, zeugten davon. Und mit der Gebrechlichkeit schien auch ihre Unnachgiebigkeit und Willensstärke zu schwinden, da sie Annas Zurechtweisung weiterhin so stoisch ignorierte wie einen schmerzenden Kiesel im Schuh.

„Gehen wir nach unten“, sagte sie. „Die anderen werden jeden Moment hier sein.“

Anna sah noch einmal zum Steg. Tim hatte sich erhoben und zupfte Blütenblätter von einer Rose, die er ins Wasser warf, eins nach dem anderen. Er musste die Rose in der Innentasche seiner Jacke versteckt gehalten haben, als hätte er sich ihrer geschämt. Auch Anna schämte sich. Darüber, nicht mehr auf die Sorgen ihres Sohnes einzugehen und ihn im Stich zu lassen. Doch was sollte sie tun, wenn er sich derart verweigerte?

Unterdessen hatte ihre Schwiegermutter den Balkon verlassen. Anna wandte sich dem Wannsee ab und betrat das Zimmer, das Christins Bruder, seit sie selbst die Treppe in den ersten Stock nur noch mühsam erklimmen konnte, als Bibliothek und Rückzugsort diente. Es gab einen selten benutzten Kamin, deckenhohe Regale an den Wänden – voll mit den gesammelten Büchern dreier Generationen, von denen die meisten wohl nie gelesen worden waren – und zwei wuchtige Ledersessel mit einem kleinen, runden Tisch in ihrer Mitte. Zuvor war dies Christins Wohnzimmer gewesen, mit der Durchgangstür gegenüber dem Kamin zu ihrem Schlafzimmer. Letztes Jahr erst, als die Schmerzen in der Hüfte und den Knien unerträglich geworden waren, hatten Möbelpacker ihre Einrichtung ins Erdgeschoss und die Regale und Bücher nach oben getragen. Seitdem kam Christin äußerst selten hierher, so dass Walter den ersten Stock für sich allein beanspruchen konnte.

Vor dem Kamin, bemerkte Anna, nachdem sie ihr Weinglas auf dem runden Tisch abgestellt und Christin die Tür geöffnet hatte, stand Tims Notenständer mitsamt einigen Notenblättern. Daneben lag seine Trompete in ihrem schwarzen Kasten. Zumindest durch dieses Instrument, von dem sie niemals gedacht hätte, dass er die Geduld, es zu erlernen, tatsächlich aufbringen würde, schien ihr Sohn lebendig zu sein. Stundenlang übte er selbstvergessen und konzentriert und war glücklich dabei. Tonleitern, Melodien, selbst ganze Konzerte. Allein aus diesem Grund hatte sie ihm erlaubt, die Trompete mitzubringen, damit er auf der Geburtstagsfeier seiner Großmutter – ihre Einwilligung vorausgesetzt – ein wenig proben konnte. Ansonsten hätte Tim sie niemals hierher begleitet.

„Warum bist du überhaupt nach oben gekommen?“, fragte Anna, bevor sie die Tür hinter sich und ihrer Schwiegermutter schloss. „Doch hoffentlich nicht meinetwegen.“

Christin zögerte, beugte sich tiefer über den Stock und zog ihre zu zwei dünnen Strichen gezupften Brauen zusammen. „Nein, ich … ich weiß gar nicht mehr. Ich habe etwas gesucht, glaube ich. Ich kann mich bloß nicht erinnern.“

„Warum hast du Walter nicht gebeten, es dir zu holen?“

„Ach, wer weiß, wo der steckt. Und außerdem will ich das Treppensteigen nicht völlig verlernen.“

„Ich habe übrigens die beiden Rosenstöcke mitgebracht, die du unbedingt haben wolltest“, sagte Anna, während sie langsam den schmalen Flur entlang zur Treppe gingen.

„Das ist lieb von dir. Stell sie einfach auf dem schmalen Beet zwischen Haus und Garage ab. Walter wird sich später darum kümmern und sie einpflanzen.“

Vor der breiten Treppe mit verziertem Geländer, die hinunter in die Eingangshalle führte, machte Christin, sichtlich unsicher geworden, Halt.

