Rudyard Kipling


Das zweite Dschungelbuch

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-154-1


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Im Rukh




Unter den zahlreichen Abteilungen, die der indischen Regierung unterstehen, ist kaum eine so wichtig wie die Forstverwaltung. Ihre Aufgabe ist die Wiederaufforstung ganz Indiens oder wird es sein, sobald die Regierung über die nötigen Geldmittel dazu verfügt. Ihre Beamten kämpfen mit Triebsand und Wanderdünen, errichten Dämme gegen den fliehenden Sand und bepflanzen die Dünen zur Befestigung mit Hartgras und Krüppelkiefern nach den Regeln von Nancy. Sie sind verantwortlich für alles Schlagholz in den Staatsforsten des Himalajas ebenso wie für die kahlen Hügelhänge, die der Monsun zu klaffenden Rinnen und Schluchten zerwäscht, was aussieht, als ob aufgerissene Mäuler über die Folgen der Nachlässigkeit klagten. Mit ganzen Bataillonen ausländischer Baumsorten stellen sie Versuche an und veranlassen den Eukalyptus, Wurzel zu schlagen, um damit vielleicht das Sumpffieber zu beseitigen. In der Ebene ist ihre Hauptaufgabe, die Gürtelfeuerlinien in den Waldreservaten zu überwachen und sie klarzuhalten, damit, wenn Dürre einsetzt und das Vieh Not leidet, diese Reservate den Herden der Dörfer geöffnet werden und die Menschen sich dort Feuerholz sammeln können. Ferner müssen sie dafür Sorge tragen, dass die Holzstapel längs der Eisenbahnen, die nicht mit Kohle feuern, stets genügend aufgefüllt sind; bis in die fünfte Dezimalstelle berechnen sie ihren Gewinn aus den Plantagen, sind Ärzte und Hebammen der gewaltigen Tiekholzwälder von Oberbirma, der Gummibäume der östlichen Dschungel und der Gallnüsse des Südens; stets aber sind sie gehemmt in ihrer Arbeit durch den Mangel an staatlichen Mitteln.

Da aber der Forstbeamte durch seinen Beruf weitab von begangenen Pfaden und bewohnten Orten geführt wird, sieht und lernt er mehr Dinge als solche, die nur sein Fach betreffen. Er wird vertraut mit dem Leben und mit der Art des Dschungelvolkes; er begegnet dem Tiger, Bären, Leoparden, Wildhund und all dem Getier des Waldes nicht nur einmal nach tagelangem Wandern, sondern wieder und wieder während seiner dienstlichen Verrichtungen. Den größten Teil seiner Zeit verbringt er im Sattel oder unterm Zeltdach, ist der Freund neugepflanzter Bäume, der Genosse rauer, ungeschlachter Waldhüter bis die Wälder, die die Zeichen seiner Pflege tragen, nun ihrerseits ihm ihren Stempel aufdrücken; er singt nicht mehr die leichtfertigen französischen Lieder, die er einst in Nancy lernte, er wird schweigsam mit dem schweigenden, endlosen Dickicht.

Gisborne hatte bereits fünf Jahre im Dienste der indischen Forstverwaltung verbracht. Anfangs liebte er seinen Beruf, da er ihn auf Pferdesrücken in die freie Natur führte und ihm Macht in die Hand gab, aber er war nicht ganz erfüllt von ihm. Dann begann er seinen Beruf wütend zu hassen und würde ein Jahresgehalt hergegeben haben für einen Monat geselligen Verkehrs, wie man ihn in Indien haben kann. Als dann die Krisis vorüber war, nahm ihn der Wald wieder zurück, und er war zufrieden, ihm zu dienen. Er erweiterte und vertiefte die Feuergürtel des Forstes, schützte das junge Grün neuer Pflanzungen vor dem älteren Laubwerk, ließ versandete Flüsse ausbaggern und stärkte den Wald da, wo er am äußersten Rande dahinsiechte und unter dem hohen Riedgras erstarb. Eines stillen Morgens dann wurde dieses Gras in Brand gesteckt, und Hunderte von Tieren, die dort gehaust hatten, flüchteten vor den fahlen Flammen in der grellen Mittagssonne eiligst davon. Später dann rückte der Wald in wohlgeordneten Reihen junger Setzlinge über den geschwärzten Grund vor, und Gisborne übersah sein Werk und war wohlzufrieden.

Sein Bungalow, ein strohgedecktes, weißgetünchtes Häuschen von zwei Räumen, lag an dem einen Ende des großen Rukhs, die Wildnis überschauend. Es gab keinen Garten, denn der Urwald brandete bis an die Tür des Hauses, endete da in einem Bambusdickicht, und Gisborne konnte von seiner Veranda aus unmittelbar in das Herz des Rukhs gelangen. Abul Gafur, sein dicker mohammedanischer Haushälter, kochte für ihn, wenn er daheim war, und die übrige Zeit schwatzte er mit der Schar kleiner eingeborener Bedienter, deren Hütten hinter dem Bungalow lagen: zwei Pferdepfleger, ein Koch, ein Wasserträger und ein Stubenboy, das war alles. Gisborne reinigte seine Gewehre selbst und hielt auch keinen Hund. Hunde verscheuchen das Wild; er aber liebte es, über die Untertanen seines Reiches genau Bescheid zu wissen, wo sie beim Mondaufgang zur Tränke gingen, wo sie vor Sonnenaufgang ästen oder schlugen und wo sie während der Hitze des Tages ruhten. Die Heger und Waldhüter wohnten in kleinen Hütten weit abseits im Rukh und erschienen nur, wenn einer von ihnen durch einen stürzenden Baum oder ein Raubtier verletzt worden war. Sonst war Gisborne immer allein.

Im Frühling zeigte das Rukh nur wenig junges Grün, im übrigen lag es noch unberührt von dem Wandel des Jahres und wartete auf Regen. Mehr Rufen und Rühren war ringsum im Dunkel während der schwülen Nächte, das Getöse eines königlichen Kampfes zwischen Tigern, das Röhren eines stolzen Bockes oder das beständige Schaben und Wetzen eines alten Ebers, der die Hauer an einem Baumstamm schärfte. Dann legte Gisborne seine wenig benutzte Büchse ganz beiseite, denn Sünde schien es ihm, zu dieser Zeit ein Lebewesen zu töten. Wenn mit der sengenden Hitze des Mais der Sommer einsetzte und das Rukh unter dem glühenden Dunst zitterte, hielt Gisborne sorgsam Ausschau nach dem ersten Zeichen kräuselnd aufsteigenden Rauchs, der den Ausbruch des Waldbrands verriet. Dann brach in Strömen der Regen los, und das Rukh verschwand unter Schwaden auf Schwaden dampfenden Nebels; die ganze Nacht durch trommelten die Tropfen auf die breiten Blätter; man hörte das Rauschen von Wasser und das Wogen saftiggrüner Stauden, wenn der Wind hindurchstrich; und die Blitze woben Muster auf die dunkle Wand des Laubwerks, bis dann die Sonne das Gewölk wieder siegreich durchbrach und das Rukh unter dem reingefegten Himmel mit dampfenden Flanken stand. Später dann verblaßten die Farben unter der Hitze und Trockenheit, und alles wurde gelb wie das Fell des Tigers. So wurde Gisborne mit dem Rukh ganz vertraut und fühlte sich glücklich.

