Tove Jansson

Die EHRLICHE

BETRÜGERIN

Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer

Urachhaus

Inhalt

Cover

Titel

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Impressum

Tove Jansson im Verlag Urachhaus

1

Es war einer der üblichen dunklen Wintermorgen, und es schneite noch immer. Kein einziges Fenster leuchtete im Dorf. Katri schirmte die Lampe ab, um ihren Bruder nicht zu wecken. Im Zimmer war es sehr kalt. Sie kochte Kaffee und stellte die Thermosflasche neben sein Bett. Vor der Tür lag der große Hund und beobachtete Katri mit der Schnauze zwischen den Pfoten, er wartete darauf, dass sie mit ihm hinausgehen würde.

Seit einem Monat schneite es auf das Küstenland herab. Niemand konnte sich erinnern, dass es je so viel Schnee gegeben hatte, diesen ständig fallenden Schnee, der sich vor Türen und Fenstern häufte, auf den Dächern lastete und nie auch nur eine einzige Stunde lang aussetzte. Kaum waren die Gehwege freigeschaufelt, da schneiten sie schon wieder zu. Die Kälte machte jede Arbeit in den Bootsschuppen unmöglich. Da es keinen Morgen mehr gab, wachten die Leute spät auf; das Dorf lag stumm unter dem unberührten Schnee, bis die Kinder herausgelassen wurden, Tunnel und Höhlen gruben, schrien und sich selbst überlassen blieben. Es war ihnen verboten worden, Katri Klings Fenster mit Schneebällen zu bewerfen, doch sie taten es trotzdem. Katri wohnte mit ihrem Bruder Mats und ihrem großen Hund, der keinen Namen hatte, auf dem Dachboden über dem Laden des Kaufmanns. Vor Tagesanbruch pflegte sie mit dem Hund herauszukommen und die Dorfstraße entlangzugehen, zum Leuchtturm hinaus; das tat sie jeden Morgen, und allmählich wachten die Leute auf und sagten, es schneit immer noch, und da geht sie jetzt wieder mit ihrem Hund, und den Wolfspelzkragen hat sie wieder an. Dass sie dem Hund keinen Namen gibt, das ist unnatürlich, alle Hunde müssen einen Namen haben.

Die Leute behaupteten, Katri Kling interessiere sich für nichts als Zahlen und ihren Bruder. Und sie fragten sich, woher Katri ihre gelben Augen wohl habe. Mats’ Augen waren ebenso blau, wie es die Augen der Mutter gewesen waren, und wie der Vater eigentlich ausgesehen hatte, wusste niemand mehr; es war schon so lange her, dass er nach Norden gefahren war, um eine Partie Holz zu kaufen und für immer wegzubleiben – und überhaupt, ein Zugereister. Man ist es ja gewöhnt, dass die Augen aller Menschen mehr oder weniger blau sind, aber Katris Augen waren beinahe so gelb wie die des Hundes. Sie musterte alles, was um sie herum vorging, durch schmale Augenschlitze, und es kam nur selten vor, dass jemand ihre unnatürliche Augenfarbe entdeckte, mehr gelb als grau. Katris ständiges, so leicht gewecktes Misstrauen öffnete ihr manchmal die Augen in einem raschen, direkten Blick, und bei gewisser Beleuchtung waren diese Augen dann tatsächlich gelb, was ihrem Gegenüber ein starkes Gefühl von Unsicherheit gab. Man spürte, dass Katri Kling niemandem vertraute außer sich selbst und sich für niemanden interessierte außer für sich selbst und ihren Bruder, den sie seit seinem sechsten Lebensjahr großgezogen und beschützt hatte, und das hielt die Leute auf Abstand. Außerdem hatte noch kein Mensch jemals gesehen, dass der namenlose Hund mit dem Schwanz gewedelt hätte. Auch nahmen diese Person und ihr Hund von keinem Menschen Freundlichkeiten an.

