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Das Buch

Thomas Martini, Ex-Polizist und Privatdetektiv, liebt das Leben und die Frauen. Als eine alte Bekannte von ihm ermordet wird, schaltet er sich in die Ermittlungen der Frankfurter Kripo ein. Die Presse tauft den Täter „Engelmacher von Frankfurt“. Weitere Morde geschehen, vom Täter gibt es jedoch keine Spur. Doch dann gerät Martini selbst unter Tatverdacht, da er mit allen Opfern bekannt war. Er taucht unter, wird auf eine harte Probe gestellt und ersinnt einen Plan, um die Polizei aus seinem Nacken zu bekommen und den Mörder zu fassen. Martini setzt alles auf eine Karte und riskiert dabei nicht nur sein eigenes Leben …

Der Autor:

Alexander Schaub, 1969 in Frankfurt am Main geboren. Seit über 20 Jahren in der IT tätig, zurzeit im Bereich 3D-Druck im technischen Support. Verheiratet mit seiner Traumfrau Corinna. „Der Engelmacher von Frankfurt“ ist sein Debüt.

ISBN 978-3-944124-67-4

Copyright © 2015 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Covergestaltung: Olaf Tischer

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher:

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Alexander Schaub

Der Engelmacher von Frankfurt

Krimi

Für meine Eltern, die besten auf der ganzen Welt. Ihr habt alles mehr als richtig gemacht!

Und für meine Frau, die mir mit ihrer Liebe immer wieder die Kraft gegeben hat, weiterzumachen und nicht aufzugeben.

Prolog

Vor vielen Jahren, irgendwo in Frankfurt

Die Frau blickte den Mann neben sich an. Schwarze Striche überzogen die helle Haut unterhalb ihrer Augen. Tränen bahnten sich den Weg an ihrer Nase entlang. Schminke klebte vom vielen Weinen auf ihren Wangen. Ihre Unterlippe und ihr Kinn zitterten.

Der Mann neben ihr wirkte ruhig. Keine Gemütsregung zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Nur in seinen Augen blitzte unverhohlene Angst auf.

Die beiden saßen auf einer Holzbank, im Rücken eine Wand aus Nut- und Federbrettern. Die Verkleidung des Raumes bestand aus Holz. Zu ihrer Linken erstreckte sich eine Küchenzeile mit Propangasherd und einem Kühlschrank. Vor ihnen stand ein Klapptisch aus Kunststoff. An den Wänden hingen Bilder in hellen Plastikrahmen, eine glückliche Familie war zu sehen.

Der Mann rüttelte zum hundertsten Mal an den Fesseln. Kabelbinder schnürten sich um seine Handgelenke, genau wie um die der Frau. Eine Kunststoffschlinge fesselte die beiden aneinander. Von draußen hörten sie Geräusche, es klang wie das Ausschütten einer Flüssigkeit. Benzindämpfe breiteten sich langsam im Raum aus. Die Frau hustete trocken und wimmerte leise.

„Keine Angst!“, versuchte der Mann sie zu beruhigen, „uns passiert schon nichts.“

Die Frau blickte ihn aus geröteten Augen an. „Und was riechst du hier? Und für was sind die Fesseln? Und für was sitzen wir hier?“ Die Worte hätten sarkastisch geklungen, wäre da nicht diese alles verzehrende Panik in ihrer Stimme gewesen.

„Wahrscheinlich will er uns Angst machen.“

„Wenn dem so ist, hat es bei mir gewirkt.“ Sie legte eine kurze Pause ein, bevor sie rief: „Ich habe Angst! Ja, panische Angst. Mehr Angst als ich kann man gar nicht mehr haben! Ich will hier raus!!!

„Ruhig! Bitte! Es wird schon alles gut gehen.“ Seinen Worten fehlte die Überzeugungskraft.

Die Frau sprach nicht weiter, resignierend blickte sie vor sich auf den Boden und seufzte leise. Oder war es ein Gebet? Er konnte es nicht verstehen, denn in diesem Moment begann seine eigene Angst, von ihm Besitz zu ergreifen.

Ein Mann betrat die kleine Hütte. In den Händen hielt er einen Benzinkanister. Er lief durch den Raum und begoss alle Möbelstücke, inklusive der Küche, mit dem Inhalt des Metallbehälters. Seine Augen waren dunkel und spiegelten keine Gefühle wider. Teilnahmslos trat er vor die beiden Personen und schüttete ihnen die ätzend stinkende Flüssigkeit über Kopf und Körper. Die Frau wand sich in einem Weinkrampf hin und her, kein einziges verständliches Wort kam über ihre Lippen.

Der Mann auf der Bank starrte sein Gegenüber an. Die Angst hatte sich mittlerweile in seinen Augen wie ein Dauergast eingenistet. „Können wir nicht noch einmal über alles reden? Bitte …!“, flehte er.

„Nein!“ Der Mann mit dem Kanister verteilte die letzten Reste im Raum und warf das leere Behältnis in die Ecke neben der hölzernen Eingangstür.

Er baute sich vor den beiden zitternden Menschen auf, griff in seine Tasche und zog eine großkalibrige Pistole heraus. Mit einer Handbewegung ließ er das Magazin herausgleiten und überprüfte die Munition. Er nickte. Es waren die richtigen Patronen, die keine Funken verursachen und somit die Benzindämpfe nicht entzünden würden. Er schob das Magazin zurück in den Griff und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzte er dem Mann den Lauf der Waffe an den Kopf.

Er drückte ab.

Die Kugel löste sich mit einem ohrenbetäubenden Knall und stanzte ein kleines Loch in die Stirn seines Opfers. Am Hinterkopf trat die Kugel aus, Blut und Gehirn spritzten an die dahinterliegende Wand.

Der Tote kippte in Richtung der Frau und eine graurote Masse verteilte sich in ihren Haaren und auf ihrer Bluse. Sie schrie hysterisch.

Der Mann mit der Pistole setzte sein höllisches Werkzeug ein zweites Mal an und drückte ab. Sofort erstarben die Laute der Frau. Auch in ihrer Stirn prangte ein Loch.

Er steckte die Waffe ein, holte eine Packung Streichhölzer aus seiner Hosentasche und rieb den roten Kopf an der Schachtel. Er sah der entstehenden Flamme zu, wie sie an dem Holz entlang leckte. Zwei Sekunden später warf er es auf die leblosen Körper. Im Bruchteil eines Augenblicks entzündete sich der Brandbeschleuniger. Er wich zwei Schritte zurück und beobachtete die Flammen einen Moment.

Dann griff er erneut zur Waffe.

