Buchcover

Inger Edelfeldt


Der Bote


 

Aus dem Schwedischen
von Birgitta Kicherer

 

Lindhardt & Ringhof

Inger Edelfeldt,
1956 in Stockholm geboren, begann gleich nach dem Abitur mit dem Schreiben. 1977 erschien ihr erstes Buch »Jim im Spiegel«.
Darauf veröffentlichte sie in dichter Folge Romane, Novellensammlungen, Gedichtbände, Theaterstücke und zahlreiche Jugendromane; in Schweden ist sie inzwischen eine der renommiertesten Autorinnen.
Inger Edelfeldt erhielt mehrere große Literaturpreise, u. a. den Deutschen Jugendliteraturpreis, und ist neben ihrer literarischen Arbeit auch als Grafikerin und Illustratorin tätig.

1. Kapitel

Diverse Erinnerungen an den Jüngsten Tag und anderes mehr

Dass ich von all den äußerst seltsamen Dingen berichten will, die ich im vergangenen Herbst und Winter erlebt habe, liegt an dir. Es liegt daran, dass ich dich neulich in der U-Bahn gesehen habe.

Zuerst schaute ich ein bisschen extra hin, ohne eigentlich zu begreifen, warum. Dann ging mir plötzlich auf, warum ich dich einfach anstarren musste. Irgendetwas in deinem Wesen bewirkte, dass ich dich erkannte, obwohl ich wusste, dass wir uns noch nie begegnet waren. Schließlich wurde mir klar, was es war: Ich glaubte in dir . . . mich selbst zu sehen! Und das war ziemlich gespenstisch.

Umso mehr, weil du so schrecklich deprimiert ausgesehen hast.

Es wäre natürlich superpeinlich gewesen, dich anzusprechen. Stattdessen versuchte ich dich nicht anzustarren. Aber als ich endlich ausgestiegen war, sah ich ein, dass ich dir gern etwas gesagt hätte. Nichts Aufmunterndes. Auch nichts Einfaches. Nein, ich hätte dir gern erzählt, was mir selbst passiert ist – etwas so Ungewöhnliches, dass du wahrscheinlich gesagt hättest: »Das glaube ich nicht, so etwas gibt es nicht in Wirklichkeit.« Aber es gibt vielerlei Arten von Wirklichkeit.

Ehrlich gesagt, ist alles ein einziges Mysterium. So zum Beispiel, dass ich hier in meinem Zimmer sitze und diese Worte schreibe. Hat mich das, was geschehen ist, nicht stärker verändert? Ich bin immer noch ein Mensch. Dennoch weiß ich, dass ich etwas anderes werden könnte, etwas anderes als ein Mensch. Aber ich existiere noch. Ich sitze hier in dem Stockholmer Vorort Bromma in meinem so genannten Mädchenzimmer (das diese Bezeichnung keineswegs verdient – warum verwende ich sie dann überhaupt?).

Einige bemerkenswerte Veränderungen habe ich notiert, wie zum Beispiel, dass ich jetzt weniger Schlaf brauche. Und das ist ja nur gut, denn so finde ich Zeit, dies alles aufzuschreiben, trotz der lästigen Schulaufgaben und all der Alltagsmühen, die man als Mensch auf sich zu nehmen hat.

Nun, mit dem Tageslicht habe ich demnach keine Probleme. Nur meine Erfahrung (die mir niemand glauben würde!) trennt mich von der Person, die ich vor etwas mehr als einem Jahr war. Und dennoch ist mein Dasein seither ganz anders geworden.

Das alles wirkt bestimmt sehr vage. Daher werde ich lieber mit etwas Konkretem anfangen. Ich werde schildern, wie es in dem Zimmer aussieht, in dem ich mich aufhalte. Meine »Hochburg«, wie der Mutterkuchen sich auszudrücken pflegt (meine verehrte Frau Mama, die nicht ahnt, wen sie da an ihrem Busen genährt hat).

Dass ich momentan am Computer sitze, ist vielleicht nicht allzu schwer zu erraten. An und für sich könnte ich genauso gut mit der Hand schreiben und bei besonderen, höchst privaten Anlässen tue ich das auch (dann schreibe ich mit unterschiedlich farbiger Tinte auf ebenfalls farbigen Papierbögen, die ich in einem speziellen, abschließbaren Schrein aufbewahre). Außerdem schreibe ich mit der Hand, wenn ich mich mit den viel geschmähten »Epochenheften« befasse, die Teil der anthroposophischen Pädagogik sind, von der die Schüler in meiner elitären, geistvollen Schule veredelt werden.

Eigentlich benütze ich den Computer lieber auf andere Weise. Zum Beispiel bleibe ich gern im Grafikprogramm hängen, wo man seinen kreativen Fähigkeiten freien Lauf lassen kann, und seien sie noch so beschränkt.