Nach dem Tod der Mutter hatte Katri es übernommen, im Kaufladen zu bedienen, außerdem machte sie die Buchführung. Sie hatte einen sehr hellen Kopf. Und im Oktober hatte sie gekündigt. Es hieß, der Kaufmann hätte sie am liebsten aus dem Haus gehabt, traue es sich aber nicht, es ihr zu sagen. Mats zählte nicht. Er war fünfzehn, zehn Jahre jünger als die Schwester, lang und kräftig und wurde allgemein für etwas einfältig gehalten. Er übernahm allerlei Gelegenheitsarbeiten im Dorf, hielt sich aber die meiste Zeit im Bootsschuppen der Brüder Liljeberg auf, wenn der Bootsbau nicht gerade wegen der Kälte unterbrochen werden musste. Die Brüder Liljeberg beschäftigten ihn mit verschiedenen, nicht allzu anspruchsvollen Dingen.

Die Fischerei war in Västerby schon längst aufgegeben worden, sie lohnte sich nicht mehr. Im Dorf gab es drei Bootsschuppen, in denen gebaut wurde, und in einem dieser Schuppen wurden im Winter auch Boote zum Schleifen und zur Überholung angenommen. Die besten Bootsbauer waren die Brüder Liljeberg. Sie waren zu viert, alle unverheiratet. Edvard war der Älteste, er fertigte die Pläne für die Boote an. Außerdem fuhr er das Postauto in den Marktflecken und brachte von dort Waren für den Kaufmann mit. Das Auto gehörte dem Kaufmann und war das einzige Auto im Dorf.

Die Bootsbauer in Västerby waren stolze Leute, sie signierten jedes Boot mit einem doppelten V, als wäre ihr Dorf das älteste namens Västerby im ganzen Land. Die Frauen häkelten Bettüberwürfe in alten bewährten Mustern, die sie ebenfalls mit einem doppelten V versahen, und im Juli kamen die Sommervögel und kauften ein, sowohl Boote als auch Bettdecken, und führten ihr leichtes Sommerleben, solange die Wärme währte. Gegen Ende August war alles wieder still und wie immer. Und nach und nach kam der Winter.

Inzwischen war das morgendliche Dämmerlicht dunkelblau geworden, der Schnee begann zu leuchten, in den Küchen gingen die Lichter an, und jetzt wurden die Kinder herausgelassen. Die ersten Schneebälle schlugen gegen das Fenster, Mats schlief jedoch ruhig weiter.

Ich, Katri Kling, liege nachts oft wach und denke nach. Für Nachtgedanken sind meine Gedanken vermutlich erstaunlich sachlich. Meistens denke ich an Geld, an viel Geld, daran, wie ich es rasch bekommen und es klug und ehrlich an mich bringen könnte, so viel Geld, dass ich nicht mehr daran denken müsste. Und später würde ich es zurückzahlen. Als Erstes bekäme Mats sein Boot, ein großes, seetüchtiges Boot, mit Kajüte und eingebautem Motor, das beste Boot, das je in diesem sonst so erbärmlichen Dorf gebaut worden ist.

Jede Nacht höre ich den Schnee am Fenster, das weiche Flüstern des Schnees, den der Wind vom Meer hereintreibt, das ist gut, wenn nur das ganze Dorf darin versteckt, ausgelöscht und endlich sauber werden könnte. Nichts ist so ruhig und so unendlich wie eine lange winterliche Dunkelheit, sie hört einfach nicht auf, es ist, als lebte man in einem Tunnel, in dem die Dunkelheit sich ab und zu zur Nacht vertieft und ab und zu zur Tagesdämmerung wird, man ist von allem abgeschirmt, geschützt und einsamer als sonst, man wartet und versteckt sich, wie die Bäume. Es heißt, dass Geld stinkt, das ist nicht wahr. Geld ist ebenso sauber, wie es die Zahlen sind. Die Menschen sind es, die stinken, ein jeder von ihnen hat seinen eigenen verborgenen Gestank, und wenn sie wütend werden, sich schämen oder sich fürchten, wird der Gestank stärker. Der Hund spürt das, er weiß es augenblicklich. Wenn ich wie ein Hund wäre, wüsste ich zu viel. Mats ist der Einzige, der keinen Geruch hat, er ist rein wie der Schnee. Mein Hund ist groß und schön, und er gehorcht mir. Er mag mich nicht. Wir respektieren einander.