„Es ist besser“, bot Anna ihr an, „du nimmst meinen Arm.“

Christin ignorierte das Angebot, griff mit der rechten Hand nach dem Geländer und nahm vorsichtig, mit Unterstützung des Stockes in der linken, eine Stufe nach der anderen. Den Schmerz, der so offensichtlich mit jedem Schritt durch ihre Knochen fuhr, versuchte sie zu unterdrücken.

Auf halbem Wege klingelte es.

Anna blieb stehen. Vom mittleren Treppenabsatz aus konnte sie die Haustür gut erkennen. Eine schwere Tür aus massiver, dunkel gebeizter Eiche mit goldenem Knauf.

„Das wird Philip sein“, sagte ihre Schwiegermutter. „Mit seiner … Wie heißt sie doch gleich?“

„Julia?“

Der Name lag ihr schwer wie Blei auf der Zunge. Christin, bemerkte sie, beobachtete ihre Reaktion. Das Ballen ihrer Hände zu Fäusten, die Anspannung in den Schulterblättern und den versteinerten Ausdruck auf ihrem Gesicht.

„Ja, richtig“, sagte Christin. „Hat Philip dir nichts gesagt?“

Nein, das hatte er nicht. Und Anna hatte nicht danach gefragt. Niemals wäre sie auf die irrwitzige Idee gekommen, dass Philip ihr das antun oder dass Christin seinem Vorschlag zustimmen könnte. Was wollte er damit erreichen? Glaubte er wirklich, ein Zusammentreffen würde die ohnehin verworrene Situation entspannen und die ihr zugefügte Erniedrigung erträglicher machen? Wenn Anna auch nur geahnt hätte, der Ehebrecherin hier über den Weg zu laufen, sie wäre mit Tim daheim geblieben.

„Wie kommst du dazu, sie einzuladen?“, fragte sie leise, fast flüsternd.

Christin blieb unbeeindruckt von der Härte ihrer Stimme. „Du solltest langsam die Situation begreifen und dich damit abfinden, Anna. Es hat keinen Sinn, die Augen weiter zu verschließen.“

Es klingelte ein zweites Mal.

Sie starrte gebannt auf die Tür, hinter der die Zukunft lauerte, von der sie tatsächlich geglaubt hatte, sie aussperren zu können. Ein kurzer Flirt, eine Affäre, das Aufbegehren vor dem Alltäglichen und dem Älterwerden, das hatte sie sich einzureden versucht. Nichts Ernstes. Philip würde irgendwann zur Vernunft und kleinlaut zu ihr zurückkehren, allen Scheidungspapieren zum Trotz.

„Und du billigst sein Verhalten?“, fragte Anna, mehr erstaunt als verärgert, weil sie bis eben in ihr die Verbündete gesehen hatte. Nicht aus Freundschaft oder Anteilnahme, sondern allein aus Christins Überzeugung heraus, dass der Bund der Ehe unantastbar war.

„Er ist mein Sohn“, sagte Christin, ihre Enttäuschung deutlich hörbar, und nahm erneut eine der Stufen, den Stock voran. „Es ist seine Entscheidung.“

„Was ist mit Konrad?“, rief Anna ihr nach. „Wo ist dein Mitgefühl bei ihm? Oder empfängst du seinen Freund heute mit den gleichen offenen Armen, wie du es bei Julia tust? Warum verzeihst du Konrad nie etwas und Philip alles?“

Christin hob schwerfällig den Kopf. Anna sah lediglich ihren Hinterkopf, das weiße, toupierte Haar, die schmalen Schultern, den gekrümmten Rücken in der beigefarbenen Bluse und die Perlenkette um ihren fleckigen Hals. Ihre Söhne hatten ihr nie etwas recht machen können, ganz gleich, wie sehr beide auch darum bemüht gewesen waren. Philip zumindest hatte geheiratet und ihr Enkel geschenkt. In Christins Augen ein winziger Trost. Konrad dagegen war selbst dazu nicht in der Lage gewesen.

„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte sie, „wovon du sprichst. Und jetzt geh und öffne die Tür.“