cover-klein.jpg

20095.png

20133.png

20121.png

© Querverlag GmbH, Berlin 2014

Erste Auflage März 2014

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von Johner Images/Lena Granefelt (getty images)

ISBN 978-3-89656-562-4

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Erstes Kapitel

Schreckentempo

Unter Mimese versteht man die Fähigkeit von Lebewesen, sich in Aussehen, Verhalten und Farbe ihrem Lebensraum so anzupassen, dass sie für optisch ausgerichtete Feinde nicht mehr von ihrer Umwelt zu unterscheiden sind

Das zarte Knistern, das entsteht, sobald sie zu fressen beginnen, macht mir keine Angst mehr. Ich schlafe gut und tief.

Ich tue es, seit ich weiß, dass es nicht die flüsternden Stimmen der graugrünen Männer vor meiner Tür sind oder ein zündelnder Kurzschluss in der Mehrfachsteckdose zwischen den verstaubten Stromkabeln unter meinem Schreibtisch.

An jenem Abend aber, als ich dieses leise Geräusch zum ersten Mal vernahm, schreckte ich auf, weil ich meinte, jemand sehr Leichtes würde über eine dünne Schicht trockenen Laubes tapsen.

Schnell stand ich auf, machte Licht und folgte der Richtung, aus der das Geräusch kam. Das Rascheln führte mich vor die verkalkte Scheibe meines Terrariums. Halbnackt stand ich davor, fröstelte und staunte: Sie waren es. Meine nachtaktiven, Indischen Stabheuschrecken. Das Knistern rührte daher, dass sie in meiner ausgedienten, zylinderförmigen Glasvase an den Zweigen hingen und mit ihren Mundwerkzeugen Muster in die Brombeerblätter schnitten.

Hätte mir jemand zwanzig Jahre zuvor erzählt, dass ich in einer kleinen Stadtwohnung meine Nächte mit indischen Insekten verbringen würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Und hätte mir dieser Jemand weismachen wollen, dass in der ungefähren Mitte meines Lebens eine Begegnung stattfände, die den Erwartungswert eines hochdotierten Lottogewinns überträfe, ein argwöhnisches Lächeln wäre über meine Lippen gehuscht. Auch die Warnung, blauen Augen jeglicher Intensität mit Vorsicht zu begegnen, hätte ich schulterzuckend übergangen.

Und trotzdem hat das wenig Wahrscheinliche allen Zweifeln zum Trotz seine Berechtigung. Sonst wären Lottogewinner Phantome. Sonst gäbe es keine Geschichten.

Keine Geschichte.

Dass ausgerechnet mir so ein Zufall das beschauliche Dasein derart aufmischen sollte, damit rechnete ich damals nicht. Obwohl mir das Leben durchaus schon andere radikale Wendungen beschert hatte.

Aber ein Zufall ist ein Zufall. Und auch, wenn er noch so unglaubwürdig ist, bleibt es einer. Höhere Gewalt gehört jedenfalls nicht zu den Begriffen, die ich benutze. Was mir und Gitta passierte, war nicht mehr, als dass zwei nicht miteinander in Verbindung stehende Episoden sich kreuzten. Gitta sagt „Fügung“.

Ich habe das nie verstanden. Den Handlungswegen unseres Lebens ist es egal, wo sie sich treffen. Menschen sind Bedeutungsfinder. Nicht das Leben.

Jede Art von Glauben ist mir suspekt. Es mag sein, dass meine Sozialisation mich sanft, aber nachdrücklich in Richtung Atheismus geschoben hat. Für den einen sind Kirchen eben heilige Hallen, für die andere ein Haufen behauener Steine.

Trotzdem ist mir höhere Gewalt begegnet. Aber nicht in Form von Gott. Mein Leben begann in einer Gesellschaftsordnung, die in diesen Breiten nicht mehr existiert. Ich bin in der Deutschen Demokratischen Republik aufgewachsen.

Es ist dunkel. Ich liege in meinem Bett und schaue auf Gitta. Sehe zu, wie sich die Daunendecke, in die sie sich wie in einen Kokon eingewickelt hat, im Rhythmus ihrer Atemzüge hebt und senkt. Ich lausche dem Knistern hinter den Scheiben des Terrariums. Es beruhigt mich. Vor einer Stunde noch hatte ich mit Gitta zusammen auf Arte eine Dokumentation über das Gehirn gesehen.

Jedes menschliche Geschöpf, so wurde uns erklärt, wäre in der Lage, selbst zu Dreiecken oder zu Kreisen eine Beziehung aufzubauen. Und dazu müsste man noch nicht einmal einsam sein. Meine Freundin hatte mich von der Seite herausfordernd angegrinst.

Wenn ich meinen Kopf leicht nach links über die Bettkante hinausstrecke, kann ich meine Indischen Schrecken im Dunkel erahnen. Dreizehn sind es. Kopfüber baumeln sie an der Decke ihrer Behausung und erwecken im Gegenlicht der Straßenlaterne vor meinem Fenster den Eindruck eines lebenden Gestrüppes. Vor ungefähr neun Monaten hat alles begonnen.

„Kannst du ihn nehmen?“ Die Augen des Jungen flehten mich an. „Mama würde ihn totmachen. Ich komme ihn auch füttern.“

Überrascht starrte ich auf den zerzaust wirkenden Stiel eines Blattes am Boden einer Tupperdose, die er zitternd in der Hand hielt.

„Was soll das sein?“, fragte ich. „Wozu soll ich einen vertrockneten Zweig bei mir aufnehmen?“

Seine Bitte verwunderte mich. Wäre der Junge drei gewesen, so hätte ich seine Gabe in aller Ehrfurcht und Ernsthaftigkeit an mich genommen und erwidert, dass ich mich über sein Geschenk glücklich schätzen und es sofort in eine Vase stellen würde. Aber so? Bojan war fast acht und der Sohn meiner Nachbarin Gitta, die ich gelegentlich im Treppenhaus und einmal zusammen mit ihm im Schwimmbad getroffen hatte.

„Eine Gespenstschrecke aus Indien“, sagte Bojan gehetzt. Er sah bleich aus und klang geheimnisvoll, als würde er eine seltene Edelsteinart anpreisen. Ich zuckte zusammen, weil sich der Stiel plötzlich bewegte.