Ich respektiere das geheime Hundeleben, das Geheimnisvolle der großen Hunde, die noch etwas von ihrer natürlichen Wildheit behalten haben, aber ich traue ihnen nicht. Wie kann man es nur wagen, den großen, beobachtenden Hunden zu trauen; die meisten Menschen dichten ihren Tieren etwas an, was sie als fast menschliche Eigenschaften bezeichnen, das heißt edle, liebenswerte Eigenschaften. Der Hund ist stumm, er gehorcht, aber er hat uns beobachtet, er kennt uns und hat unsere Erbärmlichkeit schon längst gewittert. Angesichts der unglaublichen Tatsache, dass unsere Hunde uns immer noch folgen und gehorchen, müssten wir verblüfft, ergriffen, überwältigt sein. Vielleicht verachten sie uns. Vielleicht verzeihen sie uns. Oder vielleicht gefällt es ihnen, keine Verantwortung tragen zu müssen. Wir werden es nie wissen. Vielleicht sehen sie in uns eine Art fatales Geschlecht aus verwachsenen, falsch konstruierten Geschöpfen, ähnlich wie riesige, schwerfällige Käfer. Auf jeden Fall keine Götter, die Hunde müssen uns durchschaut haben, und jetzt besitzen sie eine vernichtende Einsicht, die nur durch tausendjährigen Gehorsam in Schach gehalten wird. Warum fürchten sich die Menschen nicht vor ihren Hunden? Wie lange kann ein ehemals wildes Tier seine Wildheit verleugnen? Sie idealisieren ihre Tiere, und gleichzeitig dulden sie voll nachsichtiger Herablassung das natürliche Hundeleben: sich nach Flöhen kratzen, einen verfaulten Knochen vergraben, sich in einem Abfallhaufen wälzen, die ganze Nacht lang einen leeren Baum anbellen … und sie selbst, tun sie denn etwas anderes? Sie vergraben etwas und lassen es im Verborgenen verfaulen, dann holen sie es wieder heraus und vergraben es wieder und lärmen unter leeren Bäumen – und das, worin sie sich wälzen … nein. Ich und mein Hund, wir verachten sie.

Der Hund hatte sich erhoben, er wartete neben der Tür. Sie gingen die Treppe hinunter und durchquerten den Laden, im Flur zog Katri ihre Stiefel an, und die ganze Zeit rotierten ihre bedrohlichen Nachtgedanken weiter, ohne dass von irgendwoher Hilfe kam. Als sie in die Kälte hinaustrat und still stehen blieb, um die Reinheit des Winters einzuatmen, sah sie aus wie ein langes schwarzes Standbild, den unzugänglichen Hund dicht, wie angewachsen, an ihrer Seite. Er war nie an der Leine. Die Kinder verstummten und stapften durch den Schnee davon, hinter der nächsten Ecke schrien sie weiter und begannen sich zu prügeln. Katri ging an ihnen vorbei, zum Leuchtturm hinaus. Liljeberg hatte Gasflaschen zum Leuchtturm hinausgefahren, aber die Spur war fast schon zugeschneit. Kurz vor der Landzunge blies der Nordwestwind direkt vom Meer herein, hier war die Abzweigung, die zum Haus des alten Fräuleins Anna Aemelin hinaufführte. Katri blieb stehen, und der Hund erstarrte augenblicklich regungslos neben ihr. Auf der Windseite waren beide weiß vor Schnee, der langsam in ihren Pelz hineinschmolz. Katri betrachtete das Haus wie schon so oft, wie jeden Morgen auf dem Weg zum Leuchtturm. Dort oben wohnte Anna Aemelin, allein mit sich selbst, allein mit all ihrem Geld. Während des ganzen langen Winters ließ sie sich fast nie blicken; das, was sie brauchte, ließ sie sich durch den Kaufmann schicken, und einmal die Woche kam Frau Sundblom, um sauberzumachen. Zu Beginn des Frühjahrs dagegen konnte man Anna Aemelins hellen Mantel am Waldrand aufleuchten sehen, wo sie sich sehr langsam zwischen den Bäumen bewegte. Fräulein Aemelins Eltern hatten lange gelebt und immer darauf bestanden, dass in ihrem Wald nichts gefällt werden durfte. Bei ihrem Tod waren sie steinreich gewesen. Und der Wald durfte immer noch nicht angerührt werden. Nach und nach war er fast undurchdringlich geworden, bis er jetzt wie eine Mauer hinter dem Haus stand, dem Kaninchenhaus, wie es im Dorf genannt wurde. Das Haus war eine graue Holzvilla mit weißen, verschnörkelten Fensterrahmen, es war ebenso grauweiß wie der grauweiße Hintergrund aus schneegetränktem Wald. Das Gebäude erinnerte tatsächlich an ein großes, geducktes Kaninchen – die viereckigen Vorderzähne der weißen Verandavorhänge, die dummen Bogenfenster unter den Augenbrauen aus Schnee und die wachsamen Schornsteinohren. Alle Fenster waren dunkel. Der Weg hinauf war nicht geräumt.