Jeden Monat traf regelmäßig sein Gehalt ein, aber er brauchte nur wenig davon. Das Geld bewahrte er in einem Schubfach auf, zusammen mit Briefen aus der Heimat und dem Zündkapseleinsetzer. Dort häuften sich mehr und mehr die Scheine, und wenn er von dem Gelde nahm, so geschah es, um etwas von dem Botanischen Garten in Kalkutta zu kaufen oder die Witwe eines im Dienst umgekommenen Hegers mit einer Summe zu unterstützen, die von der indischen Regierung beim Tod eines Beamten niemals bewilligt worden wäre.

Mit viel Geld ließ sich manches gutmachen, aber mitunter war auch Vergeltung angebracht, und er nahm sie, wenn es notwendig war. Eines Nachts kam ein Bote atemlos und keuchend angelaufen mit der Meldung, dass am Ufer des Kanjeflusses die Leiche eines Waldhüters läge, und sein Schädel wäre wie eine Eierschale eingeschlagen. Beim Morgengrauen machte sich Gisborne auf, um den Mörder zu suchen. Nur Reisende und hin und wieder junge Soldaten rühmten sich vor der Welt ihrer weidmännischen Taten. Für den Forstmann gehört "Schikar" die "Jagd" zur Tagesarbeit, und selten hört man etwas davon. Gisborne begab sich zu Fuß an den Ort der Mordtat; die Witwe wehklagte an der auf einer Bahre ruhenden Leiche, während drei bis vier Männer auf dem feuchten Boden nach Fußspuren suchten.

"Der Rote ist es gewesen", erklärte einer der Männer. "Ich wußte es, dass er früher oder später den Menschen angehen würde. Und dabei gibt es reichlich genug Wild für ihn in den Wäldern. Das hat er nur aus Bosheit gemacht."

"Der Rote lagert hoch oben in den Felsen hinter den Salbäumen", antwortete Gisborne. Er kannte den Tiger, den er im Verdacht hatte.

"Nicht jetzt, Sahib, nicht jetzt. Er streift blutdürstig umher. Bedenke, dass ein erster Mord immer ein dreifacher ist. Unser Blut macht ihn toll. Vielleicht lauert er ganz nahe hinter uns, während wir reden."

"Vielleicht ist er auch zur nächsten Hütte gewechselt", sagte ein anderer. "Nur vier Koß liegt sie entfernt. Walla, wer ist denn das?"

Gisborne und die anderen wandten sich um. Ein Mann kam das trockene Flußbett herabgeschritten, nackt bis auf das Lendentuch, aber gekrönt von einem Kranz von hängenden weißen Blüten der Winde; so geräuschlos schritt er über die Kiesel dahin, dass selbst Gisborne, der an den leisen Tritt der Fährtensucher gewöhnt war, zusammenschrak.

"Der Tiger, der mordete", begann der Ankömmling ohne jeden Gruß, "ist zur Tränke gegangen, und nun schläft er unter einem Felsen hinter dem Hügel dort."

Seine Stimme klang klar und glockenrein, ganz anders als das übliche Genäsel der Eingeborenen, und als er nun, von der Sonne umstrahlt, das Antlitz hob, hätte er ein Engel sein können, der sich in die Wälder verirrte. Das Wehklagen der Witwe über der Leiche verstummte; mit runden Augen starrte sie auf den fremden Mann und kehrte dann mit verdoppeltem Eifer zu ihrer Klagepflicht zurück.

"Soll ich dem Sahib zeigen?" fragte er schlicht.

"Wenn du sicher bist...", begann Gisborne.

"Sicher, wahrlich. Erst vor einer Stunde sah ich ihn, den Hund. Er macht sich vor seiner Zeit an Menschenfleisch. Noch hat er ein Dutzend gesunder Zähne in seinem teuflischen Schädel."

Die Männer, die nach den Fußspuren suchten, machten sich lautlos davon aus Furcht, Gisborne möchte sie zum Mitkommen auffordern; und der junge Fremdling lachte leise vor sich hin.

"Komm, Sahib, komm!" rief er, wandte sich um und schritt leichtfüßig vor seinem Begleiter her.

"Nicht so rasch. Mit dir kann ich nicht Schritt halten", rief der weiße Mann. "Bleib stehen. Dein Gesicht ist mir neu."

"Schon möglich. Erst vor kurzem bin ich in diesen Forst gekommen."

"Von welchem Dorf bist du?"

"Ich bin von keinem Dorf. Von dort kam ich her." Er wies mit dem Arm nach Norden.

"Ein Zigeuner also?"

"Nein, Sahib, ich bin ein Mensch ohne Kaste und daher auch ohne Vater."

"Wie nennt man dich?"

"Mogli ist mein Name; und wie heißt der Sahib?"

"Ich bin der Wächter des Rukhs, Gisborne ist mein Name."

"Wie? Werden die Bäume und Grashalme hier gezählt?" "Gewiß, damit fahrendes Volk wie deinesgleichen sie nicht in Brand steckt."

"Ich! Um keinen Preis würde ich der Dschungel Schaden antun, meine Heimat ist sie."

Mit einem unwiderstehlichen Lächeln wandte er sich Gisborne zu und hob warnend die Hand.

"Jetzt müssen wir leise auftreten. Sahib. Man braucht den Hund nicht vorzeitig zu wecken, wenn er auch tief genug schläft. Vielleicht wäre es besser, wenn ich allein vorginge und ihn unter dem Winde dem Sahib zutriebe."

"Allah! Seit wann werden Tiger von nackten Männern wie Rindvieh getrieben?" rief Gisborne entsetzt über des Mannes Kühnheit.

Wiederum lächelte Mogli sanft. "Nun, dann komm mit mir und erlege ihn auf deine Art mit der schweren englischen Büchse."