And you need to feel my love inside
And I need to show what I can't hide
It's something that you just can't fight
It feels so good it must be right
There ain't no use in lyin' to myself

You’re all that I want
You’re all that I need
You’re all that I see
You’re everything to me
You’re all that I feel
You’re my dream come true
You’re my everything

Kiss Unmasked
You’re all that I want

Kapitel 1

Mittwoch, 28. Juli 2010, 22:00

Er blickte über den Platz vor der Alten Oper. Für die vorgerückte Stunde wälzten sich ungewöhnlich viele Passanten über den Opernplatz, von der Freßgass zur Bockenheimer Landstraße und in die andere Richtung. Die letzten Strahlen der brennenden Sommersonne waren vor wenigen Minuten hinter dem Horizont verschwunden. Wie ein unsichtbarer Nebel hing noch die Hitze des Tages über der Mainmetropole. Diesen Sommer konnte man das Gefühl bekommen, dass die Protuberanzen der Sonne bis auf die Erde hinab schlugen. Das Thermometer fiel auch nachts nicht unter sechsundzwanzig, siebenundzwanzig Grad. Knappe vierzig Grad am Tag waren keine Seltenheit. Ganz Frankfurt stöhnte unter der Hitzewelle.

Die Menschen sind doch alle gleich, dachte er, erst wollen sie es warm und klagen über die Kälte, vor allem im Winter. Und wenn es dann warm ist, wollen sie es kälter haben.

Beschäftigt mit diesen und anderen Überlegungen lief er vom Mövenpick Restaurant zum Ende des Opernplatzes, zur Bockenheimer Anlage. Viele Male schon war er hier entlang geschlendert, um die Gegend auszukundschaften. Immer anders angezogen, denn er war ein Meister der Verkleidung. Selbst seine Mutter hätte ihn in diesem Moment nicht erkannt. Eine Halbglatze zierte seinen Kopf, ein dünner Kranz grauer Haare hing in Strähnen über seine Schläfen. Eine dicke Hornbrille klebte auf einer fettigen überlangen Nase. Wenn er nach unten sah, konnte er vor lauter Bauch nicht einmal seine Fußspitzen sehen. In der Masse der Menschen fiel er nicht mehr auf als all die Banker mit ihren schicken Koffern, Maßanzügen und frisch gestylten Haartrachten. Er war einer unter vielen und das war genau das, was er beabsichtigt hatte. Ein maliziöses Lächeln umspielte seine Lippen. Wenn sie wüssten, wer hier unter ihnen wandelt, würden sie schreiend das Weite suchen. Nein, nicht wirklich, ein paar würden ihn beglückwünschen, ihm danken und seine Hände schütteln, vielleicht sogar auf die Knie fallen? Ja, einen gab es, fiel ihm ein, er würde sofort vor ihm auf den Boden sinken, wenn er es verlangen würde. Die Vorstellung entlockte ihm ein zufriedenes Grinsen.

Seine Augen wanderten zur Alten Oper, die sich links erhob. Tempel der Künste und Musik. Sie war nach ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg erst 1981 wiedereröffnet worden. Er verharrte einige Sekunden und kam zu dem Schluss, dass der Wiederaufbau sich gelohnt hatte. Wäre das alte Gebäude nicht saniert worden, hätte er keinen Grund gehabt, allabendlich die Gegend um die Oper auszukundschaften. Vielleicht war sie nur für ihn wiederaufgebaut worden. Der Gedanke gefiel ihm.

Das Leben um den ehrwürdigen Bau pulsierte – aber das interessierte ihn nicht. All die Menschen, die über den Platz eilten oder in einem der vielen Cafés und Restaurants saßen: Beiwerk!

Zugegeben: Jeder große Künstler brauchte das. Sie waren sein Publikum. Wenn erst die Zeitungen von seinen Heldentaten berichten würden … Er, der unumstrittene Herr über Leben und Tod, Alpha und Omega, Anfang und Ende. Ja, sie würden ihm danken. Sicher. Nichts konnte ihn aufhalten.

Er ging seinen Weg bis zum Ende, öffnete im Schatten der hohen Bäume den Kofferraum seines Wagens, brachte ein paar Kleidungsstücke zum Vorschein und streifte sie über. Er schloss die Kofferraumklappe und mischte sich wieder unters Volk. Einer unter vielen. Unerkannt. Genau das wollte er.

Katja Lürmann beendete ihren Arbeitstag gegen halb zwölf, wie fast jeden Abend. Sie verabschiedete sich von ihrer Kollegin Maria: „Also, bis morgen dann und grüß deinen Mann von mir.“

„Klar, mach ich. Pass gut auf dich auf!“, antwortete Maria.

„Ich passe immer auf mich auf“, erwiderte sie, verschwand eiligen Schrittes durch den Hinterausgang der Oper und trippelte die fünf Stufen hinunter. Aus dem Augenwinkel nahm sie den Mann mit dem Besen und der Uniform des Opernpersonals wahr. Seit wann wurde nachts an den Müllcontainern gefegt? Doch dieser Gedanke beschäftigte sie nur eine Sekunde, dann schob sie ihn beiseite. Der Feierabend sowie zwei freie Tage warteten auf sie. Die Belohnung für die vielen Spätschichten der letzten Wochen.

„Entschuldigung junge Frau?“ Der Mann mit dem Besen wandte sich ihr zu. „Können Sie mir sagen, wie spät es ist? Ich glaube, ich habe meinen Feierabend verpasst.“

Sie blieb stehen und blickte auf ihre Armbanduhr: „Wir haben genau fünf nach halb zwölf.“

Er bewegte sich langsam auf sie zu und lächelte, wobei sie seine Augen, die unter einer tiefsitzenden Schirmmütze verborgen waren, nicht sehen konnte. „Oh, eine halbe Überstunde. Danke für die Auskunft. Ohne Sie würde ich morgen früh noch hier arbeiten.“

Sie erwiderte sein Lächeln: „Na dann, schönen Feierabend.“ Katja schickte sich an, ihren Weg in Richtung S-Bahn fortzusetzen. Die Entfernung zwischen dem vermeintlichen Kollegen und ihr betrug nur noch etwa eine Armeslänge. Der Unbekannte nickte ihr noch einmal zu, zog ein Taschentuch aus seiner Jacke und dann, mit der Geschwindigkeit einer zustoßenden Klapperschlange, war er bei ihr und drückte ihr das Taschentuch auf Mund und Nase. Katja nahm einen Geruch wahr, den sie nicht kannte. Panik ergriff sie, eine Überdosis Adrenalin überflutete sie Sie wollte sich losreißen, aber die Arme des Mannes fixierten sie von hinten wie Stahlklammern. Sie merkte, wie ihr Körper zusammensackte, sich ihr Geist langsam vernebelte und ihr Widerstand erlahmte.