„Woher hast du sie?“

„Gerettet“, sagte er. „Vor den Skinken.“

„Was sind denn Skinke?“, fragte ich.

„Die Echsen aus unserer Reptilien-AG. Nimmst du ihn? Bitte.“

Das wieder in reglose Starre verfallene Tier sah aus, als wäre jede Lebenskraft aus ihm gewichen.

„Er stellt sich nur tot“, bettelte Bojan. „Du kannst ihn erst mal in ein großes Glas tun und ein Netz obendrauf legen. Ich bringe dir morgen auch Efeublätter vorbei. Und einmal am Tag muss er bespritzt werden.“

„Was?“

„Besprüht, meine ich, mit so einer Pflanzenspritzflasche, aber nicht direkt auf ihn drauf, nur so an ihm vorbei, weißt du?“

„Nein, weiß ich nicht“, erwiderte ich barsch. „Mir reicht es jetzt schon.“ Ich schüttelte mich. „Ein Glas kannst du von mir aus haben und auch ein altes Netz. Aber danach wirst du das Ekelteil in den Keller bringen, da, wo Gespenster hingehören.“

Bojan war enttäuscht und starrte resigniert in die Dose. Ich war wohl die letzte Hoffnung für ihn gewesen, als Pflegemutter für sein Insekt herzuhalten.

„Im Keller ist es zu kalt und zu dunkel, er braucht Licht und Wärme“, sagte Bojam kaum hörbar. Jetzt bemerkte ich, dass der Junge seine Tränen unterdrückte, und fühlte mich sofort schuldig.

„Gib schon her“, erwiderte ich unwirsch. „Wie alt wird so ein Ding?“ Bojan strahlte mich an und ich bereute sofort.

„Ein Jahr. Aber der ist schon ein halbes alt.“

Ich rechnete. Bis ungefähr Juni würde er sich halten.

„Okay“, sagte ich. „Aber sobald ich in den Urlaub fahre, stell ich ihn vor deine Tür und dann siehst du zu, wo er bleibt. Verstanden?“

Bojans Lippen hatten aufgehört zu zittern und eine aufgeregte Röte befleckte seine Wangen.

„Danke, Inka, danke“, wiederholte er immer wieder, drückte mir die noch schweißwarme Dose in die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und lief die Treppe hinunter.

„Wie heißt er?“, rief ich ihm hinterher, als würde mir ein Name helfen, meine Abscheu zu überwinden, das Vieh über die Schwelle meiner Wohnung zu tragen.

„Jeff!“, schrie Bojan zu mir hinauf. „Ich hole jetzt schnell die Blätter.“

Dann hörte ich die Haustür ins Schloss fallen. Ich zog meine Tür zu, trug die Dose in die Küche und stellte sie auf die Fensterbank. Als ich mich ein paar Minuten später mit einer Tasse Kaffee danebensetzte und mich dabei ertappte, besorgt zu beobachten, ob Jeff noch lebte, kribbelte es plötzlich an meiner Oberlippe.

Bei starken Gefühlen erwischt mich immer der Herpesvirus. Und genau in diesem Moment beschlich mich die Ahnung, dass sich irgendetwas in meinem Leben noch einmal grundlegend ändern sollte.

Noch immer schaue ich auf meine verpuppte, schlafende Freundin. Das fahle Licht der Laterne stiehlt diesem Anblick die Tiefe. Es sind noch anderthalb Stunden, die mir bis zum Morgen bleiben. Das Dämmerlicht wird langsam den Schein der Laternen schlucken, bis er gänzlich verblasst. Langsam geschieht es. Zögerlich und stetig zugleich. Sooft ich schon versucht habe, den Zeitpunkt festzuhalten, an dem die Nacht in den Morgen kippt; es ist mir nie gelungen. Der Morgen ist kein Kippmoment, sondern ein Fließen. Mein Auge kann die Übergänge nicht wahrnehmen, aber etwas anderes, das in mir zu Hause ist, kann das durchaus. Mein sechster Sinn. Gitta würde ihn schlicht Seele nennen, aber ganz gleich, was es ist, dieser Sinn in mir ist an Wandlungen gewöhnt. Er liebt das Schleichen des Morgens in einer Stadt, die tagsüber brüllt, mittags geschäftig rauscht und abends nicht zur Ruhe kommt. Dieser Sinn, den Gitta Seele nennt, liebt die graue Blässe der Dämmerung, ihre Durchsichtigkeit, die leise ist und trotzdem alle Möglichkeiten in sich birgt.

Eingerollt in ihre Decke, wirkt Gitta wie ein sich aus der Dunkelheit abzeichnendes, gerade gemaltes Gemälde. Die Farben so feucht, dass sie schimmern. Ihr Deckenkokon hat sich ein wenig aufgerollt und entblößt ein helles Stück ihrer Haut an der Schulter. Makellos. Niemand würde ahnen, dass sich unter ihrer glatten Oberfläche ein Enzym verbirgt, das bei Kältereiz eine hügelig rötliche Landschaft entstehen lässt. Ein Botenstoff, der überaktiv und wild um sich schlägt, weil er Gefahr wähnt, wo keine ist, und damit bewirkt, dass sich binnen kurzer Zeit rosarote Inseln auf Gittas Haut bilden. Die einzelne Blase hat eine klar umrissene Grenze und entsteht ziemlich schnell. Es wirkt fast, als ob sie aus dem Nichts erwüchse. Gittas Haut reagiert allergisch auf Kälte. Die meisten lachen über dieses Wort. Kälteallergie, auch Pseudo-Allergie genannt, weil der Körper gar keine Antikörper bildet, sondern nur so tut, als wäre er allergisch.

Aber für Gitta spielt das keine Rolle. Ein Temperaturgefälle von über zehn Grad, wie Luft und Wasser es manchmal haben, brächten im Extremfall ihr Leben in Gefahr. Sie macht kein Tamtam darum. Kalte Getränke wärmt sie sich vorher an und vermeidet es, bei dreißig Grad im Schatten die Arme auf kühlen Metalltischen abzustützen oder bei zu frischem Wind Sport zu treiben. Die Verdunstungskälte ihres Schweißes übersät sie sofort mit juckenden Quaddeln. Mitunter aber vergisst Gitta ihre Medikamente zu nehmen, obwohl sie Ärztin ist.