Gisborne folgte den Fußspuren seines Führers, kletterte, klomm, kroch und wand sich durch alle Mühen eines schweren Dschungelpirschgangs. Er war hochrot und schweißtriefend, als Mogli ihn schließlich aufforderte, den Kopf zu heben und über einen bläulichen Felsblock dicht bei einem kleinen Bergteich zu spähen. Der Tiger lag ausgestreckt beim Wasser und leckte sich träge und wohlig seine riesige Vorderpranke sauber. Er war alt, gelbgezähnt und über und über räudig, bot aber doch, wie er so in der Sonne dalag, einen gewaltigen Anblick.

Gisborne hatte keinerlei falsche jagdliche Bedenken, wenn es sich um einen Menschenfresser handelte. Dieses Gewürm da mußte so bald wie möglich ausgetilgt werden. Er wartete, bis er wieder zu Atem gekommen war, stützte das Gewehr auf den Felsblock und pfiff leise. Die Bestie wandte langsam den eckigen Kopf, kaum zwanzig Schritt von der Mündung der Büchse entfernt, und Gisborne legte ganz geschäftsmäßig seine Schüsse hin, den einen unter die Schulter und den anderen dicht unter das Auge. Auf so kurze Entfernung bieten die schweren Knochen des Tigers keinen Schutz gegen Stahlmantelgeschosse.

"Na, es lohnt sich nicht einmal, ihm die Haut abzuziehen", sagte Gisborne, als sich der Rauch verzog und das Tier sich im Todeskampf wälzte.

"Einen Hundetod für den Hund", bemerkte Mogli gelassen. "Ja, an dem Kadaver da ist nichts, was man mitnehmen könnte."

"Die Barthaare, schneidest du ihm nicht die Barthaare ab?" sagte Gisborne, der wußte, welchen Wert seine eingeborenen Heger auf solcherlei Dinge legten.

"Ich? Bin ich ein lausiger Schikarri der Dschungel, dass ich mich mit dem Maul eines Tigers abgebe? Laß ihn liegen. Da kommen schon seine Freunde." Über ihren Köpfen kam ein Geier schrill pfeifend herabgestürzt, während Gisborne die leeren Hülsen auswarf und sein Gesicht trocknete.

"Und wenn du kein Schikarri bist, wo erwarbst du da deine Kenntnis des Tigervolks?" sagte er. "Kein geübter Fährtensucher hätte es besser machen können."

"Ich hasse alle Tiger", entgegnete Mogli kurz. "Will der Sahib mir seine Flinte zu tragen geben? Arré, eine prächtige Büchse ist das. Und wohin geht der Sahib jetzt?"

"Zu meinem Hause."

"Darf ich mitkommen? Ich habe niemals das Haus eines weißen Mannes von innen gesehen."

Gisborne kehrte nach seinem Bungalow zurück; Mogli schritt geräuschlos neben ihm, seine braune Haut glänzte in der Sonne.

Neugierig beäugte er die Veranda und die beiden Stühle darauf, betrachtete mißtrauisch die Rollvorhänge aus Bambusstäben, und während er eintrat, sah er sich immer wieder nach rückwärts um. Gisborne ließ einen der Vorhänge zum Schutz gegen die Sonne herunter. Dieser fiel klappernd nieder, aber noch ehe er den Boden der Veranda berührt hatte, war Mogli mit einem Satz zurückgesprungen und stand heftig atmend im Freien.

"Eine Falle ist das", sagte er hastig.

Gisborne lachte. "Weiße stellen keine Menschenfallen. Du bist wahrhaftig ein echtes Geschöpf der Dschungel."

"Ich sehe, das Ding hat weder Haken noch Schlinge", sagte Mogli. "Noch ... noch niemals habe ich derartiges gesehen."

Auf Zehenspitzen kam er wieder in das Haus zurück und betrachtete mit weitgeöffneten Augen die Einrichtung der beiden Räume. Abdul Gafur, der gerade das Mittagsmahl auftrug, betrachtete ihn mit tiefem Abscheu.

"Soviel Mühe, um essen zu können, und soviel Mühe, um zu ruhen nach dem Essen", sagte Mogli grinsend. "Wir in der Dschungel haben es leichter. Sehr wunderbar ist alles. Viele kostbare Dinge gibt es hier. Fürchtet der Sahib nicht, dass man ihn berauben könnte? Nie zuvor habe ich so herrliche Dinge erblickt." Er schaute bewundernd auf eine staubige Messingschale aus Benares auf einem wackeligen Ständer.

"Rauben würde hier nur ein Dieb aus der Dschungel", warf Abdul Gafur ein und klapperte geräuschvoll mit den Tellern. Mogli öffnete weit seine Augen und blickte den weißbärtigen Mohammedaner an.

"In meinem Reich schneidet man Ziegen den Hals durch, wenn sie allzu laut blöken", entgegnete er heiter. "Aber habe keine Angst, du. Ich gehe."

Er wandte sich um und verschwand im Rukh. Gisborne blickte ihm mit einem Lachen nach, das in einen leichten Seufzer ausklang. Außerhalb des regelmäßigen Dienstes gab es im Leben eines Forstbeamten nicht viel Abwechslung, und dieser Sohn der Wälder, der mit Tigern umging wie gewöhnliche Sterbliche mit Hunden, würde ihm willkommene Zerstreuung gewesen sein.

Ein ganz prachtvoller Bursche ist das, dachte Gisborne; fast wie ein Bild aus einem Werk der Klassik. Ich hätte ihn gern zu meinem Büchsenspanner gemacht. Allein zu pirschen ist immer langweilig, und dieser Junge würde einen vollkommenen Schikarri abgeben. Was in aller Welt mag er wohl sein?

Am Abend des gleichen Tages saß er unter der Veranda unter den Sternen, rauchte und sann. Aus dem Pfeifenkopf stieg eine Rauchwolke hoch. Als sie abgezogen war, sah er Mogli mit gekreuzten Armen auf dem Geländer der Veranda sitzen. Ein Geist konnte nicht geräuschloser erschienen sein. Gisborne stutzte und ließ die Pfeife fallen.

"Draußen im Rukh gibt es keinen, mit dem man reden könnte. Deshalb bin ich zu dir gekommen", sagte Mogli, hob die Pfeife auf und gab sie Gisborne zurück.

"Oh", meinte Gisborne und fuhr nach einer längeren Pause fort: "Was gibt es Neues im Rukh? Hast du wieder einen Tiger ausgemacht?"

"Die Nilghais wechseln ihre Weidegründe, wie immer zur Zeit des Neumonds, die Sauen wühlen jetzt am Kanjefluß, denn sie wollen nicht mit den Nilghais zusammen fressen, und eine ihrer Bachen wurde von einem Leoparden gerissen in dem hohen Gras der Flußmündung. Mehr weiß ich nicht."

"Und woher weißt du das alles?" fragte Gisborne, lehnte sich vor und blickte in die Augen des Fremden, die im Sternenlicht glitzerten.