Dort wohnt sie. Dort werden Mats und ich auch wohnen. Aber ich muss warten. Ich muss sehr sorgfältig überlegen, bevor ich dieser Anna Aemelin einen entscheidenden Platz in meinem Leben einräume.

2

Anna Aemelin konnte vielleicht als liebe und gutmütige Person bezeichnet werden, da sie noch niemals gezwungen worden war, Bosheit zu zeigen, und da sie eine ungewöhnliche Fähigkeit hatte, unangenehme Dinge zu vergessen, sie schüttelte sie einfach ab und machte auf ihre eigene unbestimmte und zugleich hartnäckige Art weiter. Eigentlich war sie erschreckend in ihrem verwöhnten Wohlwollen, aber bisher hatte niemand die Gelegenheit gehabt, dies zu merken. Die zufälligen Gäste, die sich zu spärlichen, kurzen Besuchen in der Kaninchenvilla einfanden, wurden mit einer zerstreuten Höflichkeit abgefertigt, die ihnen das Gefühl einflößte, einer Art kleinerem Denkmal ihre Aufwartung gemacht zu haben. Diese Haltung diente Anna nicht als Schutz, es wäre auch nicht richtig gewesen zu behaupten, dass sie kein eigenes Gesicht besaß; es war ganz einfach so, dass sie nur dann wirklich lebte, wenn sie sich ihrer seltsamen Begabung des Abbildens widmen konnte, und wenn sie abbildete, war sie naturgemäß immer allein. Anna Aemelin besaß die große, überzeugende Kraft der Einspurigen, die nur eine einzige Sache sehen und umfassen können, ausschließlich an einer einzigen Sache interessiert sind. Und dieses Einzige war der Waldboden, der Boden des Waldes. Anna Aemelin konnte den Waldboden so detailliert genau abbilden, dass nicht die geringste Tannennadel verloren ging.

Ihre Aquarelle waren klein und unerbittlich naturalistisch, und sie waren ebenso schön wie der federnde Boden aus Moos und spröder Vegetation, auf dem man in dichtem Wald geht, ohne ihn eigentlich je wirklich zu betrachten. Anna Aemelin brachte die Leute zum Sehen, sie sahen die Idee des Waldes, sie erinnerten sich und empfanden einen Augenblick lang eine milde Sehnsucht, ein durchaus angenehmes und hoffnungsvolles Gefühl. Nur schade, dass Anna ihre Bilder dadurch störte, dass sie Kaninchen in sie hineinsetzte, das heißt, den Kaninchenvater, die Kaninchenmutter und das Kaninchenkind. Dass die Kaninchen außerdem noch geblümt waren, beeinträchtigte die Waldesmystik noch zusätzlich. Die Kaninchen waren irgendwann einmal auf der Kinderbuchseite beanstandet worden, das hatte Anna gekränkt und verunsichert, aber was sollte sie tun, die Kaninchen mussten um der Kinder und des Verlages willen dabei sein. Ungefähr alle zwei Jahre pflegte ein neues kleines Büchlein zu erscheinen. Den Text dazu lieferte der Verlag. Manchmal bekam Anna Lust, ausschließlich den Boden abzubilden, niedrige Pflanzen, Baumwurzeln, immer genauer und in immer kleinerem Maßstab, so nah und tief drinnen im Moos, dass die braune und grüne Miniaturwelt zu einem von Insekten bevölkerten riesigen Dschungel würde. Man hätte sich anstelle der Kaninchen auch eine Ameisenfamilie vorstellen können, doch dafür war es jetzt natürlich zu spät. Anna schob das Bild von der leeren, befreiten Landschaft beiseite. Jetzt war Winter, und sie arbeitete sowieso nie, bevor der erste nackte Fleck Erde wieder auftauchte. Während sie auf diesen Moment wartete, schrieb sie Briefe an sehr kleine Kinder, die sie stets danach fragten, wie es komme, dass die Kaninchen geblümt seien.