Er fing den erschlafften Körper auf, legte ihn über die Schulter und blickte sich rasch um. Niemand war zu sehen. Dann eilte er zu seinem Auto. Der Kofferraum schwang auf und der bewusstlose Körper glitt hinein. Er knebelte und fesselte sein Opfer, verschloss die Kofferraumluke, setzte sich ans Steuer, startete den Motor und fuhr selbstzufrieden zu seinem zweiten und letzten Ziel des heutigen Abends.

Donnerstag, 29. Juli, 06:00

Die Reifen des silbernen Opel Omega quietschten leise, als sie die Ausfahrt zum Monte Scherbelino nahmen. Sie kamen von der Babenhäuser Landstraße. Andrea Lamprecht saß schweigend neben ihrem Kollegen Stefan Carstens. Beide hingen ihren Gedanken nach. Lamprecht, schon seit etwa sechs Jahren Kriminalhauptkommissarin beim Frankfurter K11, der Mordkommission, dachte an den bevorstehenden Tag, das Leid, die Tränen und die Lügen. Ein paar Stunden zuvor war eine Streife vom 8. Revier zum Monte Scherbelino gerufen worden, weil ein Angestellter des Frankfurter Entsorgungs-Service eine weibliche Leiche entdeckt hatte. Da die Kollegen vor Ort eine natürliche Todesursache ausschließen konnten, hatten sie das K11 verständigt. So waren Lamprecht und Kriminaloberkommissar Carstens gar nicht erst ins Präsidium gefahren, sondern direkt nach Sachsenhausen.

Sie fuhren den sonnenüberfluteten Waldweg entlang, bis Carstens den Opel vor dem ehemaligen Wirtshaus zum Stehen brachte. Der Monte Scherbelino stellte bis vor achtzehn Jahren ein beliebtes Ausflugsziel der Frankfurter dar. Von 1925 bis zu seiner Schließung 1968 diente der Monte, wie er im allgemeinen Sprachgebrauch genannt wurde, als Frankfurts Hauptmülldeponie, unter der auch viele Trümmer aus dem Zweiten Weltkrieg lagen. In den folgenden Jahren wurde er zu einem Erholungsort mit Spiel- und Grillplätzen umgestaltet. 1992 schloss die Stadt den Monte mit der Begründung, es könnten giftige Gase aus dem Erdreich austreten. Ein Sanierungsprogramm zur Entseuchung des Areals wurde gestartet. Seit 2001 lief die letzte Phase der Sanierung. Die FES brachte LKW-weise Asche aus der Müllverbrennungsanlage der Nordweststadt herbei, um den Boden zu stabilisieren und heute lag zusätzlich eine Leiche zur Entsorgung auf dem ehemaligen Müllberg.

Vom Wagen aus sah Lamprecht den Menschenauflauf aus Spurensicherung, Pathologie und uniformierten Kollegen des 8. Reviers, die den Leichenfundort abschirmten. Sie fuhr sich durch das kurze blonde Haar und öffnete die Tür, wo sie von der heißen Morgenluft in Empfang genommen wurde. Sechsundzwanzig Grad waren es bestimmt.

„Dann wollen wir mal.“ Carstens stand auf der Fahrerseite, den Ellenbogen auf das Autodach gelehnt, und seine blauen Augen blickten die Kommissarin prüfend an. „Alles okay?“

„Ja, klar. Ich will es nur hinter mich bringen.“

Carstens nickte, wohl wissend, wie es in seiner Kollegin aussah. „Ich geh schnell zu Reiner und frage, wo wir schon hintreten dürfen.“ Der Kommissar gesellte sich zu dem Personenpulk und sprach mit Reiner Meister, dem Chef der Spurensicherung.

„Wir können ohne Problem den Tatort besichtigen“, sagte Carstens, als er zurückkehrte.

Die Kommissare liefen die verbleibenden zehn Meter. Carstens sah die Leiche als erster und holte tief Luft. Lamprecht war für eine Sekunde wie versteinert. Der Anblick, der sich ihnen bot, war grauenvoll und zugleich auf morbide Weise faszinierend. Carstens griff in seine Jackentasche und zog ein Päckchen Zigaretten heraus. Er zündete sich die erste an diesem Tag an, nahm einen tiefen Zug und ließ den Rauch durch die Nase entweichen.

Die Frau lag nackt auf dem Rücken, die Arme rechtwinklig vom Körper abgespreizt und die Beine geschlossen. Das blonde glatte lange Haar war strahlenförmig um den Kopf drapiert und unter den grazilen Schultern lugten Papierflügel hervor. Beim genauen Betrachten konnte Lamprecht einen feinen Faden sehen, mit dem der Mörder ihren Mund zugenäht hatte. Auf der Stirn und den festen kleinen Brüsten waren unleserliche Worte eingeritzt. Das arme Ding, dachte Lamprecht, nicht sehr alt geworden. Die Kommissarin schätzte sie auf Mitte zwanzig.

Carstens fand als erster seine Sprache wieder: „Ich glaub, ich hab ein

Dejà vû.“

„Nicht nur du“, antwortete Lamprecht. „Sie sieht identisch aus wie die Tote vor zwei Wochen.“ Dann, mit leichter Verzweiflung in der Stimme: „Ich glaube, das ist der zweite Mord in einer Serie und ich habe so gehofft, dass es keine wird. Hätte es nicht ein verrückter Einzeltäter sein können?!“

„Na ja, offiziell ist er noch kein Serienmörder. Erst ab der dritten Leiche.“

„Dann solltet Ihr zwei euch ranhalten.“ Ein dunkelhaariger Mann mit graumelierten Schläfen legte Lamprecht die Hand auf die Schulter.

„Hallo Joe!“, begrüßte die Kommissarin den Gerichtsmediziner. Johann Berger war Anfang vierzig, mittelgroß mit leichtem Bauchansatz, der ihm sein sympathisch gemütliches Aussehen verlieh. Nach einhelliger Meinung aller Beamten des K11 war Berger der beste Pathologe Frankfurts. Böse Zungen behaupteten, er habe Pianisten-Hände, um in jeden Winkel zwischen den Eingeweiden der Leichen zu kommen.

„Wie ich höre, habt Ihr beiden die gleiche Feststellung getroffen wie ich.“ Die Kommissare nickten. „Wenn Ihr sie anseht, an was müsst Ihr als erstes denken?“

„Dass ich sie zu Lebzeiten gerne so gesehen hätte“, antwortete Carstens wie aus der Pistole geschossen, woraufhin Lamprecht ihn in die Rippen boxte.

„Von dir habe ich nichts anderes erwartet“, entgegnete Berger, „aber mal ernsthaft, was seht Ihr vor euch?“

„Sie sieht aus wie … ein Engel“, entfuhr es Lamprecht, die letzten beiden Worte sprach sie leise aus.