"Wie sollte ich nicht wissen? Die Nilghais haben ihre Gewohnheiten und Bräuche, und jedes Kind weiß, dass Schwarzwild niemals mit ihnen zusammen äst."

"Ich wußte es nicht."

"Tck, tck! Und du bist Oberaufseher, wie die Männer in den Hütten mir sagten, Oberaufseher über alle diese Forsten?" Mogli lachte leise.

"Kindermärchen zu erzählen ist leicht genug", gab Gisborne, gereizt über das Lachen, zurück. "Du kannst wer weiß was berichten, was alles im Rukh vorgeht, wenn keiner das nachprüfen kann."

"Die Knochen der gerissenen Bache werde ich dir morgen zeigen", entgegnete Mogli gänzlich unbewegt. "Und was die Sache mit den Nilghais betrifft, so möge der Sahib nur still sitzen bleiben, und ich werde einen Nilghaibullen hierhertreiben. Wenn der Sahib gut auf die Geräusche achtet, dann wird er erkennen, von woher der Nilghai getrieben wird."

"Die Dschungel hat deine Gedanken verwirrt, Mogli", sagte Gisborne. "Wer in der Welt könnte Nilghaibüffel treiben?"

"Sitze still denn, ich gehe."

Beim Himmel, ein Geist ist dieser Mann, dachte Gisborne. Denn Mogli war in der Nacht verschwunden, ohne dass man auch nur den leisesten Tritt gehört hätte. Das Rukh breitete sich wie in breiten Falten aus schwarzem Samt unter dem ungewissen Licht der Sterne aus, so still lag es, dass der leiseste, durch die Baumwipfel streichende Windhauch herüberklang wie das Seufzen eines tief schlafenden Kindes. In der Küche klapperte Abdul Gafur mit dem Geschirr.

"Ruhe da!" rief Gisborne und sammelte sich, um zu lauschen wie einer, der mit der Grabesstille des Rukhs wohlvertraut war. Er hatte die Gewohnheit, sich regelmäßig zum Essen feierlich anzukleiden, um so seine Selbstachtung in der Abgeschiedenheit seines Daseins zu wahren, und nun knarrte die steife Hemdbrust bei jedem Atemzug, bis er die Lage änderte. Dann begann der Tabak in der etwas verstopften Pfeife zu schmoren, und er legte sie beiseite. Bis auf den leisen Atem der Nacht im Rukh war nun alles totenstill.

Aus unbestimmter Ferne drang durch das tiefe Dunkel das ganz schwache Echo eines Wolfsgeheuls. Dann trat wieder völliges Schweigen ein, für lange Stunden, wie es schien. Endlich, als seine Beine unterhalb der Knie schon alles Gefühl verloren hatten, vernahm Gisborne etwas wie ein Krachen sehr weit weg im Unterholz. Er zweifelte, bis sich das Krachen ständig wiederholte.

"Das kommt vom Westen", murmelte er; "irgend etwas ist dort im Gange." Der Lärm wuchs, das Knacken und Krachen wurde immer deutlicher, und dann hörte man das tiefe Grunzen eines heiß verfolgten Nilghaibullen, der in panischer Angst flüchtete, ohne seines Weges zu achten.

Zwischen den Baumstämmen brach ein Schatten hervor, wuchtete wie erschrocken zurück, stürzte grunzend und brummend von neuem vor und kam mit Getrappel über den festen Boden so dicht an der Veranda vorbeigejagt, dass Gisborne ihn fast mit der Hand berühren konnte. Ein Nilhaibulle war es, triefend vom Tau, um die Hörner hingen Schlingpflanzen, und seine Augen glühten auf in dem aus dem Hause fallenden Licht. Beim Anblick des Menschen stutzte das Tier und flüchtete am Rande des Rukhs entlang, bis es in der Dunkelheit verschwand. Als erstes dachte Gisborne in seinem verwirrten Sinn, dass es höchst ungehörig war, den schweren, blauen Bullen so aufzustöbern und so zu treiben, ihn gleichsam zur Musterung vorzuführen während der Nacht, während der man die Tiere in Ruhe lassen sollte.

Dann sagte eine sanfte Stimme an seinem Ohr, während er noch starrend dastand:

"Von der Flußmündung kam er, wo er die Herden anführte. Vom Westen her. Glaubt der Sahib jetzt, oder soll ich auch noch die Herde herantreiben, auf dass sie gezählt wird? Der Sahib ist doch der Wächter des Rukhs."

Mogli hatte sich auf der Veranda niedergelassen, ein wenig kürzer atmend als sonst. Gisborne blickte ihn mit offenem Munde an. "Wie ist das möglich gewesen?" fragte er.

"Der Sahib sah. Getrieben wurde der Bulle, getrieben wie ein zahmer Büffel. Ho, ho! eine schöne Geschichte wird er zu erzählen haben, wenn er zu seiner Herde zurückkommt."

"Dieser Trick ist mir neu. Kannst du denn ebenso schnell laufen wie ein Nilghai?"

"Der Sahib hat gesehen. Wenn der Sahib genaue Nachricht braucht vom Wechsel des Wildes zu irgendeiner Zeit, so bin ich, Mogli, zur Stelle. Ein gutes Rukh ist das, ich werde hierbleiben."

"Bleibe denn. Wenn du essen willst, so ist eine Mahlzeit für dich immer bereit."

"Ja, wahrlich, gekochte Nahrung liebe ich sehr", antwortete Mogli rasch. "Keiner darf sagen, dass ich nicht Gekochtes und Gebratenes ebenso gern esse wie jeder andere Mensch. Für die Mahlzeit komme ich her. Dafür verspreche ich, dass der Sahib ruhig in seinem Hause schlafen kann bei Nacht, und kein Dieb soll einbrechen, um ihm die reichen Schätze wegzutragen."

Mit Moglis plötzlichem Verschwinden nahm die Unterhaltung ein Ende. Gisborne saß noch lange rauchend auf der Veranda, und das Ergebnis seines Nachdenkens war, dass er in Mogli endlich den idealen Forstwart und Waldhüter gefunden hatte, nach dem er und die Verwaltung schon lange suchten.

Ich muß ihn in den Dienst der Regierung nehmen. Ein Mann, der Nilghaiherden zu treiben versteht, weiß mehr vom Walde als zwei Dutzend gute Forstbeamte. Ein wahres Wunder ist er, ein Jusus naturae, aber Wildhüter muß er werden; wenn man ihn nur dazu bringen kann, sich an einem Ort niederzulassen, dachte Gisborne.

