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Heinz-Joachim Fischer

Der Turm des Griechen

Roman

hockebooks

Samstag

Fünf Jahre später

1.
Ein 60. Geburtstag unter Freunden im Schatten des Vesuvs – Absagen und ein bedeutsames Geschenk

Der Geburtstag fiel auf einen Samstag. Das schien Anlass genug, wieder einmal zu feiern.

Pitagora Di Bene hatte in letzter Zeit wenig Grund dafür gesehen. Gewiss, die Familienfeste wurden in Ehren gehalten und im unveränderlichen Rhythmus der vorgegebenen Daten begangen. Dafür sorgte mit eiserner Sanftmut schon seine Frau Filumena, der niemand in der Familie darin zu widersprechen wagte, am wenigsten Pitagora selbst.

Weil nun aber schon sein 60. Geburtstag auf einen Samstag fiel, wollte Di Bene die Gelegenheit beim Schopfe packen. Also hatten er und seine Frau eine, wie ihnen schien, verlockende Einladung »zu einem ganz nach Wunsch mehr oder weniger langen Wochenende unter Freunden im Schatten des Vesuvs« ausgesprochen. Er wollte nicht sich in den Vordergrund schieben. Was hatte er für ein Verdienst daran, sechs Jahrzehnte nun vollenden zu dürfen? Um die Freundschaft ging es ihm. Und um die Freunde. Er wollte die Getreuen zusammenrufen, um sich scharen, sich am Anblick jener erfreuen, die ihm wohlwollten, denen er sein Wohlwollen geschenkt hatte. Jedweder Anlass wäre ihm dazu recht gewesen. Etwa auch ein Namenstag. Es gab aber nun keinen heiligen Pitagora; die Argumentation seines Vaters Giuseppe vor dem Pfarrer hatte noch keinen Eingang bei den zuständigen vatikanischen Stellen gefunden – geschweige denn einen zur Ehre katholischer Altäre erhobenen Myskelos, Zalenkos oder Charondas. Da Pitagora auch nicht seinem Vater mit der Feier am Tag seines Hilfstaufnamens Giuseppe am 19. März in den Rücken fallen wollte, konnte er in keinem Fall in diesen festlichen Gebrauch des Namenstages ausweichen. Aber nun traf es sich eben, dass der 60. auf den ersten Samstag im Frühling fiel.

Und wie es sich traf!

Als Pitagora Di Bene an diesem Morgen aufgestanden und im »Turm des Griechen« zu Torre del Greco bei Neapel auf die Dachterrasse gestiegen war, schien seine südliche Seele bis zum Zerspringen von Glück erfüllt. Er hätte eine Arie oder wenigstens ein neapolitanisches Fischerlied singen mögen. Doch der Gesang war nach locrischer Tradition nur seiner Frau gegeben.

Und zugleich ward sein Geist belehrt. Der Golf von Neapel mit den Inseln lag so klar und deshalb zum Greifen nah vor ihm, hinter ihm stieg der Vesuv mit einem anmutigen Rauchfähnchen so friedlich auf, dass er ein entschiedenes »Nein« nach Norden rief: hin zu dem deutschen Philosophen Kant, den in dunkler Nacht »der gestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir« unendlich faszinierten. Nein, die Sonne musste hell vom blauen Himmel strahlen, dann war die Welt göttlich. Da brauchte man gar kein Sittengesetz in sich mehr, um die richtige Weltanschauung zu gewinnen.

Leider stand es damit in der Republik gegenwärtig nicht zum Besten. Deshalb fehlten Pitagora Di Bene in letzter Zeit die Gründe zum Feiern. Der Sinn für Philosophie, die Achtung vor dem Philosophenkönig waren bedauerlicherweise geringer geworden. Das Volk gab sich immer mehr billigen Verführern hin. Es achtete nur noch unaufmerksam seiner, versagte ihm, dem Philosophen aus Großgriechenland, die Gefolgschaft. Ihm, der doch wusste, was zu seinem Besten – des Volkes natürlich – war. Er hatte es wie immer als Erster mit scharfem Riecher bemerkt. Von seinen sensibel bebenden Nasenflügeln zwischen Daumen und Zeigefinger war es ihm frühzeitig signalisiert worden, lange bevor seine Freunde dessen gewahr wurden. Aber er hatte das Wegrutschen der Zustimmung nicht aufhalten können. Er konnte nur noch in eindrucksvollen Reden nach der katastrophalen Wahlniederlage für die Partei unter seiner Führung diagnostizieren und konstatieren, dass sich das Volk geirrt hatte und bald diesen Fehler einsehen müsse. Wenn er, Pitagora, an diesem strahlenden Samstag die Chronologie der Ereignisse unvoreingenommen besah, fiel die Abkehr der Menge von der Philosophie in jene Zeit, da er, der Philosoph, die Höhen der Macht erklommen hatte.

Er war damals, vor fünf Jahren mochte es gewesen sein, ganz oben angekommen und hatte voller Zufriedenheit genossen, dass Platons Ideal erfüllt war. Die Philosophie hatte die Macht in der Republik übernommen, der Philosoph war König geworden. Vielleicht hatte er sich zu lange an dieser fast einzigartigen Konstellation in der Weltgeschichte erfreut. Denn seine Gegner missbrauchten den Moment, da der Weltgeist in dem Philosophen aus Großgriechenland den Thron eingenommen hatte, schändlich und begannen sogleich am Stuhl des »Lehrersohns aus Crotone«, wie sie verächtlich sagten, zu sägen. Sie behaupteten einfach frech, er, der Königphilosoph, verstünde nicht zu regieren, wisse gar nicht, wie man ein Land ordentlich verwalte, wie der komplizierte Apparat der Ministerien vernünftig zu steuern sei. Als ob das so entscheidend wäre, wenn nur der richtige Geist alle beseelte! Das hatte er auch immer wieder den Freunden, seinen Pythagoreern und den anderen in der Partei eingeschärft. Doch der Freunde wurden immer weniger. Sie taten wohl ihr Bestes, wenn auch immer mehr ohne seinen Rat. Gegen den Zeitgeist kamen sie nicht an. Zum Glück hielt die Philosophie selbst Trost für ihn bereit, auch wenn ihm zuweilen ein Ministerposten lieber gewesen wäre.

Solch ein Amt bekleidete nun sein ehemaliger Adlatus Raffaele Mastino. Und er bekleidete es gut, wenn man den Zeitungsberichten Glauben schenken wollte. Schließlich kam Mastino aus seiner Schule.

Da läutete auch schon das Telefon, und eine Sekretärsstimme meldete ihm, dass »Sie der Herr Minister zu sprechen wünscht«. Das konnte nur sein Raffaele sein, der ihm als Erster die herzlichsten und besten Glückwünsche sagen wollte, bevor er dann zu gegebener Stunde selbst erscheinen würde.