„Genau! Unser, nein … Tschuldigung … euer Mörder scheint sie in Engel zu verwandeln.“

Lamprecht wandte sich dem Pathologen zu: „Du meinst eine Art Ritual?“

„Ganz genau“, Berger nickte, „von der Untersuchung von vor zwei Wochen wissen wir, dass er ihr die Zunge abgeschnitten hat. Das gibt eine ziemliche Sauerei kann ich euch sagen. Des Weiteren wissen wir, dass er ihr den Mund zugehalten haben muss, bis sie an ihrem eigenen Blut ertrunken ist.“ Er blickte in die Runde und wartete auf die Zustimmung seiner Zuhörer. „Ich gehe davon aus, dass es diesmal genauso sein wird, wenn ich sie untersuche. Und dass ich wieder eine Anguis fragilis, eine Baby-Blindschleiche, in ihrem Mund finden werde. Außerdem hat er ihr Gesicht gründlich gereinigt. Dies alles gehört zu seinem Ritual.“

„Ein Ritualmörder, verdammte Scheiße!“, gab Carstens seine Gedanken preis. „Kannst du entziffern, was er ihr in Stirn und Brust geritzt hat? Die vor zwei Wochen war unbeschriftet“, grinste Carstens.

Lamprecht warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ja, kann ich. Angelus ist in die Stirn und Anguis in die Brust geritzt. Das ist lateinisch für Engel und Schlange. Wisst Ihr, an was mich dieses Engelsbild erinnert? An eine Fotografie von Gottfried Helnwein.“

„Helnwein? Könnte der was mit den Morden zu tun haben? Vielleicht sollten wir ihn mal verhören“, schlug Carstens sogleich vor.

Das erste Mal an diesem Morgen, so erschien es Lamprecht, lachte Berger von Herzen. Nur kurz. Es schien, als habe er den ganzen Schlamassel für ein paar Sekunden der Freude vergessen. „Helnwein ist ein Österreichischer Künstler der … sagen wir mal, sehr schräge Fotos macht. Kennst du die zweite CD von Rammstein, Sehnsucht?“

„Die habe ich zu Hause“, erwiderte Carstens.

„Dann weißt du, was ich meine. Helnwein hat die Bilder für das Cover aufgenommen.“

„Noch mal zurück zu den Worten“, unterbrach Lamprecht die Unterhaltung der beiden Männer, „hat er die eingeritzt, als sie noch gelebt hat?“

„Postmortem, sonst wäre mehr Blut ausgetreten und die Haare wären stark verklebt mit getrocknetem Blut.“

„Und kannst du mir schon einen ungefähren Todeszeitpunkt nennen?“, fragte die Kommissarin.

„Anhand der Lebertemperatur muss sie zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr gestorben sein, genauer geht erst später.“

„Klar, hab ich nicht anders erwartet. Wann bekomme ich deinen Bericht?“

„Heute Abend, spätestens morgen früh.“

„In Ordnung, das reicht. Danke, Joe!“ Lamprecht winkte Carstens, sie wollte mit den Kollegen vom 8. Revier sprechen. Als sie sich noch einmal zu Berger umblickte, sah sie ihn in ein Brötchen beißen. Pathologen, dachte die Kommissarin nur, das Einzige, was ich jetzt brauche, ist ein Kaffee, aber bestimmt nichts zu essen.

Die uniformierten Beamten, die als erste vor Ort waren, erwarteten die Kommissare schon. „Guten Morgen, Carstens und Lamprecht vom K11“, stellte die Kommissarin sich und Carstens vor.

„Moin, moin“, antwortete der ältere der beiden Beamten. „Polizeimeister Richter“, er deutete auf seinen Kollegen, „und Polizeiobermeister Hansen.“

„Wer hat die Leiche entdeckt?“, fragte Carstens.

„Ein Herr Werner Schuhmann. Steht da drüben. Ach ja, der Ausweis der Toten. War alles noch da, Papiere, Geld und so weiter.“

Lamprecht nahm den Ausweis in Empfang: „Katja Lürmann“, las sie laut vor. „Den Namen kenne ich, aber ich weiß nicht von wo? Danke Kollegen, den Rest geben Sie bitte Meister, der soll alles unter die Lupe nehmen.“

„Wollen wir jetzt mit Schuhmann reden?“, fragte Carstens.

„Ja, machen wir, bevor wir den Angehörigen die schlechte Nachricht überbringen.“ Hoffentlich hatte sie keine Kinder, dachte die Kommissarin und schickte ein kleines Stoßgebet zum Himmel.

Werner Schuhmann, LKW-Fahrer der FES, sagte aus, dass das Zufahrtstor aufgebrochen war, als er heute Morgen auf dem Gelände angekommen war. Dann sprudelte es aus ihm heraus: „Isch hab’ erst aagenomme, dass da aaner sein Müll billisch entsorsche wollt, aber dann bin isch üwwer die Leisch gestolbert. Isch kann Ihne saache, isch wär fast dod umgefalle. Mir geht’s aach gar net gut. Des is mei erst Leisch, die isch geseje hab. Is irschendwie net so schee‘ aazugugge. So was kenn isch nur aus Büscher oder Filme, wenn Se wisse, was isch maan.“

Sie bedankten sich bei Schuhmann und die Kommissarin gab ihm ihre Karte für den Fall, dass ihm noch etwas einfallen sollte. Polizeimeister Richter nahm seine Personalien auf und bestellte Schuhmann für das Protokoll am nächsten Tag auf das 8. Revier.

Lamprecht rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ruf bitte Marco oder Carola an! Wir brauchen die Adresse der Familie und ich will alle relevanten Daten über die Tote, von der Geburtsurkunde bis zum letzten Wohnsitz. Außerdem sollen die beiden versuchen, Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern zu finden, egal was, selbst wenn es nur die gleiche OB-Marke ist.“

Castens griff grinsend zu seinem Handy und wählte die Nummer von Kriminalkommissar Marco Bergmann.

Währenddessen sinnierte Lamprecht: „Lürmann, wo hab ich den Namen nur schon mal gehört?“

29. Juli, 10:30

Das Telefon klingelte erbarmungslos und wollte nicht aufhören. Mein Bewusstsein schüttelte den Schlaf ab und ich fing an, in geregelten Bahnen zu denken. Es klingelte und klingelte. Ich blickte zur Schlafzimmertür. Holla, die Waldfee, wessen blonde Mähne lag da neben mir? Die Erinnerung kehrte langsam zurück. Ihr Name war Tina oder so. Es klingelte immer noch. Ich quälte mich hoch und suchte eines meiner Mobilteile. Der Nachteil an den schnurlosen Telefonen war, dass man sie nie fand, wenn man sie suchte, aber in der Küche wurde ich fündig.