Weniger günstig war Abdul Gafurs Urteil. Er bemerkte zu Gisborne beim Schlafengehen, dass derartige Fremdlinge von Gott-weiß-woher zumeist berufsmäßige Diebe wären, und er persönlich hätte überhaupt nichts übrig für solche nackten Kastenlosen, die sich weißen Männern gegenüber nicht zu benehmen wüßten. Gisborne lachte und schickte ihn fort, worauf sich Abdul Gafur brummend verzog. In der Nacht sah er sich veranlaßt, seine dreizehnjährige Tochter durchzuprügeln. Niemanden war der Grund des Streits bekannt, aber Gisborne hörte das Geschrei.

Während der folgenden Tage kam und ging Mogli wie ein Schatten. In der Nähe des Bungalows, hart am Waldrand, hatte er sich eine Art Wohnplatz eingerichtet; und Gisborne sah ihn zuweilen, wenn er auf die Veranda trat, im Mondlicht mit der Stirn auf den Knien hocken oder ausgestreckt auf einem gegabelten Ast liegen, angeschmiegt wie ein Tier des Waldes. Mogli grüßte dann herüber, rief Gisborne zu, ruhig zu schlafen, oder kam auch zu ihm herabgestiegen und erzählte wundersame Geschichten von dem Leben der Tiere im Rukh. Einmal drang Mogli auch bis zu den Ställen vor, und man fand ihn dort, wie er lange aufmerksam die Pferde betrachtete.

"Das ist ein sicheres Zeichen, dass er bald eins stehlen wird", bemerkte Abdul Gafur gehässig. "Wenn er ständig hier um das Haus herumlungert, warum macht er da nicht eine ordentliche Arbeit, wie es sich gehört? Aber nein, er muß andauernd hin und her tapsen wie ein losgebundenes Kamel, den Narren den Kopf verdrehen und den Dummen das Maul zu törichter Rede öffnen." So gab er denn Mogli, wann immer er ihn traf, unfreundliche Worte und hieß ihn mit barscher Stimme Wasser holen oder Hühner rupfen; und gutmütig lachend gehorchte Mogli.

"Kastenlos ist er", schmähte Abdul Gafur. "Alles will er tun. Gib nur acht, Sahib, dass er nicht einmal zuviel tut. Eine Schlange ist eine Schlange, und ein Dschungelzigeuner ist ein Dieb, solange die Erde besteht."

"Hör auf damit", erklärte Gisborne. "Ich erlaube dir, deinen Haushalt in Ordnung zu halten, wenn damit nicht zuviel Lärm verknüpft ist, denn ich kenne dich und deine Gewohnheiten. Meine Art kennst du noch nicht. Ein wenig verrückt scheint der Mann ja zu sein."

"Ein klein bisschen verrückt allerdings", stichelte Abdul Gafur. "Man wird ja sehen, was dabei herauskommt." Kurze Zeit danach führte Gisborne der Dienst drei Tage in das Rukh. Abdul Gafur, der alt und fett war, wurde zu Hause gelassen. Es lag ihm auch nichts daran, in den Hütten der Waldhüter zu nächtigen, auch benutzte er gern die Abwesenheit seines Herrn, um in dessen Namen Steuern für Getreide, Öl oder Milch von denen einzutreiben, die dergleichen Abgaben schwer aufbringen konnten. Als Gisborne beim Morgengrauen abritt, war er etwas enttäuscht, den seltsamen Waldmenschen nicht bei der Veranda zu finden, um ihn zu begleiten. Er schätzte ihn, schätzte seine Kraft, Gewandtheit, den geräuschlosen Schritt und das freie, offene Lächeln; die völlige Unkenntnis aller Umgangsformen gefiel ihm und ebenso die kindlichen Erzählungen Moglis (denen Gisborne jetzt Glauben schenkte) über das Tun und Treiben des Wildes im Rukh. Nachdem er schon eine Stunde durch den Forst geritten war, hörte er ein leises Rascheln hinter sich, und Mogli trabte neben seinem Steigbügel.

"Wir haben drei Tage Arbeit vor uns in den Schonungen", sagte Gisborne.

"Schön", erwiderte Mogli. "Junge Bäume zu pflanzen ist immer schön. Sie geben Schutz, wenn die Tiere sie nur unberührt ließen! Das Schwarzwild müssen wir wieder verschieben."

"Wieder? Wieso?" Gisborne lächelte.

"Ach, vergangene Nacht wühlten und gruben sie unter den jungen Salbäumen, und ich trieb sie fort. Deshalb war ich heute morgen nicht an der Veranda. Auf dieser Seite des Rukhs sollte sich das Schwarzwild überhaupt nicht aufhalten. Wir müssen es unten am Kanjefluß halten."

"Wenn man Wolken treiben könnte, möchte das vielleicht gelingen. Aber, Mogli, wenn du Treiber bist im Rukh, wie du sagst, ohne Lohn und Gewinn ..."

"Das Rukh gehört dem Sahib", sagte Mogli rasch aufschauend. Gisborne nickte Dank und fuhr fort: "Wäre es nicht besser, um festen Lohn von der Regierung zu arbeiten? Am Ende einer langen Dienstzeit winkt dir dann ein Ruhegehalt."

"Daran habe ich schon gedacht", sagte Mogli, "aber die Heger leben in Hütten mit verschließbaren Türen, und all das hat für mich zu sehr das Aussehen von Fallen. Doch ich meine ..." "Überlege wohl und gib mir später Bescheid. Jetzt wollen wir haltmachen und frühstücken."

Gisborne saß ab und machte sich an die in hausgenähten Satteltaschen mitgeführte Morgenmahlzeit. Heiß stieg der Tag auf über dem Rukh. Mogli lag im Gras und starrte in den Himmel. Plötzlich flüsterte er in schläfrigem Ton: "Sahib, hast du irgendeinen Befehl im Bungalow gegeben, die weiße Stute heute zu bewegen?"

"Nein, sie ist fett und alt und lahmt etwas. Warum fragst du?"

"Sie wird jetzt geritten, und durchaus nicht langsam, auf der Straße, die nach der Eisenbahn führt."

"Bah, die Straße liegt zwei Koß weit entfernt. Ein hämmernder Specht ist es."

Mogli hob den Oberarm, um seine Augen gegen die Sonne zu schützen.

"Vom Bungalow macht die Straße einen großen Bogen nach hierher. Es ist nicht weiter als ein Koß im Geierflug; der Schall fliegt mit den Vögeln. Wollen wir nachsehen?"

"Unsinn! Einen Koß weit in der Sonnenglut zu laufen, nur um ein Geräusch im Forste festzustellen!"

"Nun, das Pferd ist das Pferd des Sahibs. Ich meinte nur, es hierherzubringen. Ist es nicht die Stute des Sahibs, dann gut. Ist sie es, der Sahib kann tun, was ihm beliebt. Ganz augenscheinlich wird sie sehr scharf geritten."