Schon kamen auch die »besten und herzlichsten Wünsche« in einem eindrucksvollen Wortschwall aus Raffaeles Mund. Reden konnte er, natürlich nicht so philosophisch und gebildet wie er, Pitagora, aber das war heutzutage auch gar nicht mehr so gefragt. Mastino traf den Ton von Effizienz und Leistung, obwohl die Bene bei dem Minister selbst noch nicht allzu viele Proben dieses Könnens hatte registrieren können. Vielleicht kam es heutzutage auch darauf gar nicht so sehr an. Man müsse in der Politik vor allem den richtigen Ton treffen, so sagte man ihm immer wieder. Das hatten auch seine Gegner in der Partei von ihm verlangt. Dann laufe die Melodie von allein weiter. Und Raffaele schlug auch jetzt in dem Gespräch mit ihm genau den richtigen Ton an, sodass es ihm das Herz wärmte. Vielleicht hätte Mastino noch ein Wort mehr des Dankes an ihn richten können, aber das hob er sich wahrscheinlich für seine große Rede am Abend auf.

Nanu, warum klang Raffaeles Stimme so belegt? Was? Ein großer Kummer? Heute an seinem Geburtstag? Wie, was? Ein Problem? Terminschwierigkeiten? Heute? Er wisse noch nicht, wann. Er wisse noch nicht, ob. Er rechne auf sein Verständnis, gerade wegen ihrer tiefen Freundschaft. Unter Freunden müsse man auch … Aber er werde alles tun … Und es sei noch nicht gänzlich aussichtslos …

»Wie du meinst«, reagierte Pitagora Di Bene ziemlich kurz auf Raffaeles gewundene Absage und legte auf.

Das durfte nicht wahr sein. Raffaele Mastino, sein unbedeutender Adlatus von früher, den er großgezogen hatte, erlaubte sich, Minister hin, Minister her, zu seinem 60. Geburtstag in seinem eigenen Haus, dem Turm des Griechen, nicht zu erscheinen. Donnerwetter!

Fehlte nur, dass Ferrante Malavita gleich anrief oder es gar mit einem Glückwunschtelefonat bewenden ließ. Nein, das würde der Baron nicht tun! Da war sich Pitagora Di Bene sicher. Malavita hatte sich ihm gegenüber immer korrekt verhalten, nachdem sie in der ersten Zeit, damals nach ihren Treffen auf dem Friedhof, aneinander Maß genommen hatten. Merkwürdig, es schien dem Baron offenbar nicht viel ausgemacht zu haben, dass er, Di Bene, in Rom und im ganzen Land an Macht einbüßte. Vielleicht war das diesem gar nicht so unrecht. So war Ferrante Malavita der Stärkere, zumindest nicht der Schwächere von beiden. Ja, das musste wohl Malavitas Kalkül gewesen sein. Denn bei irgendeiner Gelegenheit – nein, nicht bei irgendeiner, es war die offizielle Übernahme des Vorsitzes der »Edilmer«-Baugesellschaft durch Malavita – hatte ihm der Baron zu später Stunde gesagt: »Sehen Sie, Presidente! Das ist der Segen der Tat. Ich bin ein Mann der Tat. Nicht vieler Worte. Sie hingegen verlassen sich zu sehr auf Worte. Wo wären wir etwa, wenn Corrado Spina immer noch mit seinen Artikeln unsere Taten zum Wohl der Bürger in den Schmutz ziehen könnte? Wenn dieses Magazin den segensreichen Kreislauf tätiger Politiker und Unternehmer vergiften könnte! Glauben Sie mir! Ich weiß nicht, welch hilfreiche Hand uns von ihm befreit hat! Ich will es gar nicht wissen. Vielleicht er selbst aus beschämter Einsicht … Vielleicht andere … Was vermag es gegen die Tat? Der Verdacht fiel auf viele. Natürlich auch auf Sie. Was hat es Ihnen geschadet? Natürlich auch auf mich. Was hat es mir ausgemacht? Es gibt immer Neider der Tat. Aber wer weiß, wofür Ihre Philosophie noch gut ist. Wenn Sie von mir nur nicht verlangen, ihr zu folgen, will ich mir gern von Ihnen mal die eine oder andere Geschichte anhören. Das ist heute zum Zeitvertreib ja Mode.«

So etwa hatte Ferrante Malavita damals gesprochen. Was würde er heute sagen?

Auf einmal fielen Di Bene auf der Dachterrasse seines Turms an diesem sonnigen Frühlingsmorgen auch andere Absagen ein. Absagen, die er zuerst gleichgültig hingenommen hatte, mit dem Gleichmut des erfahrenen Politikers, dem tausend gute Gründe und zehntausend Ausreden für das Verpassen eines Termins bekannt sind.

Einer besaß sogar die Kühnheit, die wunderbare Lage seines Turms am Rande von Torre del Greco als Grund für eine Absage auszugeben. »Wissen Sie, verehrter Presidente«, hatte ihm der Abgeordnete, Vorsitzender des Finanzausschusses der Parlamentskammer, erklärt, »meine Frau erwartet ein Kind und sie träumte, der Vesuv würde wieder mit einem gewaltigen Erdbeben ausbrechen, und es bereitete ihr unerträgliche Angst, mich dort am Abhang des Vulkans zu wissen. Ich habe vielleicht selbst daran schuld, weil ich ihr die herrliche Position Ihres Anwesens in glühenden, vielleicht zu glühenden Farben geschildert habe. Aber nun ist es geschehen, und sie lässt mich nicht zu Ihnen nach Torre del Greco. Sie verstehen, wenn meine Frau nicht in anderen Umständen wäre, könnte ich es ihr vielleicht ausreden und versichern, dass es bei Ihnen ganz ungefährlich ist. Aber so …« Und dann hatte der Abgeordnete hinzugefügt, Pitagora Di Bene wusste nicht, ob aus Scherz oder aus Bosheit: »Na, Ihnen wird ein Erdbeben, mit oder ohne Vesuv nichts ausmachen. Das letzte große von 1980 hat Ihre Karriere ja gewaltig gefördert. Na, nichts für ungut. Es wird schon nichts passieren. Das könnten wir uns auch gar nicht mehr leisten bei unserer angespannten, was sage ich, katastrophalen Haushaltslage. Also, Presidente, diesmal ohne mich. Beim nächsten Mal bin ich wieder dabei.«

Ihm, Di Bene, war gar nichts anderes übrig geblieben, als der Frau des Vorsitzenden des Finanzausschusses alles Gute zu wünschen, ganz ohne vesuvische Gefahr.

Vielleicht hätte er das Freundesfest in seiner Sommervilla über Crotone am Ionischen Meer geben sollen, zweifelte Di Bene plötzlich. Da wäre die weite Entfernung, fast 400 Kilometer mehr als nach Neapel, ein plausibler, nicht anfechtbarer Entschuldigungsgrund für die römischen Politiker gewesen, und ihm jede Enttäuschung erspart geblieben. Früher, ja, früher, hätte man ihm wohl für seine Freunde ein Sonderflugzeug von Rom nach Kalabrien zur Verfügung gestellt, nach Lamezia Terme, schon damit dieser eigens und aufwendig angelegte Flugplatz mal benutzt würde. Da hätte er die Bewunderung der Kalabresen huldvoll entgegennehmen können. Schon der große Cäsar hatte sich weise begnügt: Lieber in einem Alpendorf der Erste als in Rom der Zweite zu sein. Das galt doch auch für die kalabresische Stadt Crotone. Pitagora ließ auf einmal den Kopf hängen, trotz der Sonne am blauen Himmel.