Doch an dem Tag, als die eigentliche Geschichte von Anna und Katri begann, schrieb Anna keine Briefe; sie saß in ihrem Salon und las Jimmys Abenteuer in Afrika, ein sehr unterhaltendes Buch. Im letzten Buch war Jimmy in Alaska gewesen.

Annas geräumige, niedrige Zimmer sahen schön aus im Schneelicht – die weißblauen Kachelöfen, die hellen Möbel, die sparsam an den Wänden entlang verteilt standen und sich im Parkettboden spiegelten, den Frau Sundblom einmal wöchentlich zu bohnern pflegte. Papa hatte immer sehr viel Platz um sich herum gebraucht, er war sehr groß gewesen. Und er hatte Blau besonders gern gehabt, eine vorsichtige blaue Farbe, die überall vertreten war und mit den Jahren immer blasser wurde. Eine tiefe Heiterkeit ruhte über dem Kaninchenhaus, ein Stempel der Endgültigkeit.

Gegen Nachmittag legte Anna ihr Buch weg und beschloss, im Laden anzurufen, etwas, das ihr sehr zuwider war. Die Leitung war belegt, daher setzte sie sich ans Verandafenster, um zu warten. Draußen auf der Sommerveranda lag die große Schneewehe, die der Nordwestwind in einer kühnen Kurve hinaufgeweht hatte, verspielt und doch straff. Wie ein leichter, durchsichtiger Fächer wirbelte der Schnee über der messerscharfen Kammlinie. Jeden Winter entstand die gleiche Linie, und jedes Mal war die Schneewehe gleich schön. Aber die Schneewehe war zu groß und zu einfach, Anna konnte sie nicht wahrnehmen. Sie rief wieder an, und diesmal antwortete der Kaufmann.

Ob Liljeberg schon zurück sei? Sie habe vergessen, Butter und Erbsensuppe zu bestellen, nicht die große Sorte, eine kleine Dose. Der Kaufmann hörte nicht, was sie sagte, er erklärte, die Straße sei immer noch nicht geräumt, daher könne das Postauto nicht fahren, aber Liljeberg sei diesmal mit Skiern in den Marktflecken gefahren und werde die Post mitbringen und außerdem noch frische Leber …

»Ich verstehe Sie nicht!«, rief Anna Aemelin. »Wessen Leben? Ist etwas passiert?«

»Leber«, wiederholte der Kaufmann. »Liljeberg bringt frische Leber mit, ich werde Ihnen ein besonders schönes Stück beiseitelegen, Fräulein Aemelin …« Und dann verschwand seine Stimme im Schneewetter, wahrscheinlich war die Leitung wieder einmal irgendwo unterbrochen. Anna schob die Außenwelt von sich weg und kehrte erleichtert zu ihrem Buch zurück. Eigentlich machte sie sich nicht besonders viel aus Erbsensuppe. Und aus Post auch nicht.

Als Edvard Liljeberg aus dem Marktflecken zurückgekommen war und die Skier abgeschnallt hatte, ließ er den Rucksack schwer auf die Ladentreppe fallen, das Kreuz tat ihm weh, und er hatte keine Lust, mit irgendjemandem zu reden. Die Waren des Kaufmanns kippte er in einen Pappkarton, den er dann in den Laden hineintrug. Der größte Teil des Inhalts war nass vom Schnee.

»Das hat aber ganz schön gedauert«, sagte der Kaufmann; er stand untätig hinter der Ladentheke herum und war immer noch ärgerlich, weil er keine Verkäuferin mehr hatte.

Liljeberg antwortete nicht, sondern ging wieder hinaus und begann auf dem Flurtisch die Post zu sortieren. Katri Kling hatte ihn durch ihr Fenster kommen sehen, jetzt stand sie plötzlich im Flur und schaute ihm über die Schulter, sie hatte ihre übliche Zigarette im Mund, musterte die Post mit zusammengekniffenen Augen durch den Rauch und sagte: »Das da sind Aemelins Briefe.« Sie waren leicht zu erkennen, die meisten waren mit Blumen dekoriert und kamen von sehr kleinen Kindern. Katri fuhr fort: »Willst du ihr die Post jetzt gleich hinausbringen?«