"Und wie willst du sie hierherbringen? Narr, du."

"Hat der Sahib vergessen? Auf die Art der Nilghais."

"Auf denn und laufe, wenn dir der Sinn danach steht."

"Oh, zu laufen brauch' ich gar nicht." Er streckte seine Hand aus zum Zeichen des Schweigens, und, ruhig auf dem Rücken liegenbleibend, rief er dreimal laut, mit tiefem, gurgelndem Schrei, wie ihn Gisborne noch nie gehört hatte.

"Sie wird kommen", sagte Mogli zuletzt. "Wir wollen im Schatten warten." Die langen Wimpern senkten sich über seine herrischen Augen, und er begann in der Morgenstille leicht einzuduseln. Gisborne wartete geduldig. Mogli war zweifellos nicht recht bei Sinnen, aber der unterhaltsamste Begleiter, den sich ein einsamer Forstbeamter wünschen konnte. "Ho, ho", machte Mogli lässig mit geschlossenen Augen. "Er ist heruntergefallen. Die Stute wird also zuerst kommen und danach der Mann." Dann gähnte er, indes Gisbornes Ponyhengst zu wiehern begann. Drei Minuten später kam die weiße Stute gezäumt und gesattelt in die Lichtung getrabt und drängte sich zu ihrem Gefährten.

"Sehr warm ist sie geworden", sagte Mogli, "aber in dieser Hitze kommt der Schweiß leicht. Gleich werden wir den Reiter sehen, denn ein Mann geht langsamer als ein Pferd, besonders, wenn er dabei noch dick und alt ist."

"Allah, das ist Teufelsblendwerk!" rief Gisborne und sprang auf die Füße, denn ein Schrei drang aus der Dschungel.

"Habe keine Sorge, Sahib, er kommt nicht zu Schaden. Auch er wird sagen, dass es Teufelswerk ist. Horch! Wer ist das?"

Die Stimme Abdul Gafurs drang in Todesschrecken herüber. Unbekannte Mächte flehte er an, ihn und seine grauen Haare zu schonen.

"Nein, keinen Schritt mehr kann ich weiter", jammerte er. "Ich bin alt, und verloren ist mein Turban. Arré! Ja, ja, ich gehe schon, eilen will ich, laufen, was ich kann! Oh, ihr Teufel der Hölle, ein Muselman bin ich!"

Das Unterholz teilte sich, und Abdul Gafur tauchte auf, ohne Turban, ohne Schuhe, das Hüfttuch aufgelöst, Schmutz und Gras in den geballten Fäusten und das Gesicht purpurrot. Als er Gisborne erblickte, schrie er von neuem auf, wankte vor und fiel erschöpft und am ganzen Leibe zitternd vor seinem Herrn nieder. Mogli betrachtete ihn mit sanftem Lächeln.

"Das ist kein Scherz mehr", sagte Gisborne streng. "Der Mann kann sterben, Mogli."

"Er wird nicht sterben, er hat nur Angst. Es war gar nicht nötig, dass er ins Laufen verfiel."

Abdul Gafur erhob sich stöhnend, an allen Gliedern zitternd.

"Hexerei war es, Hexerei und Teufelswerk", schluchzte er und tastete mit seiner Hand auf der Brust herum. "Meiner Sünde wegen haben mich Teufel durch den Wald gepeitscht. Es ist alles aus, ich bereue. Nimm sie, Sahib!" Und er hielt Gisborne eine Rolle zerdrückter Papiere hin. "Was soll das bedeuten, Abdul Gafur!" Gisborne erriet bereits, was geschehen war.

"Wirf mich ins Gefängnis, hier sind die Banknoten alle, aber laß mich so sicher verschließen, dass keine Teufel mehr folgen können. Versündigt habe ich mich gegen den Sahib und gegen sein Salz, das ich aß; aber wären die verfluchten Walddämonen nicht über mich gekommen, so würde ich weit weg von hier haben Land kaufen können und in Frieden leben bis an mein seliges Ende."

Voller Verzweiflung und Reue schlug er mit dem Kopf auf den Boden. Gisborne drehte das Banknotenpäckchen in den Händen. Es war sein Gehalt der letzten neun Monate, das angesammelte Geld, das immer im Schubfach lag, zusammen mit den Briefen aus der Heimat und dem Zündkapseleinsetzer.

Mogli betrachtete Abdul Gafur und lachte leise vor sich hin.

"Es ist nicht nötig, mich wieder auf das Pferd zu setzen. Ich will zusammen mit dem Sahib langsam zu Fuß nach Hause gehen, und dann kann er mich unter Bedeckung ins Gefängnis schicken. Die Regierung gibt viele Jahre für ein solches Vergehen", sagte der Diener mit gebrochener Stimme.

In der Einsamkeit des Rukhs beginnt man über sehr vieles im Leben anders zu denken. Gisborne blickte auf Abdul Gafur und dachte daran, dass er ein sehr brauchbarer Diener war, ein Nachfolger sich erst in die Gewohnheiten des Hauses langsam einarbeiten müsse und bestenfalls eine neue, fremde Erscheinung mit fremder Stimme sein würde.

"Höre, Abdul Gafur", sagte er schließlich. "Du hast großes Unrecht getan, hast deine Ehre und dein Ansehen eingebüßt. Ich glaube aber, dass die Versuchung ganz plötzlich über dich gekommen ist."

"Allah! Nie zuvor habe ich nach dem Geld Verlangen getragen. Der Teufel packte mich an der Gurgel, während ich hinsah."

"Das meine ich auch. Geh jetzt zurück zu meinem Haus, und wenn ich heimkehre, werde ich die Noten durch einen Läufer zur Bank schicken, und es soll nicht mehr davon die Rede sein. Du bist zu alt für das Gefängnis, und deine Familie hat doch keine Schuld daran."

Abdul Gafur schluchzte und hielt Gisbornes rindslederne Reitstiefel umklammert. "Und der Sahib wird mich nicht entlassen?" stieß er hervor.

"Das wird sich finden. Das hängt ganz davon ab, wie du dich in Zukunft führst. Setze dich jetzt auf die Stute und reite langsam heim."

"Aber die Teufel?! Das Rukh steckt voller Teufel."

"Keine Sorge, alter Papa. Sie werden dir nichts tun, außer, du gehorchst nicht den Befehlen des Sahibs", sagte Mogli. "In diesem Falle aber werden sie dich nach Hause treiben, auf die Art der Nilghais." Abdul Gafur starrte Mogli sprachlos an, während er sich das Hüfttuch umschnürte.

"Sind es seine Teufel? Seine Teufel? Und ich dachte bei der Heimkehr alle Schuld auf diesen Hexenmeister zu schieben!"