In meinem Zimmer steht ein Ikea-Bett, das fast immer ungemacht ist. Daneben eine hölzerne Kommode (Antiquität), die als Nachttisch dient. An der Wand hängen Ausdrucke von Fotos, die ich selbst aufgenommen und im Computer bearbeitet habe. Manche sind recht unheilschwanger, ich habe nämlich eine Vorliebe für seltsame Farbkombinationen. Zum Beispiel gibt es da ein paar Landschaftsaufnahmen mit stürmischem Gewölk und ein Selbstporträt als ägyptischer Pharao. Früher hingen neben meinen eigenen Fotos Bilder aus Horrorfilmen, aber die habe ich abgenommen, weil sie kindisch und irreführend sind.

Ein Tisch steht auch in meinem Zimmer – mit einem Arrangement darauf, das ich »Die Szenerie« nenne. Entstanden ist die Szenerie, als ich zwölf war, seither ist sie jedoch sehr viel raffinierter geworden. »Die Szenerie« besteht vor allem aus künstlicher Natur – Büsche, Blumen, Bäume und Felsen, alle aus den unterschiedlichsten Materialien – und wird bevölkert von seltsamen Tierchen sowie von Elben, Gnomen und allerlei anderen Kobolden, die ich aus Cernit modelliert und mit selbst genähten Kostümen ausstaffiert habe.

Daraus lässt sich schließen, dass ich ein basteliges Persönchen bin, das gern herumpusselt und sich garantiert niemals ein Motorrad wünschen würde. Ein emsiges Bienchen, als Mumie geschminkt. Nein, so einfach ist es vielleicht doch nicht, mich zu beschreiben. Oder mich zu verstehen? Ich bin ja schließlich keine normale Siebzehnjährige (oder?).

Was gibt’s noch zu sehen in meinem Reich? Ein Bücherregal mit vermischter Literatur, von Mio mein Mio bis zu den Vampirbüchern von Ann Rice (sollte ich die nicht eigentlich rauswerfen?) und anderen Fantasytiteln, die ich gelesen habe, als ich viel jünger war. Shakespeares gesammelte Werke. Parzival, den wir gezwungenermaßen in der Schule gelesen haben. Sowie ein paar uralte, schimmelige Bücher mit genauso schimmeligem Inhalt, die ich wegen ihrer dekorativen Einbände auf einem Flohmarkt erstanden habe. Ein heilloses Durcheinander. Ja, und dann stehen da auch noch ein paar ausrangierte Bibliotheksbände von mehr oder weniger bekannten Autoren (mein Vater ist Bibliothekar).

Auf dem Boden ein Flickenteppich, gewebt vom besessenen Mutterkuchen. Überall eine Menge Kleider (ich liebe Kleider, vor allem schwarze und vor allem aus Samt. Auch ausgefallenen Schmuck, Gürtel und Ähnliches. Gelegentlich bin ich in Fantasygewändern zu sehen, mitunter auch in mittelalterlicher Gewandung; mittlerweile jedoch eher selten).

Last, not least: An der Wand hängt ein Spiegel. Ein ganz normaler Spiegel, oder besser gesagt: Er sieht aus, als wäre er ein normaler Spiegel. Ein normaler Ikea-Spiegel.

In diesem Winter habe ich ihn zeitweise abgenommen und ihn mit dem Glas zur Wand gedreht.

Aber bevor ich auf das Thema Spiegel eingehe, sollte ich sinnvollerweise berichten, warum ich zu Herbstanfang so extrem deprimiert war.

Wahrscheinlich bin ich nie eine ausgesprochene Frohnatur gewesen. Ehrlich gesagt, neige ich dazu, übertrieben fröhliche Menschen für ein bisschen dämlich zu halten, was an und für sich ein Irrtum sein mag. Aber nun, als ich so auf dem Bett in meinem Zimmer lag, in meinem eigenen Schneckenhaus, mit aufgesetztem Kopfhörer (Lisa Gerrard, Lisa Gerrard!!!), und die Tatsache zu ignorieren versuchte, dass es Zeit war, mich auf den Weg zum ersten Schultag im neuen Schuljahr zu machen (eine Tatsache, die zu vergessen schwer fiel, weil der Mutterkuchen so laut gegen die geschlossene Tür trommelte, dass ich es durch die Musik hörte), – nun, also, in diesem Moment fühlte ich mich wirklich nicht wie der totale Übermensch.

»Arri, du darfst nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen!«, tönte die Posaune des Jüngsten Gerichts. Zu ihrer Entschuldigung sei gesagt, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, warum ich lieber jedes noch so qualvolle Martyrium erleiden würde als in die Schule zu gehen. Sie wusste nicht, dass ich exkommuniziert war; dass ich riskierte an den Pranger gestellt zu werden, die Narrenkappe aufgesetzt zu bekommen und rückwärts auf einem Esel reiten zu müssen oder wenigstens so übler Verleumdung ausgesetzt zu werden, dass mir jede handfeste Strafe lieber gewesen wäre.