„Martini, private Ermittlungen und Personenschutz“, nuschelte ich verschlafen in den Hörer.

„Spar dir das, Thomas, hier ist deine Mutter.“ Wenn Sie mich Thomas nannte, und nicht wie üblich Tom, ging es um eine ernste Angelegenheit, das war mir sogar in meinem schlaftrunkenen Zustand klar. „Katja ist ermordet worden.“

Dieser Satz traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Katja, tot!?

„Äh … wie … also …“

„Du musst für mich arbeiten. Besser gesagt für Elfriede.“

„Kennst ja meine Tagessätze“, rutschte es mir raus.

„Mir ist nicht zum Spaßen zumute, Herr Martini Junior. Elfriedes Tochter ist tot. Hast du das verstanden?“

„Ja, klar.“ Die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Kein gutes Zeichen. Eine Reaktion meines Körpers, auf die ich mich immer verlassen konnte.

„Deine alte Partnerin war vor einer Stunde hier.“

„Andrea Lamprecht? Was wollte sie denn bei dir?“

„Thomas, ich bin nicht zu Hause, ich bin bei Elfriede. Frau Lamprecht hat Elfriede die traurige Nachricht überbracht.“

Elfriede war die beste Freundin meiner Mutter. Nachdem mein Vater Carlo eines Tages nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen war, rückten Elfriede und wir näher zusammen, viel näher. Elfriede war Tag und Nacht für uns dagewesen. Vater war mit einer jüngeren Frau ins Ausland durchgebrannt und zahlte keinen Unterhalt, weder für Mutter noch für mich. Harte Zeiten. Doch Elfriede hatte uns geholfen. Mehr als einmal war ich der Babysitter für die kleine Katja und in späteren Jahren passte ich auf sie auf wie ein großer Bruder.

Und jetzt war sie tot.

„Wie ist das passiert? Hat Andrea schon eine Vermutung geäußert, wer es gewesen sein könnte?“ Ich tastete mit der Hand nach der Arbeitsplatte meiner offenen Einbauküche und ließ mich darauf nieder.

„Ich habe nicht selbst mit ihr gesprochen. Als die Kommissarin weg war, hat Elfriede mich angerufen und mir alles erzählt.“

„Okay, ich werde mit Andrea sprechen, dann bekomme ich bestimmt mehr heraus.“

Ich verabschiedete mich von Mutter und versprach, mich bei ihr zu melden, sobald ich etwas Neues wusste.

Eigentlich hätte ich jetzt einen Schnaps vertragen können, doch die Tatsache, dass ich in der Regel fast keinen Alkohol trank, hinderte mich daran, diesem Drang am frühen Morgen nachzugeben. Nachdem ich mehrere Minuten vor mich hingestarrt hatte, glitt ich von der Arbeitsplatte, drehte mich um und blickte aus einem der Dachfenster.

Katja, tot!

Ich sah uns zusammen spielen, im Hof bei Elfriede, auf dem Monte Scherbelino.

Tot!

Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr empfand ich es als Ehrensache, Katjas Mörder zu jagen, quasi den Killer meiner kleinen Schwester.

Ich nahm den Telefonhörer zur Hand, um die Handynummer von Andrea zu wählen, als sich eine Hand von hinten um meine Taille legte. Für eine Sekunde schreckte ich zusammen, dann erinnerte ich mich an meine nächtliche Eroberung – Tina oder so?

„Hallo schöner Mann, warum sind Sie denn schon aufgestanden?“ Gestern Nacht, ich kam von einer Beschattung und wollte einen Absacker in der Sky Lounge in Niederrad trinken, war sie mir direkt beim Betreten der Bar aufgefallen. Groß, blonde, glatte lange Haare, Mitte zwanzig und außergewöhnlich hübsch. Es dauerte nicht lange und wir kamen ins Gespräch. Ihr Date hatte sie versetzt. Selbst dran schuld, dachte ich mir und ergriff die Gelegenheit beim Schopf oder besser bei der Hand. Eine halbe Stunde später, als die Angestellten das Lokal schließen wollten, waren wir uns einig, die Unterhaltung bei mir zu Hause fortzusetzen. Doch viel hatten wir uns nicht zu sagen. Keine zwei Minuten, nachdem wir die Türschwelle überschritten hatten, waren wir im Schlafzimmer gelandet.

Was sie jetzt von mir wollte, verstand sich von selbst. Doch im Moment stand mir der Sinn nach allem, aber nicht nach einer Wiederholung der letzten Nacht. Nicht dass es nicht gut gewesen wäre, sie wusste was sie wollte, keine Frage. Aber ich wollte jetzt Andrea anrufen und danach meinen Freund Jimmy.

„Magst du nicht noch einmal ins Bett kommen?“ Sie blickte an mir herab. „Sieht nicht so aus.“ Ein laszives Lächeln legte sich um ihren hübschen Mund. „Soll ich dir behilflich sein?“

„Ich habe gerade eine ziemlich schlechte Nachricht erhalten“, entgegnete ich in abgeklärtem Tonfall, etwas ruppiger als beabsichtigt. „Und deshalb wäre ich jetzt gerne allein.“

„Der Spruch ist neu!“ Sie weitete die Augen. „Wenn du mich loswerden willst, sag es einfach. Aber erzähl mir nicht so‘n Scheiß von schlechter Nachricht und so.“ Von einer Sekunde auf die andere hatte sich das Grinsen, welches die ganze Zeit ihre Lippen umspielte, verflüchtigt und war einem Nemesis gleichen Gesichtsausdruck gewichen. Sie drehte sich um, verließ wutschnaubend die Küche und ging durch den Essbereich in Richtung Schlafzimmer.

Was erwartete sie von einem Fremden, mit dem sie nach einer Stunde ins Bett gegangen war? Liebe? So naiv wirkte sie gar nicht. Sie sollte froh sein, dass sie noch lebte. Im ungünstigsten Fall hätte sie neben Katja in der Pathologie liegen können. Und noch etwas zeigte mir ihre Reaktion: typische Zicke. Sie hatte nicht einmal nachgefragt, welche Nachricht ich erhalten hatte. Sie war sofort von einer Lüge ausgegangen. Geh mit Gott, aber geh!

Fünf Minuten später kam sie angekleidet und wutentbrannt aus dem Schlafzimmer und schlug die Wohnungstür hinter sich zu. Sie hatte kein Wort gesagt, vielleicht besser so.