Gittas Haut erinnert mich an die DDR.

Ich war in diesem Land groß geworden, das nichts weiter war als das Endprodukt einer Überreaktion zur Zeit des Kalten Krieges. Eine riesige Blase. Und ich selbst wuchs auf inmitten dieses allergischen Schocks, in einer Starre, die etwa vierzig Jahre anhielt. Ich wurde Kinderkrankenschwester. Medizinisch könnte man von einer gesellschaftlichen Nesselsucht sprechen, einer Urtikaria, einer Kälteallergie. Rötliche Blasen überall. Ihr Innenleben aber verläuft nach anderen Gesetzen als in den Hautarealen um sie herum.

Ich bin also inmitten jener Blase aufgewachsen und war Jahrzehnte lang Teil ihrer Biochemie. Eine Zelle von siebzehn Millionen.

In der Blasen-Zone funktionierten wir irgendwie anders. Was genau dieses Anders ausmachte, lässt sich nicht einfach fassen. Ich kann es im Rückblick nur daran festmachen, wie fremd mir nach dem Mauerfall das westliche „Normalgewebe“ vorgekommen war. Fern wirkte das Leben dort, unverständlich waren mir die Menschen in ihrer Privatheit, isoliert in ihrem Individualismus, fremd der Geruch der Städte. Ein merkwürdiges Duftgemenge, Dünste von süßlichem Waschmittel aus den Kleidern der Passanten vermischt mit dem Gestank von Abgasen krochen mir in die Nase, an dem Tag, als ich einen ersten scheuen Spaziergang nach Westberlin wagte.

Die kleinste lebende Einheit eines abhandengekommenen großen Ganzen, verloren in einem anderen Universum, das war ich.

Wer einen allergischen Schockzustand als das Normale erfahren hat, lebt anders. Vielleicht schläft man leichter, unruhiger und oberflächlicher. Oder man ist wachsamer und dünnhäutiger, vielleicht aber hält man den andauernden Alarmismus gar nicht aus, lässt sich eine zweite Haut wachsen, die ähnlich funktioniert wie die doppelwandige Hülle einer Thermoskanne. Das eingesperrte Vakuum schützt vor Hitze und Kälte.

Im schlimmsten oder besten Fall aber schneidet man sich unter Schmerzen aus dem mit dem eigenen Gemüt verwachsenen Zellgewebe heraus und flüchtet.

So verschieden wir in der Zone mit dieser Art Leben umgegangen waren, letztlich verband uns die Erinnerung daran. Zellen können alles speichern, den Körper in seiner Gesamtheit und sogar die ganze Vergangenheit eines Organismus. Alles ist in ihnen enthalten.

Als die Blase DDR nach vier Jahrzehnten schließlich abschwoll, viel unspektakulärer und gleitender, als sie entstanden war, verschwanden mit ihr auch ihre aufgestauten Grenzen. Die Mauer fiel. Ich war damals zwanzig. Alle siebzehn Millionen wurden wieder zu gewöhnlichen Zellen eines ganz gewöhnlichen Körpers. Wir passten uns an die neue Normalität an.

Aber die Erinnerung blieb.

Nur hin und wieder kribbelt eben meine Lippe.

Bojan kam damals nach seinem Insekten-Notruf lediglich noch ein einziges Mal vorbei. Er brachte nicht den versprochenen Efeu, sondern nur ein paar dornige Brombeerblätter mit, die er mir mit den Worten in die Hand drückte: „Die gehen auch. Ich muss jetzt zum Schwimmen!“

Ich konnte es dem Sohn meiner Nachbarin Gitta nicht einmal verübeln, dass er sich auch später nicht bei mir meldete. Weder sprach ich ihn im Treppenhaus an, um zu fragen, ob er seine gerettete Schrecke Jeff schon vergessen hätte, noch stellte ich, wie angedroht, das Glas vor seine und Gittas Tür. Ich muckte nicht gegen Bojan auf, ließ es schließlich auf sich beruhen und begann mich langsam an Jeffs Gegenwart zu gewöhnen.

Es war eine bewährte Lebensstrategie und sie funktionierte immer recht gut. Ich wusste, irgendwann würde ich anfangen, das Tier zu mögen, und als sich später herausstellte, dass Jeff eine Sie war und ich ihn in Jil umtaufen musste, war ich längst nicht mehr in der Lage, meinen Pflegefall abzuschütteln.

Fasziniert saß ich sogar bis in die Abendstunden vor dem Glas und vergaß die Zeit. Ich mochte Jils filigrane Art, sich zu bewegen, bewunderte sie, weil sie die Fähigkeit besaß, sich in meiner Vase mit nur einem einzigen Brombeerzweig so zu tarnen, dass ich eine halbe Minute brauchte, sie auszumachen. Jil war mir in ihrer Art sehr vertraut. Ihrer Anpassung zuzuschauen, war intim und zugleich gab es mir Sicherheit: dieses Einssein mit der Umgebung.

Darin war ich ebenfalls Meisterin. Wenn ich nicht zu sehen war, war alles möglich. Zumindest in Gedanken. Ich konnte vor mich hinträumen, ohne angesprochen, aufgefordert oder gar gefressen zu werden.

Als Kind hatte es mich geärgert, von Menschen übersehen und auf Bahnsteigen ständig umgerannt zu werden. Später jedoch erkannte ich die Vorteile der eigenen Transparenz. Gefesselt von diesem Phänomen begann ich es sogar herzustellen, wenn ich es für nützlich befand, indem ich meine innere Anwesenheit noch mehr reduzierte, als ich es sowieso schon tat. Ähnlich wie man einen Dimmschalter benutzt, drehte ich meine Präsenz auf ein Minimum herunter. Sehr selten brauchte ich dann zum Beispiel einen Busfahrschein vorzuzeigen, in Schwimmbädern ging ich ungehindert durch den Kassenbereich, natürlich nur, wenn es besonders voll war. Sehr lange Zeit konnte ich, sogar bis ich dreizehn war, in einer schlichten Unterhose herumlaufen, ohne dass mir jemand dumm gekommen wäre, und ich begann den Gewinn, den eine gewisse Durchsichtigkeit mit sich bringt, zu erkennen und einzustreichen. Ein paarmal ließ ich probehalber Kleinigkeiten aus der Kaufhalle, in der Mokkabar oder im Centrum-Warenhaus mitgehen. Während einer Klassenarbeit schnitt ich mir ungeniert unter den Augen der Lehrerin die Nägel. Mein Tarnverhalten funktionierte immer besser, je länger ich übte. Ich schneiderte an meiner Tarntracht, bis sie passgenau saß und gleichzeitig bestmöglichen Bewegungsspielraum versprach.