Zwar hatte sie bemerkt, dass meine so genannte Freundin Maira (ja, wird so geschrieben) und ich schon geraume Zeit keinen Kontakt mehr hatten, doch das war in ihren Augen wohl nicht so ernst. Eine harmlose Kabbelei unter Mädchen! Bei unserem letzten Gespräch hatte Maira abschließend gesagt, sie beabsichtige alles Erdenkliche zu tun, um den anderen deutlich zu machen, dass mit meinem Kopf etwas nicht in Ordnung sei. »Ich werde dich DEGRADIEREN«, waren ihre Worte gewesen.

Wie diese Degradierung aussehen würde, wusste ich nicht, aber ich konnte es mir vorstellen: 1. Alle peinlichen Geheimnisse weitererzählen. 2. Erzählen, was in Visby vorgefallen war, und zwar so, dass meine Wenigkeit als Verräterin dastand. 3. Sich mit all denen verbünden, die mich ohnehin schon verachteten. 4. Mich als feige, krank und schrullig darstellen. Vielleicht sogar dieses ausgesprochen bescheuerte Foto zeigen, das ich von meinem eigenen Busen gemacht hatte, um zu beweisen, dass jede Brust in der richtigen Beleuchtung gigantisch aussehen kann, auch ohne Computertricks . . . oder dieses Foto von mir mit Schnurrbart, das ich aufgenommen und ohne jede krankhafte Absicht am Computer verändert hatte . . . Warum hatte ich ihr nur diese Ausdrucke gegeben? Lehre: Glaube nie, dass »deine beste Freundin« für immer »deine beste Freundin« bleiben wird.

Phalandra und Sinistra, so nannten wir uns gegenseitig. Als wir kleiner waren, nannten unsere Eltern uns »die beiden Kletten«. Arri und die kleine Maira, die sich eigentlich »Myra« schrieb (vielleicht hatten uns unsere ungewöhnlichen Namen zusammengeführt?). Myra, die »Ameise«, die ehemals Kleinste der Klasse, die inzwischen plötzlich danach zu streben schien, zu den obercoolen Typen zu gehören, die hatte mich jetzt also exkommuniziert.

Ich bemühte mich aufrichtig nicht daran zu denken, während ich mich zur Schule schleppte. Ermahnte mich streng, dass es nicht die geringste Rolle spiele, Maira sei ohnehin nur eine peinliche blasse Kopie meiner eigenen strahlend interessanten Person gewesen. In Wirklichkeit würde mir meine hoch entwickelte Begabung und Phantasie alles geben, was ich an Freundschaft benötigte, usw., usw.

Strahlend begabt und phantasievoll, schlurfte ich weiter die Straße hinauf, am Kindergarten und Freizeitheim vorbei. Eigentlich hätte ich schon längst die Schule wechseln müssen, aber der Mutterkuchen betonte jedes Mal, das komme nicht infrage, in anderen Schulen herrsche nämlich ein viel zu harter Geist.

Innerlich trällernd, lenkte ich meine Schritte demnach weiter bergauf zu den pastellfarbenen Nebengebäuden und dem grauweißen Haupthaus.

Aber kaum erblickte ich Maira, die in einem Grüppchen auf dem Schulhof stand und mir den Rücken zukehrte (hatte sie mich schon erblickt?), da wurde mir eisig kalt. Ich fühlte mich ungefähr wie ein hilfloses Kind, das widerstrebend zu einer Skitour mitgeschleppt worden ist, die andern irgendwann nicht mehr einholen kann und bezweifelt, ob überhaupt jemand bemerken wird, wenn es im Tiefschnee stecken bleibt, während die übrigen Pause machen und warmen Kakao trinken.

Mit meinen anderen Klassenkameraden hatte ich nämlich keinen besonders guten Kontakt, und zwar, weil in mir das hartnäckige und vermutlich bedauerliche Gefühl entstanden war, sie hätten mir nichts zu bieten. Maira dagegen hatte bereits lange vor den Sommerferien damit begonnen, ihre Fühler in alle möglichen Richtungen auszustrecken, fast so, als hätte sie damals schon vorgehabt, mit mir Schluss zu machen.

Aber bevor ich noch mehr von unserer interessanten Schule und Ähnlichem erzähle, ist es vielleicht angebracht, zu berichten, was tatsächlich hinter Mairas Drohung steckte, mich zu degradieren.

2. Kapitel

Was sich in Visby, der Stadt der Verdammnis, zutrug

Mairas Eltern verbrachten jeden Sommer ein paar Wochen in einem Haus in Visby auf der Insel Gotland. Sie teilten das Haus mit anderen Verwandten und dieses Jahr hatten sie endlich das Glück, während der Mittelalterwoche dort sein zu können. Und weil sie glaubten, Maira und ich seien immer noch »die beiden Kletten«, durfte ich mitkommen.