"Gut ausgedacht war das, Huzrud. Aber bevor du eine Falle machst, sieh zu, wie groß das Wild ist, das da hineingeraten soll. Ich glaubte anfangs nur, dass irgendein Fremder das Pferd des Sahibs gestohlen hätte. Wenn ich gewußt hätte, dass du mich vor dem Sahib zum Diebe machen wolltest, da hätten dich meine Teufel bei den Beinen hierhergeschleppt. Doch es ist noch nicht zu spät dazu."

Mogli blickte fragend auf Gisborne; aber Abdul Gafur watschelte hastig zu der weißen Stute, kletterte auf ihren Rücken und floh davon, dass die Waldpfade hinter ihm krachten und hallten.

"Gut getan", sagte Mogli. "Aber er wird wieder herunterfallen, wenn er sich nicht an der Mähne festhält."

"Jetzt wirst du mir aber erklären, was das alles zu bedeuten hat", befahl Gisborne streng. "Was redest du da von Teufeln? Wie können Menschen im Rukh hin und her getrieben werden wie Rindvieh? Sprich!"

"Ist der Sahib zornig, weil ich ihm sein Geld gerettet habe?"

"Nein, aber da ist irgendein Trugwerk dabei, und das gefällt mir nicht."

"Sehr wohl. Aber wenn ich jetzt aufstünde und drei Schritt in das Rukh ginge, dann würde niemand, selbst der Sahib nicht, mich finden, bis es mir beliebte. Das aber würde ich ungern tun, ebenso ungern wie Rede stehen. Gedulde dich ein wenig, Sahib, und eines Tages werde ich dir alles zeigen, und wenn du willst, treiben wir eines Tages den Bock gemeinsam. Teufelei ist nicht dabei, ganz und gar nicht, nur... Ich kenne das Rukh so gut wie der Koch seine Küche."

Mogli sprach wie zu einem ungeduldigen Kinde. Gisborne schwieg verwirrt und verärgert, starrte zu Boden und dachte nach. Als er aufsah, war der Waldmensch verschwunden.

"Es ist nicht gut, wenn Freunde sich erzürnen", sagte eine leise Stimme aus dem Dickicht. "Warte bis zum Abend, Sahib, wenn es kühler geworden ist."

"Im Stich gelassen, mitten im Herzen des Rukhs", fluchte Gisborne; dann lachte er, stieg wieder auf und ritt weiter. Er besuchte eine Hegerhütte, besichtigte neue Anpflanzungen, gab Weisung zum Abbrennen eines trockenen Grasstreifens und machte sich dann zu seinem gewohnten Übernachtungsort auf, einer Anhäufung von Felsstücken, dürftig mit Zweigen und Blättern überdacht, unweit vom Ufer des Kanjeflusses gelegen. Es dunkelte schon, als er sich dem Ruheplatz näherte, und der Wald erwachte schon zu dem heimlichen, blutgierigen Leben der Nacht.

Von einem Erdhügel blinkte ein Lagerfeuer, und der Wind trug den Duft eines vortrefflichen Mahls heran.

"Hm", meinte Gisborne, "das ist auf jeden Fall besser als kaltes Fleisch. Das kann nur Müller sein; offiziell sollte er das Tschangamanga-Rukh abreiten, und deshalb ist er, denke ich, zur Zeit auf meinem Grund und Boden."

Der gigantische Deutsche, den Gisborne meinte, war Haupt und König der gesamten Wälder und Forsten Indiens, Oberforstmeister von Birma bis Bombay. Er hatte die Gewohnheit, wie eine hurtige Fledermaus von einem Revier zum anderen zu flitzen, ohne vorherige Ankündigung, und tauchte immer da auf, wo er am wenigsten erwartet wurde. Nach seiner Theorie waren überraschende Kontrollbesuche das beste Mittel, um Fehler oder Nachlässigkeiten im Dienst richtigzustellen; er zog die persönliche Rüge dem umständlichen schriftlichen Dienstverkehr vor, der gewöhnlich mit einem amtlichen Verweis endete und dem sonst tüchtigen Forstmann das Führungszeugnis verdarb. Müller erklärte das so: "Wenn ich zu meinen Leuten wie ein holländischer Onkel reden kann, dann sagen sie: 'Na ja, der olle Müller hat wieder mal Krach geschlagen', und das nächste Mal machen sie's besser. Aber wenn sich mein dicker Schreiber erst hinsetzt und eine lange Schrift losläßt: 'Der Herr Generalinspektor kann nicht begreifen, ist äußerst befremdet', dann kommen wir erstens nicht weiter, denn ich bin nicht zur Stelle, und zweitens kann mein Ochse von Nachfolger zu meinem besten Beamten sagen: 'Sehen Sie hier, schon mein Vorgänger war höchst unzufrieden mit Ihnen.' Sie können mir glauben, von wegen dicker Achselstücke und goldener Knöpfe wachsen die Bäume nicht."

Aus der Dunkelheit hinter dem Feuerschein erscholl Müllers tiefe Stimme, der sich über die Schulter seines Lieblingskochs beugte: "Nicht soviel Sauce, Sohn Belials! Worcestersauce ist eine Würze und keine Brühe. Siehe da, Gisborne! Mit dem Essen haben Sie heute nicht viel Glück. Wo ist Ihr Lager?" Er kam heran und schüttelte Gisborne kräftig die Hand.

"Ich bin mein eigenes Lager", erwiderte Gisborne. "Ich wußte gar nicht, dass Sie in der Nähe waren."

Müller betrachtete wohlgefällig die schlanke Figur des jungen Mannes. "Gut, sehr gut! Ein Pferd und etwas kaltes Fleisch zur Nahrung. Als ich jung war, machte ich es genauso. Jetzt essen Sie mit mir. Ich war gerade bei der Regierung, um meinen letzten Monatsbericht vorzulegen. Halb habe ich ihn selbst geschrieben, ho! ho! und den Rest habe ich meinen Schreibern überlassen und bin spazierengegangen. Die Regierung ist ganz verrückt mit solchen Berichten. Das habe ich auch dem Vizekönig neulich in Simla zu verstehen gegeben."

Gisborne lachte und erinnerte sich der vielen Geschichten, die über Müllers ständige Reibereien mit der hohen Regierung im Umlauf waren. Er war der leibhaftige Schrecken aller Amtsstellen, aber als Forstmann hatte er nicht seinesgleichen.

"Ich sage Ihnen, Gisborne, wenn ich Sie mal in Ihrem Bungalow antreffe beim Berichteschreiben an mich, anstatt beim Abreiten der Pflanzungen, dann versetze ich Sie mitten in die Bikkanerwüste, damit Sie die aufforsten. Mir ist das Papierkauen schon zum Kotzen, die Arbeit kommt dabei nicht vorwärts." "Es ist keine Gefahr, dass ich meine Zeit mit Berichtschreiben vergeude. Mir ist das ebenso zuwider wie Ihnen."