Ich spielte mit mir selbst ein Spiel, das in eine lebenslängliche Vereinbarung mündete: All das Geld, das ich beim Schwarzfahren oder durch erschummelte Eintrittsbesuche nicht ausgegeben hatte, wollte ich sparen.

Die Münzen verschwanden von da an in einer sehr alten, runden Blechdose, die ich meiner Mutter abgeschwatzt hatte. Von dem Geld, das wusste ich bereits, würde ich mir irgendwann etwas Tolles, vielleicht sogar Auffälliges anschaffen. Die Dose enthielt etliche Pfennige, alte DDR-Scheine, die ich bis heute aus Nostalgiegründen nicht umgetauscht habe. Mit der Zeit füllte sie sich mit diversen Fotos, mit Zetteln und Gedichten, einem Hühnergott und anderem Zeug. Das Geld, das meine Unsichtbarkeit mir eingetragen hatte, war nach der Wende, wie die anderen Dinge, ohne Bedeutung, aber wiederum nicht so nutzlos, als dass ich es hätte leichtfertig wegwerfen wollen, es war, als wäre in den Dingen eine noch nicht erzählte Geschichte eingebunden. Ein Versprechen.

Die Dose stand im Regalfach unter meinem Terrarium.

Zwei Wochen, nachdem Jil bei mir eingezogen war, verbrachte ich einen ganzen Abend damit, ihr dabei zuzusehen, wie sie sich entkleidete, wie sie ihre alte Haut abstreifte, weil sie wieder ein Stück gewachsen war. An den Maschen des rostigen Siebdeckels baumelte die nutzlos gewordene Hülle, als hätte sie ein filigranes Abendkleid an einen Haken gehängt.

Ich lächelte bei dem Gedanken, wie meine Nachbarin Gitta Karpanke sich bei diesem Anblick schütteln würde. Wir begegneten uns oft im Treppenhaus und lächelten uns dann halbwegs freundlich zu. Direkt schaute sie mich dabei nicht an. Manchmal stiefelte sie auch ohne zu grüßen an mir vorbei. Ich wunderte mich nicht darüber. Sie war alleinerziehend und Mutter von Bojan. Anfangs fand ich Gitta nur mäßig hübsch. Sie war etwas größer als ich und etwa in meinem Alter. Ich schätzte sie damals auf Mitte, Ende dreißig und ich mochte Gitta so, wie man eine höfliche Nachbarin eben mag. Auf den Gedanken, mir auszumalen, irgendetwas mit ihr anzufangen, kam ich nicht. Im Grunde fragte ich mich sowieso, ob ich je überhaupt wieder in der Lage sein würde, eine Beziehung einzugehen, außer vielleicht eine ungefährliche zu Dreiecken, Kreisen oder Stabheuschrecken. Mir reichte das neue nächtliche Knistern vollkommen und ich genügte mir selbst. Die Zufriedenheit war meine schützende Haut, wie gute, dicke Watte.

Lydia hätte heute vielleicht „Dämmstoff“ dazu gesagt und zynisch gelächelt. Aber Lydia war seit zwei Jahrzehnten wie von der Bildfläche verschwunden.

Gittas Atem neben mir ist so selbstverständlich. Ich habe früher nie darüber nachgedacht. Das Herz und die Lungen sind wahre Workaholics. Während unser Bewusstsein Pausen durchaus zu schätzen weiß, sich Auszeiten und Kopfkino-Partys gönnt, und sich unsere Blase nachts wie ein echtes Partygirl benimmt, das mehr schlucken kann als tagsüber, nur damit wir nicht dauernd rausmüssen, pausiert die Lunge nur zweimal.

Einmal vor und einmal nach unserem Leben. Dazwischen arbeitet sie unverdrossen und ungefähr zweiundvierzig Millionen Minuten lang.

Gitta bewegt sich im Schlaf. Die Decke, die sie eingehüllt hat, gibt ihre Kokonform auf und staut sich zu einem hellen turmartigen Gebilde, das Gitta bis zur Hüfte bedeckt. Es wirkt, als wäre sie aus einem riesigen weißen Schneckenhaus gefallen. Sie sieht schön aus. Nichts ist selbstverständlich. Nicht Gittas Atmen und auch nicht unsere Liebe. Die sogenannte Liebe war in meinem Leben, lange bevor ich Gitta kannte, vergleichbar mit einem unberechenbaren Wesen, das kam und ging, wie es ihm passte, ganz gleich, was ich dabei empfand. Nachdem ich drei- oder viermal von diesem Tier angesprungen worden war, wuchs mir eine schützende Haut.

Irgendwann in den neunziger Jahren war der Begriff „ethnische Säuberungen“ wieder verstärkt durch die Presse gegangen. Ich war Mitte zwanzig und schlug meinen Kopf gegen die Wand. Nicht aus Verzweiflung über das menschliche Unrecht, das tausend Kilometer von mir entfernt im zerborstenen Jugoslawien geschah. Davon wusste ich nichts. Ich war zu einer entschlossenen Quartalsleserin geworden und hatte mein Zeitungs-Abo abbestellt. Ebenso den Fernseher. Von Politik hielt ich seit der „Wende“ gar nichts mehr und war gerade dabei, mich mit einer neuen Frau zu trösten, weil Lydia wie vom Erdboden verschluckt blieb. Mit meinem Staat war zeitgleich auch meine erste Liebe spurlos verschwunden.