»Kopf hoch!«, sagte eine freundliche Stimme hinter ihm. Es war seine Frau Filumena, die ihm den Kaffee brachte, ihren einzigartigen Kaffee. »Sechzig ist kein Alter, mein Lieber. Da haben wir noch einige schöne Jahre vor uns, wenn Gott will. Ich habe dir einen dicken Schal gebracht. Du wirst dich sonst erkälten, wenn du so leicht bekleidet hier oben sitzt. Die Frühlingssonne trügt. Ein großer Tag bricht für dich an, Pitagora.«

Als Pitagora seine Frau Filumena umarmte, hörten sie laute Rufe. »Die Torte, die Torte!«

»Wieso jetzt schon?«, fragte Filumena. »Ich habe sie erst für heute Abend bestellt. Sie steht mir jetzt nur im Wege herum. Und, außerdem, bei der Sonne!«

»Sie bringen die Torte«, riefen die Dienstboten. »So eine große Torte haben wir noch nie gesehen.«

Dabei hatten die Dienstboten noch gar nicht die Torte selbst in Augenschein nehmen können, sondern nur die Verpackung, ein Würfel aus weißem Styropor, mit mehr als einem Meter Kantenlänge.

»Aufmachen!«, befahl Filumena und hatte schon ein Messer in der Hand, während Pitagora nach einem Blick darauf sagte: »Von Ferrante Malavita. Das kann nur von dem Baron sein.«

So war es. Der Präsident der »Edilmer« hatte ein Kunstwerk der neapolitanischen Zuckerbäckerzunft liefern lassen: Sein Geschenk zum 60. Geburtstag von Pitagora Di Bene, »meinem untrennbaren Freund«, wie auf der Karte stand. Die Torte stellte maßstabsgetreu und sehr realistisch das Geschäftszentrum von Neapel dar. Doch in der Mitte erhob sich – Disneyland hätte es nicht fantasievoller hinstellen können – Pitagoras Villa, der »Turm des Griechen«, und überragte – nicht maßstabsgetreu, doch symbolisch – alle Bürotürme und Verwaltungshochhäuser. Und auf der Spitze des Griechenturmes und der neapolitanischen Wolkenkratzer steckten kleine Kerzen, zweifellos 60 an der Zahl. Darauf würde man sich bei dem Rechtsanwalt Ferrante Malavita verlassen können.

»Das ist aber eine schöne Überraschung!«, meinte Filumena anerkennend. Und Pitagora fügte hinzu: »Ja, ganz aus dem Geist der Freundschaft.«

2.
Geld, das man nicht hat, ist teurer als jenes, das man hat – Der Ruin der Ranelli

Gianni Corte stand am Fenster des kleinen Konferenzraumes und blickte in den Nebel dieses grauen Märztages hinaus. Es war Samstag, der letzte im Monat. Ganz gegen die Tradition, heilig im Konzern und in der Familie seit des Patriarchen Gabriele Ranellis Zeiten, war die Führungstagung in der obersten Etage des dreistöckigen Verwaltungshauptgebäudes des Ranelli-Konzerns in Ferrara auf das Wochenende gelegt worden.

»Wir können uns nicht mehr schlechte Gewohnheiten leisten. Dafür kostbare Arbeitstage zu nehmen und die leitenden Kräfte aus den Betrieben abzuziehen, das geht nicht«, hatte der »Kommissar« kurz gesagt und damit jede Diskussion abgeschnitten. Und der »Kommissar« hatte nun das Sagen. Dieser vom Ruf eines knallharten Sanierers umstrahlte Manager, ein gewisser Ambrogio Proli, stammte aus der Nachbarprovinz Ravenna, mischte jedoch in sein Italienisch häufig amerikanische Ausdrücke und versah zuweilen einige Worte seiner Muttersprache mit englischem Akzent, zum Zeichen dafür, dass er an einer Universität in den Vereinigten Staaten studiert hatte und deshalb in den Ranelli-Konzern Leistung und Effizienz einziehen müssten. Dieser Ravennate war von den Banken und staatlichen Kontrollgremien zum öffentlichen Kommissar und Zwangsverwalter der privaten Familien-Holding bestellt worden. Denn der Ranelli-Konzern hatte Konkurs anmelden müssen.

Gianni Corte war allein und starrte aus dem Fenster. Nein, der Frühling war hier noch nicht angebrochen. Grau wirkte alles, undurchsichtig grau, draußen wie drinnen. Er blickte auf die Uhr, eine einfache japanische, mit Digitalanzeige und Rechner, den er wegen der winzigen Tasten nie benutzte, der jedoch den Angestellten sein Kostenbewusstsein signalisieren sollte. Sein teures Prachtstück hatte er irgendwann in den vergangenen Jahren abgelegt und dieses schwarze japanische Ding dagegen eingetauscht. Pracht am Handgelenk erschien ihm nicht mehr zeitgemäß. Das war in den Monaten, als er unmerklich in die Rolle des ersten, offiziellen Sprechers der Ranelli-Holding hineinwuchs. Zuerst hatte ihm Cesare Terra diese Funktion eher ironisch überlassen, gleichsam als schmückendes Beiwerk seiner eigenen Führungskünste.

Das Sprechen für Ranelli war aber immer wichtiger geworden, fast entscheidender als das Führen. Man brauchte mehr und mehr Fürsprecher und immer weniger Steuermänner. Denn der Kurs des Familienflaggschiffs wurde immer stärker von anderen bestimmt. Weshalb? Lag es daran, dass sich Cesare Terra langsam aus den Führungsaufgaben zurückzog, sie – und nicht nur das Sprechen – Gianni Corte überließ und dieser das Schiff nicht gut zu steuern wusste? Oder stieg der Admiral deshalb von der Kommandobrücke herunter, weil ihm das Ausführen fremder Befehle nicht gefiel und er deshalb die Lust an der Führung verlor? Nicht nur zu Gianni Cortes Gunsten muss es gesagt sein, sondern vor allem, um der nachrichtlichen Wahrheit die Ehre zu geben. Unter Cesare Terra, dem Admiral, schrumpfte das Imperium.

Gianni Corte sah auf der Uhr, dass es noch Zeit bis zum Beginn der Familienkonferenz war.

»Wir fangen mit den Eigentümern an«, hatte Ambrogio Proli aus Ravenna entschieden und hinzugefügt: »Mit den Eigentümern von Schulden, um genau zu sein.« Boshaft oder sachlich, wie man es verstehen wollte.

Corte war der Erste und bisher Einzige der Familie. Die anderen würden noch kommen. Nicht alle zehn wie früher. Cesare hatte schon abgesagt. Er bringe es nicht übers Herz, hatte Adina ihn entschuldigt, den Niedergang des Familienunternehmens, das Werk des großen Patriarchen Gabriele Ranelli, zu besiegeln, und sie vielleicht auch nicht. Sie lege das Schicksal, so Adina etwas weihevoll, in Antonios und seine, Giannis, Hände. Nun, da war nicht mehr viel zu legen, nur noch wenig zu entscheiden. Nicht das Schicksal nahm seinen Lauf, sondern die mathematisch bestimmte Entwicklung von steigenden, ungetilgten und untilgbaren Schulden. An den Ranelli hatte sich die banale Wahrheit erfüllt: Geld, das man nicht hat, ist immer teurer als jenes, das man hat.

An diesem simplen Grundsatz war Cesare Terra gescheitert.