Ich verschob die Anrufe, die ich tätigen wollte, und ging ins Bad, um mich zu restaurieren. Ich blickte in den Spiegel und der verschlafene Enddreißiger, der mich von dort anblickte, gefiel mir gar nicht. Die schwarze krause Mähne mit den leicht ergrauten Schläfen auf meinem Kopf musste mal gestutzt werden. Der Stoppelbart zeigte auch bereits erste graue Haare, aber meine wasserblauen Augen leuchteten so hell wie immer. Meine Arme und der Rest meines Körpers waren straff wie eh und je. Das Sportstudio zahlte sich aus. Als Privatschnüffler musste man sich fit halten, sonst war man bei der ersten Verfolgungsjagd gleich am Arsch.

Nach meiner Morgentoilette nahm ich erneut das Telefon zur Hand und rief Andrea an.

„Auf diesen Anruf habe ich gewartet“, begrüßte sie mich. „Wie geht‘s dir?“

„Geht so“, antwortete ich einsilbig.

„Der Name Lürmann kam mir bekannt vor, ich konnte ihn nur nicht gleich mit dir in Verbindung bringen. Erst als ich der alten Frau Lürmann gegenüber stand, dämmerte es mir. Wir waren einmal mit Katja essen gewesen. Ist es schlimm für dich?“

„Ein bisschen.“ Ich wollte und konnte mir nichts anmerken lassen. Im Speziellen nicht vor Andrea. Sie sollte nicht das Gefühl bekommen, mir etwas verheimlichen zu müssen, weil ich emotional zu involviert war. Ich benötigte alle Infos, die ich kriegen konnte. In früheren Jahren hatte Andrea mir Einblick in laufende Ermittlungen gewährt. Diesen Vorteil wollte ich wieder nutzen. „Wir hatten wenig Kontakt in letzter Zeit. Aber du hast recht. Ich war noch Bulle, als wir den einen Abend zu dritt essen waren. Blieb eine einmalige Angelegenheit. Aber gehen wir in medias res, was wisst ihr über den Kerl?“

„Immer mit der Tür ins Haus. Du hast dich nicht geändert, Tom. Ich glaube, das hast du von deiner Mutter.“ Ich konnte ihr Lächeln förmlich hören.

„Warum sollte ich auch? Bisher bin ich mit dieser Methode gut gefahren, also schieß los!“

Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor sie mir einen kurzen Bericht gab. „Und sie war nicht die Erste“, beendete sie ihn.

„Was meinst du damit? Habt ihr noch eine …? Moment mal. Vor ungefähr zwei Wochen stand ein Bericht in der Zeitung, dass am Nidda-Ufer bei Rödelheim eine junge Frauenleiche gefunden wurde. Auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen, stand da, aber mehr nicht.“

„Richtig, wir haben der Presse die Einzelheiten mit den Flügeln und dem zugenähten Mund verschwiegen. Aber mal was anderes“, wechselte sie das Thema. „Was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend in unserem alten Stammlokal treffen?“

„In der Roma? Ja, warum nicht?“

„Okay, abgemacht, neunzehndreißig?“

„Geht klar, also bis dann.“

Ich drückte die Aus-Taste des Telefons und holte tief Luft. Viel auf einmal. Ich schob den Anruf bei Jimmy auf und bereitete mir ein Frühstück, während ich mir das gerade Erfahrene durch den Kopf gehen ließ.

Nach vier Brötchen und drei Tassen Kaffee fühlte ich mich gesättigt, aber auch etwas träge. Die vergangene Nacht mit dieser Tina und die Nachricht von Katjas Tod waren mir an die Substanz gegangen. Jetzt musste ich der wiederaufkommenden Müdigkeit entgegenwirken. Ich lud das schmutzige Geschirr sowie Wurst, Käse und Marmelade auf mein Tablett und trug es aus dem Wohnbereich in die Küche. Wohnzimmer, Essbereich und Küche. Das war der eine Raum meiner kleinen Zweizimmerwohnung. Nach der Trennung von meiner langjährigen Freundin Sophie war ich hier eingezogen, da keiner von uns beiden die gemeinsame Vierzimmerwohnung hatte halten können.

Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer von Jimmy Lang.

Nach dem vierten Klingeln meldete er sich: „Lang.“

„Hi Jimmy, hier Tom. Hab ich dich geweckt?“

Ein Gähnen auf der anderen Seite bestätigte meine Vermutung. „Was gibt‘s denn so Wichtiges, dass du mich mitten in der Nacht aus dem Bett wirfst? By the way, wie viel Uhr ist es eigentlich?“

Ich sah zur Wanduhr: „Kurz vor zwei. Die Nacht ist lange rum.“

„Oh, scheiße! Ich hab um halb drei `nen Termin bei meinem Chef, Mist!“

„Oh je, lass uns später telefonieren.“

„Egal, ich komme eh zu spät. Ist irgendwas? Du klingst komisch.“

Nach mehr als zwanzig Jahren, die wir uns jetzt kannten, merkte Jimmy sofort, wenn mir der Schuh drückte.

„Ja, meine Mutter hat mich heute Morgen angerufen und … Katja ist tot.“

Stille. „Katja, deine kleine Schwester? Scheiße! Sie war doch erst sechsundzwanzig, oder?“

„Ja.“

„Und wie ist das passiert? Unfall?“

„Nein, sie wurde ermordet.“

„Ermordet? Das gibt‘s doch nicht!“

„Ist aber so.“

„Aber wer … wer …?“

„Viel weiß ich nicht. Ich treffe mich heute Abend mit Andrea. Danach sollte ich mehr wissen.“

„Das plättet mich. Brauchst du jemanden zum Reden?“

„Nein, im Moment nicht, aber danke für dein Angebot.“

„Hey, dazu sind Freunde da, oder?“

„Klar. Ich melde mich, wenn ich dich brauche. Im Moment ist alles sehr frisch und ich glaube, dass das bei mir noch nicht hundertprozentig angekommen ist.“

„Natürlich, kein Problem. Gibst du mir Bescheid, wenn du mehr weißt?“

„Logo, mach ich. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du ein paar Infos für mich hast. Du als Journalist bist bestimmt über alles informiert. Ihr vermeintlicher Mörder hat wohl vor vierzehn Tagen schon einmal zugeschlagen. Ich glaube, ich habe da was im Frankfurter Kurier gelesen.“

„Warte mal.“ Er dachte ein paar Sekunden nach. „Da war was, aber den Bericht hat mein Kollege Michael Benz recherchiert und geschrieben. Ich kann dir seine Nummer geben.“

Ich notierte Benz‘ Telefonnummer, dann verabschiedeten wir uns. „Was mir einfällt, Tom. Hast du Lust, morgen mit mir und einer Bekannten auf das Mainfest zu gehen, zum Eröffnungsfeuerwerk? Damit du kein Trübsal bläst. Wir könnten über alles quatschen.“

Ich versprach, um neunzehn Uhr bei ihm zu sein und legte auf. Auch wenn die Einladung mich etwas überrascht hatte, freute ich mich auf den Abend mit Jimmy.