Vor ungefähr sieben Jahren war ich zum letzten Mal auf der Mittelalterwoche gewesen, seither hatten meine Eltern andere Dinge bevorzugt. Allerdings hatte ich schon als Zehnjährige ein sauertöpfisches, verschlossenes Naturell, daher erinnere ich mich vor allem daran, dass es mir in Visby viel zu voll gewesen war und ich die Erwachsenen albern fand. Gewiss muss es auch damals ein paar Lichtblicke gegeben haben, aber ehrlich gesagt, ist mir mein ganzes zehntes Lebensjahr als eine Art Nebel in Erinnerung geblieben, der durchlitten werden musste. Zu jener Zeit hatte ich noch keine speziellen Interessen. Spice Girls oder andere Popgruppen lagen mir nicht. Ich weiß noch, dass ich eine wachsende Anzahl scheußlicher kleiner Hunde und Hamster häkelte, vermutlich, weil ich mich nach echten Haustieren sehnte. Die konnte ich aber nicht haben, weil vor kurzem festgestellt worden war, dass sich zu den vielen lästigen Eigenschaften, die ich bereits besaß, auch noch eine Pelztierallergie gesellt hatte.

In kürzester Zeit häkelte ich eine ungeheure Menge wolliger Tiere in grellen Farben, die ich taufte und miteinander paarte. Ich führte über ihre Stammbäume und Nachfahren Buch, kleine pingelige Heftchen, die der Mutterkuchen immer noch in einer Schachtel aufbewahrt (als Monument nostalgischer Gefühle, die aus einer Zeit herrühren, als die Mutter-Tochter-Beziehung noch einfacher funktionierte, weil meine Wenigkeit noch keine spürbare Persönlichkeit entwickelt hatte).

Wie dem auch sei – da waren wir nun in Visby und endlich begriff ich, was eigentlich der Witz des ganzen mittelalterlichen Spektakels war! Es lief auf genau das Gleiche hinaus wie das Dasein meiner gehäkelten Tierchen, nämlich auf die Paarung. D. h. alle paarten sich, nur ich nicht. Ja, und dann gab es da noch etwas Wesentliches, das im Leben meiner gehäkelten Tierchen gar nicht vorkam, und das war, sich möglichst bis zum Exzess zu betrinken. Eine Tätigkeit, der ich mich ebenfalls nicht zu widmen pflegte (auch mit Drogen hatte ich nichts im Sinn, obwohl der Mutterkuchen sich manchmal einbildete, mein eigenartiges Verhalten müsse von irgendeiner Droge herrühren, die es zu ihrer Zeit noch nicht gab).

Maira und ich hatten uns zwei unglaublich mittelalterliche Kleider genäht, in die gewandet wir nun durch die Gassen zogen. Wir hatten den ganzen Sommer daran genäht und gestickt. Mairas Kleid war mitternachtsblau und meins schwarz, mit dazugehörigen Umhängen aus Synthetiksamt.

Maira hatte schon mehrmals damit gedroht, in den Tolkienverein einzutreten, obwohl sie wusste, dass mich nichts auf der Welt dazu bringen würde, dort Mitglied zu werden – denn wer will schon den Spuren seiner Väter folgen? Im Tolkienverein hatten sich meine Eltern nämlich anno 1982 unter den Namen Glorfindel und Goldberry kennen gelernt – ein schicksalhaftes Ereignis für mich und meine Schwester.

Bei mir steht Folgendes fest: 1. Keine Vereine. 2. Keine Rollenspiele. 3. Auch keine Life-Rollenspiele. 4. Kein Chorgesang. 5. Bitte, keine Schulaufführungen mehr! (Ich habe in der Achten in Ein Mittsommernachtstraum die Mauer gespielt und außerdem im Märchentunnel den Kleinen Bären mit so überzeugendem Gebrüll dargestellt, dass einer der Väter, die durch den Tunnel krochen, noch wochenlang danach einen Herzkasper hatte. Doch das ist eine andere Geschichte).

Im Übrigen neige ich nicht dazu, anthroposophische Wachskerzen zu ziehen und zu dekorieren, Federmäppchen aus Filz herzustellen, Papierlaternen zu basteln oder in Eurythmieaufführungen Herbstlaub darzustellen.

Hoppla, da bin ich aber weit vom Thema Visby abgekommen. Das hat wohl damit zu tun, dass mir immer noch leicht übel wird, wenn ich daran denke, was sich dort abgespielt hat.

Anfangs war es zugegebenermaßen gar nicht so schlecht. Wir flanierten über den Deutschen Markt und zum Turnierplatz und stellten uns zur Schau. Natürlich wurde vor allem Maira von den Jungs angemacht: Zu ihrem mittelalterlichen Gewand trug sie alte Nikesportschuhe – ein geschickter Schachzug, weil interessierte Jungs dann jederzeit das Gespräch mit der intelligenten Beobachtung eröffnen konnten, im Mittelalter hätte es aber noch keine Turnschuhe gegeben.