Ich schlug verzweifelt meinen Kopf gegen die Wand aus purem Liebeskummer oder dem, was ich dafür hielt. Das neue Objekt meiner Zuneigung war eine bezaubernde Frau mit dem Namen Maya. Sie hatte blaue Augen, die immer offenstanden und mich glauben machten, ich wäre einzigartig und könnte Tag und Nacht in sie hineinspazieren. Taubenblau. Maya hatte den Himbeerblick.

Waren wir mit dem Fahrrad unterwegs und standen dann vor einem Strauch mit wilden Beeren, war binnen weniger Minuten ihr Mund voll davon, während ich noch immer hungrig in die dornige Leere starrte. Die zartrosa Dinger in ihrer halbgeöffneten Hand erinnerten mich damals schon an rosa Hautblasen. Selbstredend hütete ich mich davor, den Vergleich offenkundig zu machen, und sah Maya lieber dabei zu, wie sie sich die Beeren einzeln in den Mund schob und dabei die Augen wohlig schloss. Ständig suchte ich ihre Nähe – so oft ich konnte und so lange sie mich ließ.

Maya war jenseits der großen roten Blase aufgewachsen. In dem kleinen ausgesparten Flecken Westberlin. Sie sagte „Halloreen“-Kugeln statt Halloren und lachte, wenn ich von „Amazohne“ statt von „Ämmazon“ sprach. Sie mochte meine versteckte Traurigkeit und ich ihr taubenblaues Geheimnis, das mir ihre Augen stetig vorgaukelten. Immer öfter beschlich mich das Gefühl, sie spielte vor mir die Rolle einer Sphinx, doch das Geheimnis, das sie hütete, gab es gar nicht. Vergebens versuchte ich mich in ihren Augen zu spiegeln. Ich rannte offene Türen ein und fand nie mehr als das Versprechen auf ein weiteres Geheimnis.

Ich bekam Maya einfach nicht zu greifen. Und je länger ich sie kannte, umso mehr kam es mir vor, als stünden die blauen Türen ihrer Augen jeder und jedem anderen ebenso offen wie mir.

Wieder wurde ich zu einer Zelle von vielen und wusste nicht, ob ich mich heimisch oder verletzt fühlen sollte. Gar nichts wusste ich und so schlug ich eben meinen Kopf gegen die Wand ihrer Schlafzimmertür, an jenem Abend im Herbst 1995, als sie mich endgültig wegschickte.

Es brauchte einige Tage, bis meine Beulen am Kopf abschwollen und sich die Konturen der blaugrünen Flecken an meiner Stirn im hautfarbenen Areal auflösten. Danach hatte ich erst einmal genug von der neuen Seite Deutschlands, von taubenblauen Augen, von Mädchen mit Himbeerblicken und trügerischen Spiegeln. Ich wendete mich ab. Wechselte den Wohnort. Las wieder Zeitung und schaffte mir einen Fernseher an; ich zog nach Hannover. Weg von einer Grenze, die lediglich erinnert wird. Instinktiv suchte ich die Entfernung zu den verblichenen Rändern meines abgeschwollenen rosaroten Landes, dessen alte Haut in Form von Steinbröckchen nun auf dem Mauermarkt vertickt wurde.

Ich lebte zur Miete in einer kleinen Etagenwohnung eines Hauses, das in den sechziger Jahren errichtet worden war. Die Wohnung hatte etwas, das mich an eine lose Ansammlung von Streichholzschachteln erinnerte: aneinandergepappte Fächer, maßstabsgerecht vergrößert. Die Frontseite zeigte das gleiche Grau, wie es einen Plattenbau zierte, in dem ich Mitte der achtziger Jahre in der Wöhlertstraße in Berlin feststeckte. Die Wohnungen auf der Mitte der Jakobistraße strahlten bei Weitem nicht das Flair aus, wie es die großzügigen Altbauten in südöstlicher Richtung taten.

Zum Hof hinaus ging der Blick zuerst auf ein quadratisches Fleckchen Rasen mit einer Wäschespinne in der Mitte, dahinter öffnete sich der Innenhof nach einem Mauervorsprung und erstreckte sich mehrere dutzend Meter in die Länge. Im Sommer war dieses Rechteck eine grüne Oase.

Wenn ich mich mittags auf den Weg zu meiner Minijobstelle begab und die Jakobistraße langsam hinunterschlenderte, blieb ich gern vor dem alten Seifengeschäft stehen und schaute mir die unmodernen Auslagen an. Der ganze Laden schien aus der Zeit gefallen und gerade deshalb zog er mich an. Meine Mutter war Schaufensterdekorateurin gewesen und vor diesen Auslagen fühlte ich mich zu Hause. Jedes Mal, wenn mein Blick zwischen den Salzlampen, Seifenstücken und Duftkerzen hängenblieb, sinnierte ich darüber, wie lange sich dieses Tante-Emma-Lädchen wohl noch halten würde, und als ich aufhörte, mich das zu fragen, stand es plötzlich leer.

Viel später, als in die alten Räume ein Armarturenverkäufer einzog, war mir immer noch so, als ob der Duft von ältlicher Seife um die Ecke des Ladens wehte. Die Jakobi war kein Pflaster für Drogerien. Früher oder später erstickten sie, wie die Stiefmütterchen unter den großen Robinien entlang der Straße an zu viel Hundekot.

Ansonsten gab es noch die Fahrradwerkstatt „Pedalritter“ neben einem Telefunkengeschäft, das mit seinen vierzig Jahren den alten Seifenladen knapp überlebt hatte. Schräg gegenüber war eine quadratische, staubige Uhr in Bahnhofsmanier festgemacht, die schon seit Jahren neun Uhr fünfzig anzeigte.

Von der Bushaltestelle aus konnte man schräg links ein mit immer gebraucht wirkenden Büchern bis unter die Decke voll geschichtetes Lehrerzentrum ausmachen und schließlich boten noch zwei Bestattungsunternehmen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können, ihre Dienste an. Nur ein paar Aufgänge von meiner Haustür entfernt lockte ein Reisebüro.

Ich hatte kaum Geld. Mitunter gab ich mich Tagträumen hin, hier selbst ein Geschäft zu eröffnen, doch dann hätte ich mich vielleicht für eine Mischung aus Keramik, Stoff und Papier entschieden, denn diese drei Dinge schienen sich zu halten und sogar einigermaßen zu verkaufen.