»Man wird ja wohl noch verschnaufen dürfen«, sagte Liljeberg. »Hier im Dorf Postbote sein ist kein Kinderspiel.«

Sie hätte wenigstens sagen können, bei diesem Wetter sei es bestimmt kein Vergnügen, auf Skiern unterwegs zu sein, oder ob man denn die Straße überhaupt noch sehe, oder es wäre wirklich an der Zeit, dass der Schneepflug komme, irgendetwas, das Interesse verriet oder wenigstens so tat, als verriete es Interesse, so wie die Leute eben reden, um alles ein bisschen netter zu machen, aber nein, woher denn, Katri Kling doch nicht. Sie stand da und kniff die Augen im Zigarettenrauch zusammen, das schwarze Haar wie eine verhüllende Mähne vor dem Gesicht, als sie sich über den Tisch vorbeugte; wegen der Kälte hatte sie sich eine Decke um die Schultern gelegt, die sie mit beiden Händen festhielt – sie sieht tatsächlich aus wie eine Hexe, dachte Edvard Liljeberg.

Sie sagte: »Ich kann der Aemelin die Post hinausbringen.«

»Das geht eigentlich nicht, der Postbote trägt die Post aus. Das ist Vertrauenssache, sozusagen.«

Katri hob das Gesicht und sah ihn mit geöffneten Augen an, im harten Flurlicht waren sie tatsächlich gelb.

»Vertrauen«, sagte sie, »hast du Vertrauen zu mir?« Sie wartete noch etwas und wiederholte dann: »Ich kann der Aemelin die Post hinausbringen. Es ist wichtig für mich.«

»Willst du mir etwa helfen?«

»Du weißt genau, dass ich das nicht will«, antwortete Katri.

»Das tue ich ausschließlich für mich. Hast du Vertrauen zu mir oder nicht?«

Hinterher dachte Liljeberg, sie hätte es wenigstens damit begründen können, dass sie ja ohnehin mit dem Hund hinausmüsse, das wäre doch einfach gewesen. Katri Kling war auf jeden Fall ehrlich, das musste man zugeben.

Anna rief noch einmal an. »Jetzt verstehe ich Sie besser«, sagte der Kaufmann. »Eine kleine Dose Erbsen und Butter. Liljeberg hat inzwischen die Post und die Leber gebracht, die Leber ist ganz frisch, direkt aus dem Magen, sozusagen! Ich habe extra ein Stück für Sie auf die Seite gelegt, aber diesmal bringt nicht Liljeberg es vorbei, sondern Kling, ich glaube, sie muss sowieso in die Richtung.«

»Wer?«

»Sie war früher hier Verkäuferin. Katri Kling. Sie bringt die Leber gleich hinaus.«

»Aber Leber«, wandte Anna Aemelin ein und wurde ganz matt, »das sieht doch so scheußlich aus und lässt sich so schwer zubereiten … Aber da Sie so freundlich waren und es extra für mich auf die Seite gelegt haben … Dieses Fräulein – wie hieß sie doch gleich, Kling? Weiß sie, dass man den Kücheneingang benützen muss?«

Und dann begann die Leitung wieder zu heulen, wie immer im Winter. Anna blieb stehen und lauschte noch eine Zeit lang, dann ging sie in die Küche hinaus und stellte Kaffeewasser auf.

Als die Dämmerung fiel, kam Mats vom Bootsbau nach Hause. Im Winter arbeiteten die Männer in Västerby nur bei milder Witterung an ihren Booten, um Heizmaterial zu sparen, und der Bootsschuppen wurde vor Einbruch der Dunkelheit geschlossen, sie waren sehr sparsam. Mats ging immer als Letzter.

»Soso, haben sie dich schließlich doch hinausgebracht«, sagte der Kaufmann. »Wenn du dürftest, würdest du wohl noch im Dunkeln mit deinem Sandpapier herumschmirgeln.«

»Wir sind gerade bei der Beplankung«, antwortete Mats. »Ich hätte gern eine Cola, auf Rechnung, bitte.«

»Selbstverständlich, sofort! Zu schade, dass deine liebe Schwester dich nicht mehr bedienen will, sie war so eine flinke Verkäuferin. Aha, Beplankung also. Was du nicht sagst. Eine Beplankung schaffst du also auch. Wer hätte das gedacht.«

Mats nickte, ohne zuzuhören, er blieb an der Ladentheke stehen und trank langsam seine Cola aus. In dem kleinen, überfüllten Raum wirkte er sehr groß und lang. Seine Haare waren ebenfalls lang, viel zu lang, und genauso pechschwarz wie die seiner Schwester. Solche Haare hatten die Hiesigen nicht. Er schien vergessen zu haben, dass er nicht allein war. Aber als Katri die Treppe herunterkam, drehte er sich um, und die beiden Geschwister sandten einander ein unmerkliches Nicken zu, das Signal einer Gemeinschaft, die nur sie beide teilten. Der Hund legte sich neben die Tür, um zu warten.