Ich überlegte ein paar Augenblicke, was Katjas Tod in mir bewirkte. Ich trauerte, aber im Stillen. Der Tod meines besten Freundes Jimmy hätte mich definitiv aus der Bahn geworfen, er war eine der wichtigsten Personen in meinem Leben. Doch die Trauer um Katja erschien mir wie ein Gefühl aus einem anderen Leben, einem Leben, welches ich im Moment nicht führte. Mein Lebenswandel ließ dies einfach nicht zu. Der Mord an Katja brachte aber meinen detektivischen Spürsinn auf Hochtouren. Ich wollte den Typ fassen, der ihr das angetan hatte, auf jeden Fall. Danach würde genug Zeit bleiben, um nachzudenken und zu trauern.

In diesem Moment wusste ich nicht, wie sehr ich diese Zeit brauchen würde. Was mir bevorstand, war größer, gewaltiger und gefährlicher als alles, was mein Leben bis dahin für mich bereitgehalten hatte. Der Minutenzeiger der viel zitierten imaginären Uhr bewegte sich langsam aber unaufhaltsam Richtung zwölf.

29. Juli, 19:30

Pünktlich um neunzehn Uhr dreißig öffnete ich die Tür der Pizzeria Roma und betrat den kleinen Vorraum. Gäste standen oder saßen am Tresen und warteten auf ihre Pizza oder Pasta zum Mitnehmen. Im hinteren Teil des Raums thronte der Holzofen, der die unerträglich heiße Luft noch um etliche Grad aufheizte. Ich stieg rechterhand die drei Stufen in den Gastraum hinauf.

Sogleich erblickte ich Andrea und zu meiner Überraschung hatte sie sich überhaupt nicht verändert. Ich trat an ihren Tisch und wir umarmten uns freundschaftlich.

„Du siehst gut aus“, sagte sie, nachdem sie mich gemustert hatte.

„Danke, das Kompliment kann ich nur zurückgeben“ erwiderte ich aufrichtig lächelnd. Andrea fiel nicht in mein Beuteschema, trotzdem gehörte sie mit ihren grünen Katzenaugen, dem kurzen blonden Haar und ihren eins siebzig zu den Frauen, die keinerlei Schminke oder dergleichen benötigten.

„Na, zu Ende begutachtet?“, riss sie mich aus meinen Gedanken.

„Ja, sorry. Du hast ein paar dunkle Ringe unter den Augen bekommen.“

„Die kommen vom Schlafmangel, du Stoffel. Sowas sagt man einer Frau nicht.“

„Ich weiß, aber ich konnte schon immer schlecht lügen.“

„Ist mir bekannt“, sie bleckte die Zähne.

Ein Kellner kam, um unsere Bestellungen aufzunehmen. Ich orderte eine Pizza und eine Spezi, Andrea Pasta und ein Radler. „Du nimmst immer noch die gleiche Pizza wie früher“, erinnerte sich Andrea.

„Hat sich bewährt, warum ändern?“, gab ich zurück.

„Das Motto von dir kenn ich, aber ich weiß immer noch nicht, warum du damals den Dienst quittiert hast.“

„Kannst du auch nicht, denn ich habe es dir nie verraten.“

„Und jetzt?“

„Jetzt ist es kein Geheimnis mehr. Der Grund warst du. Nicht nur, aber zu einem großen Teil.“ Nach dieser Eröffnung blickte sie mich mit großen Augen an, aber ich sah auch so etwas wie Bestätigung in ihnen aufblitzen.

„Ich? Warum?“

„Sophie, meine Ex, hat dich zum Grund gemacht.“

„Wir hatten doch nie was miteinander?!“

„Sie war eifersüchtig auf dich, weil du den ganzen Tag und so manche Nacht mit mir verbracht hast. Sie dachte, da würde was laufen. Ich habe mir den Mund fusselig geredet, aber sie hat mir einfach nicht geglaubt. Und da sie die Liebe meines Lebens war, wollte ich sie nicht verlieren. Also habe ich den Dienst quittiert und wurde Privatdetektiv. Außerdem war sie der Überzeugung, beim Beschatten von untreuen Ehemännern könnte ich mehr Geld verdienen. Das hätte mir eine Warnung sein sollen. Na ja, vorbei ist vorbei.“

„Und eine schlichte Versetzung hätte nicht gereicht?“

„Nein, nicht für Frau Reinke. Sophie wollte einen Strich unter der Sache sehen.“

„Blöde Kuh.“

Ich musste grinsen: „Da hast du recht, das denke ich mittlerweile auch.“

„Die spätere Trennung war hart für dich, stimmt‘s?“

„Das kann man wohl sagen. Erst wollte sie, dass ich mehr Geld verdiene, damit sie ihren Lebensstandard halten kann, und dann war ich, für ihren Geschmack, zu selten bei ihr. Und als ich auf der Höhe meines Erfolges war, die Leute haben mir förmlich die Tür eingerannt, verließ sie mich unter dem Vorwand, ich wäre mit meiner Arbeit verheiratet. Wahrscheinlich eine Anspielung darauf, dass ich ihr noch keinen Heiratsantrag gemacht hatte. Zum Glück!“

„Man, das wusste ich nicht. Das klingt jetzt pietätlos, aber ohne Katjas Tod wüsste ich das immer noch nicht.“ Die Erwähnung von Katja versetzte mir einen leichten Stich im Herzen und ich bedauerte, Andrea seit 2006 nicht mehr gesehen zu haben. Anfangs, nach meinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst, hatte Andrea mir einige Male geholfen, aber wir unterhielten uns nie so eingehend wie heute Abend. Sophie sorgte damals dafür, dass alles rein beruflich blieb. Jetzt war so vieles passiert, was man an einem Abend nicht aufarbeiten konnte.

„Apropos Katja, wie weit seid ihr mit den Ermittlungen, Spurensuche und so weiter?“

„Na ja, die Einzelheiten zur Leiche brauche ich nicht zu wiederholen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Wie zu erwarten, hat Joe wieder eine kleine Schlange im Mund von Katja gefunden anstelle …“

„Moment! Schlange im Mund? Das hast du heute Morgen nicht erwähnt. Die abgeschnittene Zunge ja, aber nichts von der Schlange. Und außerdem, Schlangen sind doch eher groß als mit einem Haps weg.“ Sofort hob ich die Hände als Geste der Entschuldigung für meine Ironie in dem Satz. Andrea ignorierte meine verbale Entgleisung.