Kochbücher mit Löffeln vielleicht oder ein Poesiealbum mit Buchdeckeln aus Porzellan, dezent verziert mit einem Einlegebändchen, oder ein Bett aus Pappe mit einem dünnen Messinggestänge am Kopfende für den Seidenhimmel darüber. Am Ende jeder Messingstange vielleicht ein blau-rot bemalter und in Gold gefasster emaillierter Knopf.

Die Jakobi war keine echte Einkaufstraße und die meisten dieser Geschäfte wirkten mehr verschlafen, so als ob hinter den Scheiben in den Geschäftsräumen nur noch Schatten säßen. Manchmal spähte ich neugierig in das Schaufenster der Bestatterin hinein, bewunderte ihre neuesten Urnen oder las den jeweiligen Spruch der Woche, den sie auf einer Art Notenständer mit bunten Wäscheklammern drapierte. Ihr Schaufenster schien die drei von mir favorisierten Dinge am ehesten zu vereinen. Urnen, Tücher, Schreibkram.

Ich mochte den Tod nicht, aber hier hatte er etwas Lichtes, fast Einladendes.

Heute war der Himmel grau und verhangen. In der Scheibe spiegelte sich blass meine Gestalt. Schmal, fast jungenhaft, vielleicht sogar kindlich, eine Mischung aus beidem. Ich sah für den kurzen Moment der Spiegelung ein durchsichtiges Wesen. Einen Augenblick später kam die Sonne hinter den Wolken hervor und mein Bild löste sich in der Scheibe auf.

Die Bestatterin Frau Wockenfuß selbst sah ich nie. Nur einmal meinte ich aus den Augenwinkeln heraus eine mit einem bunten Seidenschal bekleidete Frau in den Laden eilen zu sehen. Vielleicht war es auch eine Kundin.

Ich wohnte gern hier und tat es in friedlichem Nebeneinander mit meiner Nachbarin Gitta Karpanke. Unser Haus wirkte von außen verschlossen und schweigsam. Vielleicht war das ein Grund mehr, weshalb wir lange Zeit nur freundlich und distanziert aneinander vorbeigrüßten. Ins Gespräch sind Gitta und ich erst gekommen, als wir uns zufällig auf einer Liegewiese des Stadtbades trafen. Hainholz. Dort war ich oft. Ich zählte dieses Naturbad zu meinen Neuentdeckungen. Überdies liebte ich Wasser, kaltes Wasser, keine stechende Sonne. Exakt so wie in Hainholz. War es kalt genug, und das war es im Hainhölzer Naturbad ausnahmslos immer, brauchte ich noch nicht einmal die Sonne. Dann reichte mir zum Wohlbefinden einzig das Temperaturgefälle zwischen Luft und Wasser aus. Noch lieber besuchte ich im Winter die Sauna. Nicht wegen der Hitze. Sie war nur der erste Akt. Ich hielt die mörderische Wärme deshalb aus, um den Kick des Kälteschocks zu erleben. Zweiter Akt. Für eine kurze Dauer erlebte ich meinen Körper so, wie ich ihn sonst nicht kannte: fest, vital und ohne eine Spur von Durchsichtigkeit. Er hatte in diesen Momenten jede Transparenz verloren. Meine Haut glühte. Dritter Akt. Ich war ein einziges Heizwerk.

Als Gitta und ich uns kennenlernten, war Frühsommer und ich lag im Hainhölzer Bad unter einer der wuchtigen Eichen im Gras. Von meinem Handtuch aus beobachtete ich die Wellen. In unmittelbarer Nähe hörte ich schon seit geraumer Zeit eine Lehrerin zu ihren Schülern reden und etwas an dem Tonfall der Frau regte mich maßlos auf. Ich lauschte sonst gerne den Geräuschen im Schwimmbad, liebte das Gemenge von Kreischen und Rufen, ließ mich treiben auf den Wellen von Lachen und dem Geplapper, von der dumpfen Resonanz, die rennende Füße über den Rasen verursachen, auf dem ich einfach nur lag, ohne das Gemurmel und Geschrei verstehen zu müssen. Aber der Tonfall dieser Frau riss mich aus meiner trägen Sinnlichkeit heraus, zwang mich hinzuhören, obwohl ich keine Lust dazu hatte. Ärgerlich stützte ich mich auf meine Ellenbogen und blinzelte zu ihr hinüber. Mit wohlwollender Geste hatte sie in einer leicht penetranten Art beide Hände auf die Schultern eines Mädchens gelegt, das selbstvergessen lachend aus dem Wasser gestiegen und auf sie zugerannt war. Das Mädchen mochte vielleicht elf, zwölf Jahre alt sein, war außer Atem und strahlte ihre Lehrerin an.

„Karoline, du hast dein Klassenziel nicht erreicht“, durchschnitt die Stimme, deren Konsistenz mich an eine gefrorene Qualle denken ließ, die Luft. Glatt, unbeweglich, kalt. Ich dachte deshalb an eine Qualle, weil ich mir bildhaft vorstellen konnte, in welchen glibbrigen und weinerlichen Tonfall ihre Stimme rutschen würde, wenn diese Frau sentimental wurde. Das Mädchen sackte sofort ein paar Zentimeter in sich zusammen und alle Unbekümmertheit verschwand aus ihrem sommersprossigen Gesicht. Eben noch hatte sie den Jungs auf dem Sprungturm mit ihrem Salto das Sprücheklopfen verdorben und nun schien es, als würde sie keine zwei Meter ohne Schwimmring auskommen. Ich verwünschte die Lehrerin. „Du hast dein Klassenziel nicht erreicht.“ Die Frau setzte sich auf die karierte Decke zurück und sah selbstgerecht aus. Sie wirkte, als würde sie sich nie wieder von dort fortbewegen.

Und du hast den Beckenrand nie erreicht, dachte ich bissig. Das Mädchen rannte zurück zum Schwimmbecken und sprang ins Wasser. Die Lehrerin blätterte weiter in ihren Unterlagen. Sie interessierte sich nicht für das Leben um sie herum. Ich schnaubte leise. Sie verstand nichts von den wirklichen Dingen. Vor allem nichts von Wasser.