»Ich habe gehört, Sie bringen die Post zur Kaninchenvilla hinaus«, sagte der Kaufmann. »Hier sind die Waren. Seien Sie vorsichtig mit der Leber, damit sie nicht ausläuft.«

»Sie mag keine Leber«, sagte Katri. »Und das wissen Sie. Vor einiger Zeit hat sie Frau Sundblom die Blutwurst mitgegeben.«

»Leber ist keine Blutwurst. Und übrigens hat sie sie bestellt. Und vergessen Sie nicht, den Kücheneingang zu benützen. Damit nimmt es die alte Aemelin sehr genau.«

Ihr Wortwechsel verlief gedämpft und voller Feindseligkeit, sie waren wie zwei wachsame Tiere, zum offenen Angriff bereit.

Er vergisst nicht, die Sache damals hat er mir nicht verziehen, dieser kleine Händler. Seine Begierde war lächerlich, und das habe ich ihn fühlen lassen. Ich war unsachlich. Jedes Mal, wenn ich nicht sachlich bin, gerät die Situation außer Kontrolle. Ich muss weg von hier.

Der Schnee war sehr blau in der beginnenden Dämmerung. Katri gab dem Hund ein Zeichen, bei der Abzweigung zu warten, und ging mit dem Wind im Rücken den völlig zugeschneiten Weg hinauf.

Anna Aemelin machte die Küchentür auf und sagte: »Fräulein Kling, wie lieb von Ihnen. Und bei diesem Wetter, das wäre wirklich nicht nötig gewesen …«

Die Frau, die über die Schwelle trat, war lang und trug eine Art zottiges Fell. Sie lächelte nicht beim Grüßen.

Hier riecht es nach Unsicherheit. Hier ist es sehr lange sehr still gewesen. Sie sieht genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ein Kaninchen.

Anna wiederholte: »Ja, das mit der Post war wirklich lieb von Ihnen … Ich meine, natürlich ist sie wichtig für mich, aber trotzdem …«

Anna wartete einen Augenblick auf eine Erwiderung und fuhr dann fort: »Ich habe ein wenig Kaffee gemacht, Sie trinken doch einen Kaffee, nicht wahr?«

»Nein«, antwortete Katri freundlich, »ich trinke nie Kaffee.«

Anna sah sie erstaunt an, mehr verblüfft als gekränkt. Alle Menschen trinken Kaffee, wenn er ihnen angeboten wird, das gehört dazu, das tut man einfach der Gastgeberin zuliebe. Sie sagte: »Vielleicht ein Tässchen Tee?«

»Nein danke«, antwortete Katri Kling.

»Fräulein Kling«, bemerkte Anna recht kurz, »Sie können Ihre Stiefel neben die Tür stellen, die Teppiche vertragen kein Wasser.«

Jetzt gefällt sie mir besser. Lass sie zu einem Gegner werden, lass mich mit Widerstand kämpfen, amen.

Sie gingen in den Salon.

Ich hätte mir eines von ihren Büchern besorgen sollen. Nein, das konnte ich nicht, das wäre nicht ehrlich gewesen.

»Manchmal«, begann Anna Aemelin Konversation zu machen, »manchmal stelle ich mir vor, dass ein Teppichboden hier drin ganz hübsch aussehen könnte. Irgendetwas Helles, sehr Weiches. Meinen Sie nicht auch, Fräulein Kling?«

»Nein. Das wäre schade um den schönen Fußboden.«

Natürlich will sie einen wolligen Boden haben. Teppichboden oder nicht, hier drin ist es trotzdem wie behaart, heiß und haarig. Vielleicht ist es im Obergeschoss luftiger. Nachts muss das Fenster angelehnt sein, sonst kann Mats nicht schlafen.