Maira war ziemlich wählerisch, wenn es um Jungs ging, daher wunderte ich mich etwas, als sie plötzlich Krethi und Plethi zu der Fete einlud, die wir fürs kommende Wochenende geplant hatten. Dann würden ihre Eltern zu Freunden nach Farö fahren und wir würden das Haus für uns allein haben. Zum Beispiel lud sie ein paar Angeber ein, die sie erst seit kurzem kannte und die Dudelsack und Trommel spielten, und dann noch zwei, drei unförmige Mädchen in Lodengewändern, wahrscheinlich nur, weil die garantiert hässlicher waren als sie selbst. »Bringt ruhig noch jemanden mit!«, forderte sie alle großzügig auf. »Und auch was zum Essen und Trinken!«

Am Abend dieses ersten Tages wurden wir selbst von einer Gruppe mittelalterlicher Handwerker dazu eingeladen, auf einer eiskalten Wolldecke zu sitzen und sauren Rotwein zu trinken. Ich brachte keinen Ton heraus, hockte bloß da und starrte wie eine großäugige Ratte einen der schönsten Jungen an, die ich je gesehen hatte, einen Zauberkünstler und Jongleur mit langen blonden Locken und spöttischem Gesicht. Leider sah ich auch, wie sich zwischen ihm und einer Wikingertochter von natürlicher Schönheit eine Romanze entspann. Die Wikingertochter hatte eine Haarmähne so dicht wie die von Berenike und ein Lachen so klangvoll wie Harfenspiel.

Schließlich ging ich einfach weg, mein schwarzes Herz übernahm die Kontrolle über meine halb erfrorenen Füße. In der Dunkelheit sah ich allerdings kaum, wohin ich Letztere setzte. Alle waren betrunken, überall. Auf der Brücke über dem Wallgraben standen Pagen, die übers Geländer spien. Ich spürte deutlich, wie sehr ich die Menschheit verabscheute.

Dass ein gedunsener, sternhagelvoller Typ mich mit »Goth« anpflaumte, machte die Sache auch nicht besser. »He, du Goth-Tussi«, lallte er daher.

Ich trage ja nicht deshalb Schwarz, weil ich in eine dieser Kategorien gehöre (oder überhaupt in irgendeine Kategorie!), ich finde Schwarz einfach gut. Darum muss man noch lange kein Gothic-Fan sein.

Aber wo sollte ich hin? Es war Mitternacht. Mairas Eltern würden es bestimmt nicht schätzen, dass ich Maira auf dem Turnierplatz zurückgelassen hatte, allein im Finstern auf der Decke, umgeben von schwankenden, lallenden Pagen und Rittern und selbst sauren Wein trinkend (nach dem ich bestimmt ebenfalls stank). Das Handy – das in einem extra angefertigten Samtbeutel lag, da Aucassin und Nicolette sich wohl kaum per Handy verständigt hatten – hatte inzwischen einen leeren Akku. Ich glaubte eine beginnende Blasenentzündung zu spüren. Im Holzschuppen fand ich eine stark mottenzerfressene Wolldecke, in die ich mich einwickelte, während ich auf Maira wartete.

Als sie um zwei Uhr ankam, befand sie sich in einer anderen Welt. Sie hatte einen Elben getroffen, der sie zum Abschlussfest eines Life-Rollenspiel-Camps eingeladen hatte, das weit außerhalb der Stadt lag. Das Fest fand ausgerechnet an dem Tag statt, an dem wir unsere Fete geplant hatten. Was jetzt?

»Du kannst unmöglich in Nikeschuhen zu dem Life-Camp rausfahren, die ziehen dir die Haut ab und werfen dich den Trollen zum Fraß vor«, bemerkte ich.

»Dann kaufe ich mir eben Schuhe auf dem Markt«, sagte Maira hektisch. »Oder ich geh barfuß.«

»Übrigens gab’s früher auch keinen Synthetiksamt«, bemerkte ich.

»Jetzt hör doch auf zu meckern! Dieser Junge ist ein Elbe, ich sag’s dir! Mit oder ohne Ohren!«

»Na klar doch.«

»Sei doch nicht ständig so negativ!«, beharrte sie und versprach, ich dürfe auch mitkommen.

»Ich denk ja nicht daran, in irgendwelchen Zelten rumzuliegen, Met zu trinken und peinliche Lieder zu singen. Und was ist mit dem Fest, zu dem du halb Visby eingeladen hast?«

»Aber Arri, das hier KANN ich einfach nicht verpassen, lieber schneid ich mir den Hals ab!«

»Dann musst du deine Fete eben absagen.«

»Mensch, sei doch nicht so supernegativ! Diese Sache im Camp fängt erst ziemlich spät an. Um zehn würden ein paar Gaukler mich . . . uns hinfahren. Also können wir bis dahin bei uns feiern. Und anschließend wissen die meisten bestimmt noch andere Feten, wo sie hinkönnen. Das klappt schon!«

Also überredete sie mich. Zuerst wollten wir mit diesen Krethi und Plethi, die sie eingeladen hatte, feiern, danach würden bestimmt viele zu dem Life-Camp mitkommen. Ich musste versprechen sie auf jeden Fall dorthin zu begleiten und dafür wollte sie mir ihre Original Loreena-McKennitt-Platte schenken plus den Choker mit den schwarzen Steinen und vielleicht ihre Strumpfhose aus London, die mit dem Drachenmuster. Aufräumen und sauber machen könnten wir dann am nächsten Tag, irgendwie würden wir garantiert in die Stadt zurückkommen. Der ohrenlose Elbe wohnte normalerweise in Halmstad, dies sei also die letzte Chance, am Sonntag würde er nämlich nach Hause fahren.