Es gab eine andere Wahrheit innerhalb dieses Elementes. Wasser war ohne Absicht, war wie bedingungslose Liebe, machte die Plumpen elegant, das Schwere leicht. Wasser bedrängte nicht, sondern trug. Unter Wasser fühlte ich mich geborgen.

Träge drehte ich mich auf den Rücken und blinzelte in das Grün der Eichen. Das Mittagslicht bestand aus Schnipseln und bizarren, gleißenden Linien, die sich zwischen den Blättern der Bäume in einem fort änderten. Ich kniff die Augen zusammen, bis die Linien und Splitter zu einem flüssigen Netz wurden, und stellte mir ein flammendes Nervensystem vor, über das die Eiche mit der Sonne kommunizierte, als mich Gitta unvermittelt ansprach. Ihr spitzbübisches Gesicht tauchte in meinem Blickfeld auf und das Wasser tropfte aus ihren Haaren auf mich herab, während sie freundlich, aber bestimmt „Hallo!“ zu mir sagte. Überrascht richtete ich mich auf, dass mir schwindelig wurde, und ich erwiderte ebenso schnell und freudig: „Hallo.“

„Ich bin Gitta. Meinen Nachnamen kennst du ja schon vom Türschild“, sagte sie. Wir unterhielten uns.

Dieses erste Gespräch mit Gitta war nichts Besonderes. Es hatte weder Tiefgang noch war es Smalltalk. Wir schwiegen mitunter eine Weile, ohne dem Drang nachzugeben, peinliche Pausen füllen zu müssen. Unsere Unterhaltung blieb in ihrer Alltäglichkeit selbstverständlich. Unaufgesetzt.

Und inmitten zwei dieser schönen Pausen eröffnete Gitta mir plötzlich nebenbei, eine Kälteallergie zu haben.

Sie erzählte es, nachdem wir uns mit Eis und Brötchen auf unsere Handtücher gesetzt hatten. Unter uns der gemähte Rasen des Naturbades, hinter uns Bojan im Wasser und über uns die riesigen alten Eichen. Als Gitta das sagte, schüttelte ich nur ungläubig den Kopf.

„Du verarschst mich doch, Kälteallergie!“, erwiderte ich, „denk bloß nicht, weil ich eine Ossi bin, dass ich dir jeden Mist glaub.“

Erst als ich, kurz bevor wir aufbrechen wollten, die großen rosa Quaddeln auf ihrer Haut sah und die Tabletten, die sie hektisch einwarf, nachdem sie von Bojan ins Becken geschubst worden und panisch wieder herausgekrabbelt war, glaubte ich ihr.

Damals hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben diesen sperrigen Begriff, der wie eine fremde und geheimnisvolle Stadt klang. Urtikaria. Kälteallergie. Nesselsucht. Ohne die Pillen im richtigen Moment wäre es sogar lebensgefährlich, erzählte mir Gitta damals im Plauderton und mit vollem Mund, während sie die Reste ihres Mozzarellabrötchens aus der Tüte pellte. Der Hals könne ihr zuschwellen bis hin zur Atemnot. Ich runzelte die Stirn, aber sie lachte. „An einem Brötchenklumpen kann man auch ersticken, Inka. Man kann an allem Möglichen sterben.“

Dann kam Bojan klitschnass angerannt und Gitta war damit beschäftigt, ihm die nasse Badehose von den Beinen zu zerren. Er hielt die Arme gefaltet vor der Brust und hockte sich hin. Ein kleiner Gottesanbeter. Ein kindliches Insekt. Der Eindruck verstärkte sich, als Bojan mit sperrigen Bewegungen und hellen Schreien über die Wiese in Richtung Eisbude stakste, weil die spitzen Früchte der Bäume ihn in die Fersen stachen. Es waren keine Eichen, wie ich sie kannte. Ihre Blätter waren gezackt und nicht gerundet. Die Früchte, breit und fest, steckten in flachen Bechern mit spitzen Stielen. Kleine Amazonenbrüste. Vermutlich waren es Roteichen. Ich nahm mir vor, im Herbst vorbeizuschauen, um zu sehen, ob sich das kräftige dumpfe Grün der Bäume in ein flammendes Rotorange verwandeln würde.

Das Wasser im Hainhölzer war extrem kalt. Viel kälter als in allen anderen Bädern der Stadt.

Heute frage ich mich, warum Gitta sich ausgerechnet dort am liebsten aufhielt. Ich denke, die Eigenart ihres Körpers war ihr nicht wichtig. Sie wollte sie nicht über sich bestimmen lassen. Ihre Allergie nahm sie hin als ein Handikap, das man gut in den Griff bekommen konnte. Es gehe ihr wirklich gut, beruhigte sie mich, weil ich noch immer entsetzt schaute – man sähe so eine Krankheit ja nicht, fügte sie hinzu: „Außer jetzt natürlich, am Ausschlag, aber der wechselt ja ziemlich schnell seine Position, bald siehst du gar nichts mehr!“ So spielte Gitta es herunter.

„Im Grunde ist es auch gar keine richtige Krankheit“, schob sie nach und lachte über Bojan, der über die stacheligen Eicheln schimpfte, „nur eine Überreaktion.“

Ich nickte, als ob ich sie verstünde. Damals musste ich dabei noch nicht an mein rosarotes Land denken.

„Selbstverständlich verfolgen wir die Entwicklungen in der Sowjetunion mit großer Aufmerksamkeit […] Das bedeutet aber noch lange nicht, sie einfach zu kopieren. Das wäre schädlich.“ Erich Honecker

Kindisch sprang ich in der Wohnung herum.

„Ich bin Oma, ich bin Oma!“

Ich schrie vor Glück. Jil war explodiert. Sieben kleine Schrecken! Als ich die Winzlinge erblickte, überkam mich das absurde Glücksgefühl, in einem Harem zu leben, und natürlich war Jil nicht explodiert, sondern äußerst lebendig. Vor Begeisterung stürzte ich an meinen Laptop und googelte. „Aus Ermangelung des männlichen Pendants“, las ich mit fiebrigen Augen, „reproduzierten alle Unterarten der Indischen Schrecken Mädchen aus sich selbst heraus.“ Genial, wie ich fand.