„Ups, hab ich wohl vergessen zu erwähnen. Bei den Schlangen handelt es sich um Baby-Schlangen. Warte mal, Joe kannte auch die lateinische Bezeichnung …“ Sie überlegte kurz, legte den linken Zeigefinger auf die Lippen. „Ah genau, Anguis fragilis oder einfach Blindschleiche. Die Jungtiere sind nur ungefähr acht Zentimeter groß, wenn sie geboren werden. Von daher war es kein Problem, sie in den Mündern zu platzieren. Ansonsten haben wir leider noch keine Spuren. Reiner hat keine Fremd-DNA, Fingerabdrücke, Haare oder dergleichen gefunden. Null Komma nichts.“ In diesem Moment wurde unser Essen serviert und wir ließen es uns schmecken, trotz des unerfreulichen Themas.

„Hat er sie vergewaltigt?“, griff ich das Thema wieder auf. Dabei biss ich in ein Stück Pizza.

„Nein, weder vor noch nachdem er sie ermordet hat.“

„Das heißt, Ihr jagt einen Serienmörder, vom dem Ihr außer seiner Tötungsmethode nichts wisst?“

„So wie es aussieht ja. Aber wir kennen sein Beuteschema, was mich an eine bestimmte Person erinnert.“

„Wie meinst du das?“

„Sophie. Beide Opfer sind der gleiche Typ Frau. Stehst du immer noch auf Frauen, die deiner Ex ähneln?“ Sie blickte mich forschend an.

„Was soll die Frage? Ja, klar. Junge, blonde, langhaarige Mädels. Ich will mich aber nicht mehr binden. Ich habe nur noch One-Night-Stands.“

„Dann passt du ins Täterprofil.“

„Wie bitte!?“ Für eine Sekunde verzog Andrea keine Miene, um dann laut zu lachen. Da merkte ich, dass sie mich verschaukelt hatte. „Mach das nicht noch mal mit mir! Ich hab dir das voll abgenommen.“

„Ich kann sehr überzeugend sein“, sie blinzelte mir zu und ich konnte nicht so richtig einordnen, was sie damit bezwecken wollte.

„Wie kommst du eigentlich mit deinem neuen Partner klar?“, wechselte ich das Thema und überging damit Andreas Verhalten.

„Gut, um nicht zu sagen sehr gut. Stefan ist ein super Bulle, fast so wie du. Er sieht auch besser aus.“

Das war die Revanche für die dunklen Augenringe, gut gekontert junge Frau, schoss es mir durch den Kopf. „Wirklich? So gut?“, ich grinste. Der Kellner kam und räumte unsere Teller ab. Die Frage nach einem Nachtisch verneinten wir beide.

„Ja, blond, blaue Augen, eins sechsundachtzig groß, sportlich und er ist fünfunddreißig. Aber nicht mein Typ. Er hat ständig andere Frauen … nee, das sind noch keine Frauen. Mädchen würde ich sagen. Und immer nach drei Monaten ist große Trennung angesagt. Ich denke, er rennt weg, wenn es ernst wird.“

„Freut mich für dich, dass Ihr gut auskommt. Aber noch mal zum Fall, habt Ihr Verbindungen zwischen den Opfern gefunden?“

„Nur das Aussehen, mehr noch nicht. Wir stehen erst am Anfang der Ermittlungen. Fragst du nur aus Neugier oder steckt mehr dahinter?“

„Natürlich steckt mehr dahinter. Ich werde ermitteln, auf jeden Fall. Katja war wie eine Schwester für mich. Okay, wir hatten kaum noch Kontakt, aber irgendwie fühle ich mich verpflichtet.“ Nach dem letzten Schluck aus meinem Glas setzte ich hinzu: „Und wie du dir denken kannst, sitzt mir meine Mutter im Nacken. Die will das mehr als alles andere.“

„Ich kann dich gut verstehen“, sagte sie mit ernstem Gesichtsausdruck, „du darfst uns aber nicht in die Quere kommen. Köster fände das nicht so toll, einen Privat-Schnüffler mit im Boot zu haben.“

„Köster ist noch Chef?“

„Klar, ist doch erst sechzig.“

„Gut, ich verspreche, euch nicht ins Handwerk zu pfuschen“, dabei hob ich die linke Hand wie zu einem Schwur.

„Das reicht.“ Sie lachte und verschluckte sich fast an ihrem Radler. Wir unterhielten uns noch eine halbe Stunde, zahlten und verließen das Lokal. Zum Schluss gab Andrea mir mit auf den Weg: „Zu niemandem ein Wort. Sollte irgendetwas an die Öffentlichkeit durchsickern, komme ich in Teufelsküche.“

„Ja, klar. Ehrensache.“ Wir trennten uns und gingen zu unseren Autos.

29. Juli, 23:20

Mit meinem alten C Ascona fuhr ich nach Hause. Ich dachte über den vergangenen Tag nach und die Neuigkeiten, die ich erfahren hatte. Dabei hörte ich, wie immer wenn ich nachdenken musste, RHP – das Rödelheim Hartreim-Projekt. Eine Musik, die mich runterzog oder das Gegenteil bewirkte. Musik spielte eine wichtige Rolle für mich. Ich beeinflusste meine Stimmung damit oder konnte besser nachdenken. Letzteres war im Moment der Fall. Damals, kurz nach der Trennung von Sophie, hörte ich die ganze Zeit RHP. Vor allem das Lied „Keine ist“. Jeder, der schon einmal von einer Frau, die er geliebt hat, verlassen wurde, wird dieses Gefühl nachvollziehen können. Der Text von „Keine ist“ verstärkt das Empfinden, etwas verloren zu haben, wofür es keinen Ersatz gibt – niemals wieder. Im Moment erklang es wieder. „Ich vermisse eine Nähe und sehe es ein, da ist ein Riss in meiner Seele, und stehe allein vor dem Sein, dem Nichtsein, der Pein in meinem Keim, ein Herz, das liebte rein, wird zu Stein, nur zum Schein…..“ Als ich in meiner Wohnung ankam, bootete ich meinen PC.

Ich wollte im Internet über Serienmörder recherchieren. Ich hatte nie einen Serienmörder gejagt während meiner Tätigkeit für das Land Hessen. Ich war nie gezwungen, mich in die Denkweise eines solchen Absonderlings hineinzuversetzen. Ich kochte mir einen Kaffee und pflanzte mich vor den Rechner.

Das Internet entpuppte sich als wahre Fundgrube. Ein alter Bekannter sagte mal: „Es gibt nichts, was man im Internet nicht findet.“ Diese Bemerkung lag etwa zwanzig Jahre zurück. Sie entsprach längst der Wahrheit. Paul hatte es damals vorausgesehen. Ein kluger Mann.