Die Unterhaltung ging auf Berufsangelegenheiten über. Müller hatte einige Fragen zu stellen, und Gisborne empfing dienstliche Weisungen, bis das Essen fertig war. Für Gisborne war es seit Monaten wieder einmal eine menschenwürdige Mahlzeit. Keine noch so große Entfernung von den Nahrungsmittelmärkten durfte Müllers Koch in seinem Werk beeinträchtigen; und das Essen in der Wildnis begann mit frischen Süßwasserfischen in vortrefflicher Würze und endete mit Kaffee und Kognak.

Mit einem Ah! höchster Befriedigung streckte sich Müller in seinem abgenutzten Feldstuhl aus und zündete sich eine Zigarre an. "Wenn ich meine Berichte verfasse, dann bin ich Freidenker und Atheist; aber hier im Rukh bin ich richtiggehender Christ. Auch Heide bin ich übrigens." Genießerisch zog er an seiner Zigarre, ließ die Hände auf die Knie fallen und blickte vor sich hin in das leise schlagende Herz des Waldes, aus dem geheimnisvolle Geräusche drangen. Zweige knackten, wie das Knacken des Lagerfeuers hinter ihm, Äste, von der Sonnenhitze krumm gebogen, reckten und dehnten sich seufzend in der Kühle der Nacht; das leise Rauschen des Kanjeflusses mischte sich mit den mannigfachen Tönen des reichbevölkerten Graslands, das, der Sicht entzogen, jenseits einer Hügelwelle lag. Müller stieß eine dicke Rauchwolke aus und begann Goethe zu zitieren.

"Ja, schön ist es, sehr schön. 'Und mit Geistesstärke wirke Wunder ich', und weiß Gott, sie werden wahr. Ich denke an die Zeit, wo das Rukh kaum kniehoch war von hier bis zum Ackerland; und zur Trockenheit fraßen die Tiere alle die Reste des verendeten Rindviehs. Jetzt stehen überall wieder hohe Bäume: die sind von einem Freidenker gepflanzt, weil der etwas von Ursache und Wirkung verstand. Aber unter den Bäumen hier herrscht der Kult der alten Götter 'und die Christengötter wimmern'. Sie können nicht leben im Rukh, Gisborne."

Auf dem zum Lager führenden Pfade bewegte sich ein Schatten, glitt heran und trat in das Licht der Sterne.

"Recht habe ich. Still! Hier ist Faunus höchstselbst, der kommt, um sich den Generalinspektor anzusehen. Wahrhaftig, der Gott ist es! Sehen Sie doch!"

Mogli war es, auf dem Kopf einen Kranz weißer Blüten und in der Hand einen Ast. Er mißtraute dem flackernden Feuer und schien jeden Augenblick bereit, wieder in das Dickicht zu entfliehen.

"Mein Freund ist es," erklärte Gisborne. "Er sucht mich. Hallo! Mogli!"

Ehe sich Müller von seinem Staunen erholen konnte, stand der seltsame Mensch schon neben Gisborne und rief: "Unrecht war es von mir, fortzugehen. Unrecht war es. Aber ich wußte nicht, dass die Gefährtin des Tigers, den du hier am Flusse getötet hast, wachte und dir auflauerte. Sonst wäre ich nicht fortgegangen. Sie schleicht dir nach, Sahib, auf der Schneise dahinten."

"Er ist ein wenig verrückt", sagte Gisborne. "Er spricht von allen Tieren hier herum, als ob sie seine Freunde wären."

"Natürlich, natürlich, wer sonst als Faun kann mit Tieren vertraut sein?" entgegnete Müller ernst. "Was meint er denn mit den Tigern, dieser Gott, der sie so gut kennt?"

Gisborne steckte sich eine frische Zigarre an, und sie war bis zum Ende heruntergebrannt, als er die Geschichte von Mogli und seinen Heldentaten beendet hatte. Müller hatte zugehört, ohne einmal zu unterbrechen. "Das ist kein Wahnsinn, ganz und gar nicht", sagte er schließlich, als ihm Gisborne die Hetze Abdul Gafurs beschrieben hatte.

"Was soll es sonst sein? Heute morgen verließ er mich aufgebracht, nur weil ich ihn fragte, wie er das zuwege gebracht hätte. Irgendwie ist der Bursche besessen, glaube ich."

"Nein, das ist keine Besessenheit, aber höchst wunderbar ist es. Gewöhnlich sterben sie jung, diese Leute. Und Sie sagen, Ihr Spitzbube von Diener hat nichts darüber ausgesagt, wer die Stute trieb, der Nilhaibulle kann natürlich nicht sprechen."

"Nein, und verdammt noch mal, da war auch nichts. Ich habe genau gehorcht, und meine Ohren sind gut. Der Bulle und der Mann kamen einfach angestürzt, wie irrsinnig vor Angst."

Müller schwieg, musterte Mogli von oben bis unten und winkte ihm dann, näher zu treten. Mogli kam heran wie ein Rehbock auf verwischter Fährte. "Brauchst keine Angst zu haben", sagte Müller in der Landessprache. "Streck' deinen Arm aus."

Er betastete den Arm am Ellenbogen und nickte. "Das habe ich mir gleich gedacht. Nun die Knie." Gisborne sah, wie er die Kniescheibe betastete, und lächelte. Ein paar Narben dicht über dem Fußgelenk fielen ihm auf.

"Die kamen, als du noch ganz jung warst?" fragte Müller.

"Ja, Liebesbeweise der Kleinen", antwortete Mogli lächelnd. Dann zu Gisborne gewandt: "Dieser Sahib weiß alles; wer ist er?"

"Das kommt später, mein Freund. Wo sind denn nun die Kleinen?" fragte Müller.

Mogli schwenkte seinen Arm im Kreis über dem Kopf.

"So! Also Nilghais kannst du treiben? Paß auf. Dort drüben steht angepflockt meine Stute. Kannst du sie hierher zu mir bringen, ohne sie zu erschrecken?"

"Kann ich die Stute zu dem Sahib bringen, ohne sie zu erschrecken?" wiederholte Mogli und erhob dabei ein wenig seine Stimme. "Was ist leichter, wenn die Fußfesseln gelockert sind?"

"Lockere die Kopf- und Fußriemen", rief Müller dem Pferdewärter zu. Kaum war das geschehen, als das Pferd, ein riesiger schwarzer Australier, den Kopf aufwarf und die Ohren spitzte.

"Vorsicht! Ich möchte nicht, dass sie ins Rukh getrieben wird", sagte Müller.