»Und wir alle mit ihm«, resümierte Gianni, immer noch allein, während er weiter in den langsam sich lichtenden Nebel starrte. Gut, dass der Patriarch das alles nicht mehr erleben musste. Er wäre schön enttäuscht gewesen, vor allem von Cesare, seiner großen Hoffnung. Der Admiral hatte das Maß verloren. Er hatte nicht mehr wie der Patriarch die Geduld aufgebracht, das Unternehmen langsam wie einen starken Baum wachsen zu lassen. Diesen Vergleich stellte einmal Antonio auf, mit den Einsichten aus seinem globalen Holzreich. Da war es aber schon zu spät. Sein Ehrgeiz trieb Cesare dazu, aus dem Familienkonzern ein immer größeres Imperium zu schaffen, in dem die Sonne nicht unterging.

Nicht einmal die Erfahrungen aus der Operation »Belmondo«-»Mondobello«, damals, genau vor fünf Jahren, hatten ihm die Grenzen aufgezeigt und ihn eines Besseren belehrt. Es wäre eine angenehme Lektion gewesen. Denn die Ranelli-Holding hatte dabei zwar ihre Kaufhäuser verloren, das Ganze hieß nun nicht »Bellissimo«, sondern »Mondissimo«. Aber für ihre Mehrheit – Gianni Corte lachte kurz auf bei der Erinnerung an seine doppel- und dreibödigen Verhandlungen in Rom – hatten sie einen schönen Batzen Geld gewonnen. Pitagora Di Bene hatte schließlich gesiegt. Was man so siegen nennt: Er hatte ihnen, als sie die Mehrheit der Aktien präsentierten und zur Probe Gerüchte über eine bevorstehende Taufe von »Bellissimo« ausstreuten, mehr oder weniger verhohlen gedroht, so wie es Cesare Terra vorausgesagt hatte.

Er, Di Bene, würde auf Einhaltung des Vertrages bestehen, dass keiner der Partner, weder von »Belmondo« noch von »Mondobello«, die Mehrheit besitzen dürfe, und ihnen notfalls die Aktien gerichtlich konfiszieren lassen. Sie könnten auch nicht, falls sie ihm eins auswischen wollten, ihre überzähligen Aktien an »Mondobello«, das heißt an die andere Partei, verkaufen. Das habe er geregelt. So seien sie gut beraten, wenn sie die Mehrheit in eine neue Gesellschaft, eben »Mondissimo«, doch unter der Kontrolle seiner, Di Benes, Partei einbrächten. Er werde dann beim Preis nicht kleinlich sein. Das war der Präsident dann auch nicht. Für eine Wahnsinnssumme gaben sie ihre Anteile wieder her. Es entstand die staatliche »Mondissimo«-Kaufhauskette, um, wie es hieß, im nationalen Interesse die essenziellen Bedürfnisse der Bürger zu günstigen Preisen zu befriedigen, und Di Bene und seine Parteifreunde bestimmten darüber.

Mit dem Reingewinn aus dieser Operation – und Gianni Corte rechnete sich das als Hauptverdienst an – hätten sie frühzeitig an die Sanierung der Schulden der Ranelli-Holding gehen können und müssen. Aber der Admiral setzte noch besessener auf Expansion, »nun gerade«, wie um ihm oder der Familie gegenüber die vermeintliche Niederlage mit der »schönen Welt« auszumerzen. Die Banken sahen der zunehmenden Verschuldung des Ranelli Konzerns relativ gelassen zu. Entweder gelang Cesare Terra, den Großkonzern weiterzuschmieden, so überlegten deren Chefs, oder die Ranelli-Holding fiel ihnen mit ihren vielen Schmuckstücken zu. Substanz und Sicherungen waren für den Staat offenbar genügend vorhanden.

Antonio betrat den Raum, gefasst und mit einem sicheren Lächeln auf den Lippen.

»Gianni, mach nicht so ein ernstes Gesicht! Wie zu einer Beerdigung!«, ermahnte er. »Was willst du? Familienimperien passen einfach nicht mehr in die Zeit. Der Staat und die multinationalen Gesellschaften sind übermächtig. Cesare ist einem Anachronismus nachgejagt. Einem solchen Unternehmen unterlaufen einfach zu viele Fehler, weil die Familienmitglieder entscheiden wollen. Wenn in einer Generation das Wunder geschieht, dass man nicht nur Fehler vermeidet, sondern grandiose Erfolge erzielt, dann mit Sicherheit nicht mehr in der nächsten. So viele Glücksfälle gibt es nicht. Die anderen haben einfach mehr Auswahl an Führungspersonal, mehr Einsicht und auch mehr Geld, wie wir wissen. Also sei froh, dass wir die Ranelli-Holding nicht noch weiter ruinieren können. Wir nicht, und Cesare nicht.«

Antonio schien den Verlust schon verschmerzt zu haben. Mit seinem globalen Holzreich im Rücken hatte er gut reden.

»Übrigens, Cesare hat mich angerufen. Von unterwegs. Von einer seiner Abenteuerexpeditionen. Diesmal macht er eine ganz allein. Auf seinem Segelboot. Dem kleineren. Er ist eben eine Kämpfernatur. Er möchte die wilden Kaps bezwingen. Dort, wo die anderen Seefahrer früher gescheitert sind, jetzt zuerst am Kap der Guten Hoffnung. Nun, du weißt, man kann ihm nicht reinreden und nichts ausreden. Seitdem er nicht mehr Konzerne schmieden kann, widmet er sich seinen Abenteuern, um sich zu beweisen. Er meint, man könne nur noch gegen die Natur ehrlich kämpfen. In unserer Gesellschaft sei das nicht mehr möglich, ehrlicher Kampf. Vielleicht hat er recht. Hoffentlich verkraftet es Adina.«

»Nein!«, sagte Adina hinter ihnen. »Ich verkrafte es nicht.«

Adina hatte unbemerkt von den beiden den Raum betreten. »Ich wollte euch nur sagen, ich gehe wahrscheinlich ins Kloster. Die Kinder sind groß und längst aus dem Haus. Was soll ich hier in Ferrara hocken und darauf warten, dass Cesare von seinen abenteuerlichen Expeditionen zurückkommt oder vielleicht eines Tages nicht mehr? Ich weiß nur nicht, ob ich in ein christliches Kloster eintrete. Aber ich glaube, das geht, wenn wir uns irgendwie offiziell trennen und uns zu irgendetwas verpflichten. Oder in ein buddhistisches. Das fasziniert mich sehr. Ich will mich noch einmal nützlich machen. Außerdem muss ich mich selbst finden. Ich habe nur für Cesare und die Ranelli gelebt«, meinte Adina vorwurfsvoll. »Hier, Antonio, hast du die Vollmacht, für meinen Anteil zu entscheiden. Du hast in Gianni einen guten Helfer.« Adina sagte es ohne Betonung und verabschiedete sich. »Nein, nein, die Beerdigung könnt ihr ohne mich abhalten.«

Gianni und Antonio sahen sich an. Sie waren jetzt mehrheitsfähig. Das heißt, Antonio. Denn ohne Daniela galt Gianni immer noch nichts, jedenfalls nichts vor dem strengen Zivilrecht. Und Daniela war noch nicht erschienen, obwohl sie versprochen hatte, pünktlich da zu sein. Gestern Abend hatten sie noch miteinander telefoniert, Daniela in Mailand, Gianni in Ferrara. Daniela war in letzter Zeit häufiger in Mailand – weniger, um ihm Gesellschaft zu leisten, als eigene Aktivitäten zu entfalten, wie sie sagte. Welcher Art diese Unternehmungen waren, verriet sie nicht. Aber da sie immer guter Stimmung und ausgeglichen war, hatte Gianni nie genauer gefragt.