Doch dann passierte Folgendes: Als die Gäste im Laufe des Abends ins Haus zu tröpfeln begannen, erwartete mich der größte Schock der Woche: Der Zauberkünstler mit den langen blonden Locken tauchte auf. Ohne die Wikingertochter. Und ER SPRACH MIT MIR. (»Arri, was ist das denn für ein Name?« – »Eine Abkürzung von Arwen.« – »Aha, aber wie heißt du tatsächlich?« – »Ich heiße so.« – »Das ist doch wohl ein Pseudonym?« – »Nein, ich bin so getauft.« – »No kidding! Krass!«)

Dies vergrößerte meine Abneigung dem Camp gegenüber, zumal inzwischen Regen eingesetzt hatte. Außer Personen, die lächerlich geil auf ohrenlose Elbenknaben sind, fährt doch kein Mensch freiwillig bei Regen in durchweichte Life-Rollenspiel-Camps, die weit draußen in der Dunkelheit liegen.

»Okay«, sagte Maira beherrscht, als wir uns auf der Toilette darüber unterhielten, »du bleibst hier und sorgst dafür, dass alle sich menschlich aufführen und das Haus nicht demolieren, und ich fahr zum Camp. Der mit dem Auto wollte uns um zehn beim Kapitelhaus einsammeln.«

Unter dem großen schwarzen (mittelalterlichen?) Schirm ihres Vaters machte sie sich auf den Weg und mir wurde plötzlich mit einem gewissen Schauder klar, dass ich jetzt eine Verantwortung für das Haus trug. Und falls ich alle zum Gehen aufforderte, würde der Zauberkünstler ebenfalls verschwinden. Ich konnte ihn ja schlecht bitten zu bleiben, wenn alle andern sich verabschieden mussten; so weit war es dann doch noch nicht gediehen.

Nun hatten aber die infernalischen Weber am Webstuhl des Schicksals noch eine Überraschung für mich parat: Simsalabim – und plötzlich steht die Wikingertochter da und will zu ihrem Zauberkünstler eingelassen werden! Sie hat nämlich bis jetzt an einer Tanzaufführung teilgenommen! In ihr goldenes Haar hat sie Rosen gesteckt. Ich lächle liebenswürdig und lasse sie eintreten, während ich mich auf der Stelle in einen Mutanten verwandle, zu gleichen Teilen aus enttäuschtem Kleinkind und Pitbullterrier bestehend. Die Wikingertochter marschiert schnurstracks auf den schönen Zauberkünstler zu und führt den Beginn der Schlafzimmerszene aus Romeo und Julia auf.

Und was tue ich, Arri, die Tüchtige? Nun, alles verflüchtigt sich aus dem Kopf der tüchtigen Arri, alles bis auf die große Trauer (an die ich mich eigentlich schon gewöhnt haben müsste, weil alles immer in ihr zu münden scheint).

Ich hätte erwähnen müssen, dass sich in dem Haus eine gewisse Anzahl Flaschen mit alkoholhaltigem (in mehreren Fällen sehr alkoholhaltigem!) Inhalt befand. Schau an, Arri trinkt Schnaps! Schau an, Arri trinkt noch mehr Schnaps! Schau an, Arri schert sich den Teufel um den ganzen Quatsch und schläft stockbesoffen auf dem groß geblümten Bettüberwurf im Bett von Mairas Eltern ein! Und, schau an, schau an, natürlich wacht Arri am Vormittag in einem leeren, unverschlossenen Haus auf und ihr ist speiübel!

Und das Ganze wurde auch nicht davon besser, dass 1. der Glastisch vor dem Sofa zerbrochen war, 2. das Sofa und der Teppich vor Wein und Chips klebten und das ganze Zimmer wie ein Saustall aussah, 3. es sich später herausstellte, dass aus der Schublade im Eingangsflur Geld, aus dem Regal im Zimmer Videokassetten und aus dem Badezimmerschrank Schmuck geklaut worden waren.

Maira kam mit Knutschflecken am Hals zurück, besah sich das Chaos und machte mich für alles verantwortlich, worauf ich sowohl traurig als auch wütend wurde. Außerdem verbot sie mir ausdrücklich zu erwähnen, dass sie diejenige gewesen sei, und zwar sie ganz alleine, die einen Haufen Leute eingeladen hatte, um sich dann einfach aus dem Staub zu machen.