Ich schaute auf die vielen noch wartenden Eierchen im Sand, die ich immer für Kot gehalten hatte und wie stecknadelkopfgroße Oliven aussahen. Ich fragte mich, warum wohl so viele Menschen dagegen wären, wenn wir uns klonen würden. Mir kam das Tabu auf einmal so absurd vor. Etwas zu kopieren schien jedoch schon immer heikles Thema zu sein. Ganz gleich, ob es sich nun um Gesellschaftsformen, Doktorarbeiten oder Gene handelte.

Behutsam hob ich den Deckel an, den ich aus zwei Spritzschutzsieben für Bratpfannen gebastelt hatte, und nahm die Wöchnerin behutsam heraus. Immer noch musste ich mich daran gewöhnen, dass ich Jils nach oben gebogenes Hinterteil nicht mit ihrem Kopf verwechselte, wenn ich sie ansprach.

„Na, Süße?“, sagte ich. „Du bist mir ja babytechnisch um einiges voraus, da könnte ich glatt neidisch werden.“ Es war rein rhetorisch gemeint, denn ich trug nicht wirklich einen Kinderwunsch mit mir herum.

Zögerlich hoben sich ihre Gliedmaßen und tasteten nach einem Weg in Richtung meines Ellenbogens. Ihre zarte Behäbigkeit und ihr Unbeholfensein wirkten beruhigend auf mich. Die Art, mit der Jil so dahinstrauchelte, schwankend, einen dünnen Zweig im Wind imitierend, kam mir entgegen. Ich fühlte etwas Verwandschaftliches. Vorsichtig hob ich sie an, darauf achtend, dass ich keins ihrer Beine ausriss, mit denen Jil an meiner Hautoberfläche festhakte, und setzte sie zurück auf den Brombeerast, auf dem sie sofort unsichtbar wurde. Dann verschloss ich den Glaszylinder mit dem Sieb und hüpfte freudig aus der Wohnung.

Obwohl Gitta und ich uns seit dem Tag, an dem mir ihr Sohn Bojan das Krabbeltier schenkte, noch nicht wieder verabredet hatten, freute sie sich, mich zu sehen.

„Für einen Schwimmbadbesuch ist es wohl noch zu kalt“, sagte sie und lächelte. „Was möchtest du?“

„Eigentlich weiß ich es nicht“, gestand ich. Ich traute mich nicht, ihr zu sagen, dass ich überglücklich war, nur weil mein Insekt Siebenlinge geworfen hatte. Gitta würde sich ekeln, Bojan hatte es vorausgesagt, und vergraulen wollte ich meine Nachbarin auf gar keinen Fall.

„Du siehst irgendwie anders aus als sonst“, sagte Gitta, als ich wortlos grinste.

„Anders?“

„Ein bisschen aufgelöst. Alles in Ordnung bei dir?“

„Ja, ja“, erwiderte ich.

„Willst du einen Kaffee? Ich mache mir gerade ein zweites Frühstück. In einer Dreiviertelstunde muss ich zur Zwischenschicht.“

„Gern“, erwiderte ich. Gitta lächelte, ging wie selbstverständlich ein Stück zur Seite und ließ mich ein.

Wir saßen in ihrer Küche. Sie trank Tee, ich Kaffee. Obwohl wir das zum ersten Mal taten, war mir unser Beisammensein vertraut, ähnlich wie vor einem Jahr auf der Wiese in Hainholz.

Nachdem wir eine Zeitlang mehr geschwiegen als geredet hatten, verschüttete ich aus Versehen Kaffee auf meinem Shirt. Sofort sprang ich auf und wollte in meine Wohnung, um mich umzuziehen, aber dann stand Gitta vor mir und musterte mich von oben bis zur Hüfte. Daraufhin sagte sie kurz angebunden „Warte mal“, ging in das Zimmer gegenüber und kramte einige Minuten in einem Schrank herum. Die Tür stand einen Spalt breit auf. Ich konnte sehen, wie sie Sachen herausnahm, begutachtete und auf den hellen Teppichboden fallen ließ. Direkt auf dem Fußende eines Möbelteils, von dem ich annahm, es war ihr Bett, stand ein offener Schuhkarton, aus dem etwas lila Glänzendes ragte. Ihr Bein stieß gegen die Tür, als Gitta sich bückte, und der Spalt wurde schmaler. Nun musste ich mich schon ziemlich recken, wenn ich ihren Bewegungen weiter folgen wollte. Ich stand auf, so, dass ich mich jederzeit abwenden und so tun könnte, als schaute ich lediglich in den Hof hinaus. Gitta spürte meinen Blick nicht, sie war zu beschäftigt und viel zu emsig bei der Sache. Ich hatte Zeit, meine Nachbarin im Schutz von zwei halbgeöffneten Türen zu beobachten. Ihre Körpersprache hatte etwas Kerniges, etwas, das einem Vertrauen einflößt. Wie Gitta dort in ihrem Zimmer in schneller Folge kniete, aufstand, sich wiederum bückte, leise vor sich hinfluchte, dann wieder kicherte und schließlich mit ihrem Oberkörper gänzlich im untersten Fach ihres Wandschrankes verschwand, belustigte mich. Als sie zurückkam, sah sie zerpflückt aus; die Haare standen wie elektrisiert vom Kopf ab.

Verlegen lächelnd hielt sie ein blaurotes Stoffpaket in ihren Händen und startete einen merkwürdigen Versuch, mir zwei abgelegte, aber, wie sie betonte, sehr schöne Holzfällerhemden ihres Mannes anzudrehen. Verschämt hielt sie mir die beiden Teile hin.

„Vielleicht stehen sie dir. Ich finde, sie unterstreichen deine burschikose Art.“ Ich rubbelte am Fleck meines Sweatshirts und lehnte das karierte Flanellpaket höflich ab. Aber irgendetwas an dieser Holzfällerhemden-Aktion bewegte mich doch, denn plötzlich verspürte ich den Drang, Gitta etwas Persönliches zu erzählen. Meine Einschulung fiel mir ein.