Antonio und Gianni schauten im selben Moment auf die Uhr.

»Jetzt wäre es Zeit. Sie werden Schwierigkeiten mit dem Nebel haben«, bemerkte Antonio entschuldigend. »Die Zeit ist vorbei für Familienimperien. Man hat alle, die ganze Welt gegen sich. Das hat Cesare nicht bedacht. Man kommt gerade so mit einem kleinen Betrieb durch«, fügte Antonio mit freundlichen Augen hinter dicken Brillengläsern hinzu.

»Kleiner Betrieb ist gut«, nahm Gianni die Anspielung auf. »Dein Holzreich ist recht stattlich. Gut, dass du es aus der Holding ausgegliedert hast. Sonst wäre es jetzt auch weg.«

»Und du deinen Spielzeugladen. Den hast du in jedem Fall gerettet. Na, vielleicht bleibt uns noch ein bisschen mehr. Zur Pasta wird es schon noch reichen«, bemerkte Antonio.

Gianni überschlug kurz, wie viel Galgenhumor dem beigemischt war, und bemerkte nur: »Hoffentlich!«

Mit einem Schlag kamen alle anderen. Benvenuta mit ihrem dritten Mann, Camilla mit ihrem neuen Freund, Antonios Frau, immer noch die erste, und der Ravennate mit zwei distinguierten Herren, die er als Rechtsanwalt und Notar vorstellte.

»Wir wollen gleich Nägel mit Köpfen machen«, erklärte Ambrogio Proli dazu.

Als sie sich um den Konferenztisch setzten, stellte Gianni fest, dass sie wieder zehn waren, zehn wie früher, nur in ganz anderer Besetzung.

Einen Moment lang schien es unentschieden, wer den Vorsitz in dieser Zehnerrunde übernehmen sollte. Eigentlich wäre er Antonio zugefallen, aber der hatte sich nie nach so etwas gedrängt. Schon gar nicht jetzt, wo es eben darum ging, wer das Kommando wirklich in die Hand nehmen würde. Es gab auch nur einen kurzen Moment der Unschlüssigkeit. Dann begann wie selbstverständlich der Manager aus Ravenna, als ob die Frage nach dem Kommando schon entschieden sei:

»Meine Damen und Herren! Sie wissen, wozu wir hier sind. Ich muss nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich weiß, es wird für Sie schmerzlich sein, den notwendigen Entscheidungen zuzustimmen. Aber ich fürchte, es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben. Nein, ich hoffe, dass Sie erleichterten Herzens zustimmen«, Ambrogio Proli machte eine Pause, »den Vorschlägen zur Rettung, nun, nicht mehr der Ranelli-Holding. Da ist nicht mehr viel zu retten, zumindest nicht von dem, was einmal dieser stolze Konzern war. Aber zur Rettung eines Restvermögens für Sie. Ich habe Ihnen dafür einen sehr honorigen Vorschlag zu unterbreiten, der schon so weit wie möglich Ihre Interessen berücksichtigt. Das heißt, er ist nicht mehr verhandlungsfähig. Jedenfalls nicht mehr zu Ihren weiteren Gunsten.«

Lauter Protest erhob sich.

»Werden wir noch unsere Villen halten können?«, fragte Benvenuta, und der neue Freund von Camilla machte ein langes Gesicht.

»Sie werden mit Sicherheit nicht verhungern«, bemerkte Ambrogio Proli etwas spöttisch. »Was vielleicht Dottor Corte die Zustimmung erleichtern wird – das heißt, seiner Frau Daniela, wenn keine Vollmacht vorliegt … Bedauerlicherweise sind mir in den letzten Tagen Hinweise aus den Kreisen der Mailänder Staatsanwaltschaft hinterbracht worden. Moment, nein, nicht der Mailänder … Da war etwas anderes. Richtig, da hatte ein Kommissar … Oder waren es doch die Mailänder? Egal, jedenfalls sei es bei der Operation damals, Moment, wie hießen die Gesellschaften? Ja, hier habe ich die Notiz, ›Belmondo‹-›Mondobello‹, hübsche Namen. Ja, das war es. Damals sei es, so lautet die Notiz, zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Sie ziehen die Stirn kraus, Dottor Corte?«

Gianni war nur bewusst, dass er sich am rechten Ohrläppchen gezupft hatte.

»Ganz recht, Ihr Name fiel dabei. Es handelt sich nur um kleine Beträge. Ein paar Tausend Mark. Nichts im Vergleich zu den Summen, um die es in Wirklichkeit ging. Aber eben leider ist es zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft gekommen. Buchprüfung bei irgendeiner Partei oder Selbstanzeige. Was weiß ich. Vielleicht hat auch irgendwer gemeint, das sei selbstverständlich erlaubt gewesen, und hat es einfach so dahingesagt. Weil es doch alle so machen. Aber nach dem Strafgesetzbuch ist es ein Verstoß gegen das Parteienfinanzierungsgesetz, oder für Sie, aktive Bestechung.«

»Aber ich bitte Sie!«, sagte Gianni, beruhigt, dass es nicht um die gesamte Operation von damals ging; diese Wahnsinnssumme zurückzahlen zu müssen, das würde allen das Genick brechen. »Aber das war doch ganz normal, ist es immer noch. Allgemeine Praxis. Jeder hat gegeben und jeder hat genommen. So war nun mal das System. Das erscheint mir doch lächerlich. Ist es denn heute anders, Dottor Proli?«

»Das mag schon sein oder nicht so sein«, entgegnete der aus Ravenna. »Gewiss, lächerliche Beträge! Aber vielleicht erleichtert es Ihnen die Entscheidung.«

3.
Corrados vier Frauen treffen sich – Staatsanwältin Tiziana und Star-Journalistin Diana wittern neue Beute

Es war kein Zufall.

Arianna hatte alles eingefädelt.

Ruhig saß sie nun in ihrem Arbeitszimmer hinter der Bar »Margherita« und wartete an den Apparaten.

Dass an diesem Samstag, dem ersten im Frühling, einem in Rom schon angenehm warmen Märztag, sich vier Frauen trafen, wäre nach allen Regeln des Lebens – »wie es so spielt«, aber für Arianna war das Leben kein Spiel, und am allerwenigsten an diesem Abend – nicht gänzlich unmöglich gewesen, hätte jedoch als unwahrscheinlich gelten müssen. Denn diese vier Frauen verband nicht das Leben, sondern der Tod.

Genauer, ein Toter brachte sie zusammen: Corrado Spina, der vor fünf Jahren im März sein Leben mit einem gewaltsamen Tod beendet hatte, wie es damals allgemein und zweideutig hieß, ermordet worden war, wie Arianna nie gezweifelt hatte. Und deshalb hatte sie ihren Faden nie fallen lassen, die Überzeugung, dass Corrado, in gewissem Sinn ihr Corrado, von fremder Hand getötet worden war, bewusst und vorsätzlich, und dass daher nicht nur diese fremde Hand eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden müsste, sondern auch der diese Hand lenkende und diese Tat verantwortende Kopf. Arianna war sicher, dass Kopf und Hand nicht einer einzigen Person gehörten.