Aber weil ich mich nicht wie eine gekuschte Ratte fühlen wollte, erzählte ich Mairas Eltern als Erstes, dass sie genau das getan hatte. Mairas Version – die wir gemeinsam hätten auftischen sollen – lautete dagegen, wir hätten nur ein paar wenige ausgesuchte Freunde eingeladen, dann sei aber ein eifersüchtiger, betrunkener Freund mitsamt Spießgesellen aufgetaucht und habe den wilden Mann gespielt. Maira dachte sich das Ganze blitzschnell aus: Der unidentifizierbare ehemalige Freund eines der sittsamen Mädchen, die an unserem Kinderfest teilnahmen, sei ein Deutscher namens Hans (oder vielleicht Wolfgang?) gewesen und inzwischen sei er spurlos verschwunden. Außerdem sei er schwarz geschminkt gewesen und seine ehemalige Freundin wisse nicht einmal, wo in Deutschland er überhaupt beheimatet sei. (Vermutlich hatte er sich in voller Rüstung auf den Glastisch gesetzt und zornentbrannt mit der Hellebarde Chipstüten gespalten.)

Wie gesagt – ich berichtete Mairas Eltern den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse, worauf mich Maira kurzerhand exkommunizierte. Ich hatte auch noch angeboten die entstandenen Schäden mit meinen mageren Ersparnissen zu beheben, doch die Eltern waren der Ansicht, die Hauptschuldige sei vor allem Maira. Dieser Ansicht war ich ehrlich gesagt auch.

Was keineswegs verhinderte, dass ich Maira seither vermisste.

Ja, so war das also. Das heißt natürlich nicht, dass ich mich in Gedanken unablässig mit Maira und ihrem Verhalten beschäftigte. Ich hatte nicht einmal versucht mit ihr Kontakt aufzunehmen. Ich fand, es sei ihre Sache, einzusehen, dass ich unschuldig war.

Wie der aufgeweckte Leser gewiss schon ahnt, mangelte es mir nicht an Fähigkeiten, mich allein zu amüsieren. Natürlich müsste ich jetzt endlich auf die Ereignisse des ersten Schultages zu sprechen kommen, aber um meine Persönlichkeit noch eingehender zu beleuchten und um anzudeuten, wie meine Gemütsverfassung war, bevor das eigentliche Drama sich entfaltete, möchte ich vorher noch zwei Texte anführen, die zum Inhalt des verschlossenen Schreins gehören und ungefähr zu jenem Zeitpunkt im Herbst entstanden sind.

Der erste ist mit roter Tinte auf hellgrauem Papier geschrieben:

GEDANKEN ÜBER DIE EXISTENZ

Es gibt etwas, das mich immer wieder in Erstaunen versetzt, nämlich dass eine überwiegende Mehrheit der Menschen glauben kann, alles in unserer Existenz und in der Existenz der Welt sei »selbstverständlich«. Hand aufs Herz: Das einzig Selbstverständliche ist doch, dass alles ein Rätsel ist, ein Mysterium. Dass wir überhaupt »geboren« werden, dass wir »leben«, dass wir »sterben«, dass es uns »gibt« – all das ist atemberaubend unbegreiflich, und damit unser Verstand nicht explodiert, wenn er an diese Dinge rührt, müssen wir ganz einfach gewisse Möglichkeiten vereinbaren, wie wir die »Wirklichkeit« betrachten wollen! Aber viele Menschen sehen nicht ein, dass diese Betrachtungsweisen eben nur . . . Vereinbarungen sind! Denn wenn man der Sache auf den Grund geht, »existiert« eigentlich nichts – oder zumindest nichts, das ein Gesicht, eine Oberfläche oder einen von Menschen geschaffenen Namen hat! Am besten wäre es, gar nicht daran zu denken. Ich ahne, dass diese Gedanken einen wahnsinnig machen können. Gleichzeitig ist es ja unmöglich, nicht daran zu denken!

Vielleicht gibt es eine weniger unheimliche Möglichkeit, sich diesen Dingen zu nähern. Bleibt mir nur, diese Möglichkeit zu finden! Wahrscheinlich wird es mir nie gelingen, das alles einem anderen Menschen zu erklären.

Am allerschlimmsten ist es, wenn mich das Gefühl von völliger Unwirklichkeit befällt. Das Gefühl, dass alles eine Illusion ist – ich selbst auch. Was hilft dann noch? Was ist das Heilmittel dagegen? Vielleicht, manchmal, etwas mit den Händen zu machen. Oder sich zu verlieben; dann wird alles wirklicher als wirklich, das ist eine Art totaler Verwandlung! Es ist, als würde alles von einem besonderen Licht beleuchtet und man selbst wäre die Lampe, man EXISTIERT wirklich und die Tatsache, dass alles ein Rätsel ist, erschreckt einen nicht mehr.

Das Dumme ist nur, dieses Gefühl lässt sich nicht festhalten. Vor allem wenn man das Pech hat, jemand zu sein, in den die Leute sich im Allgemeinen nur selten verliehen.