Arianna hatte – bildlich und in übertragenem Sinn gesprochen – diesen Faden fünf Jahre lang unverdrossen durch das Labyrinth gezogen, immer unverzagt hinter sich her, im Vertrauen darauf, dass sie ihn eines Tages jemandem zu gezielter Verwendung übergeben könnte – eines Tages nämlich, wenn ihr die fremde Hand und der verantwortliche Kopf nicht nur bekannt geworden waren, sondern so hinreichend vertraut, dass die Urheber des Mordes auch nach den Maßstäben einer nicht nur privaten, sondern gerade öffentlichen Gerechtigkeit zu verdächtigen, zu belasten und zu verurteilen waren.

Dieser Tag war gekommen, und deshalb hatte Arianna dieses Treffen angeregt.

Ihr Vater Roberto schaute zur Tür herein und fragte ganz überflüssig: »Bist du noch allein?«

Die fünf vergangenen Jahre schienen ihr nicht zu lang, weder im Rückblick noch waren sie ihr im Verlauf unerträglich vorgekommen. Im Gegenteil. Sie hatte eine große Lebenszuversicht aus der Überzeugung gezogen, dass Corrados Tod nicht umsonst, nicht sinnlos sein dürfe, dass irgendwann jemand dafür büßen, den durch einen Mord verletzten Sinn eines Lebens wiederherstellen müsse, dass Schuld und Sühne sich begegnen müssten. Ariannas Glauben und Gefühle Rache zu nennen, wäre einer Verletzung ihres fast kindlichen, einfachen und reinen Weltbildes gleichgekommen. Wie anders hätte ihre Wunde heilen können, als dass eines Tages »Hand« und »Kopf« ihr Unrecht einsähen und jenes Leid, das sie anderen, nicht nur ihr, zugefügt hatten, auf sich selbst nähmen? Dass es so kommen müsse, dessen war sich Arianna in all der Zeit sicher.

Sie lebte zudem in der Gewissheit, dass ihre Krankheit vor dem langsamen Werk der Gerechtigkeit Respekt haben müsse und ihr so viel Zeit lassen werde, auch der Justiz mithilfe des leitenden Fadens den Weg zu ihrem Ziel anzugeben. Nur dank dieses festen Vertrauens von Anfang an war sie damals nicht zusammengebrochen, hatte sich nicht hineinfallen lassen in den körperlichen Verfall, sondern die Krankheit in die Schranken gewiesen. So ähnlich stellte Arianna es sich mit festem Verlangen auch für jene vor, die an Corrados Tod Schuld trugen. Sie würde die Schuldigen wegen des sträflichen Tuns in die Schranken weisen, zu guter Letzt in jene des Gerichts.

Nur dank dieser Zuversicht hatte sie damals das Angebot des Obersten angenommen, in dessen Dienst mitzuarbeiten und als Mitgift den Schatz des o.k.-k.o.-Nachrichtenmagazins aus Politik, Wirtschaft und Kultur einzubringen. Dem freundlichen Oberst hatte sie den ganzen Schatz in Aussicht gestellt, doch im geschickten Spiel mit den Computern verhielt sie sich so wie Scheherazade in den tausendundein Nächten. Immer hatte sie noch etwas, was sie zu enthüllen wusste. Und sie gewann, die legendäre Märchenerzählerin übertreffend, immer neue Erkenntnisse hinzu, sodass Arianna als wertvolle und geschätzte Mitarbeiterin des Dienstes den Oberst in seinem Bereich bald so berühmt machte wie Corrado Spina als Chef des Nachrichtenmagazins. Vielleicht sogar noch etwas bedeutender, weil der Oberst bei Weitem nicht so viel preisgeben musste von seinem Wissen, wie es Corrado mit den Publikationen von o.k.-k.o. aus journalistischem Antrieb tun wollte. Dieses römische Magazin o.k.-k.o. gab es freilich nicht mehr. Der Kopf, Corrado Spina, war nach der Enthauptung nicht zu ersetzen gewesen.

Arianna tat aber so, als ob sie im selben Metier, mit demselben Eifer und derselben Findigkeit fortfahre, nur mit einem anderen Arbeitgeber, eben jenem Oberst, der aufrichtig und schützend zu ihr hielt. Dennoch befriedigte sie ihr neuer Dienst nicht so wie die Arbeit für Corrado. Der Oberst war eben nicht Corrado, und der Dienst schien ihr eher ein Informationsgrab. Jedenfalls kamen ihr höchst selten Auswirkungen ihrer Erkenntnisse zu Ohren, während das Nachrichtenmagazin geradezu ein öffentlicher Marktplatz voller Leben gewesen war, ein Forum von antiker Bedeutung, auf dem wichtige öffentliche Angelegenheiten mit Ernst verhandelt wurden, das sie oft genug in seinen Strudel hineingerissen hatte, mit Corrado in glücklichen Stunden, aber eben auch zu jenem furchtbaren Unglück.

Aber es ging Arianna nicht mehr um Glück oder Unglück. Sie wollte vielmehr die zarten Fäden ihrer Erkenntnisse über den Mord an Corrado zu einem Strick flechten und daran – das war ihr bald klar – Ferrante Malavita, den Baron und Rechtsanwalt in Neapel, und seine helfenden Hände, und in weiterem Sinn Pitagora Di Bene aus deren Revier heraus vor die Schranken eines Gerichts ziehen. Dabei verfolgte Arianna jedoch nicht den Plan, wie ein Kriminalkommissar die Indizien für eine Mordanklage zusammenzutragen. Sie sah bald, dass die Mörder viel mehr Mühe als auf den Mord darauf verwandt hatten, die Spuren des Verbrechens zu verwischen, falsche Fährten zu legen, deutliche und widersprüchliche, sodass sich die Wahrheit auflösen musste in ein nie fassbares Gebilde von lauter Schemen.

Also hatte Arianna beschlossen, so viel Beweise illegalen oder auch nur vorschriftswidrigen Verhaltens der des Mordes Schuldigen zusammenzutragen, dass damit von mutigen Staatsanwälten ein Verfahren eröffnet und Anklage erhoben werden könne. Nicht mit der offenen Wucht einer Mordanklage sollten diese scheinbar ehrenhaften Männer konfrontiert werden. Dagegen sich zu wehren, mochte ihnen wegen des ungeheuerlichen Vorwurfs leicht fallen.

Nein, Arianna wollte diesen »Ehrenhaften« zusetzen mit den vorsichtig in der Presse lancierten Vorwürfen, sie hätten sich Unregelmäßigkeiten erlaubt zum Schaden aller Bürger, zu ihrem eigenen Nutzen, gewisse Unregelmäßigkeiten, die Annahme von Geldern etwa, was nicht anders als strafbare Bestechung zu nennen, Missbrauch ihrer Stellung, was nicht anders als illegale Erpressung im Amt zu brandmarken, Hilfe für die Partei, was nicht anders als sträflicher Verstoß gegen das Parteienfinanzierungsgesetz anzuprangern wäre. Mit dem stets wiederholten Hinweis auf ein altes, nur gewendetes lateinisches Wort: Was unten durchgehen mag, muss oben bestraft werden.[25] Arianna wollte die politische und bürgerliche Existenz unterhöhlen, weil einem Politiker und einem Bürger nichts Schlimmeres geschehen kann, als dass plötzlich das Politische oder das Bürgerliche zusammenbrechen und sie nackt, ohne Kleider, weiterhin existieren müssen.