Bogen Nummer zwei ist mit Silbertinte auf schwarzem Papier geschrieben:

AM FLUSS DER UNTERWELT

Tief in meinem Innern existiert ein schrecklicher, tödlicher Ernst. Ein schwarzer, tiefer Fluss, der durch die Unterwelt fließt. (Das ist der Grund, warum ich Lisa Gerrards Stimme so liebe, sie berührt genau diesen Ernst.)

Es ist, als wäre ich eigentlich viel älter als ich bin. Als könnte ich, Zeitalter um Zeitalter, in die Vergangenheit zurückkehren, bis ich irgendwo ankomme, wo alles seinen Ursprung hat, in einer Art Urernst.

Ist »Ernst« das richtige Wort? Was gibt es dort, am Ufer des unterirdischen Flusses? Feierlichkeit. Etwas unheilig Heiliges. Lust? Grausamkeit?

Ich weiß nur, dass etwas mich ruft.

Aber kann man dorthin gelangen und noch Mensch sein?

Noch etwas sollte ich vielleicht erwähnen. Seit ich von Gotland zurückgekehrt war, hatte ich das Gefühl gehabt, dass etwas Bemerkenswertes geschehen würde. Ein Riss im Gewebe der Illusionen. Ein Tor, das sich in etwas anderes öffnete. Eine Art Erwähltheit. Als ich nach der Überfahrt von Gotland, die ich in der Gesellschaft der hartnäckig schweigenden Maira verbracht hatte, müde und traurig mein Zimmer betrat, überkam mich dieses Gefühl wie eine Art deutlicher Vorahnung oder Botschaft. Trotz Kummer und Aufregung fühlte ich das und ich weiß noch, wie ich in jener Nacht in meinem Bett lag und mich auf der Grenze zwischen Schlaf und Wachsein in einem gleichsam schwebenden Zustand befand, in dem Worte und Bilder mich heimsuchten, fast als wäre ich in Trance. Diesen Zustand kennen wohl die meisten, er stellt sich direkt vor dem Einschlafen ein. Und da hörte ich plötzlich eine Stimme sagen: »Du wirst hindurchtreten.«

Mehr war es nicht. Aber es schien mir voller Bedeutung zu sein. Ich verstand nicht so recht, wie ich es interpretieren sollte, hatte aber das Gefühl, dass die Botschaft irgendwie von einer »anderen Seite« kam. Das hätte mich vielleicht erschrecken sollen, mir kam es jedoch eher wie eine Verheißung vor.

3. Kapitel

Die Zeit der Wunder ist möglicherweise noch nicht vorbei

Das Gefühl, eine kleine Rotznase zu sein, die zu einer Skitour gezwungen worden ist, hielt an. Ich fühlte mich wie in einem nicht endenden Alptraum, als ich an jenem ersten Schultag im Klassenzimmer saß. Wenn mir alles wirklich zuwider ist, höre ich manchmal auf zu atmen und merke es erst, wenn ich fast ohnmächtig werde. So schlimm war es auch diesmal. Ich musste mich zum Atmen zwingen, damit das Klassenzimmer nicht zu kreisen begann und ich unnötige Aufmerksamkeit auf mich zog, indem ich vom Stuhl kippte.

Wir hatten eine neue Klassenlehrerin. Unsere alte, von mir geschätzte Lehrerin hatte Mutterschaftsurlaub. Die neue hatte eine Namensliste, auf der ich als ARWEN Björklund verzeichnet stand. Ich weiß nicht, was ich mit diesem Namen anfangen soll. Inzwischen wissen die meisten wenigstens, woher er kommt.

Trotz meiner jämmerlichen Verfassung gelang es mir, darauf hinzuweisen, dass ich Arri genannt werde, aber die Neue zwitscherte einfach drauflos, wie schön dieser Name sei und wie sehr sie die Bücher liebe, in denen meine Namensschwester vorkomme (ja, inzwischen gibt es mich ja sogar als Plastikfigur).

Ich fing einen Blick von Maira ein, der unverhohlene Verachtung ausdrückte. In der Pause konnte ich trotz all meiner Vorsätze nicht umhin, ihr eine SMS zu schicken: »Können wir nicht wenigstens miteinander REDEN?«

Sie simste zurück: »ARTUR.«

Ich wusste, was das bedeutete. Sie hatte früher mal einem Jungen, auf den sie sauer war, per SMS mitgeteilt, was sie von ihm hielt, doch das wohlerzogene, kleine Hühnerhirn des Handys kannte dieses Wort nicht und machte »ARTUR« daraus.

»ARSCH«, bedeutete das. Nie hätte ich geglaubt, dass dieses Wort mich bezeichnen würde.

Obendrein mussten alle natürlich zu mir herkommen und fragen: »Hast du dich mit Maira verkraaacht?«

Als ob das nicht genug wäre, würde unsere erste Epochenarbeit sich mit sphärischer Trigonometrie befassen, ein Thema, das mich kaum zum Jubeln brachte.

Arsch Arwen Artur machte das einzig Wahre, sie wartete, bis sie Migräne bekam, und verließ die Schule nach der Mittagspause.