In ihre Gedanken und Pläne weihte Arianna niemanden ein außer Costanza. Sie waren mit der Zeit Freundinnen geworden. Da Costanza für das Feste, Verlässliche geschaffen war und die Erinnerung an Corrado nicht Zwietracht zwischen ihnen schuf, wuchsen beide in dieser Freundschaft. Costanza empfand es als Unrecht, dass die Behörden Corrados Tod als Selbstmord deklariert und sich damit offenbar von der Suche nach den Mördern dispensiert hatten. Als noch größeres Unrecht sah sie an, dass mit der Zeit Corrados Selbst- oder Fremdmord in ein vages Dunkel der Ungewissheit geschoben wurde, als ob seine zweifelhafte Tätigkeit als Chef dieses mysteriösen Nachrichtenmagazins – immer geheimnisvoller wurde alles – eine gerechte Strafe, wie auch immer, gefunden habe.

Man hatte Costanza immer wieder danach gefragt, ob ihr Mann Feinde gehabt habe und welche. Darauf konnte sie nur erwidern, man erhalte eine Antwort darauf am besten durch die gründliche Lektüre des o.k.-k.o.-Magazins. Im privaten Bereich fielen ihr dazu keine Namen ein, zumindest, wenn ihr selbst oder gar Arianna das Motiv Eifersucht erspart blieb. Doch auch dafür schienen der Fantasie bald keine Grenzen mehr gesetzt. In diesem Zusammenhang konnte sie jedoch auf einen Blumenstrauß verweisen, den ihr Corrado am Vorabend seines Todes geschenkt und von dem sie die verwelkten Blütenblätter getreulich aufbewahrt hatte.

Eines Tages berichtete ihr Arianna, sie sei sicher, dass ein gewisser Ferrante Malavita, Präsident eines neapolitanischen Baukonzerns, die Hauptverantwortung für Corrados Ermordung trage; der Name sagte Costanza nichts. Der bekannte Politiker Pitagora Di Bene hingegen habe daran ein nicht geringes Interesse gehabt. Costanza nahm alles erleichtert, doch ohne Befriedigung auf. Darüber hinaus hätten diese beiden, so Arianna, der Politiker und der neapolitanische Rechtsanwalt, die Methoden der Korruption zum System erhoben, und dafür habe sie eine solche Fülle von belastendem Material, dass nun die Stunde der Gerechtigkeit schlagen müsse. Costanza nickte dazu.

Sie hatten beschlossen, Tiziana Scala, Corrados Freundin, die als Staatsanwältin inzwischen Karriere gemacht hatte, für ihre Absichten zu gewinnen, und Diana, die ehemals blasse Volontärin bei o.k.-k.o., die inzwischen eine umworbene und gefürchtete Sonderreporterin bei verschiedenen Magazinen und Illustrierten geworden war, stets auf Jagd nach Sensationen und Sensatiönchen. Costanza hatte nicht ohne inneres Widerstreben, doch beharrlich und schließlich mit Erfolg um die beiden geworben.

Als Tiziana und Costanza in die Computerzentrale traten, mit vielen Komplimenten von Roberto begleitet, eilte Arianna auf sie zu. Sie sah Tiziana an. Die vergangenen fünf Jahre hatten kräftige Spuren in ihr Gesicht gezeichnet, mehr als bei Costanza. Wenn dies unter anderem der Preis für die Karriere war, von der Arianna gehört hatte, so wollte sie diese auf eigenwillige Weise fördern und musste wohl nicht mit Ablehnung rechnen.

»Haben wir denn heute etwas zu feiern?«, fragte Tiziana – so festlich hatte Roberto für seine Tochter das Arbeitszimmer ausgestaltet, Tischdecken, Gläser, Erfrischungen, ein kleiner Imbiss. Außerdem war es in dem Raum wohlig warm, wo schon Ende März in den meisten römischen Wohnungen die Heizungen abgeschaltet waren.

»Nein, das nicht!«, antwortete Arianna abwehrend. »Zu feiern gibt es nichts. Es sei denn, dass wir uns wieder einmal sehen, Tiziana. Das heißt, das ist eigentlich Unsinn und kein Grund. Es war damals nur Zufall, dass Sie Corrado hier abholten, einige Wochen vor seinem Tod. Glauben Sie, Tiziana, dass es Selbstmord war?«

Tiziana wurde dienstlich: »Ich weiß nicht. Ich habe mir die Unterlagen nie kommen lassen. Es hieß wohl offiziell so. Aber es wurden auch noch Ermittlungen geführt. Da bin ich einfach überfragt. Aber wollen wir über Corrados Tod sprechen?« Tiziana runzelte die Stirn und schaute auf die Uhr.

»Nein, nein, nicht über seinen Tod und auch nicht über den Toten«, beruhigte sie Arianna. »Ich wollte Ihnen einen beruflichen Vorschlag machen. Wir hätten uns vielleicht auch an jemand anderen wenden können. Übrigens, noch einmal vielen Dank, dass Sie damals die Diskette von mir verwahrt haben. Es war zwar gar nicht notwendig, aber es hätte sein können. Und es hat mich beruhigt, sie bei Ihnen zu wissen, an einem sicheren Platz.«

»Ach richtig, die Diskette. Ich weiß gar nicht, wo sie hingekommen ist. Brauchen wir sie?«, fragte Tiziana.

»Nein, nicht mehr. Wir dachten nur, dass Sie noch ein Interesse haben könnten, vielleicht nicht nur rein beruflich, das heißt, schon beruflich, zu erfahren, wie es damals wirklich war. Oder ist es Ihnen gleichgültig, warum Corrado sterben musste? Aber lassen Sie uns noch etwas warten! Wir haben noch eine tüchtige Dame eingeladen, die uns und auch Ihnen nützlich sein kann. Diana, der Name wird Ihnen nichts sagen. Sie war zu jener Zeit Volontärin im Magazin. Aber inzwischen ist sie …«

»Ach so, die berühmte Diana, die überall im Fernsehen ihre journalistischen Abenteuer erzählt! Eine tolle Frau und dazu noch ziemlich jung!« Tiziana sagte es bewundernd. »Na, sie wird irgendjemanden haben, der sie fördert. Ich meine das nicht abwertend. Das brauchen wir alle. Ich bin auch nicht ohne Protektion ausgekommen. Obwohl, bei mir war es wohl mehr der Wechsel von der einen Partei zur anderen. Das ist immer mit Karrieresprüngen verbunden.« Tiziana lachte. »So ist das nun mal im Leben.«

»Was können Sie für mich tun?«, fragte Diana, die Göttin der journalistischen Jagd, in Jeans, schwarzer, lockerer Lederjacke und roter Bluse, gleich zur Sache kommend. »Übrigens einen schönen Gruß von Franco Denaro. Ihm geht es nicht gut. Ihm geht es nicht schlecht. Vielleicht kommt er nachher noch vorbei. Da kann er es ja selbst erzählen. Na, so lange werde ich nicht bleiben können. Muss wohl auch nicht sein. Oder? Habe noch eine Talkshow im Fernsehen.« Diana sagte es ohne Prahlerei, doch eilig, und wiederholte: »Also, was können Sie für mich tun?«

»Eine ganze Menge«, antwortete Arianna geschäftsmäßig knapp. »Sie brauchen doch immer neues Material, neue Beute, andere Leute. Außerdem kann ich vielleicht eine fruchtbare Kooperation zu beiderseitigem Nutzen einfädeln. Darf ich vorstellen? Tiziana Scala, einflussreiche Staatsanwältin im Justizpalast … Diana brauche ich nicht vorzustellen.«

Dann begann Arianna zu erzählen und spürte schon nach wenigen Metern ihres Fadens, dass sie Diana und Tiziana für ihre Absicht gewonnen hatte.

Für Costanza führte der Faden der Geschichte zurück zu Corrado, fünf Jahre zurück zu jener Zeit, da sie ihn geliebt hatte.

Die Staatsanwältin Tiziana Scala und die Journalistin Diana witterten sofort das Wild, das zu erlegen war, in einem Jagdgrund, der reichen Ertrag versprach. Was Arianna wusste, ob dahinter nun ein System steckte oder nicht, ob dabei Ferrante Malavita, Pitagora Di Bene oder andere auf der Strecke blieben, gleichviel – was Arianna ihnen anbot, das konnten sie zunächst einmal wie einen Stein ins Wasser schleudern und beobachten, welche Kreise es zog. Oder wie einen kleinen Schneeball werfen und sehen, ob sich im öffentlichen Interesse daraus eine Lawine entwickeln würde.

Die Staatsanwältin Tiziana Scala und die Journalistin Diana konnten auf Ariannas Vorschlag eingehen.

Nein! Es war kein Zufall, dass sich die Frauen getroffen hatten.

Nachbemerkung

Wie kommt ein Journalist dazu, einen Roman zu schreiben?

Die Frage wird mir oft gestellt. Sie ist jedoch nicht selbstverständlich. In New York etwa würde man sie meist für überflüssig halten und höchstens auf die lapidare Antwort stoßen: durch den Journalismus.

Eine lange Reihe von weltbekannten amerikanischen Schriftstellern ergibt eine eindrucksvolle Tradition des Journalistischen in der Literatur der Vereinigten Staaten. Erst die Arbeit als Journalist habe sie, so bezeugen viele ausdrücklich, die Fülle des Lebens, den farbigen Reichtum verschiedener Menschen gelehrt, ihnen den Stoff geschenkt, aus dem die Romane sind. Doch selbst in Nordamerika ist die Verbindung von Journalismus und Roman, die Personalunion von Journalist und Schriftsteller nicht ganz unangefochten. Sonst hätte wohl Tom Wolfe seinem Roman über New York, Fegefeuer der Eitelkeiten von 1987, nicht als Nachwort »Ein literarisches Manifest für den neuen Gesellschaftsroman« folgen lassen, eine Rechtfertigung dafür, warum er sich um »ein wahres und wuchtiges Bild von Individuum und Gesellschaft« in einem realistischen Roman bemüht.

Dass jedoch in Deutschland ein Journalist in die Zunft und Weidegründe der Schriftsteller einbricht, wird weithin mit Stirnrunzeln und Ablehnung aufgenommen – oder mit einer gönnerhaften Ermutigung aus dem hohen Turm der Literaturkritik. Ich erinnere mich an ein freundliches Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki, dem ich aus gemeinsamen Jahren bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Sympathie verbunden bin, der strenger als die vatikanische Inquisition darüber wacht, dass kein Unbefugter den heiligen Garten der Literatur, den geschützten Betrieb der ausgewiesenen Schriftdiener mit dem erkenntlichen Stallgeruch betritt. So hat es der Papst der deutschen Literaturkritik mit Geschick dahin gebracht, dass die Qualität der Kritik weit über jener der Literatur steht und die Aufmerksamkeit des Publikums für die Erstere weit höher ist als für die Zweite. Der geringe internationale Rang der deutschen Literatur, das laue Interesse im Ausland für deutsche Autoren beweisen es.

Doch warum verlässt ein Journalist das angestammte Gebiet? Ich kann die Antworten nur für mich geben. Es war nicht der Wunsch nach literarischen Lorbeeren, obwohl Reich-Ranicki hier sicher den Verdacht äußerte, niemand würde sie verschmähen, und von ihm schon gar nicht. Nein, das Hauptmotiv für diesen Roman Der Turm des Griechen und für seinen Vorgänger Das Lachen der Wölfin war eine Schlussfolgerung, wohl die ganz berufsspezifische eines Journalisten.

Beständig macht er die Erfahrung, dass die wirklichen Ereignisse die Fantasie eines jeden Menschen, seine eigene eingeschlossen, bei Weitem in den Schatten stellen. Was in Politik, Wirtschaft und Kultur geschieht, und noch mehr in jenem Bereich, über den vornehmlich Boulevardblätter berichten, den seriöse Zeitungen als »Vermischtes« oder unter welcher Bezeichnung auch immer melden – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagen wir etwas distanziert »Deutschland und die Welt« zu dem Menschlichen, Allzumenschlichen –, darauf wären selbst Dante und Cervantes, Shakespeare, Molière und Goethe nur mit Mühe gekommen. Bei Heinrich von Kleist kann man das dichterische Staunen über die wunderlichen Begebnisse in der nahen und fernen Wirklichkeit, ob in seinen journalistischen Nachrichten aus Berlin oder der meisterlichen Novelle des Schriftstellers, Die Verlobung in Santo Domingo, mit Händen greifen. Neue Fernsehgewohnheiten, die der Produzierenden und der Konsumenten, bieten zudem schier unendliche Möglichkeiten, der bunten Vielfalt des menschlichen Lebens beizukommen. Bald wird die eine Hälfte der Menschheit der anderen im Fernsehstudio gegenübersitzen und alle Merkwürdigkeiten des Lebens in Milliarden Varianten austauschen. Und dann?

Daraus ergab sich für mich fast notwendig der Wunsch, nicht nur aus der Flut der Ereignisse ein paar Neuigkeiten, die wichtigen, die kuriosen, herauszufangen und als Journalist Tag für Tag den Zeitungskäufern als Lesestoff anzubieten. Es sollte noch etwas anderes sein. Ich wollte aus den einzelnen Nachrichten verstehbare Gesamtbilder zusammensetzen, wollte offenkundiger Zusammenhanglosigkeit von »nackten« Fakten und Daten aus dem öffentlichen Leben Sinn und Verbindungen abgewinnen. Das kann in einer Tageszeitung nur bedingt und unvollkommen gelingen. Ich sehnte mich deshalb danach, aus dem atomisierten Material des Tagesgeschehens ein im Ganzen betrachtbares Bild zusammenzufügen, ein Mosaik des römischen Kosmos, wie ich es in Das Lachen der Wölfin aus meinem Erfahrungsbereich des Korrespondenten in Rom versuchte. Ich weiß nicht, was mich nach jenem Roman mehr freute: die Bestätigung von Bewohnern dieses römischen Kosmos oder das Lob von Kritikern? Was mich mehr ärgerte: Unverständnis oder Oberflächlichkeit von beiden?

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